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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Die Plakat-Partisanen

    Die Plakat-Partisanen

    Mitten in Moskau war er zu sehen: Putin mit Panamahut à la Johnny Depp und der Frage „Welches Panama?“. Das Plakat prangte unmittelbar nach Veröffentlichung der Offshore-Recherchen auf Bushaltestellen im Stadtzentrum.
    Nach den harten Haftstrafen für Teilnehmer der Bolotnaja-Proteste und seit immer mehr Pikety von der Staatsmacht unterbunden werden, haben Russlands Kreative eine neue, stille und anonyme Form des Protests gefunden: Plakate.

    Jan Schenkman sprach für die Novaya Gazeta mit zwei Machern und stellt einige ihrer aufsehenerregendsten Aktionen vor.

    Sie sind plötzlich da. An Haltestellen, auf Werbetafeln. Wo sie das nächste Mal auftauchen, weiß man nicht. In der Uliza Pokrowka war es ein Plakat, das einen Gratis-Käse in einer Mausefalle zeigte. Hätte das womöglich Sozialmarketing sein können? Ohne weiteres, rein äußerlich war der Unterschied kaum zu erkennen. Bloß hatte der Käse auf diesem Bild die deutlich ausgeprägten Umrisse der Halbinsel Krim. Und tauchte just an dem Tag auf, als Russland die Angliederung der Krim feierte.

    Die Krim – ein Gratis-Käse in der Mausefalle? Foto © Ilya Varlamov
    Die Krim – ein Gratis-Käse in der Mausefalle? Foto © Ilya Varlamov

    Am 5. März, dem 63. Todestag Stalins, wurde ein neuer Slogan geboren: „Der eine ist tot. Und irgendwann stirbt auch der andere.“ Das ist ebenfalls ihr Werk. Der Text steht auf einem professionell gemachten Plakat, das plötzlich an den Haltestellen hing. Stalins Totenmaske und dazu dieser Spruch. Die Leute gehen vorbei und denken: „Haben wir etwa eine neue Regierung?!“

    Welches Panama?

    Auf den Offshore-Skandal neulich folgte dann eine vollends lakonische Reaktion: das Portrait des russischen Präsidenten in Gestalt eines der Protagonisten von Fear and Loathing in Las Vegas. Dazu die rhetorische Frage: „Panama? Welches Panama?“ Soll heißen: Wovon reden Sie, noch nie gehört … Und das alles mitten auf dem Moskauer Gartenring.

    Welches Panama? Foto © Oleg Kaschin
    Welches Panama? Foto © Oleg Kaschin

    Professionelle Plakatierer sagen, das sei alles keine große Kunst. Übermannshohe Werbebanner auszutauschen dagegen, das sei wirklich knifflig. Das erfordere Erfahrung im Industrieklettern und entsprechende Fähigkeiten. Die Vitrinenkästen hingegen könne man in der Regel mit einem Universalschlüssel oder einem gewöhnlichen Stemmeisen öffnen. Ist man zu zweit und hat etwas handwerkliches Geschick, dann sei die Sache in einer halben Stunde erledigt. Selbst im Dunkeln.

    Zumal die Aktivisten die meisten Plakate außen auf die Scheibe draufkleben, der Kasten also nicht einmal geöffnet wird. Und der materielle Schaden: verschwindend gering, es geht ja nichts kaputt. Na, und wie viel mag es kosten, den Glaskasten zu putzen? Höchstens 5000 Rubel [70 Euro].

    Putins größte Hits

    Die Aktionen der vergangenen Monate sind keineswegs die erste Attacke auf den städtischen Raum. Als der Präsident im vergangenen Dezember eine Pressekonferenz gab, tauchten am selben Tag in Moskau gleich zwei Plakate auf: Auf dem Plakat beim Theater Sowremennik hing die Ankündigung für die abendliche Vorstellung. [Gegeben wurde TschaikaDie Möwe von Anton Tschechow – dek.] Im Prinzip sah fast alles aus wie immer, nur unten links in der Ecke stand: Warum man die Möwen (ru. Tschaiki) nicht einbuchtet – Monolog, gelesen von Juri Tschaika. Eine eindeutige Anspielung auf [den Korruptionsskandal um] den russischen Generalstaatsanwalt.

    Das zweite Plakat sah aus wie eine Konzertankündigung des russischen Schlagerstars Filipp Kirkorow, bloß dass Wladimir Putin hier abgebildet war. „Auf allen Fernseh-Bildschirmen des Landes! Seine größten Hits!“ Darunter verschiedene Zitate: „2015 wird sich ein Drittel aller Russen eine Eigentumswohnung leisten können“, „Der Rubel fällt – die Einkommen steigen“ und weitere Sprüche dieser Art.

    Völlig neue Proteststrategie

    Diese Proteststrategie ist für Moskau vollkommen neu. Das heißt, ein paar Versuche gab es früher schon, doch jetzt wird sie zum Trend. In Zeiten, in denen sämtliche nichtgenehmigte und mitunter auch genehmigte Pikety und Kundgebungen unterbunden werden, sieht es so aus, als gäbe es im öffentlichen Raum keine andere Form mehr, die eigene Meinung zum Ausdruck zu bringen.

    Und nicht nur in der Hauptstadt: Die Praxis verbreitet sich im ganzen Land. In der Nähe von Rostow war an einer völlig kaputten Straße ein Banner aufgetaucht mit dem Aufruf, die regierende Partei zu wählen: „Gib deine Stimme dem Einigen Russland, und dein Leben sieht so aus wie diese Straße hier.“ Wenn man genau hinschaut, stößt man in allen möglichen Städten auf solche Aktionen. Und das ist erst der Anfang.

    Keiner weiss, wie reagieren

    Auch die Anonymität irritiert die Leute. Bis heute wurde kein Mitwirkender an den Plakataktionen verhaftet. Und man kann ihnen ja auch nicht wirklich etwas vorwerfen: Es gibt keine vulgäre Sprache, auch keine Aufrufe zum Sturz der bestehenden Ordnung. Es geht einfach nur um den Witz, und der ist nicht einmal besonders boshaft. Die Behörden stecken in einer Sackgasse und wissen nicht, wie sie reagieren sollen. Okay – illegales Plakatekleben. Aber das ist auch alles.


    Jewgeni Lewkowitsch: „Ich wollte einfach, dass die Leute lächeln“

    „Das ist eine ziemliche punkige Aktion“ – Plakataktivist Jewgeni Lewkowitsch. Foto © Novaya Gazeta
    „Das ist eine ziemliche punkige Aktion“ – Plakataktivist Jewgeni Lewkowitsch. Foto © Novaya Gazeta

    Der Einzige, der sich zu dem Plakat mit Putin à la Kirkorow bekannt hat, ist der Moskauer Aktivist und Gründer der Vereinigung Julia & Winston

    „… der sich dazu bekannt hat” – das stimmt so nicht ganz. Wir haben unsere Urheberschaft nie geheim gehalten. Von Anfang an haben wir alles ganz offen gehandhabt, alles auf Facebook gepostet. Ich finde es sinnlos, vor etwas Angst zu haben, in einer Situation, wo sie dich wegen nichts auf der Straße aufgabeln können. Es kommt sowieso aufs Gleiche raus. Die Leute werden eingebuchtet, weil sie irgendwelche Posts geteilt oder geliked haben, also wovon reden wir hier? Entweder man hat vor gar nichts Angst oder vor allem. Alles, was ich weiß, ist, dass sich die Firma, der die Plakatvitrinen gehören, beim Ermittlungskomitee beschwert hat. Aber ich verfolge das nicht weiter, ehrlich gesagt. Es kommt, wie es kommt.

    Wie viele Exemplare gab es insgesamt?

    Vier, wenn ich mich recht erinnere. Das Ganze ist eine ziemlich kostspielige Angelegenheit: Es sind selbstklebende Hochglanzposter, und dann in dieser Größe. Rund 15.000 Rubel [200 Euro] haben die vier Plakate gekostet. Und das war schon mit Rabatt, über Beziehungen.

    Ich finde es sinnlos, vor etwas Angst zu haben, in einer Situation, wo sie dich wegen nichts von der Straße wegschnappen können

    Ich würde am liebsten ständig welche aufhängen, Ideen habe ich jede Menge. Aber woher soll ich jeden Monat 15.000 Rubel nehmen? Wir haben für die Aktion Geld im Netz gesammelt. Haben es direkt so formuliert: „So viel Geld, wie wir zusammenbekommen, so viel Plakate werden wir machen.“

    Putins größte Hits – Konzertplakat mit Zitaten des Präsidenten. Foto © Julia & Winston

    Und wie lange hat der Pseudo-Kirkorow gehangen?

    Bis zum nächsten Abend. Die Leute liefen vorbei und haben geguckt. Manche haben geschimpft, anderen hat’s gefallen. Und dann haben wir die Leute befragt, mit der Kamera: Welche Putin-Schlager kennen Sie? Manche dachten tatsächlich, es gebe ein Konzert und der Präsident würde auftreten und singen.

    Worum geht es mehr bei dieser Aktion – um Performance oder um politischen Protest?

    Es ist eher eine Notlösung. Sich mit Plakaten auf die Straße zu stellen ist heutzutage komplett sinnlos. Da steht man und niemand guckt, und wenn jemand guckt, dann das Zweite Operative Regiment der Polizei. Unser Plakat hing wesentlich länger als ich mit ihm auf der Straße hätte stehen können. Es ist größer, es ist farbenprächtiger, fällt doller auf, mehr Leute sehen es. Und ich riskiere in dem Moment nicht, verhaftet zu werden. Es ist in etwa das Gleiche wie ein Einzelprotest, aber um ein Vielfaches effektiver. Wenn das jemand als Performance begreift – bitteschön, aber ich persönlich sehe das nicht so.

    Da steckt kein tieferer Sinn dahinter, ich wollte einfach, dass die Leute mal lächeln und sich ein bisschen freier fühlen

    Ich komme vom Punk, und aus meiner Sicht ist das mit den Plakaten eine ziemlich punkige Aktion. Da steckt kein tieferer Sinn dahinter, ich wollte einfach, dass die Leute mal lächeln und sich ein bisschen freier fühlen. Unsere Stadt ist in dieser Hinsicht vollkommen tot, jede kleine Umtriebigkeit macht sie schöner.

    Das einzige, wogegen ich bin – man darf nicht zum Mord aufrufen. Ich fand schon unser Plakat „Der eine ist tot. Und irgendwann stirbt auch der andere“ vom ethischen Standpunkt aus ziemlich an der Grenze. Jemandem öffentlich den Tod zu wünschen, das ist irgendwie naja. Man muss Mensch bleiben, sonst unterscheiden wir uns durch nichts von all diesen Blutsaugern.

    Aber ich kann auch Menschen nicht verurteilen, die in Extreme verfallen. Ich kann mich auch nicht immer beherrschen. Ich kenne eine Masse anständiger Leute, die Putin unterstützen. Wenn die auch nur ein böses Wort oder derben Ausdruck über ihn sehen, betrachten sie gleich die gesamte Opposition als übles Gesindel.


    Alexej Zwetkow, Schriftsteller, Theoretiker der linken Bewegung: „Die Plakatmacher machen mit der Staatsmacht einen Idiotentest.“

    „Eine andere Welt ist möglich“ – Alexej Zwetkow. Foto © Novaya Gazeta
    „Eine andere Welt ist möglich“ – Alexej Zwetkow. Foto © Novaya Gazeta

    „Das Verfahren ist altbekannt, es nennt sich Aneignung. Es geht darum, nicht gemäß den Regeln, sondern mit den Regeln zu spielen. Im Westen machen das die radikalen Linken, weil sie nicht an die Demokratie glauben. Sie betrachten sie als Spektakel, das die Eliten für die naiven Massen veranstalten.

    Es geht darum, nicht gemäß den Regeln, sondern mit den Regeln zu spielen

    Bei uns bezweifeln die Leute, die die Plakate kleben, dass ihnen das System auch nur die geringste Möglichkeit gibt, Politik mitzugestalten. Interessanterweise formuliert die Staatsmacht sämtliche Beanstandungen an den Plakaten in wirtschaftlichen Termini: nichtbezahlte Werbefläche, Eigentumsverletzung. Die politische Botschaft wird dabei in keiner Weise kommentiert. Es sei unbefugte Werbung, heißt es. Aber Werbung wofür? Für Protest?

    Das Plakat mit der Käsekrim hat eine doppelte Bedeutung: Auf der einen Seite die Krim als geopolitischen Köder, durch dessen Einverleibung die Staatsführer sich und alle anderen zur Isolation und dem Status von Ausgestoßenen verdammt haben.
    Auf der anderen Seite aber haben die meisten Kommentatoren sofort auf den Gratis-Käse in der Mausefalle abgehoben – was die Logik einer Welt offenbart, in der alles zur Ware wird und in der es einst überhaupt nichts mehr umsonst geben wird.

    „Tschaika“ [Möwe] – Wortspiel mit Tschechows Theaterstück und dem gleichnamigen Generalstaatsanwalt. Foto © Olga Romanowa
    „Tschaika“ [Möwe] – Wortspiel mit Tschechows Theaterstück und dem gleichnamigen Generalstaatsanwalt. Foto © Olga Romanowa

    Bei der Tschaika-Aktion hat man sich die Marke des Theaters Sowremennik [dt. Zeitgenosse – dek] angeeignet, ein fremdes Image mitbenutzt. In Europa wird in der Regel die Marke eines offenkundigen Gegners benutzt. Nun bringt kaum jemand das Theater Sowremennik mit staatlicher Propaganda in Verbindung, hier ging es offensichtlich um das Wortspiel.

    Interessanter ist das Plakat mit Stalin und dem Satz: „Der eine ist tot. Und irgendwann stirbt auch der andere”. Das hat das System als eindeutig gefährlich wahrgenommen, Polizisten versuchten sich vor das Plakat zu stellen und es zu verdecken, so dass die Leute es nicht fotografieren konnten.

    Doch kaum hatten sie das Plakat abgenommen, tauchten in der Stadt neue Plakate auf: mit demselben Text, aber einer Darstellung des ägyptischen Gottes Thot.

    Die Plakatmacher machen mit der Staatsmacht gewissermaßen einem Idiotentest: Ab welchem Niveau hört das System auf, einen Inhalt als gefährlich wahrzunehmen, was muss das für ein Bild sein, wie absurd muss es sein?

    Das war eine Revolution im Miniaturformat

    Die ersten Aneignungsaktionen gab es in den sechziger Jahren in Westeuropa und den USA, von jungen Rebellen, die sich Situationisten nannten. Die Aneignung war ihrer Meinung nach das Gegenstück zu der für den Kapitalismus grundlegenden Entfremdung. Und der war permanent Gegenstand ihres kreativen Spotts. Jede ihrer Aktionen war das Versprechen, dass die Menschheit die ganze Welt vereinnahmen und alles allen gehören wird.
    Das war eine Revolution im Miniaturformat: den Sinn von Plakaten, Reklameschildern oder den damals modernen Comics zu verändern, indem man ihnen einen subversiven Inhalt unterlegte.

    Diese Tradition hat sich bis heute gehalten. Globalisierungsgegner brachten [2008 bzw. 2009] jeweils täuschend echte eigene Versionen der New York Times und der ZEIT heraus. Perfekte Kopien in Schrift und Layout, in denen es hieß, die wesentlichen Ideen der Globalisierungsgegner seien Wirklichkeit geworden: die Ungleichheit werde abgebaut, die Kriege würden beendet, Börsenspekulationen verboten, Wohnraum sei von nun an kostenlos, die Welt auf dem Weg zu einer ökologischen Produktionsweise usw.
    So wurden, in spielerischer Form, virale Botschaften in die Welt gesetzt und die Losung „Eine andere Welt ist möglich!“ versinnbildlicht.

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  • „Das fehlte noch, die Schwulen schützen“

    „Das fehlte noch, die Schwulen schützen“

    Die Nachricht vom Mord an dem bekannten Journalisten Dimitri Zilikin erschütterte Ende März die russische Medien-Community. Zilikin, der unter anderem für Vedomosti und den Kommersant geschrieben hatte, war in seiner Petersburger Wohnung tot aufgefunden worden. Er war an dutzenden Messerstichen verblutet. Der Täter hatte außerdem Computer und Handy gestohlen und nach der Tat die Wohnungstür von außen verschlossen.

    Es sind Codes wie dieser, die alle kennen: Ein alleinstehender Mann, den man tot in seiner eigenen Wohnung findet. Alles deutet auf ein Gewaltverbrechen hin, oft ist das Opfer zuvor beraubt worden. Die Publizistin Masha Gessen beschreibt in der New York Times in ihrem Artikel The Art of Reading Russian Obituaries (Die Kunst, russische Todesanzeigen zu lesen) diese Verschlüsselung von Gewaltverbrechen gegen Homosexuelle in Russland. Jeder weiß, worum es geht, aber keiner spricht darüber.

    Die geringe Akzeptanz von LGBT spiegelt sich auch in dem im Juli 2013 erlassenen Gesetz, das so genannte homosexuelle „Propaganda“ unter Strafe stellt – etwa eine positive Äußerung über Homosexualität in Anwesenheit von Kindern oder Minderjährigen.

    Colta.ru holt in vier Interviews mit einem Polizisten, einer Juristin und zwei schwulen Männern, die selbst Opfer homosexuellenfeindlicher Gewalt wurden, das Phänomen aus der Tabuzone.

    Foto © Roman Jandolin / ITAR-TASS/Interpress
    Foto © Roman Jandolin / ITAR-TASS/Interpress

    Alexej Lewaschtschew, Wirtschaftler

    Der Überfall geschah auf der Wassiljewski-Insel in Sankt Petersburg am 22. November 2015 gegen neun Uhr abends, im Tutschkow Pereulok. Nicht weit von der Metrostation Sportiwnaja. Ich trat aus dem Gebäude, in dem das LGBT-Filmfestival Bok o Bok („Seite an Seite“) stattfand, und ging Richtung Metro. Ich war allein.

    Plötzlich sah ich mich von irgendwelchen Typen umringt, von vorn versperrte mir so ein junger Muskelprotz den Weg, einer mit Schnurrbart. Das war nicht irgendein normaler Kerl, das war so ein Kampfsporttyp. Und hinter mir, wie wenn die Welpen auf die Jagd mitgenommen werden, so Jungsche. Wolfswelpen. Die werden mitgenommen, damit sie lernen, wie man jemanden angreift. Vielleicht waren sie noch nicht mal volljährig.

    Sie haben mehr als sieben Minuten lang auf mich eingeschlagen. Wie viele es waren, kann ich nicht mehr genau sagen

    Die Typen sahen alle slawisch aus, keine Spur kaukasisch. Es war ein Gefühl wie im Krieg: die werden dich töten, einfach, weil du Soldat bist. Also es hat keiner mit mir gesprochen. Der Typ, der mir den Weg versperrte, sagte so was wie „Hallo Schwuchtel“ oder „Hier nimm das, du Schwuchtel“. Dann habe ich die Arme vor dem Gesicht verschränkt und nichts mehr gesehen.

    Zwei Rippen haben sie mir gebrochen und die Nieren verletzt. Sie haben mehr als sieben Minuten lang auf mich eingeschlagen. Wie viele es waren, kann ich nicht mehr genau sagen. Als ich mich losreißen konnte, drehte ich mich um – da standen mindestens zehn Leute und skandierten: „Gute Schwuchtel – tote Schwuchtel“.

    Ich nahm die Beine in die Hand, rannte bis zur Uferstraße und rief sofort die Polizei. Wie ich gehörte habe, kam die Polizei später auch, doch sie fanden niemanden mehr vor, was offenkundig auch gar nicht ihr Interesse war.

    Der Rettungswagen las mich auf der Straße auf und brachte mich ins Marijnski-Krankenhaus. Sowohl den Ärzten als auch der Polizei erklärte ich, dass es sich um einen homophob motivierten Übergriff gehandelt hat. Mit der Polizei sprach ich am Tag des Überfalls allerdings lediglich am Telefon. Persönlich konnte ich die Ermittlerin erst eine Woche später treffen. Sie hieß Olga. Bei ihr machte ich im Beisein meiner Anwältin auch eine ausführliche schriftliche Aussage.

    Mir ist generell nicht wohl, wenn ich mit der Polizei zu tun habe. Ich bin ja ein sowjetischer Mensch, ich weiß nur zu gut, was die von LGBT halten

    Als ich bei der Polizei eintraf, war die Atmosphäre unangenehm. Ich hatte lauter Verletzungen, fühlte mich unbehaglich. Mir ist generell nicht wohl, wenn ich mit der Polizei zu tun habe. Ich bin ja ein sowjetischer Mensch, 50 Jahre alt bin ich jetzt, und ich weiß nur zu gut, was die bei der Polizei von LGBT halten.

    Die Polizisten sahen mich argwöhnisch und später geradezu feindselig an. Olga unterhielt sich kurz mit mir, gab mir drei Blätter, auf denen ich die Geschehnisse beschrieb. Sie nahmen meine Anzeige auf, doch die Täter wurden praktisch nicht gesucht. Selbst ein Strafverfahren leiteten sie erst auf Antrag meiner Anwältin ein, und zwar wegen „leichter Körperverletzung“ und ohne Hinweis auf den strafverschärfenden Umstand, dass es sich um ein Hassverbrechen handelte.

    Nach einiger Zeit wurde das Verfahren eingestellt, da die Identität der Täter „letztlich nicht festgestellt werden konnte“. Meine Anwältin legte bei der Staatsanwaltschaft Berufung ein, der Fall wurde anhand desselben Paragraphen noch einmal wiederaufgenommen, später aber auch wieder eingestellt.

    Zu Sowjetzeiten war die Miliz Homosexuellen gegenüber feindlich eingestellt, Homosexualität galt als Verbrechen. In den 90ern wurde das etwas besser, aber in den 2000er Jahren war alles wieder beim Alten.

    Maria Koslowskaja, Juristin der Petersburger Menschenrechtsorganisation LGBT-Netz

    In Petersburg setzte etwa 2012 eine Welle der Gewalt gegen Homosexuelle ein, die Situation hat sich deutlich verschärft. Vorher kamen Übergriffe wesentlich seltener vor, und selbst wenn es welche gab, sprang einem daraus nicht unverhohlene Homophobie entgegen. Die Täter sagten nicht: „Ich schlage dich, weil du schwul bist.“  Jetzt verteidigen sie das Anti-Propagandagesetz, und der Zusammenhang zwischen diesem Gesetz und der Zunahme an Gewalt gegen LGBT liegt auf der Hand. Das Gesetz wird als Zeichen aufgefasst, dass solche Gewalt zulässig ist.

    Der Zusammenhang zwischen dem Anti-Propagandagesetz und der Zunahme der Gewalt gegen LGBT liegt auf der Hand

    Häufig handelt es sich um organisierte Kriminalität, um Erpressung. Oftmals gehen die Täter so vor wie früher die Bewegung Occupy Pedofiljaj („Occupy Pädophilie“): Auf Online-Kontaktseiten (der letzte Fall, mit dem wir befasst waren, lief über die Mobile Dating–App Grindr), manchmal auch in sozialen Netzwerken wie VKontakte, wird ein Fake-Profil eines – meist zwischen 18 und 20 Jahre alten – jungen Mannes erstellt. Dann wird das Opfer zu einem Date eingeladen, wobei darauf bestanden wird, dass es irgendwohin zu Besuch kommt. Dann lotsen sie es in eine Wohnung.

    Nach einer Weile kommt eine Gruppe junger Männer herein, manchmal mit Kamera, und sie fangen an, den Betroffenen zu beleidigen, Geld von ihm zu erpressen, sie nehmen ihm sein Telefon ab, schüchtern ihn ein, drohen, ihn in der Verwandtschaft und vor Kollegen anzuschwärzen, wenden physische Gewalt an.

    Oft nehmen sie ihm seine Sachen ab: Handtasche, Handy, Pass, elektronische Geräte. Wenn derjenige eine Bankkarte hat, wird er zum Geldautomaten eskortiert.

    Es gab Fälle, in denen die Täter dem Opfer den Pass abgenommen haben und später für die Rückgabe Geld forderten. Die extreme Form dieser Praxis sieht so aus, dass die Treffen von vornherein einzig mit dem Ziel der Gewalt und Misshandlung organisiert werden.

    Nicht nur, dass die Polizei in Fällen, die sie als „ausgedacht“ betrachtet, oft keine Anzeige aufnehmen will, sie beleidigt die Opfer auch noch

    In den meisten Fällen wollen die Opfer nicht zur Polizei gehen. Sie sind eingeschüchtert, haben Angst ihre sexuelle Orientierung zu offenbaren, darum wenden sie sich an uns.

    Ich selbst habe einmal jemanden begleitet, dem sie den Pass abgenommen hatten, wir gingen zur Polizei, um Anzeige zu erstatten. Der Ermittler saß da und hielt sich an irgendwelchen nebensächlichen Details auf, dann schlug er vor, den Täter anzurufen, der natürlich nicht abnahm.

    Sein Kollege kam aus dem Dienstzimmer und ich hörte, wie er im Flur laut lachte und zu jemandem sagte: „Jetzt kommen hier die Schwuchteln zu uns – das fehlte noch, dass wir die schützen …“ Der Mann, der der Misshandlung und Erpressung ausgesetzt gewesen war, hörte alles mit.

    Nicht nur, dass die Polizei in Fällen, die sie als ausgedacht betrachtet, oft keine Anzeige aufnehmen will, sie beleidigt die Opfer auch noch. Von allen von uns zur Anzeige gebrachten Fällen wurde nicht in einem einzigen ordnungsgemäß ermittelt.

    2015 hat unsere Organisation LGBT-Netz 284 Fälle von Gewalt und Diskriminierung dokumentiert. Insgesamt haben im vergangenen halben Jahr 107 Menschen uns um Rechtsbeistand ersucht.

    Ein Unterleutnant der Polizei, Abschnittsbevollmächtigter im Nordöstlichen Verwaltungsbezirk von Moskau (auf eigenen Wunsch anonym)

    In meiner Dienstpraxis gab es das nicht, Hilfsgesuche von Homosexuellen. Aber ich habe auch nie gehört, dass man ihre Anzeigen einfach unter den Tisch fallen lässt. Weder von meinen Kollegen noch im Fernsehen habe ich so etwas gehört.

    Wir haben unsere Arbeit, und die erledigen wir, egal, welchem Glauben ein Mensch anhängt, welchen Lebensprinzipien oder welcher sexuellen Orientierung, das macht im Prinzip keinen Unterschied.

    Ich finde Homosexualität nicht gut. Aber es ist nicht so, dass ich sagen würde: Man muss die alle kaltmachen oder so

    Wenn hier zwei Schwule ankommen, die man verprügelt hat, dann nehme ich ihre Anzeige auf. Schließlich sind sie genauso Bürger wie alle anderen. Meine Meinung habe ich dabei sicher im Hinterkopf, aber meine Arbeit, die erledige ich. Wir haben ja auch noch Instanzen über uns, die uns auf die Finger schauen.

    Generell habe ich allerdings meine eigene Position, was das angeht. Ich finde  Homosexualität nicht gut. Aber es ist nicht so, dass ich sagen würde: Man muss die alle kaltmachen oder so. Ich weiß, dass diese Leute existieren, so in ihren eigenen Kreisen. Bitte,  da sollen sie leben, wie es ihnen passt. Hauptsache, sie tragen das nicht in die breite Gesellschaft.

    Solange sie sich in meiner Gegenwart genauso benehmen wie ganz normale Menschen, sich nicht mehr herausnehmen als jeder normale Mensch – solange ist mir das egal. Aber irgendwelche Zärtlichkeiten, oder wenn sie  sich gegenseitig anfassen und ich bin dabei – das lasse ich nicht zu.

    Wenn sie sich küssen – das ist echt abstoßend und unanständig, das will ich nicht, in meinen Augen ist das pervers, und dafür muss man sich irgendeinen Paragraphen ausdenken. Das Gesetz gegen die Homo-Propaganda unterstütze ich voll und ganz.

    Ich sehe mich als russischen Menschen, unsere russische Kultur war immer gegen so etwas. Und auch unser Land ist dagegen

    Um ehrlich zu sein, hab ich in den 26 Jahren meines Lebens noch nie Schwule getroffen. Hab nie welche gesehen, hab nur irgendwie davon gehört, dass es so was gibt. Gesehen habe ich das nur auf YouTube, wie sie da ihre Paraden veranstalten, aber so hatte ich nie damit zu tun.

    Wenn jetzt zum Beispiel ein Freund von mir so einer wäre und ich das mitkriegen würde, würde sich meine Einstellung zu ihm ändern. Ich würde ein bisschen vorsichtig sein mit ihm. Nicht dass ich ihn verprügeln würde oder so … Aber wir hätten weniger Kontakt, ich würde nicht mit ihm durch den Park spazieren oder Eis essen gehen. Ich würde den Umgang auf das Nötigste beschränken.

    Ich sehe mich als russischen Menschen, unsere russische Kultur war immer gegen so etwas. Und auch unser Land ist dagegen. Meine Kollegen bei der Polizei – das sind auch Menschen und die stehen dem auch ablehnend gegenüber.

    Sie sind nun mal da, keiner kann sie leiden, was gibt’s da groß zu reden

    Über solche Themen unterhalte ich mich mit meinen Kollegen natürlich nicht, da gibt es nichts zu unterhalten. Kann sein, dass mal ein Wort das andere gab und ein bisschen über diese Leute gekichert wurde. Sie sind nun mal da, keiner kann sie leiden, was gibt’s da groß zu reden.

    Wenn, sagen wir, zwei Schwule sich zur Wehr setzen und mit jemandem aneinandergeraten würden, dann würde ich das vom Standpunkt des Gesetzes aus betrachten. Aber innerlich wäre ich natürlich auf der Seite des normalen Menschen und nicht auf der des Schwulen. Ich würde ihm zu verstehen geben, wie er es anstellen muss, damit er das Gesetz nicht verletzt. Ich meine, wie er es klug anstellt, um aus der Sache als Sieger hervorzugehen.

    Alexander Smirnow, ehemaliger Assistent des Pressesprechers der Vizebürgermeisterin von Moskau im Bereich Bauwesen und Stadtentwicklung

    Das erste Mal, dass ich mit einem Mord an einem Schwulen unmittelbar zu tun hatte, war noch in Blagoweschtschensk. Das war 2003. Viktor war 39. Er war Leiter einer bedeutenden Immobilienagentur. Damals hatte ich Angst, dass die polizeilichen Ermittler anfangen, alle Leute zu überprüfen, mit denen der Ermordete am Tag zuvor telefoniert hatte. Meine Angst war nicht, dass man mich der Tat verdächtigen könnte, sondern dass meine sexuelle Orientierung öffentlich gemacht werden würde.

    Den Freund einer Freundin von mir haben sie auch umgebracht, das war im Sommer 2010, der Junge war 26 Jahre alt

    Dann kam die Serie von Journalistenmorden in Moskau. Einzelne Hauptstadtmedien schrieben bereits offen über die Homosexualität der Opfer, zu denen Journalisten der Sender Erster Kanal, NTW, TV-Zentr und Expert-TV gehörten. Einige der Ermordeten hatte ich persönlich gekannt, und ich bekam das Gefühl, dass eine gezielte Jagd im Gange war. Im Grunde kam dieses Gefühl lediglich daher, dass der Mord an einem Journalisten für die Medien interessanter ist als der Mord an einem Verkäufer oder einem Buchhalter.

    Die Zahl der getöteten schwulen Journalisten ist auch deshalb so erschreckend, weil man sich automatisch fragt, wie hoch wohl die realen Homophobieopfer-Zahlen sein mögen.

    Den Freund einer Freundin von mir haben sie auch umgebracht, das war im Sommer 2010, der Junge war 26 Jahre alt, Dimitri Okkert. Er arbeitete beim Fernsehen. Als er einmal zwei Tage lang nicht aufgetaucht war, ging sie in seine Wohnung, die Tür stand offen, der Freund war tot, an seinen Stichverletzungen gestorben.

    Ich kochte was, deckte den Tisch, der Fernseher lief auf voller Lautstärke. Das nächste, woran ich mich erinnere, ist ein Schlag auf den Kopf.

    Ich weiß noch, wie sie damals zu mir sagte: „Man darf keine Zufallsbekanntschaften mit nach Hause nehmen.“ Aber wie oft muss man sich mit jemandem treffen, bevor man ihn zu sich nach Hause einlädt? In meinem Fall kam es zu einem Übergriff, nachdem der Mensch vorher schon einmal bei mir gewesen war.

    2012 hatten wir uns kennengelernt, auf neutralem Boden, in Moskau, dann fuhren wir zu mir, hatten Sex. Nach einiger Zeit rief der Typ an und sagte, er wolle sich noch einmal mit mir treffen. Ich wohnte damals in Koroljow, wir fuhren mit der Elektritschka zu mir. Sein Komplize saß im selben Zug.

    Wir schlossen die Haustür auf, alles okay, ich kochte was, deckte den Tisch, der Fernseher lief auf voller Lautstärke. Das nächste, woran ich mich erinnere, ist ein Schlag auf den Kopf, ich verlor aber nicht das Bewusstsein und erkannte am Geruch, dass sie mir eine Bierflasche über den Kopf gezogen hatten. Ich drehte mich um und sah, dass der Typ einen abgeschlagenen Flaschenhals in der Hand hielt. Neben ihm stand der andere, den er unbemerkt hereingelassen hatte. Ganz normale Jungs, slawisches Aussehen, nichts Auffälliges. Der eine hielt mir die abgebrochene Flasche an den Hals, der andere setzte mir das Messer an die Kehle.

    Ich hatte eine Wahnsinnsangst. In diesen Sekunden wurde mir klar, dass das das Ende war

    Ich war barfuß, trat auf die Glasscherben, doch ich fühlte keinen Schmerz. Ich blutete am Kopf. Ich hatte eine Wahnsinnsangst. In diesen Sekunden wurde mir klar, dass das das Ende war. Ich konnte absolut nichts tun. Zwei Typen, bewaffnet, Fliehen war vollkommen sinnlos. Meine Kehle war knochentrocken. Ich konnte gerade noch denken, Scheiße, ich hab keine Angst zu sterben, aber zu so einem Tod bin ich nicht bereit. Das erste, was ich sagte, war: „Nehmt alles, den Computer, das Geld, aber lasst mich am Leben.“ Erniedrigend, aber so war es. Etwa eine Stunde lang quälten sie mich. Und dabei sagte der Typ, mit dem ich mich vorher schon getroffen hatte, allen Ernstes: „Wegen solchen wir dir ist mein Bruder jetzt auch schwul geworden.“ Sich selbst betrachtete er also nicht als schwul.

    Dann verlangten sie Beweise, dass ich niemandem etwas erzählen würde. Ich hatte einen coolen Job damals, wenn die dort erführen, was Sache ist, würden die mich entlassen, erklärte ich, und darum würde ich nicht zur Polizei gehen. Schließlich zwangen sie mich noch, mich auszuziehen, machten pornografische Fotos, nahmen mein Notebook, mein Handy und mein Bargeld.

    Nach der ganzen Sache setzte ich mich aufs Sofa und versuchte einfach nur meine Atmung wieder in den Griff zu kriegen

    Erst wollten sie, dass ich mit meiner Karte Geld am Automaten abhebe, während sie danebenstehen, aber dann überlegten sie sich wohl, dass das nicht ungefährlich wäre, durchwühlten noch die ganze Wohnung und zogen ab. Als sie gingen, sagten sie, sie würden unten im Hausflur warten, sie wollten sichergehen, dass ich nicht um Hilfe rufe.

    Nach der ganzen Sache setzte ich mich aufs Sofa und versuchte einfach nur meine Atmung wieder in den Griff zu kriegen. Dann holte ich mein altes Notebook heraus, schrieb einem Freund, er solle meine Chefin, die stellvertretende Bürgermeisterin, anrufen und sie informieren, dass ich nicht zur Arbeit kommen würde, ich sei auf der Straße überfallen worden und liege im Krankenhaus. Meine Kollegen wollten mich besuchen kommen, aber ich lehnte ab. Ich war nicht imstande, jemanden zu sehen.

    Als ich mit der besagten Freundin von mir sprach, meinte die nur: „Ich habe dich ja gewarnt.“ Doch ich brauchte etwas anderes, ich brauchte unterstützende Worte, und ich war enorm verletzt damals. Heute verstehe ich, dass es einfach zu schlimm für sie gewesen wäre, noch einen Freund zu begraben.

    Was ich in der Zeit danach durchgemacht habe, wünsche ich niemandem. Ständig dachte ich, ich begegne diesen Typen wieder

    Was ich in der Zeit danach durchgemacht habe, wünsche ich niemandem. Es hat mich extrem belastet, weiter in der Wohnung zu wohnen, auch in der Metro hatte ich Angst, ständig dachte ich, ich begegne diesen Typen noch einmal wieder.

    Oft sind die Leute erstaunt, dass ich niemanden über die Sache informiert habe, mich nicht einmal um psychologische Unterstützung bemüht habe. Für mich war das so: Ich habe überlebt, aus und gut. Aber so ist das für russische Homosexuelle, wir müssen mit solchen Übergriffen selbst fertig werden. Denn nach der physischen Gewalt machst du ja noch die psychische Vergewaltigung in der Notfallambulanz durch, und bei der Polizei. Dabei sollte nicht das Opfer sich schämen, sondern der Täter. Unsere falsche Scham führt dazu, dass die Täter ungestraft bleiben.

    Mittlerweile bin ich seit 15 Monaten in den USA, ich habe einen Job als Lagerarbeiter. Ich mache Therapie … Also ich denke, ich bin wahrscheinlich so weit okay … Ich hab einen Dreizehnstundentag. Aber ich habe kein einziges Mal bereut, dass ich Russland verlassen habe.

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  • Kleine Auszeit

    Kleine Auszeit

    Heroin-Junkies und Klosterzellen für VIPs, aber auch selbstlose Arbeit, fromme Demut und ein Besuch von Patriarch Kirill: Der Journalist Anton Krawzow hat einen Monat in einem Männerkloster verbracht und seine Eindrücke für Takie Dela aufgeschrieben.

    „Zuerst setzt du einen Schnitt entlang der Rückengräte“, erklärt Sweta und hält den kleinen Fisch in ihrer Hand hoch. „Man muss mit dem Messer hier reinstechen und vom Kopf her runterschneiden. Dann dasselbe auf der Bauchseite, aber ganz vorsichtig, damit man die Eingeweide nicht verletzt.“

    Sweta und ihr Sohn Mark kommen alle paar Monate ins Kloster – ein bisschen arbeiten, leben, beten. Genau wie mehrere hundert andere Menschen. Ungeschickt versuche ich, es Sweta nachzutun. Bald spüre ich meine Finger nicht  mehr. Der Fisch ist noch nicht ganz aufgetaut, aber wir haben keine Zeit: An die fünfzig Pilgermäuler gilt es zu stopfen.

    Die Ikone soll von Drogensucht heilen

    Das Gros der Bewohner des Wyssozki-Männerklosters in Serpuchow bilden ehemalige Alkoholiker, Junkies und Knastis. Die einen kommen in der Hoffnung auf Heilung, andere wollen „den Kopf klar kriegen“, die dritten haben einfach keine Bleibe.

     Pilgerarbeiter Serjosha harkt Heu – Fotos © Alina Dessjatnitschenko
    Pilgerarbeiter Serjosha harkt Heu – Fotos © Alina Dessjatnitschenko

    Es heißt, das hiesige Heiligtum – die Ikone der Gottesmutter Unerschöpflicher Kelch – heile von Trunksucht und Drogenabhängigkeit, von Spielsucht und anderen Lastern. Diese wundersamen Eigenschaften hatte man bereits im vorletzten Jahrhundert beschworen. Während der Revolution war dann aber die Originalikone verbrannt und ein Teil der Bruderschaft erschossen worden. Ende des letzten Jahrhunderts wurde die Ikone neu gemalt.Über eine dreckige Wanne gebeugt, wasche ich mir die nach Fisch stinkenden Hände. Die Gegenwart von Ikonen und Priestern sollte einen friedlich stimmen, denke ich bei mir, aber mir ist hier unbehaglich zumute. Ich warte auf das Ende des Abendgottesdienstes. Ich will ein letztes Mal die Ikone küssen, von hier verschwinden und nie mehr wiederkommen. Doch erst heute Abend wird es so weit sein.

    I. Ein Tag

    Der Wecker schrillt um halb fünf Uhr früh. In der stickigen Zelle hängt der Geruch nach Männersocken, es ist dunkel und heiß. Ich leuchte mit meinem Mobiltelefon in den engen Raum: In den Doppelstockbetten schlafen die Pilger. Ich ringe mit dem Wunsch, auf die ganze Sache zu pfeifen und mich in die dünne Kratzdecke zu mummeln, aber in anderthalb Stunden beginnt das Morgengebet, und ich muss vorher noch unter die Dusche.

    Durch die Gänge schallt das durchdringende Glockengeläut, das die Pilger zum Gottesdienst, zum Mittagessen, zum Abendbrot und zu ihren jeweiligen Diensten ruft. Die Konditionierung setzt schnell ein: Sobald die Glocke erklingt, springt man auf und rennt los.

    Benebelt vom Weihrauch

    Die Trudniki werden gesalbt
    Die Trudniki werden gesalbt

    In der leeren Kirche drücken sich die verschlafenen Pilger unschlüssig an den Wänden entlang. Der süßliche Geruch von Weihrauch umhüllt und benebelt. Macht noch schläfriger. Um das Gähnen zu unterdrücken, schöpfe ich mir aus einem großen Becken ein Glas kaltes Weihwasser. Das viele Verbeugen lässt meinen Rücken unerträglich schmerzen. Sich von der Heiligkeit der Handlungen durchdringen zu lassen – alle pressen ihre Lippen auf die Gebeine des Heiligen Afanassi des Jüngeren, des früheren Klostervorstehers – ist nicht ganz einfach.Eine Stunde später versammeln sich die Pilger zum Tee. Auf dem langen Esstisch des Refektoriums stehen Prjaniki, Kekse und Bonbons, Kannen mit starkem Teesud und heißem Wasser. Der Tee ist aber nur für die sogenannten Trudniki bestimmt – das sind Pilger, die länger als drei Tage im Kloster bleiben. Für ihre Arbeit bekommen sie freie Kost und Logis und werden gesegnet.

    „Wie oft soll ich es dir noch sagen: Wir müssen einen Plan machen und dort eintragen, wer heute die Zelle putzt“, sagt Sascha, mein Zimmernachbar.

    „Das haut sowieso nicht hin, jeder hat doch andere Dienste, ich hab keine Ahnung, ob ich heute putzen kann oder nicht“, erwidert der hagere Serjosha gereizt.

    Die jungen Männer rühren nervös Zucker in ihrem Tee und giften sich weiter an. Wenn die anderen Leute nicht wären, wären sie schon handgreiflich geworden.

    „Halt einfach deine beschissene Klappe, du Penner! Du machst mich echt krank! Putz ich eben alles selber!“, blafft Sascha und bittet seinen Nachbarn, ihm die Kekse zu geben.

    Die Trudniki versammeln sich lustlos vor der Ikone

    Wieder ruft die Glocke. Die Trudniki versammeln sich lustlos vor der Ikone, wo sie der junge Mönch Anton erwartet, der als eine Art Brigadier fungiert und die Aufgaben für den Tag verteilt.

    Wieder ruft die Glocke: Auf dem Weg zum Gottesdienst
    Wieder ruft die Glocke: Auf dem Weg zum Gottesdienst

    „Herr Jesus Christus, eingeborener Sohn Deines Vaters, der von Anfang ist, Du hast gesagt: ‚Ohne mich könnt ihr nichts tun …‘“, rattert Anton ohne Stocken herunter. Auf seinem Arm sind die Reste eines Totenkopf-Tattoos zu erkennen. Ohrlöcher hat er auch. Wir bekreuzigen uns und gehen unsere Dienste verrichten.„Haben Sie heute wieder Dienst im Refektorium?“, hält mich der Brigadier an.

    „Ja. Der Batjuschka hat ihn gesegnet. Er hilft uns“, schaltet sich der Refektoriumsaufseher Serjosha ein. Anton greift sich schweigend ein Paar dreckige Handschuhe und geht hinaus in den Regen an die Arbeit.

    Über dem Mönch Anton steht der Priestermönch Gleb. Er wacht über die Ordnung im Pilgertrakt. Über Gleb steht der Klostervorsteher Igumen Alexej und noch darüber – der Bischof von Serpuchow, Roman, den sie hier Wladyka, den Gebieter, nennen.

    Das erste, was man im Kloster lernt, ist: Demut und Unterordnung. Laufend sagt man: „Ja, Batjuschka. Gut, Batjuschka. Gebt mir Euren Segen, Batjuschka“, dann verneigt man sich und geht an die Arbeit.

    II. Der Patriarch

    Serjosha hantiert im Refektorium rum. Er weist den Neuankömmlingen ihre Unterkunft zu, ordert Lebensmittel für die Küche, gibt Bettwäsche aus, kümmert sich darum, dass genug Toilettenpapier da ist, läutet die Glocke. Wegen seiner runden Brille mit den dicken Gläsern hat er den Spitznamen Fara, der Scheinwerfer.

    „Der Batjuschka hat gesagt, wir haben außer den Pilgern und den Arbeitern auch noch vierzig Fahrer zu beköstigen. Für die machen wir Grütze“, überlegt er, die Ellbogen auf die Theke gestützt. Sweta und ich versuchen mal durchzurechnen, wie wir die Leute unterbringen.  Die zwei großen Speisesäle müssten bei mehreren Durchgängen für etwa zweihundert Leute reichen.

    Patriarch Kirill besucht das Kloster

    In ein paar Stunden soll Patriarch Kirill im Kloster eintreffen, um an den Feierlichkeiten zu Ehren des wundertätigen Bildes teilzunehmen. Alle haben sich lange vorbereitet: Die Trudniki sind praktisch nicht mehr zum Gottesdienst gegangen und haben alles hergerichtet. Der große Platz wurde mehrmals täglich gefegt, die Blumenbeete in den bestmöglichen Zustand gebracht, beim Haus des Wladyka wurde ein Podest für die Gäste errichtet.

    Die Pilger sind bereits am Vorabend angereist. Es gab nicht genug Schlafplätze in den Zellen: Sie haben auf dem Boden geschlafen, in der Kirche, in den Gängen oder in ihren Autos.

    Ein Trudnik füttert die Gänse
    Ein Trudnik füttert die Gänse

    „Unterstützt die Soldaten im Donbass“, greint eine dunkelhäutige Romni. Ich rede mich raus. Sage, dass ich kein Kleingeld dabei habe. Die Bettlerin verliert augenblicklich das Interesse und wendet sich dem Strom von Menschen zu, die den Patriarchen sehen wollen.Nach ein paar Minuten erscheint Patriarch Kirill. Junge Männer in langen Kutten sind ihm dabei behilflich, seinen Platz auf dem roten Samtthron einzunehmen. Aus den Lautsprechern strömen geistliche Gesänge. Kirill bekommt ein kleines Mikrophon ans goldene Ornat geheftet. Die Priester treten der Reihe nach vor, um sich segnen zu lassen, und küssen seine Hände. Staatsbeamte beobachten das Geschehen von der Bühne aus. Rechts neben dem nachdenklich wirkenden Gouverneur der Moskauer Oblast Andrej Worobjow steht Chirurg, der Anführer der Nachtwölfe, in seiner Bikerkluft: abgewetzte Lederjacke, Lederhose und Strickmütze. Chirurg hält den Kopf gesenkt und bekreuzigt sich in regelmäßigen Abständen.

    Ein Gedränge wie in der Metro

    Zwölf Priester tragen Brot und Wein in die Menge, doch die Gläubigen schenken ihnen keine Beachtung. Sie stellen sich in wirrer Reihe auf, um die heilige Kommunion aus den Händen des Patriarchen zu empfangen. Der lächelt freundlich, doch die Kommunion spendet er nur einigen wenigen. Die leer ausgegangenen Gläubigen drängen jetzt zu den einfachen Priestern hin. Die, die die heiligen Gaben empfangen haben, schubsen laut krakeelend bei den alten Mütterchen herum, die geweihtes Wasser und Hostien verteilen.

    Das alles erinnert ans morgendliche Gedränge in der Metro: Die Gläubigen versuchen, sich zum Weihwasser durchzudrängeln, rammen einander im Eifer des Gefechts die Ellbogen in die Seite und prügeln sich um das geweihte Brot. Eine Frau grabscht mit beiden Händen nach den Hostien und stopft sie in eine Tüte, tritt dabei irgendjemandem mit voller Wucht auf den Fuß. Es entbrennt ein Streit.

    III. Fara

    „Ich lebe jetzt schon fast zwei Jahre hier. Hab keine Wohnung. Draußen in der Welt wartet keiner auf mich. Von meinen 38 Jahren hab ich 22 hinter Gittern verbracht“, erzählt Fara, während er unruhig um die Ecke des Schuppens späht, hinter dem wir hocken und heimlich rauchen. Vater Gleb ist gerade mit dem Morgengottesdienst fertig, er könnte uns bemerken, wenn er zum Pilgertrakt hinübergeht.

    Die steinerne Einfriedung des Klosters, im Gebüsch verstecken sich manchmal die Raucher
    Die steinerne Einfriedung des Klosters, im Gebüsch verstecken sich manchmal die Raucher

    Rauchen ist hier streng verboten. Vor kurzem fand in der Klosteranlage eine Säuberung statt, und die Reihen der Trudniki lichteten sich. Einige wurden beim Qualmen erwischt, manche mussten infolge interner Intrigen gehen, andere weil sie faul gewesen waren.Die Regeln verbieten es, in den Klosterzellen Elektrogeräte, Smartphones, Radios oder sonstige weltliche Attribute zu benutzen, die vom Gebet ablenken. Nach dem Abendgebet ist Zapfenstreich (man soll sofort schlafen), und für die gebets- und arbeitsfreie Zeit wird die Lektüre orthodoxer Literatur empfohlen.

    Die VIP-Zelle ist auch bei Priestern beliebt

    „Das hier ist eins der strengsten Klöster. Nicht mal Steckdosen gibt es in den Zellen. In manchen Klöstern stehen Fernseher, aber hier weiß man nicht mal, wo man sein Telefon aufladen kann“, beschwert sich eine junge Pilgerin, die im Refektorium hilft (Frauen dürfen hier nicht länger als drei Tage bleiben).

    So ganz stimmt das nicht, die strengen Regeln gelten nur in den Gemeinschaftszellen. Im Erdgeschoss des Pilgertrakts ist ein Zimmer mit separatem Eingang, Dusche, Toilette und Bidet. Außerdem gibt es dort einen Kühlschrank, einen elektrischen Wasserkocher, drei bequeme Betten und sonstige Zivilisationsgüter. Die VIP-Zelle ist nicht nur bei begüterteren Pilgern, sondern auch bei durchreisenden Priestern beliebt.

    In einer kleinen Abstellkammer schlüpft Fara in seine Kochkluft. Das weiße Hemd ist ihm zu groß, er krempelt die Ärmel hoch. Vor dem Spiegel steckt er die Kochmütze fest, die ihm sonst über die Augen rutscht. In ein paar Minuten muss der Korb mit dem Mittagessen beim Wladyka im Vorzimmer sein. Fara ist nervös und springt hektisch herum. Bemüht, keine Suppe zu verschütten, weicht er in seinen Gummischlappen geschickt den Pfützen aus.

    Kadetten aus Serpuchow warten auf den Beginn des Gottesdienstes
    Kadetten aus Serpuchow warten auf den Beginn des Gottesdienstes

    Als wir ein paar freie Minuten haben, setzen wir uns und machen Kaffeepause: Manchmal bekommen die, die im Refektorium arbeiten, welchen vorbeigebracht.„Höchstwahrscheinlich will ich weg hier. Es ist nicht gesagt, dass ich da draußen nicht wieder zu tief in Glas schaue, aber irgendwie haben sie mir Arbeit in Aussicht gestellt und ein eigenes Dach überm Kopf“, sagt Fara und rührt in seinem Lieblingsbecher. „Ich bete zu Gott, dass er mir eine gute Frau gibt. Ich weiß noch nicht, was daraus wird. Muss mich noch mit Vater Gleb beraten.“

    Nach dem Päuschen mache ich mich auf zu meiner Arbeit. Neben der Hauptkirche graben wir die Gebeine der hier bestatteten Teilnehmer an der Schlacht auf dem Kulikowo Pole aus. Als wir mit der Arbeit fertig sind, legen wir die Knochen in einen vom Regen durchnässten Korb. Die sterblichen Überreste sollen am Ende des Sommers beigesetzt werden, so heißt es.

    IV. Sascha und Ljocha

    Sascha habe ich vor einer Woche kennengelernt, als er am Kircheneingang Geld und Zigaretten schnorrte.

    „Ich habe keine Wahl, weißt du. Das Kloster ist mein Zuhause. Am Anfang war alles ganz lustig: Gras, Amphetamine, Heroin. Ich hab‘s alles vermasselt. Hab meinen Pass verloren, als ich mir Tropicamid gespritzt hab, in so einem kleinen Wäldchen war das. Ich wollte nur fünf Minuten dahin, und dann bin ich eingeschlafen.“

    „Und wovon lebst du und bezahlst deinen Stoff?“

    „Je nachdem. Die Batjuschki geben mir was und die Leute, die in die Kirche gehen.“

    „Und die geben dir direkt was für Heroin? Oder sitzt du einfach vor der Kirche und bettelst?“

    „Ja, früher manchmal auch vor der Kirche, in einer Kirche in Petersburg kennen die mich alle. Die Batjuschki geben mir zehn oder auch zwanzigtausend, wenn sie sehen, dass ich abdrifte, damit ich wieder auf die Beine komme. In der Kirche hole ich mir auch was zum Anziehen und Essen.“

    Vater Alexej würde auch als Offizier durchgehen

    Sascha trägt altmodische weite Jeans, einen ausgeleierten orangefarbenen Pullover und weiße Stiefel. Er sieht aus wie eine Mischung aus einem 2000er Jahre-Teenager und einem jungen Bahnhofspenner. Er habe von der Kirche in den letzten anderthalb Jahren insgesamt mehr als zweihunderttausend Rubel bekommen, behauptet er.

    Wir graben um und säen neuen Rasen. Von Zeit zu Zeit kommt Vater Alexej vorbei, ein groß gewachsener, kräftiger Mann. Würde er seinen Priesterrock gegen eine Uniform tauschen, ginge er glatt als Offizier der russischen Armee durch.

    „Du hast mir doch gesagt, du hast bis zwei Uhr die Erde hergeschafft!“, schnauzt Vater Alexej Sascha mit unverhohlenem Ärger an.

    „Ich hatte noch andere Aufgaben, Batjuschka“, versucht sich Sascha schuldbewusst zu rechtfertigen und sagt, er habe heute Dienst am Zentraltor und müsse am Buffet helfen.

    „Du hast dein Versprechen nicht gehalten. Und das ist das hundertste Mal jetzt. Pack deine Sachen und scher dich fort!“

    Batjuschka, bitte. Es wird nie mehr vorkommen. Ich kann doch nirgends hin. Schauen Sie, hier ist Eure Erde.“

    „Die wird jetzt nicht mehr gebraucht. Pack deine Sachen, und morgen ziehst du ab. Und komm ja nicht wieder!“ Vater Alexej hat keine Lust mehr sich zu unterhalten und greift nach der Harke. Bald soll irgendein hochrangiger Geistlicher anreisen, heißt es.

    Nach der Heumahd: Ein Trudnik schafft die Geräte fort.
    Nach der Heumahd: Ein Trudnik schafft die Geräte fort.

    Ein paar Tage später kommt Sascha zugedröhnt wieder an, und sie lassen ihn nicht rein.Auf dem kleinen Vorplatz vor der Kirche sind nur noch Trudnik Ljocha und ich übrig geblieben. Seine Arme sind mit Gefängnistattoos übersäht. Wir haben beide eine dreijährige Tochter da draußen vor den Klostermauern. Bloß dass er kurz vor der Scheidung steht und ich schon frei bin. Ich frage ihn, was er so gemacht hat in seinem weltlichen Leben.

    „Drogen verkauft hab ich. Dann war ich im Knast.“

    „Kriminelle Sachen“, meint Ljocha, ohne seine Arbeit mit dem Spaten zu unterbrechen. „Drogen verkauft hab ich. Gras, Schnee – was am meisten Geld gebracht hat. Dann war ich im Knast.“

    Er zieht sich die dreckigen Handschuhe aus, zieht das laut klingelnde Telefon aus der Tasche, hört etwa eine Minute schweigend zu, stopft das Handy wieder in die Tasche, wirft den Spaten weg und geht.

    „Meine Frau hat sich volllaufen lassen, fleht mich an, ich soll sie nicht verlassen, sonst tut sie sich was an. Die dumme Schlampe. Ich muss zu ihr fahren.“

    Und dann fährt Ljocha tatsächlich zu seiner Frau.

    V. Vater Nifont

    Am Morgen bitte ich Anton, mir einen Dienst in der Kapelle der Iwerskaja-Ikone der Muttergottes zuzuteilen, auf einem kleinen Gehöft mit Hühnern und einem Gemüsegarten. Dies ist eine der wenigen Gelegenheiten, das Klostergelände zu verlassen.

    Über das Gehöft wacht Vater Nifont, ein Mann von massiger, stämmiger Gestalt. Seine langen Haare und der Bart werden von einem Gummi zusammengehalten. In der Tasche seiner Kutte piept ununterbrochen eins seiner Smartphones: täglich an die 400 Nachrichten bekommt er von seinem Kirchenvolk.

    „So, ihr Süßen, einen Moment Geduld noch, gleich hacke ich euch alles klein“, sagt Vater Nifont zu den Hühnern und kippt den Inhalt mehrerer Eimer auf ein Schneidbrett. „Die Hühner können die großen Stücke so schwer fressen, deswegen muss man ihnen die Rinden und die Schalen zerkleinern. Sonst picken sie sie nur von allen Seiten an. Die haben ja schließlich keine Zähne.“

    Im weltlichen Leben war Vater Nifont Unternehmer. Er war in leitenden Positionen tätig, doch dann beschloss er, sich ganz der Kirche zu verschreiben. Was einem einiges mehr abfordert, als das Unternehmertum.

    Als Strafe darf Vater Nifont kein Kreuz tragen

    „Priester schlafen nur ein paar Stunden pro Nacht. Man muss früh raus, sich auf den Gottesdienst vorbereiten und beten. Dann ist man mehrere Stunden in der Kirche, danach geht man wieder in die Zelle und bereitet sich auf den nächsten Gottesdienst vor“, erklärt er, während er die Gemüsereste auf die Futtertröge verteilt. „Es ist schade, wenn über die Priester gesagt wird, sie seien gefräßig und fett geworden. Ich habe heute zum Beispiel noch nichts gegessen. Anständig zu essen schafft man nur einmal am Tag.“

    Serjosha in der Spülküche: Die Arbeit im Kloster geht nie aus.
    Serjosha in der Spülküche: Die Arbeit im Kloster geht nie aus.

    Vater Nifont unterscheidet sich von den übrigen Mönchen dadurch, dass man mit ihm offen sprechen kann. Bei der sonntäglichen Beichte hatte ich mich ganz bewusst für ihn entschieden, doch es wurde nichts daraus. Wegen irgendeiner Verfehlung darf er wohl keine Beichte abnehmen. Ihm wurde eine Strafe auferlegt: Man hat ihm verboten, das Kreuz zu tragen, und ihn aus seiner Gemeinde bei Moskau für ein Jahr ins Kloster abkommandiert.„Ich bin hier sozusagen im Außendienst. Gott sei Dank hat das bald ein Ende“, sagt der Priester und zeigt mir ein Foto seines Lieblingshundes – einer französischen Bulldogge.

    VI. Die Abreise

    Heute habe ich Dienst beim Zentraltor und stehe darum noch früher auf: Das Tor muss geöffnet werden, bevor der Gottesdienst beginnt. Die massiven Türen krachen gegen die Mauer. Ich werde den ganzen Tag hier verbringen, und ich werde Müll aufsammeln, am Buffet helfen, aufpassen, dass keine Bettler aufs Gelände kommen.

    Zu meinem Dienstbeginn trifft Ljocha wieder im Kloster ein. Bevor er die Kirche betritt, bekreuzigt er sich und verneigt sich bis zur Erde. Ich frage, wie es gelaufen ist.

    „Beschissen ist es gelaufen. Meine Frau ist tot. Morgen ist die Beerdigung. Hast du vielleicht ne Zigarette?“

    Wir schlagen uns schweigend in die Büsche.

    Die Empfängnis-Kathedrale. Serjosha macht sich fertig zum Glockenläuten.
    Die Empfängnis-Kathedrale. Serjosha macht sich fertig zum Glockenläuten.

    „Ich habe keine Ahnung, was ich jetzt machen soll und was ich meiner Tochter sagen soll. Wo ist Mama, fragt sie. Mama ist weggefahren.“ Ljocha steckt sich die nächste Zigarette an und geht in die Hocke, damit er vom Glockenturm aus nicht gesehen wird.Nach dem Mittagessen nimmt Vater Gleb mich beiseite.

    „Was fällt dir ein, dich nicht an die Vorschriften zu halten? Man beschwert sich über dich. Du hast also sogar mit Armbinde noch geraucht.“

    Mich zu rechtfertigen oder aufzuklären, wer mich verpetzt hat, ist sinnlos. Ich verspreche, es nicht wieder zu tun. Der Batjuschka schimpft, er habe die Nase voll und sei drauf und dran, allesamt auf der Stelle fortzujagen.

    Nach dem Abendbrot und dem Gebet gehe ich das Außentor schließen. Das Klostergelände ist praktisch nicht beleuchtet, als Taschenlampe dient mir mein Smartphone.

    „Komm ja nicht wieder!“

    „Was schleichst du hier herum?“, fährt mich eine Stimme aus dem Dunkeln an.

    „Ich habe das Tor geschlossen, Vater Gleb. Und jetzt bin ich auf dem Weg zum Pilgertrakt.“

    „Du denkst wohl, du kannst mich zum Narren halten? Mir reicht´s jetzt. Morgen kannst du nach Hause fahren. Und komm ja nicht wieder!“

    Er verschwindet in der Finsternis. Ich widerspreche nicht, versuche mich nicht zu rechtfertigen, ich lege mich einfach schlafen. Am nächsten Morgen packe ich ganz in Ruhe meine Sachen.

    Am Ausgang begegne ich Vater Nifont. Als wir uns verabschieden, schaut er sich verstohlen um und zieht das große Kruzifix aus der Tasche, das man ihm untersagt hatte zu tragen.

    „Na dann, geh mit Gott. Auf Wiedersehen“, sagt er und segnet mich.

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  • Die Silikonfrau

    Die Silikonfrau
    Illustration - Julia Gukova
    Illustration – Julia Gukova

    Die Rolle der Frau in der russischen Gesellschaft ist paradox: Zum einen sind fast alle Frauen berufstätig, mit großer Selbstverständlichkeit auch in typischen Männerdomänen – ein Erbe nicht zuletzt auch der sozialistischen Vergangenheit. Auf der anderen Seite herrscht die Auffassung vor, Frauen haben vor allem eins zu sein: liebreizend, häuslich und auf charmante Weise schwach. Gerade am heutigen Weltfrauentag, der in Russland am Arbeitsplatz, mit Freunden und in den Familien ausgiebig gefeiert wird, ist das Klischee der „holden Dame“ immer wieder Leitmotiv.

    Irina Begimbetowa und Emma Tertschenko setzen sich damit auseinander, wieso sexistische Werbung und Marketingkampagnen in Russland ausgezeichnet funktionieren, weshalb Frauen weniger verdienen als Männer und doch soviel Geld dafür ausgeben, ihnen zu gefallen – und warum Feminismus in Russland heute selbst von Frauen immer noch als ein Schimpfwort verstanden wird.

    Die Schauspielerin Julija Topolnizkaja, die in dem Videoclip zu dem Leningrad-Song Exponat die Hauptrolle spielt, erzählte in Interviews, sie habe Angst gehabt, den Zuschauern könnte ihre Darstellung nicht gefallen. Wie sich herausstellte, war diese Sorge unbegründet. Dafür spricht erstens der Irrsinserfolg des Videoclips: mehr als 51 Millionen Views auf YouTube innerhalb von einem Monat.

     

    Zweitens die dort geposteten Kommentare. Die schauspielerische Leistung beschäftigt die Zuschauer offensichtlich weniger, etwa die Hälfte der Kommentare betrifft – vollkommen ernst gemeint! – die Frage, welche Chancen die junge Frau mit den Mega-High-Heels wohl habe, ihren heißbegehrten Sergej zu erobern. „Die ist doch potthässlich!“, jauchzt eine gewisse X. „… und ihr Arsch ist echt ein bisschen zu fett“, meint Y. schadenfroh, und Z. merkt mitleidig an: „Die roten Schuhsohlen hätte sie sich auch sparen können. Ein Mann guckt nicht auf die Schuhe, den interessiert zuerst die Figur und dann das Gesicht.“ Oder, es wird gleich abgebügelt: „Mädchen, die fluchen – das ist nicht schön.“

    Die Ironie des Clips geht an den Kommentatorinnen weitgehend vorbei, dafür kennen sie sich mit den elementaren Dingen aus: Sollen sich doch irgendwelche abgehobenen Damen um ihre Frauenbefreiung kümmern – sicherer und kuschliger lebt es sich nach den Regeln der gewohnten sexistischen Welt.

    Die Angstverkäufer

    Eine junge Frau mit entblößtem Oberkörper blickt lasziv von einem Plakat herunter, wobei sie ihre Brüste mit den Händen bedeckt. „Klein, aber mein!“, lautet der Text zu dem Bild. Es handelt sich um Werbung für Wohnungen in dem Neubaugebiet von Tscheboksary. Ihre Macher würden nicht nur in den USA, sondern vermutlich auch im traditionalistischen China zu einer saftigen Geldstrafe verurteilt werden. In Russland ist so etwas an der Tagesordnung.

     
    „Klein aber mein“ – Werbung für Wohnungen in einem Neubaugebiet in Tscheboksary

    Oder: Der Showman Dimitri Nagijew wechselt in einem Restaurant vielsagende Blicke mit einer Unbekannten. „Sie ist aus Petersburg, aber sie kann auch asiatisch. Und sie ist jederzeit und überall bereit, meinen Hunger zu stillen“, ertönt eine Stimme aus dem Off. Es ist natürlich nicht die junge Frau am Tisch, die den Hunger stillen soll – gemeint ist eine Kette von Asia-Restaurants in St. Petersburg namens Eurasia. Ein weiteres Beispiel ist die Werbung für ICQ-Internettelefonie, bei der Pawel Wolja die Qualität des Internetsignals mit der Größe der weiblichen Brust vergleicht: „Internet 2G ist wie 70A: immerhin was da, Gott sei Dank.“

    Geht es um Mayonnaise oder Pampers, dann blicken uns Hausfrauen vom Bildschirm entgegen, alles Übrige sollen Busen und Popos an den Mann bringen, und für die Frauen selbst gibt es Dutzende, ja Hunderte von Kursen zum Thema Wie werde ich unwiderstehlich.

    Sexismus wird verkauft und gekauft. „Wir beobachten die sozialen Netzwerke und die Internetforen genau, bevor wir eine Werbekampagne starten: In Russland sind es wenige Leute, denen die Rechte der Frauen wirklich wichtig sind. Eine feministisch ausgerichtete Kampagne wird hier leider immer nur für eine kleine Zielgruppe funktionieren“, erklärt Michail Perlowski, Kreativ-Direktor der Werbeagentur AnyBodyHome! Und fügt in bester Sexismustradition hinzu: „Unter den Produktmanagern, unseren Auftraggebern, sind viele alleinstehende Frauen mit Kindern. Die kleben an ihren Sesseln, sie müssen ihre Familie ernähren. Die denken sich nichts Neues aus, verwenden einfach die althergebrachten Stereotype, die das Massenpublikum garantiert ansprechen.“

    Das Erfolgsrezept sexistischer Vermarktung heißt: Verkaufe Angst. Die Angst, alt zu werden, hässlich zu werden und allein zu bleiben. Es gibt zu wenig Männer, nicht genug für alle, und wenn du nicht schön bist, heiratet dich keiner, und selbst wenn, lässt er sich wieder scheiden und keiner will dich mehr haben. Mit Angst kann man einer Frau alles aufschwatzen, um diesem elenden Schicksal zu entrinnen.

    Die russischen Frauen springen voll darauf an. Daten des Branchenverbands Cosmetics Europe zufolge betrug das Marktvolumen für Kosmetik in Russland im Jahr 2014 24,6 Milliarden Dollar. Heruntergerechnet bedeutet das, dass eine Russin im Jahr durchschnittlich 192 $ für Kosmetik ausgibt. Mehr als eine Französin (166 $), eine Deutsche (142 $) oder eine Engländerin (165 $).

    Wenn man diese Ausgaben dann noch ins Verhältnis zum Durchschnittslohn setzt, erscheint das schier unbegreiflich: Eine Russin gibt ca. 30 Prozent ihres Gehalts für Kosmetik aus, während es für eine Französin oder Italienerin rund 5 %, für eine Deutsche ca. 4 % sind. Ein Drittel ihres Einkommens also wendet eine Russin für ihre Schönheit auf, obwohl (oder gerade weil? – das bleibt ein Rätsel) der geschlechtsspezifische Gehaltsunterschied in Russland größer ist als in allen anderen Ländern Europas. Die durchschnittliche Russin verdient um 30 % weniger als ihr Mann, der Durchschnittsrusse; die Deutsche um 21,6 %, die Engländerin um 19,7 %, die Französin um 15,2 %.

    Nicht einmal die Wirtschaftskrise wirkt sich auf die Ausgaben der Russinnen für ihre Schönheit aus – sie sinken kaum einmal, steigen sogar eher. Bei der letzten Erhebung des Lewada-Zentrums wurde auf die Frage, wie oft man zur Kosmetikerin gehe, um 10 % seltener „nie“ geantwortet als beim Mal zuvor.

    Feminismus verkauft sich nicht

    Sexismus ist in Russland eine heiße Ware, doch ein Ausgleich aus der feministischen Produktpalette fehlt. Formal war Russland (genau genommen, sein Vorgänger die Sowjetunion) weltweit das erste Land, in dem der Feminismus gesiegt hat. Doch dieser Sieg betrifft nur politische Rechte und das Recht auf Arbeit.

    Im kulturellen Diskurs fehlt der Feminismus fast vollständig, so dass man sogar gebildeten Leuten die Bedeutung des Begriffs erklären muss. Im Grunde sind nur die radikalen Ausläufer des Feminismus bekannt, beziehungsweise der Feminismus wird überhaupt nur in karikierter Form wahrgenommen.

    „Eine Feministin ist ein Mensch, der in mehreren früheren Inkarnationen ein Mann war und dann plötzlich, völlig unerwartet, als Frau auf die Welt kommt“, so der Crashkurs auf einer Website. „Natürlich ist dieser Mensch schockiert. Er ist empört! Vielleicht war er im vorigen Leben Fallschirmjäger. Und auf einmal wird er wie eine Frau behandelt. Soll Kinder gebären, Essen kochen und statt Granaten feurige Blicke werfen. Nichts ist schlimmer für einen gestandenen Mann, als für eine Frau gehalten zu werden! Und wütend beginnt er, für seine Rechte zu kämpfen.“

    Die Koordinatorin des Projekts Geschlechterdemokratie der Heinrich-Böll-Stiftung, Irina Kosterina, ist mit Aufklärungsveranstaltungen in ganz Russland unterwegs und erzählt, sie werde oft gebeten, das Wort „Feminismus“ nicht zu benutzen. „Was den statistischen Durchschnittsrussen angeht, ist dieser Begriff zu bestimmten progressiven, fortschrittlichen, gebildeten Gruppen durchgedrungen und sie haben keine Angst mehr davor. Aber manche fürchten ihn immer noch“, sagt Kosterina.  

    Die Schriftstellerin und Business-Trainerin Irina Chakamada meint, es sei überhaupt nicht mehr sinnvoll, vom Feminismus zu sprechen, denn die aufgeklärte Menschheit lebe schon lange im Zeitalter des Postfeminismus. Feminismus sei die Zeit der Revolution, des Kampfes für die Rechte der Frauen gewesen, im Postfeminismus ruhe man sich auf den Lorbeeren dieser Siege aus. Die Postfeministinnen pflegen das Vermächtnis der Feministinnen, doch anstatt für die Selbstverwirklichung zu kämpfen, können sie sich auf ihre Umsetzung konzentrieren.

    Vielleicht stimmt das für die aufgeklärte Menschheit, doch Russland ist einer kulturellen feministischen Revolution noch nicht mal nahegekommen. Da es keine revolutionäre Bewegung gibt, wirken auch Versuche, sich an ihre Spitze zu stellen, ziemlich fragwürdig.

    Vor vielen Jahren war es Maria Arbatowa, die die Rolle der Fahnenträgerin des russischen Feminismus für sich beanspruchte. Diese Rolle spielte sie in ihrer in den 90ern beliebten Talkshow Ja sama (Ich mach das selbst). Eigentlich sagte Maria im Fernsehen nichts Radikales, sondern predigte einfache Wahrheiten im Sinne liberaler europäischer Werte. 1999 verließ Arbatowa die Talkshow. Ihr Image zu Geld zu machen, gelang ihr jedoch nicht.        

    Heute darf die 35-jährige Journalistin und Bloggerin Bella Rapoport den Titel der berühmtesten Feministin für sich in Anspruch nehmen. Ihre Karriere als Feministin begann in den sozialen Netzwerken, wo sie ihre Gedanken mit Freunden teilte und idealistisch der Meinung war, sie lebe nicht vergeblich, wenn wenigstens einer Frau auf dieser Welt die Augen geöffnet würden.

    Vor zwei Jahren schrieb Rapoport in Snob eine Kolumne mit dem Titel Das Recht auf Sex, in der sie sich Gedanken über die Tatsache machte, dass das Recht der Männer auf Sex im herrschenden Wertesystem stärker gewichtet wird als das der Frauen. Die Kolumne brachte Bella Popularität ein (bis heute über 135.000 Aufrufe), woraufhin auch andere Medien sie als Autorin einluden.

    Weiter punkten konnte sie im Meduza-Gate: Im März des vergangenen Jahres publizierte das Online-Magazin Meduza die Anleitung Wie es funktioniert, in Russland kein Sexist zu sein und warb dafür in den sozialen Netzwerken mit dem Satz „Männer, hier lernt ihr, Miezen1 nicht zu beleidigen“. Mehr als ein Artikel befasste sich mit dem Wort „Mieze“, die Bloggerszene lief Sturm, und Rapoports Kolumne zu dem Thema auf Colta.ru erreichte fast 268.000 Aufrufe.

    In den letzten Monaten hat Bella übrigens nichts mehr veröffentlicht, und künftig will sie viel weniger über Feminismus schreiben als bisher. Sie brennt nicht darauf, das Banner der wichtigsten Frauenrechtskämpferin Russlands zu tragen. Sie sei müde und enttäuscht, sagt sie – darüber, wie die Gesellschaft auf sie reagiere und wie man in Russland mit Frauen umgehe. In den sozialen Netzwerken und den Kommentaren zu ihren Kolumnen hatte man Bella Rapoport rasch klargemacht, was sie „in Wirklichkeit ist“: Eine hässliche Jüdin, die die russischen Frauen ins Verderben stürzen wolle, eine Lesbe und einfach eine dumme Nuss.

    Wölfe als Hüter der familiären Werte

    Auf der Agenda des westlichen Feminismus steht derzeit, den Weg freizumachen für Frauen im Beruf, die Gehälter anzugleichen, Plätze in Aufsichtsräten sicherzustellen. Das wirkt in Russland, wo die Grundrechte der Frauen grob missachtet werden, eher wie eine Karikatur. Jedes Jahr sterben mehrere Tausend Frauen an häuslicher Gewalt – 2013 waren es 9000. Der Statistik zufolge werden 40 Prozent der Gewaltdelikte innerhalb der Familie begangen.

    Dieses Problem lässt sich nicht ohne staatliches Eingreifen lösen, aber die Aktivistinnen haben Mühe, sich über all die Rhetorik der „spirituellen Klammern“ und der „Werte“ hinweg Gehör zu verschaffen. Eine kleine Anekdote: Im vergangenen Jahr war der Russische Frauenverband an der Vergabe der präsidialen Fördermittel für gemeinnützige Organisationen beteiligt. Er versagte einem Projekt die beantragten 4 Millionen Rubel für eine umfassende Informations- und Auskunftsplattform für weibliche Opfer häuslicher Gewalt. Dafür wurden 9 Millionen Rubel an den Biker-Club Nachtwölfe für die Organisation von Neujahrsfesten vergeben.

    Punktuell entstehen in Russland aber dennoch Projekte zum Schutz von Frauenrechten. Nachdem sie die Födermittel nicht erhalten hatten, realisierten die beiden Juristinnen Anna Riwina und Mari Dawtjan die Website in Eigenleistung, unterstützt von Freunden und Freiwilligen und in Zusammenarbeit mit einem Konsortium regierungsunabhängiger Frauenverbände.

    Es gibt auch ganz rührende Projekte im Geist der Suffragetten des frühen 20. Jahrhunderts, in St. Petersburg zum Beispiel die von den vier jungen Künstlerinnen Anna Tereschkina, Antonina Melnik, Maria Lukjanowa und Nadeshda Katastrofa gegründete Nähkooperative Schwemy. Die Kooperative funktioniert auf der Basis von Gleichberechtigung, sämtliche Entscheidungen werden im Konsens gefasst, und die Gründerinnen verstehen das Nähen als Prozess der Emanzipation: Sie steppen nicht einfach Nähte, sondern hören während der Arbeit Audiobooks, zum Beispiel von Marx.

    Ihren Prinzipien verleihen die jungen Frauen durch ihre genähten Werke Ausdruck. So nähten sie etwa die Kostüme für das Stück Vagina-Monologe – einem New Yorker Theatermanifest, das 1996 zum ersten Mal aufgeführt wurde, 2005 nach Russland gelangte und seither mehr oder weniger erfolgreich von Bühne zu Bühne zieht. Eine andere Spezialität des Ateliers sind die queer-feministischen Röcke – luftige Umhänge mit großen Taschen, die nach dem Willen der vier Näherinnen sowohl von Frauen als auch von Männern getragen werden sollen.

    Das mögen manche als lächerlich empfinden, aber vielleicht ist es gar nicht so schlecht, mit Spießbürgern in der Sprache der Röcke zu sprechen. Diese Sprache ist ihnen im Gegensatz zu den Wörtern „Misogynie“ und „Objektivierung“, mit denen zeitgenössische feministische Autorinnen um sich werfen, vielleicht verständlich.


    1.In einer früheren Version hatten wir für russisch „tjolotschka“ die (nicht ganz korrekte, aber wörtlichere) Übersetzung „Kälbchen“ verwendet – „Mieze“ ist näher am russischen Idiom.

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  • Wie Russland lernte, die Bombe zu lieben

    Wie Russland lernte, die Bombe zu lieben

    „Kaum eine Ausgabe der Nachrichten kommt heute ohne Beiträge über das nukleare Potenzial Russlands aus“, so Andrej Loschak in seinem Kommentar für Colta.ru. Er fragt sich: Wird die Atombombe zur neuen Nationalidee?

    Vor zwölf Jahren war ich in der Demokratischen Volksrepublik Korea, um dort heimlich einen Beitrag für Namedni zu drehen. Ich wunderte mich damals über die vielen Plakatwände, die Straßen Pjöngjangs waren voll davon. Anstelle der üblichen Reklame gab es Militärplakate mit riesenhaften furchtlosen Nordkoreanern drauf, die kleinen feigen Amerikanern auf allerlei Art zusetzten. Das war ebenso komisch wie erstaunlich: Die lokale Propaganda schenkt den USA solche Aufmerksamkeit, während die Mehrheit der Amerikaner kaum eine Ahnung davon hat, dass es die Nordkoreaner überhaupt gibt.

    Wasserstoff-Bombe AN602, auch Zaren-Bombe genannt, in Originalgröße. Die im wissenschaftlichen Team des späteren Bürgerrechtlers Andrej Sacharow entwickelte Bombe wurde im Oktober 1961 bei einem Atomtest gezündet und verursachte damals die stärkste je von Menschen erzeugte Explosion. Foto © Sergej Nowikow

    Das kleine und schwache Nordkorea ist für seine Autarkie darauf angewiesen, dass man es fürchtet – sowohl innerhalb wie auch außerhalb des Landes. Weiter hat sie nichts zu bieten – keine Technologien, keine Reichtümer, keine Kultur. Die einzige Nachricht aus Nordkorea, die es regelmäßig in die Top Ten schafft, ist die Meldung, dass sie die Atombombe haben. Angst und Schrecken einflößen, den Menschen drohen, das ist alles, was bleibt, wenn die Seele verkauft ist. Nicht umsonst wird im Hooligan-Jargon ein Messer als „Argument“ bezeichnet – es stimmt schon, wenn einem damit einer vor der Nase herumfuchtelt, wirkt es tatsächlich überzeugend, aber im Allgemeinen ist der Gebrauch eines derartigen „Arguments“ vor allem ein Zeichen von Dummheit, Niedertracht und Schwäche.

    Angst und Schrecken einflößen, den Menschen drohen, das ist alles, was bleibt, wenn die Seele verkauft ist

    Als ich damals 2004 in Nordkorea war, glaubte man in Russland fest und unerschütterlich an Kohlenwasserstoffe. „In gas we trust“, so lautete das Credo der Regierenden. Ich weiß noch, wie Leonid Parfjonow in einer Namedni-Ausgabe eine Rede Putins vor der Föderationsversammlung mit dem Auftritt des Vorstandsvorsitzenden eines Mineralölkonzerns vor seinen Aktionären verglich. Seinerzeit hatte der Präsident keine andere Idee, als den Pipelines und Förderrohren ordentlich Profit zu entlocken. Die Brosamen, die von dem Gelage für das Volk abfielen, nannte man Stabilität. Und die Menschen glaubten gerne daran. Nach seinem Abgang 2008 wäre Putin denn auch als erfolgreicher Topmanager in die Geschichte des Landes eingegangen. Doch er ging nicht.

    Die Brosamen, die von dem Gelage für das Volk abfielen, nannte man Stabilität

    Seit dieser Zeit fielen die Preise für Energieträger mehrfach in den Keller, und es wurde klar – aus einer ephemeren Substanz wie dem Erdgas eine nationale Idee machen zu wollen, ist zumindest dumm. In Russland kam eine dumpfe Unzufriedenheit auf, der Topmanager erwies sich als doch nicht so effektiv. Viele nannten den Präsidenten sogar plötzlich einen Dieb, forderten ehrliche Wahlen und verwiesen dabei auf die westliche Demokratie. Das daraufhin inszenierte patriotische Projekt ließ die Russen angesichts der alptraumhaften Perspektive, sich in ein nächstes Gayropa zu verwandeln, enger zusammenrücken, aber zur nationalen Idee wurde es nicht. Niemand zeigte sich in der Lage, mitreißend zu erklären, was es mit „unseren Traditionen“, der geistigen Klammer und dem Sonderweg auf sich hat. Und je weiter man auf dem Sonderweg voranschritt (Leskow hielt diesen Weg übrigens für eine Sackgasse), desto steiler ging es mit der Stabilität bergab und die Feinde, die schuld waren an unserem Unglück, wurden immer mehr.

    Unerwartet aktuell war plötzlich die Erfahrung der nordkoreanischen Genossen: Die kriegerische Songun-Doktrin wurde zur neuen Ideologie der russischen Machthaber, und die Atombombe als gewichtigstes Argument zu ihrem Symbol. Vor zwölf Jahren kam mir Nordkorea wie ein absurdes Relikt der Vergangenheit vor, wie eine Parodie auf eine Antiutopie aus dem 20. Jahrhundert. Inzwischen ist mir die Lust vergangen, über Nordkorea zu spotten, denn das Land, in dem ich lebe, ist gerade dabei, sich in ein Nordkorea zu verwandeln. Russland erinnert heute an Dr. Seltsam. Wir haben angefangen die Bombe zu lieben, als uns klar wurde, dass wir etwas Cooleres und Stärkeres sowieso nicht haben. Die Bombe ist unsere wichtigste „Klammer“, unser schwerwiegendstes Argument. Es ist offensichtlich, dass es bei uns in nächster Zeit ebenso wenig für einen Elon Musk oder einen Steve Jobs reichen wird wie für irgendwelche Wissenschafts-Nobelpreisträger. Aber die Bombe – die gute alte sowjetische Atombombe -, die ist da und rührt sich nicht vom Fleck. Wenn man uns schon nicht achten will (wofür eigentlich?), so soll man uns wenigstens fürchten.

    Das Land, in dem ich lebe, ist gerade dabei, sich in ein Nordkorea zu verwandeln

    Kaum eine Ausgabe der Nachrichten kommt heute ohne Beiträge über das nukleare Potenzial Russlands aus. Den Anfang machten natürlich die berühmt gewordenen Eskapaden von Dimitri Kisseljow zur Zeit der Krim-Annexion: „Obama ist vor Angst ergraut“, „wir können die USA in radioaktive Asche verwandeln“ und so weiter. Wohl genau für das feinfühlige Erfassen dieses Trends wurde er in der Folge mit Huldigungen überschüttet. Selbst der Präsident vergleicht die Atomwaffe zärtlich mit den Krallen und Zähnen eines freundlichen kleinen Bären, dem die Feinde das Fell abziehen wollen.

    2015 beklagt sich eben jener Moderator Kisseljow auf einer Pressekonferenz bei Putin: „Es kann natürlich sein, dass ich an Paranoia leide, aber ich spüre förmlich den Würgegriff der NATO, ich fühle, wie ihr Ring sich immer weiter schließt und ich keine Luft mehr bekomme!“ „Keine Angst, wir haben doch selbst alle im Würgegriff“, beschwichtigt Putin und geht zu seinem Lieblingsthema über: den Kräften der nuklearen Abschreckung.

    Das Verteidigungsministerium hat letztes Jahr vorgeschlagen, einen neuen Feiertag einzuführen: den Tag der Kernwaffe – zum Gedenken an die Erprobung der ersten sowjetischen Atombombe. Ein Karikaturist der Nachrichtenagentur RIA Nowosti veröffentlicht eine Karikatur, die seinen ständigen Helden – einen etwas heruntergekommenen Bären – zeigt, wie er als Reaktion auf den gesunkenen Ölpreis Obama mit einer Rakete vor dem Gesicht herumfuchtelt. Gegenüber der amerikanischen Botschaft in Moskau hängt ein Plakat mit der Aufschrift „Obama ist ein Mörder“, und auf den Straßen sind Autos mit antiamerikanischen Aufklebern unterwegs.

    „Die Ölpreise werden nie mehr hochgehen“ - „Ich habe da was – damit geht alles hoch.“ Karikatur von Witali Podwizki, veröffentlicht auf RIA Nowosti. Später wurde sie von der Website heruntergenommen. Quelle: buyro.ru

    Ich war diesen Sommer zwei Wochen in den USA – ich habe nicht einen einzigen Anti-Putin-Aufkleber gesehen. Die Amerikaner kümmern sich einen Dreck um ihn – sie haben wichtigere und interessantere Dinge zu tun. Dieser Krieg findet ausschließlich in unseren Köpfen statt – und zwar als Projektion der Launen des Präsidenten. Die Fixiertheit auf das Feindbild enthüllt einen ungeheuerlichen Provinzialismus; nicht von ungefähr ist das Internet voll von Witzen zum Thema „Noch nie ging es den Russen so schlecht wie unter Präsident Obama“. Wenn das nicht Nordkorea ist!

    Es ist traurig, es sich einzugestehen, aber Russland ist heute eine Art internationaler gewaltbereiter, kriminalitätsaffiner Gopnik mit einem „Argument“ in der Hosentasche. So weit wurde der Militarismuskult nicht einmal von der kommunistischen Propaganda getrieben, die wenigstens den Versuch machte, sich als Friedenstaube zu verkaufen, die dem Ansturm der Falken aus dem Pentagon Einhalt gebietet. Für den Verteidigungskomplex gibt Russland das Zehnfache dessen aus, was es in Gesundheit und Bildung investiert (rund 30 Prozent gegenüber 3 Prozent), wobei die Verteidigungsausgaben unablässig steigen, während die Mittel für den medizinischen Bereich bereits seit Jahren gekürzt werden. Krankenhäuser werden geschlossen, Arzneimittel werden nicht gekauft, Geräte gehen kaputt – nahezu täglich wird darüber berichtet. Im Grunde bezahlen wir alle schon heute – ohne jeden Atomkrieg – für die Liebe des Präsidenten zur Bombe, nämlich mit unserer Gesundheit.

    Mit ihrer militaristischen Paranoia versuchen sie alle zu infizieren, selbst die Kinder. Vor ein paar Wochen war ich bei einer von den Nachtwölfen veranstalteten Neujahrsshow. Ich war gespannt, wofür die Biker die 9 Millionen Rubel ausgegeben hatten, die sie als Präsidenten-Fördergelder für den Bereich Nichtkommerzielle Organisationen eingestrichen hatten. Dabei waren wirklich renommierte Organisationen wie der Hospiz-Hilfsfonds Vera und die Stiftung Freiwillige helfen Waisenkindern leer ausgegangen.

    Selbst der Präsident vergleicht die Atomwaffe zärtlich mit den Krallen und Zähnen eines freundlichen kleinen Bären, dem die Feinde das Fell abziehen wollen

    Die einstündige Show bei frostigen Temperaturen erschütterte durch eklektizistische Scheußlichkeit. Nach etwa sieben Minuten trat eine anzüglich gekleidete Frau mit amerikanischem Akzent auf, die sofort gegen alles Russische loswetterte und immerzu wiederholte: „Bei euch ist alles Mist und auch diese Neujahrsfeier ist voll daneben!“ Die bunte Truppe der Feinde [Russlands] bestand aus Sultan Erdogan, einem Nazi mit schwulem Gebaren, einem Hipster mit MacBook unterm Arm und einem Rockmusiker, in dem Andrej Makarewitsch zu erkennen war. Ihnen gegenüber standen einfache russische Menschen, aus patriotischen Gründen unterstützt vom Unsterblichen Koschtschej: „Wir sind vielleicht Räuber und Unholde, aber unser Blut ist russisches Blut!“ Anschließend besiegten die Russen unter Führung von Koschtschej, dem Unsterblichen, natürlich die Taugenichtse. Dabei bretterten die einen wie die anderen auf amerikanischen Motorbikes durch die Kulissen, eine Eins-zu-eins-Kopie von Mad Max, übrigens auch zu erkennen an einer riesigen Aufschrift mit dem Titel des Actionstreifens.

    Später fragte ich den siebenjährigen Sohn von Freunden, der die patriotische Halluzinose bis zur Hälfte mitangeschaut hatte, bevor er sich zum Aufwärmen ins Café verzog: „Was würdest du sagen, worum ging es bei der Vorstellung?“ Der Junge kratzte sich am Kopf und sagte unsicher: „Irgendwie um Krieg?“

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  • Die für den Westen sprechen

    Die für den Westen sprechen

    In unregelmäßigen Abständen werden wir auf dekoder nun auch Beiträge aus russischen Blogs übersetzen, den Anfang macht diese Woche der Blog noodleremover (russisch: lapschesnimalotschnaja) von Alexej Kowaljow. 

    Jemandem Nudeln auf die Ohren hängen – das heißt in Russland soviel wie: jemanden für dumm verkaufen, jemandem einen Bären aufbinden. Die Wendung kommt wohl aus dem Gefängnis-Jargon, und mit Nudeln hat sie mit ziemlicher Sicherheit ursprünglich gar nichts zu tun, aber Kowaljow nimmt sie beim Wort: Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Fälle zu entlarven, in denen russische Massenmedien ihren Lesern (und Zuschauern) die Pasta auf die Ohrmuscheln zu kleben versuchen – und kratzt sie mit medienanalytischen Werkzeugen wieder ab. Fündig wird er dabei häufig, und seine Leser danken es ihm inzwischen mit bis zu 100.000 page views für jeden seiner Posts. 

    In dem hier übersetzten Beitrag wirft Kowaljow – der als ehemaliger Chefredakteur von inosmi.ru und Co-Chef von yodnews.ru die Medienszene genauestens kennt – einen Blick auf einige Persönlichkeiten, die im russischen Fernsehen als westliche Experten zu verschiedenen politischen Themen präsentiert werden. Dabei spielt die deutsche rechtsnationale Szene keine unbedeutende Rolle.

    Gestern hatte euer ergebener Diener ein Gespräch mit den Kollegen des Internetfernsehens Nastojaschtscheje Wremja [currenttime.tvdek], und zwar anlässlich eines kürzlich veröffentlichten noodleremover-Beitrags über die „Experten“, die in den russischen Fernsehprogrammen auftreten und sowohl für den einheimischen Markt, sprich für die WGTRK, tätig sind als auch für den ausländischen Markt, also beispielsweise für Sendungen von RT und Sputnik. Diese Experten werden gewissermaßen zur äußeren Legitimation propagandistischer Thesen benutzt – schaut mal her, wir haben uns diese ganzen Geschichten über das niederträchtige Amerika gar nicht selbst ausgedacht, sogar die amerikanischen Experten sagen das. 

    [video:https://www.youtube.com/watch?v=SSovnoi5_n8 align:left]

    Es gibt also eine Handvoll Leute, die von Beitrag zu Beitrag ziehen, wo sie mal als „Experten“, mal als „Analytiker“ und mal als „Journalisten und Schriftsteller“ vorgestellt werden. Obgleich sie bei sich zu Hause keineswegs als Experten gelten. In Russland kann man ja Parlamentssprecher oder Leiter der größten Staatsbetriebe sein oder einen anderen höchsten Staatsposten bekleiden und dabei in der Öffentlichkeit den tumbesten verschwörungstheoretischen Blödsinn von sich geben, und das wird dann in den staatlichen Medien abgedruckt, ohne dass es irgendjemanden kümmern würde. Im Westen aber, im Gegensatz zu Russland, hat der Begriff Reputation doch ein gewisses Gewicht. Wenn jemand ein hohes Amt anstrebt oder in den seriösen Medien auftreten will, obwohl er irgendwelche komplett marginalen Standpunkte vertritt oder Anhänger einer Verschwörungstheorie ist, so wird er versuchen, diese für sich zu behalten. Denen, die ihre Leidenschaft für Aluhüte nicht im Griff haben, bleiben nur die Websites für den kleinen Kreis ihrer Gesinnungsgenossen – oder der Fernsehsender RT, wo man ihre Phantasien live an ein mittlerweile durchaus breites, wenngleich weltweit gesehen doch marginales Publikum ausstrahlt. So gelangen „Experten“ zuerst zu RT und von dort aus auch in die Westi – bei näherer Betrachtung entpuppen sie sich dann als stadtbekannte Irre, sonstige schräge Vögel oder als mehr oder weniger offene Nazis. 

    Manuel Ochsenreiter (Redakteur der rechten Zeitschrift Zuerst!) im Ersten Russischen Fernsehen
    Manuel Ochsenreiter (Redakteur der rechten Zeitschrift Zuerst!) im Ersten Russischen Fernsehen

    In meinem Gespräch mit Nastojaschtscheje Wremja kam eine interessante Frage auf, deren Beantwortung bedauerlicherweise nicht gesendet wurde. Woher kommen  diese ganzen Leute eigentlich? Sitzt irgendein unbekannter Redakteur des Staatsfernsehens da und überlegt: „Welchen renommierten ausländischen Experten hole ich am besten in die Sendung, damit er dort über Amerikas heimtückische Intrigen berichtet?“ Wir wollen einfach mal versuchen, anhand jenes Westi-Beitrags über sogenannte Couchexperten Licht ins Dunkel zu bringen.

    Da ist zum Beispiel William Engdahl, der behauptet, die USA hätten „einen umfassenden Plan zur Dämonisierung Russlands aufgestellt“. Engdahl ist Autor zahlreicher Bücher, Artikel und Vorträge über die schädlichen Folgen von Genmanipulation sowie darüber, dass die globale Erderwärmung ein Mythos sei und dass hinter sämtlichen globalen Entwicklungen in der Welt, vom Sturz des Schahs im Iran 1979 bis zur ägyptischen Revolution 2011, die CIA stehe. Er ist häufig zu sehen auf RT, unter anderem war er in der Sendung Truthseeker im Juli 2014 zugeschaltet, und zwar in der Ausgabe über das „gekreuzigte Baby“, die nach zahlreichen Zuschauerbeschwerden wieder aus dem Programm genommen wurde. 

    Wurde Engdahl in dem Westi-Beitrag als „Schriftsteller und Politologe“ vorgestellt, so betreibt er hier „investigativen Journalismus“ 
    Wurde Engdahl in dem Westi-Beitrag als „Schriftsteller und Politologe“ vorgestellt, so betreibt er hier „investigativen Journalismus“ 

    Außerdem ist Engdahl ständiger Autor des Zentrums für Globalisierungsforschung und seine Texte werden häufig auf der Website globalresearch.ca publiziert. Ich habe bereits darüber geschrieben, warum diese Seite eine solch wertvolle Quelle für die verschiedensten „Analytiker“ und „Politologen“ im russischen Fernsehen darstellt. Der Gründer des Zentrums für Globalisierungsforschung Michel Chossudovsky gehört dem wissenschaftlichen Beirat der italienischen Zeitschrift Geopolitica an, deren Chefredakteur Tiberio Graciani wiederum im obersten Rat der Internationalen eurasischen Bewegung sitzt, deren Vordenker und Anführer Alexander Dugin ist. Wenn ihr nicht darüber informiert seid, wer das ist, lest es bitte nach, so auf die Schnelle lässt sich das nicht sagen. Eine, kurz gesagt, facettenreiche Persönlichkeit, die in Russland innerhalb von wenigen Jahren vom „verrückten Professor“ zu einem der einflussreichsten öffentlichen Intellektuellen mit einer enormen Wirkung auf die Innen- und Außenpolitik geworden ist. Über sein Verhältnis zur russischen Führung gibt wohl am deutlichsten ein Zitat von ihm aus dem Jahr 2007 Aufschluss. Seither haben sich seine Ansichten nicht allzu sehr geändert.


    „Gegner des Putinschen Kurses gibt es nicht mehr, und wenn doch, sind sie psychisch krank und man muss sie zur Gesundheitsfürsorge schicken. Putin ist überall, Putin ist alles, Putin ist absolut, Putin ist unersetzlich.“ Der Anführer der Eurasischen Bewegung Alexander Dugin am 17. September, auf einem Empfang der Zeitung Izvestia


    Es gibt noch eine italienische Zeitschrift für ultrarechte Intellektuelle, die Putin nach dem Prinzip „der Feind meines Feindes“ (Hauptsache, es geht gegen Amerika) unterstützen, und dort steht Engdahl beim wissenschaftlichen Beirat direkt in der Zeile unter Dugin. Man kann also davon ausgehen, dass Engdahl mit Dugin persönlich bekannt ist und über ihn Zugang hat zu den Köpfen und Büros der höchsten Führungsetagen, also auch zu den Chefs der staatlichen Fernsehgesellschaft WGTRK, dass er also nicht auf persönliche Initiative eines Jungredakteurs im russischen Äther auftaucht. Dugin nahestehende Kreise der europäischen Ultrarechten, Neonazis, Euroskeptiker und verschiedenste Verschwörungstheoretiker – das sind, wie es aussieht, die Hauptquelle, aus der das russische Fernsehen seine „Experten“ rekrutiert. Und nicht nur fürs Fernsehen. Da ist zum Beispiel Manuel Ochsenreiter, der regelmäßig sowohl auf RT als auch auf den russischen TV-Kanälen als „Journalist“ herumgeistert. Hier ist er beispielsweise in Gesellschaft von Alexander Dugin zu sehen: 

    Der Journalist Ochsenreiter ist natürlich ein ziemlicher Spezialfall: Er ist Redakteur der ultrarechten [deutschen] Zeitschrift Zuerst!, die in Deutschland immer wieder für Schlagzeilen sorgte (beispielsweise lehnte der Bauer-Verlag wegen Sympathien für die Nazis die Zusammenarbeit ab). Und Ochsenreiter ist nicht einfach nur ein häufiger Kommentator im russischen Fernsehen – er war auch „Beobachter“ bei den „Wahlen“ in der „Volksrepublik Lugansk“. Die sich anscheinend der Aggression der faschistischen Junta zur Wehr setzt. Mit Hilfe eines echten deutschen Neonazis, der früher eine Zeitschrift über die ruhmreichen Siege der Wehrmacht herausgegeben hat. 


    Izvestia, 2. November 2014:
    Ausländische Beobachter verzeichnen hohe Wahlbeteiligung bei den Wahlen in der Volksrepublik Lugansk 
    Der Vertreter Deutschlands, Manuel Ochsenreiter, erklärte, er habe bislang „keinen einzigen Verstoß beobachtet“.
    Die ausländischen Beobachter, die an dem Wahlmonitoring teilnehmen – gewählt werden das Oberhaupt der Volksrepublik Lugansk und die Abgeordneten des Volkssowjets – verzeichnen eine hohe Wahlbeteiligung.
    „Wir kommen gerade aus einem Wahllokal – das war voll bis zum Anschlag. Mein erster Eindruck ist, dass die Menschen ein enormes Interesse daran haben, an diesen Wahlen teilzunehmen“, erklärte Manuel Ochsenreiter, der hier Deutschland vertritt, gegenüber der Nachrichtenagentur TASS. Die Gruppe, der er angehört, hatte ein Wahllokal in Brjanka besucht. 

    Und so sieht das Cover der Deutschen Militärzeitschrift aus, deren Chefredakteur Ochsenreiter bis 2011 war:

    Weiter im Text unseres Westi-Beitrags: Nach Engdahl tritt dort Jeffrey Steinberg auf. Steinberg schreibt für die Zeitschrift Executive Intelligence Review, die von der sogenannten LaRouche-Bewegung (LaRouche Movement) herausgegeben wird. Die „Bewegung“ – diplomatisch ausgedrückt, in Wirklichkeit sind die LaRouchisten eine faschistoide Sekte mit ziemlich ekelhaften Ritualen (nachzulesen beispielsweise unter dem Stichwort „Ego-Striptease“ [im Wikipedia-Eintrag über LaRouche – dek]). Ihre Ansichten sind ebenfalls extrem verschwörungstheoretisch und sektenmäßig. Die LaRouchisten haben zum Beispiel einen kompletten Dachschaden, was die britische Königsfamilie angeht, die ihrer Ansicht nach generell an allem Unglück der Menschheit schuld ist, Königin Elisabeth II. kontrolliert persönlich das Kokainkartell und so weiter. Eben jener Jeffrey Steinberg behauptete zum Beispiel in einem Interview, Prinzessin Diana sei nicht bei einem Autounfall ums Leben gekommen, sondern auf Weisung Prinz Philips vom britischen Geheimdienst ermordet worden (eine populäre Verschwörungstheorie bezüglich Diana: murder, not accident). Bei der Zeitschrift Executive Intelligence Review (EIR) finden sich regelmäßig Cover im Geiste wie diesem hier:

    LaRouche: Jetzt handeln, um Obamas Nazi-Plan zur Gesundheitsreform zu stoppen!
    LaRouche: Jetzt handeln, um Obamas Nazi-Plan zur Gesundheitsreform zu stoppen!

    Wie ihr wahrscheinlich ahnt, ist in Amerika die Herausgabe von Zeitschriften mit einem derartigen Cover und solchen Ansichten zwar nicht verboten (man stelle sich das mal entsprechend in Russland vor), doch sie sind, gelinde gesagt, bei der breiten Masse nicht gerade beliebt.
    Ganz anders in Russland. Zum einen haben die LaRouchisten eine Niederlassung in Russland – das sogenannte Schiller-Institut. Und die Executive Intelligence Review hat auch eine russischsprachige Website. Dort steht genau das Gleiche wie im Original, bloß dass es in russischer Übersetzung noch hirnverbrannter wirkt:



    Britische Agenten – Verfechter des Völkermords [an in der Ukraine lebenden Russen] – […] Organisation eines US-imperialen Umsturzes in der Ukraine. Mannomann.
    Dabei sind diese Leute nicht erst gestern aufgetaucht. Seit 2008 gibt Lyndon LaRouche auf RT regelmäßig Interviews.

    [video:https://www.youtube.com/watch?v=ISjsnfg0UVk align:left]

    Doch er ist nicht vom Himmel gefallen. Lyndon LaRouche ist kein persönlicher und langjähriger Freund von irgendjemandem, sondern vom Präsidentenberater zu Fragen der Wirtschaftsintegration Sergej Glasjew. Hier sehen wir LaRouche und Glasjew im Jahr 2001 auf einer gemeinsamen Pressekonferenz:



    Und hier eine persönliche Gratulation von Sergej Glasjew an Lyndon LaRouche auf der russischen EIR-Seite:
     

    Lieber Lyndon LaRouche!
    Von ganzem Herzen gratuliere ich Ihnen zu Ihrem runden Geburtstag, den Sie dieser Tage feiern, Sie, ein weltweit anerkannter Wissenschaftler, der verdientermaßen die Achtung von Spezialisten, Politikern und Personen des öffentlichen Lebens in verschiedenen Ländern der Welt genießt. Ihre visionäre Gabe und die von Ihnen lange vor der weltweiten Finanzkrise erarbeitete Prognose des Zusammenbruchs des internationalen Finanzsystems haben Ihnen den Ruhm eines Propheten und Gurus für die Schlüsselprobleme der Menschheitsentwicklung eingebracht!
    Aufrichtig wünsche ich Ihnen neue schöpferische Großtaten, eine robuste Gesundheit und das Glück, die Umsetzung Ihrer Vorschläge und Empfehlungen zur Gesundung und Entwicklung der Weltwirtschaft mitzuerleben. 
    Ihr
    Sergej Glasjew 
    29.08.2012


    Wie ihr seht, fallen diese „Experten“ und „Analytiker“ wirklich nicht vom Himmel und werden nicht auf Initiative irgendwelcher Nachrichtenredakteure ins russische Fernsehen geholt, sondern von ihren Freunden an der Spitze der russischen Macht. Dugin, Glasjew und die Partei Rodina unterhalten enge Verbindungen zu europäischen und amerikanischen Ultrarechten, Neonazis und sonstigen Obskuranten, die man als im Westen einflussreiche Politikwissenschaftler und Journalisten ins Fernsehen schleift – die sie aber natürlich nicht sind. Und die sich deshalb freuen wie die Schneekönige, wenn sie, zwar nicht im eigenen Land, aber in Russland, ins echte Fernsehen dürfen und als wichtige Leute vorgestellt werden. Die Partei Rodina, der Sergej Glasjew angehört, ist ebenfalls ein Großlieferant für unterschiedlichste handgemachte TV-„Experten“. Einer davon ist zum Beispiel John Laughland, der immer wieder in der Nachrichtensendung Westi zitiert wird. Mindestens schon seit 2002:



    Heute wird Laughland als „Forschungsprogrammleiter des Instituts für Demokratie und Zusammenarbeit“ zitiert. Dieses hat seinen Sitz in Paris und nennt sich solide The Institute of Democracy and Cooperation oder auch Institut de la Démocratie et de la Coopération. Nur ist Leiter des Instituts nicht Laughland und auch nicht irgendein Monsieur Sowieso, sondern die ehemalige (2003–2007) russische Dumaabgeordnete für die Partei Rodina Natalja Narotschnizkaja, die von Putin persönlich zur Leiterin ernannt wurde. 



    Narotschnizkaja und Laughland sind ebenfalls langjährige und gute Freunde. 

    John Laughland und Natalja Narotschnizkaja
    John Laughland und Natalja Narotschnizkaja



    Das Institut für Demokratie und Zusammenarbeit ist eine NGO, die offiziell von Russland aus gegründet wurde und gesponsert wird. Wenn ihr also solche Experten im Fernsehen seht, lasst euch nicht durch ein Institute of Democracy and Cooperation und einen Mister Laughland täuschen, die die NATO, Amerika und die Demokratie kritisieren – das sind alles einheimische Pflanzen. 
    So weit für heute, lasst euch keine Nudeln auf die Ohren hängen und bleibt online. 

    PS: Für eine Vielzahl an nützlichen Hinweisen dankt der Nudelentferner Anton Schechowzow, der die Verbindungen zwischen dem russischen Polit-Establishment und den europäischen und amerikanischen Ultrarechten gründlich erforscht hat.

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  • Die Kirche des Imperiums

    Die Kirche des Imperiums

    Im vergangenen Monat musste der langjährige Chefredakteur der offiziellen Zeitschrift des Moskauer Patriarchats, Sergej Tschapnin, seinen Posten räumen. Der Grund für die Entlassung dieser wichtigen Persönlichkeit des kirchlichen Lebens (Tschapnin hatte im Moskauer Patriarchat auch andere Ämter inne) wird in einer Reihe analytischer und durchaus kritischer Äußerungen zur jüngsten Geschichte der Kirche gesehen, mit denen Tschapnin in letzter Zeit hervortrat. Eine besondere Rolle spielte dabei nach Tschapnins eigenen Vermutungen der vorliegende Artikel über den Wandel der Kirche seit den Zeiten der Perestroika, der zunächst in der amerikanischen Religionszeitschrift first things erschien und nun in einer neuen Fassung des Autors bei Colta.ru veröffentlicht wurde.

    Ich trat Ende 1989 in die Kirche ein und begann Anfang 1990, mich aktiv am Gemeindeleben zu beteiligen. Die Zeiten damals – zwei Jahre vor dem Zerfall der Sowjetunion – waren hart: Inflation, tiefgreifende Wirtschaftskrise, leere Regale in den Geschäften. Unsere Gemeinde bekam in der Stadt Klin, 85 Kilometer nordwestlich von Moskau, eine alte verfallene Kirche im Stadtzentrum zugesprochen. Die enthauptete Kirchenruine auf Bergen städtischen Mülls, der erstmal weggeschaufelt werden musste, wurde für uns zum Symbol der neuen Zeit. Es war das erste Gotteshaus in der Moskauer Umgebung, das der Kirche zurückgegeben, und das einem Bekenner aus der Zeit der Kirchenverfolgung geweiht wurde, dem Heiligen Patriarchen Tichon von Moskau und Russland.

    Um den Kirchenvorsteher, einen jungen tatkräftigen Priester, versammelte sich eine junge Gemeinde, die von der Hoffnung einer Wiedergeburt Russlands lebte. Der Priester hatte noch den Druck der sowjetischen Geheimdienste zu spüren bekommen – er wurde überwacht, da er zwei Jahre zuvor in seiner damaligen Kirche gewagt hatte, einen Kinderkirchenchor zu gründen.

    Damals, Anfang der 1990er-Jahre, zweifelte niemand daran, dass die Entwicklung des Landes, die Erfolge der kirchlichen Wiedergeburt und der Weg in die Zukunft unmittelbar mit der Befreiung von der sowjetischen Vergangenheit zusammenhingen. Wir wussten und verstanden vieles nicht, aber wir fühlten es klar: Um das Land zu verändern, mussten wir uns selbst verändern und vor allem mussten wir aufhören, sowjetisch zu sein. Die innere Umkehr (Metanoia) war die zentrale und zugleich eine unbeschreiblich schwierige Aufgabe. Doch wir – damals Studenten und Schüler der höheren Klassen – lebten von der Hoffnung.

    Nach dem Untergang der Sowjetunion geriet Russland in eine langanhaltende Identitätskrise. Zwei Wege standen zur Wahl: entweder die europäische Demokratie oder die eurasische Autokratie. Anfang der 1990er fiel die Wahl der Menschen eindeutig auf die Demokratie. Die Gesellschaft bewegte sich weg vom sowjetischen Imperium, sie stieß es regelrecht von sich weg.  

    Die kirchliche Wiedergeburt nahm in jenen Jahren äußerlich gesehen demokratische, ihrem Wesen nach aber regelrecht kanonische Formen an. Es entstand eine breite Laienbewegung, die zahlreiche Initiativen in den verschiedenen damals noch zur Sowjetunion gehörenden Regionen vereinte. Bereits im Herbst 1990 entstand aus dieser Bewegung der Bund der orthodoxen Bruderschaften. Eine Reihe von Eparchien in den Staaten, die nach der Auflösung der Sowjetunion unabhängig geworden waren, erhielt den Status autonomer Kirchen. Es begann die Verehrung von Neomärtyrern und russischen Bekennern aus der Zeit der Kirchenverfolgung. Wenige Jahre zuvor noch war die bloße Erwähnung der Verfolgung oder der Namen von Betroffenen nicht ungefährlich gewesen. Langsam und tastend entstand wieder ein Gemeindeleben. Und die lebendige kirchliche Predigt war gerichtet an die Herzen der Menschen, war Aufruf zu einem Leben in Christus.

    Als eine Gemeinschaft, die so lange unterdrückt worden war und trotz brutaler Verfolgung überlebt hatte, erhielt die Kirche von der Gesellschaft und später auch vom Staat einen enormen Vertrauensvorschuss. Nicht nur die Orthodoxe Kirche insgesamt, sondern buchstäblich jeder einzelne Priester, jeder Träger von Kutte oder Talar, erhielt diesen enormen Vertrauensvorschuss.  

    Im ersten Stadium spielte das Konzept der kirchlichen Wiedergeburt – nennen wir es kirchliche Wiedergeburt 1.0 – eine wichtige Rolle bei der ideellen und kulturellen Befreiung von der sowjetischen Vergangenheit. Viele schauten auf das, was die Kirche allem Anschein nach hatte bewahren können: die traditionelle russische Kultur, also die andere, nicht die, die jedermann bekannt war, – nicht die sowjetische. Die Kirche zog sogar die Aufmerksamkeit derer auf sich, die sich nicht für Glaubenslehre und Gottesdienst interessierten. Und alle wollten irgendwie teilhaben an dieser Kultur, doch die überragende Mehrheit hatte keine Ahnung, wie das gehen sollte. Eben in dieser Verwirrtheit der Mehrheit sind die Gründe für die ganz und gar beispiellose Hochachtung zu suchen, die die orthodoxe Geistlichkeit genoss. Für viele wurde der Priester zu einer Art Lotse auf dem Weg in die unergründete Welt eines anderen Russland.

    Doch Wunsch und Wirklichkeit klafften stark auseinander. Die Kirche war unterdessen bereits ziemlich sowjetisch. Die höchste Geistlichkeit war Teil des sowjetischen Establishments, und die Priester erhielten – sofern sie sich bei ihrer Tätigkeit streng auf das Abhalten von Gottesdiensten beschränkten – erhebliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt. Auch nach dem Niedergang der Sowjetunion gab es viele, denen der stillgelegte Zustand der Kirche à la Sowjetunion gelegen kam. Mitte der 1990er Jahre gab es die ersten Anzeichen dafür, dass das Episkopat beschlossen hatte, nicht mit neuen Tendenzen herumzuexperimentieren – und das Gemeindeleben zurück in die gewohnten sowjetischen Bahnen zu lenken. 1994 fasste die Synode den Beschluss, das Wachstum der Laienorganisationen bzw. der Bruderschaften zu begrenzen und unterstellte sie rigoros den Kirchenvorstehern. Viele Bruderschaften mussten aufgelöst werden.

    In dieser Zeit begann auch die für das ideologisierte sowjetische Denken charakteristische Suche nach Feinden innerhalb der Kirche. Als erstes geriet die Gemeinde- und Katechesearbeit des Priesters Georgi Kotschetkow in die Schusslinie. Seine Widersacher bezeichneten ihn und seine Bewegung als Neo-Erneuerer, womit sie ihre kirchengeschichtliche Unwissenheit offenbarten, und versuchten, ihn als antikirchlich zu brandmarken. Eine offizielle Verurteilung seitens der Kirche konnten sie letztlich nicht erwirken – das Episkopat entschied, in der Angelegenheit zu schweigen. Doch seit jener Zeit besteht innerhalb der Kirche eine offene Spaltung in Liberale und Konservative.

    Bei aller Bedingtheit dieser Begriffe im kirchlichen Kontext bleibt es eine wesentliche Tatsache, dass die Liberalen über die Katechese-Praxis und die Rolle des Gottesdienstes im Gemeindeleben nachdachten, während die Konservativen die althergebrachte Praxis als unabänderlich und nicht verhandelbar betrachteten. Sie sahen daher ihre Hauptaufgabe darin, sich in den gesellschaftlich-politischen Raum zu begeben und eine rechtgläubige [sprich: orthodoxe – dek] Ideologie zu etablieren.

    Eine Zeitlang hielten sich die Kräfte die Waage. Das Episkopat war im Großen und Ganzen bemüht, in diesem Streit keine klare Position zu beziehen. Die Konservativen betrachteten sich als die Hüter des Glaubens und übten scharfe Kritik nicht nur an Laien und Priestern, sondern auch an Bischöfen (als einem der ersten – an dem heutigen Patriarchen, und dem damaligen Metropoliten von Smolensk und Kaliningrad, Kirill) für ihre „Abweichung vom orthodoxen Glauben“ und beschuldigten sie sogar der Häresie.

    Seit dem Jahr 2000 änderte sich die Situation allmählich, als sich nämlich die Regierung mehr und mehr vom demokratischen Modell entfernte und zunächst autokratische, und dann auch autoritäre Züge annahm. Im Zuge dieser Wandlung änderten sich die Prioritäten im Konzept der Wiedergeburt der Kirche schlagartig. Die erste Etappe war abgeschlossen, als die Arbeit mit den Gemeindemitgliedern in den Hintergrund trat und das Zusammenwirken von Staat und Kirche zur zentralen Aufgabe wurde. Konkret ging es um

    1) die Herausbildung einer neuen Identität durch das Predigen von Patriotismus und traditionellen Werten in voller Übereinstimmung mit der Innen- und Außenpolitik der Regierung und

    2) die Verwaltung von Grundbesitz sowie die Einwerbung von staatlichen Mitteln für Bau und Restaurierung von Immobilien.

    Gleichzeitig liefen Bürokratisierungsprozesse in der Kirche, neue Kirchenämter wurden geschaffen, der Dokumentenverkehr und die Zahl der Kirchenbeamten nahmen rasant zu.

    Eine neue Etappe war angebrochen – die Wiedergeburt der Kirche 2.0. Dabei kommt mit der Kirche des Imperiums ein mächtiger und klar umrissener Archetyp ins Spiel, der unmittelbar auf Byzanz verweist und auf das ganze Feld weltanschaulicher Positionen um die Ideen vom Orthodoxen Reich und vom Dritten Rom. In diesem Konzept liegt zum einen ein großes Mobilisierungspotential – die Orthodoxe Kirche fügt sich bündig ein in das System der postsowjetischen Staatsführung, und zwar an der Leerstelle, die zuvor von der Kommunistischen Partei besetzt war. Das war für jeden offensichtlich, selbst für die kirchenfernen Staatsbeamten. Zum anderen ist dieser Archetypus auf emotionaler und ideologischer Ebene sehr attraktiv für viele Kirchenmitglieder – sowohl Laien als auch Amtsträger –, die sich für die wortgetreue Auslegung der Ideen von der Heiligen Rus und Moskau als dem Dritten Rom begeistern.

    Das neue Imperium braucht gleichermaßen die Religion (als Form der Legitimierung einer nicht-demokratischen Regierung) wie auch die sowjetische Vergangenheit (als eine mythologische Zeit der großen Helden – darum ist auch der Tag des Sieges in den letzten Jahren zum wichtigsten Feiertag des Landes avanciert). Auch die Kirche bringt auf dieser Etappe durchaus ihre Sympathie für alles Sowjetische zum Ausdruck. Zum einen zeigt das ihre Solidarität mit der Staatsgewalt, zum anderen ist es ein Bekenntnis, dass die prosowjetischen Stimmungen innerhalb der Kirche sehr stark sind. Letzteres lässt sich durchaus erklären.

    Die Wiedergeburt der Kirche 1.0 war außerstande, die drängendsten Aufgaben der Kirche zu bewältigen: Die Massen-Taufen der 1990er Jahre haben die Menschen nicht auf eine bewusste Teilnahme am Gemeindeleben vorbereitet. Das belegen nicht nur soziologische Umfragen, sondern auch die Priester selbst. Bezeichnend sind hierfür die Beobachtungen des Bischofs von Smolensk und Wjasemski (heute Orechowo-Sujewsk) Panteleimon: „Anfang der 1990er Jahre gab es einen regelrechten Ansturm von Gemeindemitgliedern auf die Gotteshäuser … Die Menschen gingen damals nicht in die Kirche, sie stürmten sie buchstäblich. Leider blieben nur wenige dort, und die Zeit des aktiven Interesses am Gemeindeleben, der Verkirchlichung war relativ schnell wieder vorbei … Der Anteil derjenigen, die am Sonntag in die Kirche gehen, macht nach meiner Einschätzung höchstens ein Prozent der Landesbevölkerung aus.“

    Abgesehen von den Besucherzahlen der Kirchen, ist auch Folgendes zu erwähnen: Die sowjetischen Menschen empfingen zwar die Taufe, aber sie erlangten kein Wissen über die Grundlagen des Glaubens. Die Kirche nahm sie so auf, wie sie waren, und ging davon aus, dass die Verkirchlichung von alleine geschehen würde, auf einem irgendwie gearteten „natürlichen“ Weg. Aber in der überwältigenden Mehrheit empfanden die sowjetischen Menschen keinerlei Bedürfnis sich zu ändern, sie blieben genau so, wie sie waren … Veränderungen gab es freilich trotzdem: Es war die Kirche selbst, die durch die „Neugläubigen“ verändert wurde.

    Und in dieser Situation vollzog sich unbemerkt ein wesentlicher Wandel. Der wichtigste Appell, den die Kirche sowohl an den Einzelnen wie auch an die Gesellschaft als Ganzes gerichtet hatte, klang lange Zeit attraktiv: „Lasst uns die Traditionen wahren!“, „Die Missachtung von Traditionen ist gefährlich!“ Auf den ersten Blick geht es hier um einen gesunden christlichen Konservatismus, doch im russischen Kontext muss man unbedingt nachfragen: Welche Traditionen genau meinen wir?

    Riesige moralische und intellektuelle Anstrengungen sind im heutigen Russland nötig, um einen Blick tief in die Geschichte zu werfen – in die Zeit vor dem Oktoberumsturz, vor 1917, in die Geschichte des Russischen Reiches. Zu viel Zeit ist vergangen, zu viele Generationswechsel haben stattgefunden, zu viele Träger vorrevolutionärer Traditionen wurden bewusst vernichtet. Und so wird die Rückbesinnung auf kirchliche Traditionen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts unweigerlich zu einer Nachstellung historischer Ereignisse, zu einem Amateurtheater.

    Aus der Behauptung, die Traditionen des Christentums seien aus dem russischen Alltagsleben verschwunden und in Vergessenheit geraten, lassen sich zwei praktische Schlüsse ziehen:

    1) Man sollte sich auf die Suche nach einer noch erhaltenen lebendigen Tradition begeben.

    2) Es muss eine Basis geschaffen werden, auf der neue Traditionen wachsen können, die unseren heutigen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebensbedingungen entsprechen.

    Als Christ ist diese Einsicht für mich besonders bitter, aber von einer lebendigen Tradition können in Russland nur diejenigen sprechen, die von der sowjetischen sprechen. Darin liegt das eigentliche Geheimnis der Anziehungskraft von allem, was mit der Sowjetunion und der kommunistischen Vergangenheit zu tun hat, nicht nur für die Rentner, sondern auch für die Jugend. Das heutige Gepäck Russlands – kulturell, geschichtlich, gesellschaftlich, philosophisch und religiös – besteht nicht in der Vielfalt, sondern in einer einzigen lebendigen Tradition, an die sich alle erinnern, die alle kennen und die alle an ihre Kinder weitergeben können. Das ist die sowjetische Tradition. Und ihre triumphale Wiederkehr in den letzten Jahren – sie ist das Eingeständnis, dass in Russland nichts anderes übrig geblieben ist.

    So wurde die Wiedergeburt der Kirche 2.0 zu einem zentralen Element bei der Herausbildung einer postsowjetischen Zivilreligion, die dem Staat als ideologische Stütze dient. Und das hat Formen und ideologische Konstruktionen maßgeblich vorgezeichnet, die für das geltende Modell staatlicher und gesellschaftlicher Entwicklung tragend sind.

    Obwohl sich die Kirche nicht auf die schöpferische Erschließung der zeitgenössischen Kultur konzentriert hat, sondern auf die Anrufung der Vergangenheit, die Rekonstruktion von Praktiken des 17.–19. Jahrhunderts, ist einiges für den Weg nach vorn getan worden. Der Historiker Alexej Beglow erkennt an dieser Stelle: „Es geht hier nicht um die mechanische Wiederherstellung von etwas einst Verlorengegangenem, sondern um einen Prozess der Inkulturation, um ein schöpferisches Eintreten der Kirche in die zeitgenössische – moderne und postmoderne – Kultur Russlands und aller Staaten des postsowjetischen Raums.“ Dass die Kirche nicht die richtigen Worte gefunden hat, um das zu erklären, ist eine andere Sache.

    Warum ist dann die Wiedergeburt der Kirche abgeschlossen? Die Wiedergeburt oder auch die Renaissance der Kirche markiert eine Übergangsperiode, eine Zeit der Unbestimmtheit. Die Wahl zugunsten der Kirche des Imperiums ist bereits getroffen, und die entsprechenden kirchlichen Formen und Institutionen sind geschaffen. Gut möglich, dass man die neue historische Phase der Orthodoxie in Russland genau so wird bezeichnen können – als neoimperal, oder vielleicht sogar als neosowjetisch.

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    Sprache und das Trauma der Befreiung

  • Sprache und das Trauma der Befreiung

    Sprache und das Trauma der Befreiung

    Zum Jahresende ein nachdenklicher Longread. Was haben Deutschland und Russland aus dem 20. Jahrhundert mitgenommen, mit all den Gräueln, die es beiden Ländern bereitet hat und die von ihnen ausgingen? Und wie prägt der Umgang mit diesem Erbe die russische Gegenwart und die Verhältnisse in Europa? Der Kulturhistoriker und Philologe Gasan Gusejnov, einer der originellsten Intellektuellen des heutigen Russland, betrachtet diese Fragen in ihrem sprachlichen Spiegel. In dem zieht wieder und wieder der Schriftzug von der „größten geopolitischen Katastrophe“ vorüber … Ein grundlegender Text, der den Geist einer Epoche einfängt und eine Fülle jener Themen berührt, die dekoder 2015 an den Start gehen ließen.

    Wir veröffentlichen Gusejnovs Aufsatz in einer Version des Literaturjournals NLO, die in Abstimmung mit dem Autor neu überarbeitet wurde.

    1.

    Nicht umsonst hat Platon zum Nachdenken über Sokrates’ Ausspruch aufgefordert, die erste und wichtigste Eigenschaft des Philosophen sei die Furchtlosigkeit. Wenn du nicht in Kauf nimmst, dass das Ergebnis deines Denkens dir ein Trauma zufügt (sei es ein seelisches oder ein äußerlich sichtbares), dann lohnt es sich gar nicht erst, damit zu beginnen. Doch auch die Umkehrung gilt: Jahrzehntelang totgeschwiegene Traumata und der einer Gesellschaft dadurch zugefügte psychische Schaden lassen die Menschen panisch werden, und in der Panik ballen sie sich zu Horden zusammen und kehren sich selbst von dem Wissen ab, das noch gestern, ungeachtet von Leid und Kränkung, mehr oder weniger von allen geteilt wurde.

    Wollte man lediglich die Kriegstraumata auflisten, die die seit Mitte des 20. Jahrhunderts geborenen oder aufgewachsenen postsowjetischen Generationen sich selbst zugefügt haben, so würde diese Liste in erster Linie die Langzeiterfahrung des Totschweigens und der Verdrängung erlebter nationaler Katastrophen verzeichnen.

    Das erste Totschweigen betrifft die Ausmaße der Verluste im Zweiten Weltkrieg. Für jeden Krieg bezeichnende und unvermeidliche Phänomene wie Gefangenschaft und Plünderei, Korruption und sexuelle Gewalt, Verrat und Betrug wurden unter ideologischen und künstlerischen Mythen begraben. Die äußerst seltenen erfolgreichen Versuche, unter dem Joch der Zensur hervorzukriechen, wurden durch Repression und psychische Traumata zweiter Ordnung unterbunden.

    Die durch die ebenso unangebrachte wie unqualifizierte Lenkung des Massenbewusstseins beim sowjetischen Menschen verursachten psychischen Traumata haben die Menschen so weit gebracht, dass sie aufgehört haben, das im Zuge der sogenannten Nachkriegskonflikte Erlebte als stark traumatische Erfahrung wahrzunehmen – das betrifft sowohl Konflikte außerhalb der Grenzen der UdSSR (der Krieg in Afrika und im Fernen Osten, die militärische Intervention in der DDR 1953, in Ungarn 1956, in der Tschechoslowakei 1968 und schließlich in Afghanistan 1979) als auch die im postsowjetischen Raum (der von 1991 bis 2009 andauernde Krieg im Kaukasus, die Kriege in Zentralasien, in Moldau und Transnistrien und seit 2014 in der Ukraine).

    Das traditionelle russische Verständnis von Geschichte als etwas, das mit der Vergangenheit und mit Volksmassen zu tun hat, und nicht als etwas, das in der Gegenwart von einzelnen Individuen erlebt wird, hat zu einer traumatischen Spaltung im Bewusstsein des sowjetischen Menschen geführt – einer Spaltung zwischen dem unmittelbar alltäglichen Selbstverständnis des Menschen und einem mit diesem Selbstverständnis nicht in Zusammenhang gebrachten Gesamtweltbild.

    Auf der persönlichen Ebene kann so jemand seinen Status, seine Ressourcen und Perspektiven zutreffend oder zumindest plausibel einschätzen und dabei selbst im Fall eines extrem geringen Selbstwertgefühls eine erstaunliche Gelassenheit bewahren. Geht es aber um den Platz seines Landes in der Welt, darum, wie die Führung des eigenen Staates beurteilt wird, geht es um die symbolische Bewertung seines Landes, dann kommt diesem Menschen das Maß abhanden, er wird zum Träger eines schimärischen geopolitischen Bewusstseins, dazu bereit, sich an die phantastischsten Verschwörungstheorien zu klammern.

    Die kulturelle Dimension dieser Spaltung oder, genauer gesagt, dieses sich vielfach wiederholenden Traumas, lässt sich auf eine äußerst einfache Formel bringen: Die Menschen haben ihre Toten nicht beweinen dürfen, und letzten Endes, in unserem konkreten Fall mit dem beginnenden Zerfall des sowjetisch-russischen Imperiums, kam ihnen die für ein erträgliches Zusammenleben unabdingbare Empathie abhanden, also die Fähigkeit, mit anderen Menschen mitzufühlen.

    Ein Beleg für diese Behauptung ist die hohe Wirksamkeit plumper Propaganda, der selbst die vergleichsweise gebildeten Schichten der Bevölkerung nicht imstande sind, zu widerstehen. Als wären es die eingefrorenen und wieder aufgetauten Melodien aus einem Rabelais-Roman oder die Geschichten von Baron Münchhausen, brechen auf den heutigen Russen ideologische Klischees von anderthalb Jahrhunderten herein, die man schon seinen Vorfahren aufgetischt hat, angefangen vom Krimkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts bis hin zu Stalins zehn Schlägen gegen das verendende Dritte Reich.

    Dieses ganze kakophone Getöse vermag allerdings nicht die zentrale, aufgestaute Kränkung zu dämpfen, die aus dem Begreifen der Tatsache resultiert, dass die Mehrheit der Nachbarn im Großen Europa sowie in einem beträchtlichen Teil Eurasiens die Ereignissen in der heutigen Russischen Föderation als den fortgesetzten Zerfall des Imperiums sieht und ganz und gar nicht als das Werden eines neuen freien und starken Staates.

    Man kann noch beliebig oft und beliebig laut erklären, das ist uns alles total egal. In Wirklichkeit liegt genau darin der Kern des Traumas – und es ist ganz und gar nichts total egal. Der Groll auf die anderen, seien sie real oder eingebildet, ist nichts weiter als eine Emotion, die das eigentliche psychische Geschwür verdeckt: die nicht vollzogene Beweinung der Toten.

    Es gab eine Zeit, in der man das noch hätte tun können. Doch der Reueton der Perestroika wurde als Schwächlichkeit verworfen. Viele waren der Ansicht, der wirtschaftliche Aufschwung würde sie ganz von allein der Notwendigkeit entledigen, sich mit den Traumata der Vergangenheit auseinanderzusetzen, die den Menschen von ihren eigenen Leuten zugefügt worden waren.  

    Doch diese Annahme erwies sich als Illusion, denn traumatische Erfahrung lagert sich in der Sprache ab. Werden die Schlüsselwörter nicht reflektierter Epochen in das Spiel einer neuen Zeit eingeworfen, befördern sie darum unvermeidlich, wie ein unglücklich geworfener Angelhaken einen alten Schuh, das ganze für immer auf dem Grund der Geschichte begraben geglaubte Material wieder an die Oberfläche.

    Wer von den Bandera-Faschisten der 1940er und der Kiewer Junta der 2010er Jahre anfängt, der muss damit rechnen, dass man ihn an den Holodomor der 1930er und den Emser Erlass der 1870er Jahre erinnert.

    Die Aktualisierung früherer Kränkungen verstärkt den Schmerz und verlagert das Trauma auf eine neue Ebene, nämlich in die Zukunft, denn der nächste Schritt besteht in der Rache an all denen, die vermeintlich verantwortlich sind für deine Kränkung. Und weil du das selbst ja nicht sein kannst, sind alle anderen schuld. Die Besonderheit der gegenwärtigen Rachepraxis liegt darin, dass ephemere Verwünschungen und Beleidigungen besonders lange haltbar sind.

    2.

    1967 erschien in Deutschland Die Unfähigkeit zu trauern von Alexander und Margarete Mitscherlich1, eines der wichtigsten Bücher zum kollektiven Trauma der Deutschen und dessen Heilung, das die westdeutsche Gesellschaft vermutlich nicht weniger beeinflusst hat, als die Studentenrevolution von 1968. Dieses und weitere von den Eheleuten Mitscherlich sowie von Alexander Mitscherlich allein verfasste Bücher besaßen die erforderliche Sprengkraft, um die Mauer des Schweigens einzureißen, die die kaum erst ins aktive Leben eingetretene erste Nachkriegsgeneration und ihre stumm gewordenen Eltern trennte. Paradoxerweise wurde die Verständigung der Generationen um den Preis eines lautstarken und für viele endgültigen Bruchs mit der Vergangenheit erreicht. Dieser Bruch verhalf den Deutschen zu einer gemeinsamen politischen Sprache, und diese Sprache wurde zur Sprache der westdeutschen Zivilgesellschaft, in der der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede 1985 den 8. Mai 1945 zum ersten Mal als Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bezeichnete und damit die Bedeutung dieses Tages für sein Land definierte. Bis zu dieser heute allgemein gültigen deutschen Formel mussten 40 Jahre vergehen.

    Die „Befreiung“, von der Weizsäcker sprach, und die „Trauer“, von deren Notwendigkeit die Mitscherlichs gesprochen hatten, wurden zu Schlüsselbegriffen eines langen historischen Weges. Man kann die Befreiung nicht verstehen, solange nicht die ganze Trauer ausgedrückt ist. Aber trauern muss man lernen.

    Die erste Aufbauphase des bundesrepublikanischen Staates (1945–1955) wurde mit dem Schlüsselwort Wunder belegt. Nach der totalen Zerschlagung Deutschlands waren nach Ansicht der Menschen zwei Wunder geschehen. Das erste war natürlich das unter der Führung des von 1949 bis 1963 amtierenden Bundeswirtschaftsministers Ludwig Erhard erreichte Wirtschaftswunder. Das zweite ist in die deutschen Geschichtsbücher und Lexika eingegangen als das Wunder von Bern: Gemeint ist der Sieg der [bundes]deutschen Nationalmannschaft über Ungarn bei der Fußballweltmeisterschaft am 4. Juli 1954; die bundesweite Begeisterung über diesen Sieg war die erste Äußerung von Enthusiasmus der Westdeutschen nach der jahrelangen Nachkriegsdepression.

    Warum hat die Gesellschaft, nachdem sie vom emotionalen und materiellen Aufschwung gekostet hat, dann doch vom Wunder als politischem Ideologem Abstand genommen? Weil hinter dem Rücken dieses Wunders weiterhin die auch durch dieses Wunder keineswegs zu erklärende Wirklichkeit der nicht weit zurückliegenden Vergangenheit stand – nicht einfach die Besonderheit im Verhältnis der europäischen Nachbarn zu Deutschland, sondern die Realität dessen, was tatsächlich geschehen war. Denn genau das war es, was die Menschen mit der Zeit immer mehr beschäftigte.

    Das Ideologem des Wunders erwies sich als psychologische Falle, geistreich verspottet in der bekannten Filmkomödie Das Spukschloss im Spessart. Die Sowjetunion befand sich zu dieser Zeit auf dem Höhepunkt der Entstalinisierung, die Entfernung von Stalins Mumie aus dem Mausoleum stand bevor, und der Film über die im Wirtschaftswunder-Deutschland ausgegrabenen Skelette trug, wie es schöner nicht hätte sein können, zu einer Art westlicher Ausleuchtung dieses (nach 1953 und 1956) dritten Versuchs bei, sich von Stalin und dem Stalinismus zu verabschieden. Offiziell galt das „Spukschloss“ in der UdSSR als gegen den „Revanchismus in der BRD“ gerichtete Komödie, doch den Silberpreis des Moskauer Filmfestivals von 1961 bekam der Film nicht allein hierfür.

    Unterdessen setzte die sowjetische Propaganda alles daran, das westdeutsche Entnazifizierungsprogramm vor der Gesellschaft zu verheimlichen. Aus der Vielzahl der politischen Debatten in Deutschland wählte man lediglich das aus, was für die sowjetische Propaganda relevante Gegenstände betraf (unter anderem den Revanchismus). Keine Beachtung fand in der sowjetischen Zeit auch das Schlüsselthema der Mitscherlichs – das Trauma, das sich der Täter selbst zufügt, aber auch die Mitglieder von verbrecherischen Organisationen, und nicht nur die allein. Die meisten Deutschen hätten sich nämlich, so Mitscherlich, so weitgehend mit dem Regime abgefunden, dass sie auch nach dem Krieg, in der Adenauer-Ära, „politisch erstarrt“ gewesen seien. Die Generation, die sich mit Hitler und den Nazis, also den Kriegsverlierern, identifiziert hatte, versperrte sich instinktiv dem Konzept der Befreiung, das erst dann annehmbar wurde, als die westdeutsche Gesellschaft sich grundlegende demokratische Werte zu eigen gemacht und entsprechende Normen etabliert hatte.

    An dieser Stelle wird nun die Rolle der Schlüsselbegriffe, anhand derer nicht nur der politische Diskurs rekonstruiert, sondern auch die Überwindung des Traumas durch Narration beschrieben wird, besonders wichtig. Zwischen den kritischen Debatten der Intellektuellen und einer breiten Einbeziehung der „erstarrten“ Bevölkerungsmehrheit in das politische Leben über die Artikulation eines unmittelbaren Zusammenhangs, etwa zwischen dem Wirtschaftswunder und der politischen Freiheit vom Nationalsozialismus, vergeht einige Zeit.

    3.

    Betrachtet man die historische Bahn, auf die die Russische Föderation derzeit geraten ist, wird jedoch klar, dass kein Vergleich die Situation in unserem Land auch nur annähernd vollständig beschreiben kann. Einige generelle Fixpunkte lassen sich dennoch herausstellen. Es geht ja um die Reaktion der Träger einer Sprache auf die gesellschaftlichen Traumata, die manchem vielleicht doch vergleichbar erscheinen mit denen, die die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Den gewohnten Disziplinkategorien folgend, sollen im Folgenden kurz und knapp einige Realien der russischen Politiksprache beschrieben werden, die jemand einmal treffend als „Schlüsselwörter des historischen Augenblicks“2 bezeichnet hat. Die im Grenzgebiet zwischen Literatur, Sozialpsychologie und Politik verhandelten Schlüsselbegriffe entfalten sich zu Phrasen der besonderen Art. Daran, wie das gesellschaftliche Umfeld sie entfaltet, lässt sich erkennen, wie sich das Verhältnis der Sprachträger zu ihrem kollektiven historischen Trauma entwickelt.

    Dabei klingt nur ein einziges Trauma, gewissermaßen die Spitze des Eisbergs, deutlich hervor, eben jenes, das aus der Statusveränderung des Landes und somit der Veränderung der Situation jedes einzelnen Bewohners resultiert. Auf der Ebene der politischen Rhetorik ist dieses Trauma durch drei selten öffentlich angefochtene Phrasen markiert, nämlich: den Zerfall der UdSSR als die „größte geopolitische Katastrophe“, das „Chaos der 1990er“ oder die „wilden Neunziger“ (die Jelzin-Zeit) und die „Erhebung von den Knien“ (die gegenwärtige Phase). Die allgemein angenommene Übersetzung dieser emotional gefärbten Ideologeme besagt in etwa Folgendes: Das goldene Zeitalter, das sich zusammensetzt aus einem Mosaik von Ereignissen der russischen Geschichte seit 1612 (oder bei Bedarf auch seit den Zeiten Alexander Newskis) bis zum Ende der 1980er Jahre, wurde quasi hinweggefegt durch die „geopolitische Katastrophe“ der Perestroika und die Auflösung (sprich: den Zerfall) der UdSSR, wonach eine Zeit der Wirren anbrach. Wenn, so will man uns glauben machen, diesen Wirren nicht just an der Schwelle vom 20. zum 21. Jahrhundert durch das neue Regime Einhalt geboten worden wäre, hätten jene Kräfte, die es angeblich geschafft haben, die Sowjetunion zu zerstören, längst auch die Russische Föderation zerstört – das letzte Bollwerk des zerfallenen sowjetisch-russischen Imperiums.

    Offenbar ist das der grundlegende Legitimierungsmythos des Regimes, der mit den Mitteln der Propaganda verbreitet wurde und für einen großen Teil der aktiven Bevölkerung der Russischen Föderation allgemeine Gültigkeit erlangt hat. Wenn man die Mitscherlich-Konzeption anwendet, fällt einem das zentrale Drama des Augenblicks auf: Die Kette aus Russland-Mythen verfälscht den Inhalt des Traumas, das die ehemaligen Bürger der UdSSR erlitten haben. Das tatsächliche Trauma (Jahrzehnte der Unfreiheit, die physische Vernichtung ganzer Bevölkerungsschichten, die komplette Deportation ganzer Völker, ohne Gerichtsverfahren verhängte, gesetzeswidrige Repressalien gegen die Menschen unter beliebigem Vorwand) wurde ersetzt durch das frische emotionale Trauma des Zerfalls einer Staatsmaschine. Man muss bloß hinzufügen: eben jener Staatsmaschine, die für das ursprüngliche Trauma verantwortlich ist.

    Das echte Trauma, das der Mehrheit in der UdSSR und im Russischen Reich über das 20. Jahrhundert zugefügt worden ist, wurde einfach so durch die Schlüsselphrase der „größten geopolitischen Katastrophe“ ausgetauscht. Der Beginn einer schmerzhaften Diskussion über das Trauma, eines öffentlichen Diskurses über die den Systemzusammenbruch begründenden Mechanismen, die das Trauma ausgelöst hatten – all das wurde erfolgreich gestoppt, vor allem mit ziemlich primitiven Propagandatricks, die an die Gefühle der Bürger appellierten.

    Durch die Mitscherlich-Brille betrachtet wird deutlich, wie Russlands heutige politische Elite – jene soziale Schicht, die bei der Überwindung ihres Narzissmus und beim Erlernen der Fähigkeit zu trauern am meisten Hilfe benötigt hätte – sich die Ratlosigkeit der gerade erst zum politischen Leben erwachten Bevölkerung zunutze machte und die Rolle des gesellschaftlichen Psychotherapeuten an sich riss. Die Mitscherlichs wussten nichts von Öl- und Gaspreisen im beginnenden 21. Jahrhundert, aber sie beschrieben die Steigerung des ökonomischen Wohlstands als den wichtigsten „Verdränger“ von Reflexion. Ihrer Meinung nach war es gerade das Wirtschaftswunder, das die unausweichliche Abrechnung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit um zehn Jahre verzögerte.

    Die Jahre der Entstehung eines Trauma-Narrativs und der sie begleitenden Diskussionen zu dem Thema fielen mit dem wirtschaftlichen Durcheinander und den schwierigen administrativ-territorialen, teilweise zu lokalen Kriegen führenden Konflikten der ausklingenden 1980er und 1990er Jahre zusammen. Dieser Umstand ermöglichte es Ende der 1990er Jahre dem aktiven Teil der postsowjetischen Gesellschaft, die Initiative zu ergreifen – den zahlreichen Mitarbeitern der früheren Straf- und Ideologie-Organe, die selbst zutiefst traumatisiert waren von der Unfähigkeit, die eigenen Opfer zu betrauern.

    Dieser Kreis hatte sich für eine gewisse Zeit sogar die Kontrolle über wichtige Machtzentren zurückgeholt, angefangen von den hauptsächlichen Rohstoffquellen bis hin zu den wichtigsten Medien. Doch die einzige Ideologie, zu der die neue Generation der Kreml-Chefs sich als fähig erwies, erschöpfte sich in der Konservierung des Traumas.

    Kontrolliert durch fremde Armeen, hatten die Deutschen es leichter, sich auf ihr Trauma zu konzentrieren, sich darüber auszutauschen und allmählich aus der Sackgasse herauszufinden, in die sie sich unter der Führung der Nationalsozialisten verirrt hatten. Die Notwendigkeit, den Staat von Grund auf neu zu errichten, war den Menschen sowohl im Westen wie im Osten Deutschlands bewusst. Dass die eigenen Tschekisten Kontrolle bekamen über die Situation, in die sie selbst und ihre ehemaligen Chefs Russland geführt hatten, konnte nur mithilfe der entsprechenden ideologischen Klischees aufrechterhalten werden. Die aus diesen Klischees erwachsende geopolitische Schimäre zieht diejenigen in ihren Bann, die in der Sprache leben.

    Am Tag der Einheit des Volkes, am 4. November 2008, hörte ich gemeinsam mit Millionen Passagieren in der Moskauer Metro die schmissigen Reden über die Befreiung der Hauptstadt von den „polnischen Besatzern“ im Jahre 1612, las an den Wänden und Türen der Waggons den höhnischen Spruch: „Die Behutsamen behütet die Bank“, wurde eingeladen, den neuen Agitationsstreifen Der Admiral im Kino zu bewundern (während man am Abend desselben Tages im TV dazu eingeladen wurde, sich zum wiederholten Male den Film 1612 anzuschauen) und verstand, dass man den Passagieren auf diese Weise nahelegte, sich so weit wie möglich weg von der politischen Moderne und dem sowjetischen 20. Jahrhundert in eine galvanisierte Vergangenheit der einen oder anderen Zeit der Wirren zu versetzen. Gleichzeitig geschieht eine bewusst-unbewusste Außerbetriebsetzung des einzigen Erkenntnisinstruments, über das die Menschen verfügen – ihrer Sprache. Doch auch wenn die Frage, wie bewusst oder unbewusst die Operationen an der Sprache in den letzten zehn Jahren durchgeführt wurden, eine interessante und wichtige ist, ist das ein eigenes Thema.

    Das Hauptproblem bleibt die Verstärkung des sozio-historischen Traumas bei den Patienten infolge der massenhaften Verbreitung von falschen Informationen bezüglich ihrer Leiden. Warum wurde die offizielle Rhetorik der ersten postsowjetischen Jahre zur doppelten Befreiung Russlands von der Ideologie des Kommunismus und von der Praxis des Kolonialimperialismus an der Jahrtausendwende so entschieden eingestampft?

    Wie die genannten deutschen Wissenschaftler in ihren sozialpsychologischen Arbeiten zeigen konnten, ist das Prozedere der kollektiven Traumatherapie vernunftbasiert. Der emotionale Faktor wird selbstverständlich berücksichtigt, ist aber nicht der wichtigste. Es geht um die Suche nach einem allgemeingültigen Ausweg aus einer unerfreulichen Situation. Die Rationalisierung der Gefühle muss gekoppelt sein an Beherrschtheit innerhalb des politischen Diskurses. Dort, wo die Zensur auf der inhaltlichen Ebene aufgehoben ist, ist sie auf der Ebene ihrer stilistischen Gestaltung unabdingbar. Der Stil ist in der Lage, jede Kommunikation, nicht einmal nur in traumatherapeutischen Kontexten, zu blockieren und außer Kraft zu setzen.

    Damit der Akt der politischen Kommunikation selbst nicht zu einer Quelle neuer kollektiver Traumata wird, befindet sich eine freie Gesellschaft in einem ständigen Diskurs über politische Korrektheit. Durch allgemeingültige und akzeptable, maximal leidenschaftslose Schlüsselbegriffe wird der Prozess der Konsenssuche rationalisiert und entemotionalisiert. Im Gegensatz dazu wird hier bei uns, alten sowjetisch-russischen Klischees folgend, einer politkorrekten Heuchelei die Wahrheit des freimütigen Sprechakts entgegengestellt. Sei es die apolitische Zügellosigkeit eines Wladimir Shirinowski oder die öffentlichen Entgleisungen populärer TV-Moderatoren. Das Fernsehen präsentiert Alexander Gordon, Wladimir Solowjow, Lolita und ihresgleichen als Meister der maximal freimütigen Verkündung von Binsenweisheiten.

    In den Sprechakten dieser öffentlichen Autoritäten mit ihrer äußersten rhetorischen Schärfe (sprich: Unbändigkeit) wird ein Bouquet abstrakter Drohgebärden bei gleichzeitigem Verschweigen eines konkreten Sinngehalts versprüht. Die inakzeptable Grobheit der Äußerung substituiert nämlich ihren Sinngehalt, mit anderen Worten: Sie ist bereits der ganze Sinngehalt der Äußerung, und nicht zufällig wurde die diffuse Drohung, jemanden „im Klo abzumurksen“ zur faktischen Devise der ersten Amtszeit von Wladimir Putin.3 Diese Drohung war an mutmaßliche Terroristen gerichtet, aber in den aktuellen Sprachgebrauch fand sie in einer erweiterten Bedeutung Eingang – als Universalformel für den Umgang mit Widersachern.

    Der Zuschauer oder Zuhörer, der die Drohreden von Politikern oder Medienleuten geduldig ertragen muss, überlässt ihnen Stück für Stück sein ganzes politisches Subjekt-Sein. Die minimale passive Reaktion auf solche TV-Sendungen könnte in einer gebildeten Gesellschaft ein Zuschauer-Boykott sein. Der minimale Ausdruck einer auf Vernunft gründenden Aktivität in einem Rechtsstaat wäre die Diskussion über die Verantwortung von Moderatoren und Redakteuren des TV-Senders für das emotionale Stimulieren von sozialem Zwist. Dort aber, wo weder das eine noch das andere geschieht, kommt es zum „politischen Stillstand“, wie er in anderer Spielart von den Mitscherlichs für die deutsche Gesellschaft zu Adenauers Zeiten diagnostiziert wurde. Um seine Mitbürger dazu zu bewegen, sich als selbständig politisch Handelnde zu begreifen, wird Kanzler Konrad Adenauer 1966 vor der Klagemauer in Jerusalem auf die Knie gehen, genau wie Kanzler Willy Brandt 1970 und Boris Jelzin 1993 in Warschau vor dem Denkmal-Kreuz für die Erschossenen von Katyn.

    4.

    Im Unterschied zu den Deutschen nach der unmissverständlichen Zerschlagung des Nationalsozialismus, ging die Bevölkerung der Russischen Föderation während der Auflösung der UdSSR über den Zerfall des Russischen Reichs und der dahinter stehenden politischen Strategie einfach hinweg. Die spontane, heilsame und vernunftbasierte Rhetorik vom Ende der UdSSR als Befreiung vom Totalitarismus empfanden nur diejenigen als Kapitulation im globalen Kalten Krieg, die diesen Krieg tatsächlich verloren hatten – Geheimdienstleute sowie Partei- und Staatsapparat. Für die allgemeine Bevölkerung aber war es ein Signal für den Zerfall des Russischen Reiches, der zu Beginn der 1920er Jahre in die Gründung der Sowjetunion umgelenkt worden war. Doch dann traf es sich so, dass sich die Bürger der Russischen Föderation durch die Verwendung der Bezeichnung Russland dem Verständnis verschlossen, ja, sich sogar selbst das Nachdenken über eine offensichtliche Tatsache verboten: dass einige andere ehemalige Republiken der UdSSR ebenfalls ein „anderes Russland“4 sind. Eben deswegen ist auch die formal korrekte Eigenbezeichnung der heutigen Russischen Föderation in gewisser Hinsicht ein Substitut für den geschichtlichen und politischen Sinn hinter dem Begriff, ein Substitut, das einer kollektiven Reflexion bedarf. Durch die historische Verbindung des Russischen Reichs beispielsweise zur heutigen Ukraine mit ihrer sich von Russland unterscheidenden, selbst gewählten Ausrichtung des gesellschaftlich-historischen Weges, wird das zweisprachige Land zu einer maximalen Quelle des Ärgers für alle Politiker, die nostalgische Gefühle für die UdSSR hegen. Die bloße Tatsache der Existenz eines anderen Russland, eines Kiewer Russland, in dem weder das Merkmal Sprache noch das Merkmal Kultur eine eindeutige Unterscheidung in sogenannte ethnische Russen und ethnische Ukrainer zulässt, ruft in der unmittelbaren Nähe zum Russland Moskaus bei der gesamten Führungsschicht der Russischen Föderation einen ausgeprägten politischen Minderwertigkeitskomplex hervor.

    Auf sprachlicher Ebene äußert sich dieser Komplex, der genereller Natur und nicht auf die unmittelbar mit der Ukraine zusammenhängende Situation beschränkt ist, schon in den Namen der Organisationen, die für sich die volle Macht in der Russischen Föderation beanspruchen: Einiges Russland, Gerechtes Russland – all diese Bezeichnungen sind ja nichts als unfreiwillige Enthüllungen, die den Mangel an globaler politischer Legitimität zeigen. „Russland“ und russisch“ ersetzen oder bedeuten hier „UdSSRund „sowjetisch“. Und genau deshalb erscheint alles, was früher sowjetisch war, heute jedoch juristisch gesehen nicht russisch ist, in der Phantasie der Elite des Moskauer Russland als Irrtum oder heimtückische Bedrohung, als Objekt rechtmäßigen Misstrauens oder offener Feindschaft.

    Einmal freiwillig in die Rolle der retrospektiven Beschützerin der UdSSR geschlüpft, verbreitet die politische und Medienelite der heutigen Russischen Föderation ihre Sprache des Hasses sowohl auf ehemalige Teile des Imperiums („das georgische Regime“, wie der russische Außenminister despektierlich zu sagen pflegte) als auch auf den großen Widersacher: den Sieger des Kalten Krieges. Die Vertreter der Straforgane, die bis heute nicht, nicht einmal nach ihren eigenen Gesetzen, für die Niederlage der UdSSR in jenem Krieg zur Verantwortung gezogen wurden, konservieren die Gesellschaft im Zustand des Traumas – als wollten sie sich nachträglich dafür rächen, dass der wiederholte Zerfall des Russischen Reiches 1991 vergleichsweise friedlich ausfiel.

    Wenn die Position der Russischen Föderation gegenüber den USA formuliert wird, beruft sich die herrschende Klasse der heutigen Russischen Föderation ständig in der Art auf die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen, als wäre sie der Rechtsnachfolger der UdSSR, der dazu verdammt ist, die historische Mission der Verliererseite weiterzuführen. Betrachtet man einmal die USA und die UdSSR provisorisch als zwei Dritte Roms, ein republikanisches und ein imperiales, so zeigt sich, dass der Niedergang unseres, des imperialen, Teils die Bevölkerung des größten Fragments der ehemaligen UdSSR, also die Menschen der Russischen Föderation, an eine Weggabelung gebracht hat. Auf der einen Seite Freiheit und Bündnissuche mit den USA, auf der anderen Revanche-Versuche eines autoritären Zentralstaates.

    Diejenigen, die der Bevölkerung der Russischen Föderation Revanche, antiamerikanische und NATO-feindliche Rhetorik nahegelegt haben, handeln offenbar instinktiv. Die Ironie der politischen Geschichte Russlands offenbarte sich in einem zentralen Schimpfwort für die Amerikaner und Amerika: Pindossy und Pindossija. In vorrevolutionären Zeiten waren Pindossy eine abfällige Bezeichnung für die Griechen (angeblich nach dem Namen des Berges Pind), wobei die Etymologie dieses ethnischen Schmähausdrucks nicht ganz klar ist. Womöglich haben sich die Amerikaner diesen Spitznamen nach dem Krieg um die jugoslawische Erbfolge im Zuge der Überschneidungen der Friedenseinsätze der Russischen Föderation und der USA auf dem Balkan eingehandelt.5 Doch woher auch immer die Bezeichnung kommt, zwingt uns der Gebrauch eines verallgemeinernden Schimpfwortes zu einem genaueren Blick auf den psychologischen Kontext dieser xenophoben Rhetorik.

    Warum findet unsere Gesellschaft auch 20 Jahre nach der Auflösung der UdSSR keine klare, deutliche, politische Formulierung für die Quelle des eigenen Traumas? Die Bevölkerung der Russischen Föderation versteht, dass der reale Status eines neuen, jungen, demokratischen, russischen Staates nicht mit dem Phantom einer Supermacht Russland vereinbar ist, aber sie will nicht verstehen, warum das so ist. Alexander Mitscherlich sagt, dass ein Trauma nur mithilfe von gewissenhaft angeeignetem Wissen überwunden werden kann, darunter auch solchem, dessen sich das eigene Bewusstsein schämt. Dabei müssten die intellektuellen und moralischen Einstellungen selbst radikal überwunden werden, die zu Hitler geführt hätten, „da das, was geschah, nur geschehen konnte, weil dieses Bewusstsein korrumpiert war“6, schreibt Mitscherlich. Genau vor diesem Wissen fürchten sich die der UdSSR nachtrauernden russischen Politiker wie vor dem Feuer.

    Natürlich kann man das als eine äußerst strittige Frage bezeichnen. Schließlich wurde auch die Diskussion um die Buße, die während der Perestroika in Gang gekommen war, gewaltsam beendet, und zwar aus Angst, das Land könnte unter all denjenigen verteilt werden, die irgendwann einmal vom Russischen Reich gekränkt wurden. Oder dass es unter dem Deckmantel von Kontributionszahlungen an all die Letten, Tschurken, Chatschen und Schlitzaugen ausverkauft wird, und an die ganzen Pindossija- und NATO-Huren entlang der neuen russischen Grenzen. Und hier betreten wir ein höchst schwieriges linguistisch-politisches Feld: Je durchsichtiger seine Logik, umso nebulöser die politischen Folgen.


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    1.Mitscherlich M. / Mitscherlich A. (1967): Die Unfähigkeit zu trauern: Grundlagen kollektiven Verhaltens, Stuttgart
    2. Šmeleva, T. V. (1993): Ključevye slova tekuščego momenta, in: Collegium: Meždunarodnyj naučno-chudožestvennyj žurnal, Nr. 1, S. 33-41
    3.Camus, R. (2006): “We’ll whack them, even in the outhouse”: on a phrase by V.V. Putin, in: Gusejnov, Gasan (Hrsg.): Language and Social Change: New Tendencies in the Russian Language, kultura, Nr. 10, S. 3-8
    4.siehe auch: Gusejnov, G. (1992): Istoričeskij smysl političeskogo kosnojasyčija: Ukraina i russkoje obščestvo, in: Znamja, Nr. 9, S. 191; Guseinov, G. (1993): The Russian-Ukrainian Conflict: Tradition and Prospects, in: Anthropology and Archaeology of Eurasi:. Sociolinguistics, Semiotics, and Society, Vol. 32 (1), Washington, S. 53-65
    5.Offenbar ist der Begriff pindos in dieser modernen Bedeutung erstmals am 7. November 1999 im Fernsehen in einer Reportage aus dem Kosowo aufgetaucht. Ein Soldat sagte in einem Interview, dass man dort mit diesem Wort die amerikanischen Friedenstruppen bezeichnete – NLO
    6.Mitscherlich M. / Mitscherlich A. (1967): Die Unfähigkeit zu trauern: Grundlagen kollektiven Verhaltens, Stuttgart. S. 82

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  • Streichhölzer für Pyromanen

    Streichhölzer für Pyromanen

    Russland und die Türkei waren immer wieder miteinander in Kriege verwickelt. Mitte des 19. Jahrhunderts mündete der Russisch-Osmanische Krieg gar in einen weitreichenden eurasischen Konflikt, den Krimkrieg. Wie werden sich die Parteien in der derzeitigen, vom Geschehen in Syrien ausgelösten Konfrontation verhalten? Der Politologe Wladimir Pastuchow skizziert in der Novaya Gazeta zwei Szenarien – mit großer Hoffnung erfüllen ihn beide nicht. Streichhölzer, schreibt er, sind in die Hand von Pyromanen gelangt, die lustvoll mit dem Feuer spielen.

    Erdogan musste ohne einen festen russischen Händedruck aus Paris abreisen. Auch die Ansprache des russischen Präsidenten vor der Föderalversammlung ließ keinen Zweifel daran, dass die Sache allein mit der Einfuhrbeschränkung für ein paar Tomaten nicht aus der Welt zu schaffen ist. Das Thema Türkei hat die Ukraine aus der Ansprache des Präsidenten verdrängt. Doch Istanbul ist nicht lieblicher als Kiew – Russland muss schon wieder zwischen einem schlechten und einem sehr schlechten Szenario wählen. Die Münze des russisch-türkischen Konflikts schwebt weiter in der Luft, und bislang ist nicht abzusehen, was am Ende oben liegen wird: Kopf – ein zähneknirschender Frieden – oder Zahl – ein Krieg nach dem Zahn-um-Zahn-Prinzip.

    Zähneknirschender Frieden

    Bei diesem Szenario könnte Russland sein Gesicht verlieren, aber andere für Schicksalsschläge empfindlichere Körperteile würden unversehrt und heil bleiben. In diesem Fall würde nach einer gewissen Pause kontrolliert die Luft aus den PR-Blasen der antitürkischen (von der russischen Seite) und antirussischen (von der türkischen Seite) Propagandakampagnen herausgelassen werden (ähnlich wie beim fließenden Übergang vom Projekt Noworossija zur Autonomie innerhalb der Ukraine).

    Die Gesellschaft hier kann sich nie lange auf eine einzelne Tragödie konzentrieren, denn es folgt eine Tragödie nach der anderen. In wenigen Monaten wird bestimmt wieder etwas passieren, das die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zieht. Wenn nicht, so kann man auch nachhelfen, zum Beispiel indem man die Spannungen in der Ostukraine wiederbelebt – zumal man sich hierfür nicht sonderlich bemühen müsste. Vor diesem Hintergrund würden die Führer Russlands und der Türkei letztlich einen Weg finden, um miteinander zu sprechen und eine Reihe gegenseitiger Zugeständnisse zu machen: Die Türkei bewegt sich zum Beispiel wirtschaftlich bei den Gasprojekten und akzeptiert die russische Vorgehensweise zur Gaspreisbildung, dafür sichert Russland informell zu, die Intensität der Bombardierungen in den an die Türkei grenzenden syrischen Gebieten zu reduzieren, indem es, wen nötig, nicht zu Verbündeten, sondern zu Feinden des IS erklärt.

    Im Grunde wäre diese Option heute allen recht – vor allem Europa, das sich unbedingt mit Russland einigen und dabei den (im Kontext der Ukraine) besorgten Gesichtsausdruck bewahren möchten. Die Europäische Union könnte sich im Prinzip mit Putin darauf einigen, dass das abgeschossene Flugzeug ein Dolchstoß in den Rücken der Befriedungs-Politik des Kremls ist.

    Die Variante Zahn um Zahn

    Beim zweiten Szenario wahrt Russland sein Gesicht, setzt sich jedoch mit einem großangelegten Krieg fern der eigenen Landesgrenzen auf eine glühende Herdplatte. Es gibt Mutmaßungen, dass Teile der russischen Militärs und politischen Eliten zu einer Nullvariante tendieren, die auf den Abtausch einer gleichen Anzahl abgeschossener Flugzeuge zielt. Es werde die Verhandlungen beleben, so kalkuliert man, wenn beide Seiten sich in einer ähnlichen Lage befinden – dann könne man Erdogan ohne Probleme beide Hände auf einmal drücken. Allerdings, und darin liegt das Problem, ist es unmöglich vorherzusagen, wie sich Erdogans Hände in diesem Fall verhalten würden: Sie könnten sich zur Umarmung öffnen, sie könnten sich aber auch zu Fäusten ballen. Folglich spielt Moskau, wenn es diesem Szenario folgt, russisches Roulette.

    Interesse gegen Interesse

    Die Wahrscheinlichkeit, dass die Türkei auf einen Schlagabtausch inadäquat reagiert, ist heute beträchtlich – die Chancen stehen fifty-fifty. Das Problem liegt darin, dass der Konflikt zwischen der Türkei und Russland grundlegender Natur ist. Was die Länder trennt, sind nicht so sehr die Ambitionen ihrer Führer (worüber heute viel geschrieben wird), als vielmehr die Interessen beider Länder, was weitaus gravierender ist. Ambitionen kann man zurückschrauben, vor Interessen gibt es kein Entrinnen. So oder so treten sie früher oder später zu Tage und unterwerfen sich die politische Logik, entstellen und zerstören alle Pläne und Vorhaben. Genau das beobachten wir offenbar gerade in den russisch-türkischen Beziehungen.

    Für die Türkei ist Syrien eine Ukraine im eigenen Einzugsgebiet. Latakia ist für sie eben jenes Noworossija, und Assad für den türkischen Präsidenten schlimmer als Poroschenko für Putin. Genau wie Putin kämpft Erdogan gegen eine Revolution, nur nicht gegen eine orangene, sondern gegen eine grüne. Um zu überleben, muss er eine Konterrevolution exportieren. Die liefert er nach Latakia, mit genau solchen Humanitärkonvois, wie sie den Menschen im Donbass wohlbekannt sind. Um „ihren Soldaten“ Assad zu retten, bombardieren russische Flugzeuge diese Konvois und diejenigen, für die ihre „völlig friedliche Fracht“ bestimmt ist. Darum kann Erdogan es sich nicht erlauben, vor der russischen Präsenz in dieser Region die Augen zu verschließen.

    Doch auch der Kreml ist nicht aus freien Stücken zum Kämpfen nach Latakia gekommen. Das vierte Jahr in Folge ist er auf dem Rückzug vom Bolotnaja-Platz. Er machte Zwischenstopp in „Noworossija“, konnte dort die Stellung nicht halten und zog dann weiter nach Süden. Aus Latakia abzuziehen kann der Kreml sich nicht leisten: Der Donbass sitzt ihm im Rücken, und in Syrien erfüllt die russische Armee eine historische Mission mit dem Versuch, das weltweite Gleichgewicht der Kräfte auszutarieren, das nach Ansicht Moskaus nach dem Fall der Berliner Mauer ins Wanken geraten ist. Die Türkei wird in Syrien von Russland demonstrativ ignoriert und nur als weißes Rauschen im globalen großen Spiel betrachtet. Unterdessen hat die Türkei ihre eigenen Gründe, Russland nicht zu mögen, wobei es weniger um historische als um aktuelle Politik geht. Beide Seiten sind durch die Vergangenheit verbunden und können nicht frei manövrieren.

    Vergangene Kriege, aktuelle Gefahren

    Beide Seiten haben wohlüberlegt und bewusst gehandelt. Die Russen haben gezielt die Turkmenen bombardiert, um die Sicherheit des Assad-Regimes zu gewährleisten, und die Türken hat ebenso gezielt dem Flugzeug aufgelauert, um den Punkt zu markieren, ab dem die Einmischung Russlands in den Konflikt die für sie akzeptable Grenze überschreitet. Nachdem Russland die Mission übernommen hat, die Schiiten im Nahen Osten zu schützen, verhält es sich genauso wie vor 150 Jahren, als es seine Mission war, die Slawen auf dem Balkan zu schützen. Das führte damals zu einer Reihe Russisch-Türkischer Kriege, die im Großen und Ganzen positiv für Russland ausgingen (auch wenn der Westen nicht zuließ, dass es von dem militärischen Sieg in vollem Ausmaß profitierte). Die Erinnerungen an diese Kriege rufen in der Gesellschaft durchaus Illusionen und Erwartungen hervor. Ein neuer Russisch-Türkischer Krieg könnte jedoch in Wirklichkeit als Russisch-Japanischer Krieg entpuppen und wie dieser zu einer ernsten Herausforderung werden – nicht nur für die russische Armee, sondern auch für das soziale und politische System des Landes. Zumindest herrscht in Russland heute die gleiche prahlerische Siegeszuversicht wie vor 100 Jahren am Vorabend des Russisch-Japanischen Krieges.

    Wenn die Türken beschließen, va banque zu spielen, droht die russische Militärbasis in Syrien zum Port Arthur des 21. Jahrhunderts zu werden. Die militärische Überlegenheit der Türkei vor Ort ist so hoch, dass ein russisches Expeditionskorps (einschließlich der Marinekräfte) faktisch chancenlos wäre. Ein großangelegter Angriff auf die Türkei ist äußerst unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass die Türkei Mitglied der NATO ist und sich auf ihrem Territorium Atomwaffen befinden. In dieser Situation würde Russland wohl die Schande einer militärischen Niederlage ertragen müssen.

    Niederlagen prägen bekanntlich das Bewusstsein der Bevölkerung weitaus stärker als Siege. Eine Eskalation des militärischen Konflikts mit der Türkei hätte deshalb vermutlich heftige revolutionsschürende Auswirkungen auf die russische Gesellschaft zur Folge. Damit schlösse sich der politische Kreis: Was als Davonlaufen vor der Revolution begann, würde mit einem revolutionären Sturmlauf enden.

    Vorerst ist dies nur eines von mehreren möglichen unerwünschten Szenarien, und man könnte es durch besonnenes und umsichtiges Handeln vermeiden. Ein friedlicher Ausweg aus dem türkischen Gambit ist im Interesse aller, die leben wollen: Russen wie Europäer, Eurasier wie Westler, Apologeten des Regimes wie vehemente Oppositionelle. Aber das Problem ist ja gerade, dass von Abwägung und Besonnenheit bisher nichts zu spüren ist. Streichhölzer sind in die Hand von Pyromanen gelangt, die lustvoll mit dem Feuer spielen – und man kann nur noch darauf hoffen, dass der Selbsterhaltungstrieb der herrschenden Elite von den Informations- und Analysesendungen des russischen Staatsfernsehens nicht komplett zerstört worden ist.

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  • Krasser Cocktail

    Im November tagte in der russischen Hauptstadt das „Weltkonzil des russischen Volkes“, ein Gremium von hochgestellten Vertretern aus Kirche, Politik und Wissenschaft. Kommersant-Ogonjok hat verfolgt, wie verschiedenste Stränge der russischen Geistesgeschichte zu einer neuen nationalen Idee des russischen Sonderwegs verflochten werden.

    Russland droht immer häufiger damit, einen Sonderweg einzuschlagen, macht sich aber nicht die Mühe, den Streckenverlauf dieses Weges näher zu definieren. Vergangene Woche nun ging es in puncto Formulierungen und Definitionen richtig zur Sache, und zwar beim XIX. Weltkonzil des russischen Volkes, das unsere politische Sprache um manche neue Begrifflichkeit bereichert hat.

    Die Experten des geschätzten Forums, das in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale tagte (neben geistlichen waren auch gänzlich weltliche Personen anwesend – von der Abgeordneten Irina Jarowaja bis zum Rektor der Moskauer Lomonossow-Universität Viktor Sadownitschi), erörterten gemeinsam das komplexe Thema Das Erbe Fürst Wladimirs und das Schicksal der historischen Rus. Im Laufe des Meinungsaustauschs zeigte sich eine völlige Übereinstimmung in den wesentlichen weltanschaulichen Positionen. Zusammen ergeben diese Positionen eine (aus Sicht der Veranstaltungsteilnehmer) durchaus organische Mixtur aus ideologischen und verhaltensbestimmenden Einstellungen. Hier die zentralen Punkte:

    – Russland soll keine Zivilgesellschaft, sondern eine „Solidargesellschaft“ sein.

    – Die Spaltung in links und rechts ist zu überwinden in der besonderen Ideologie eines „sozialen Monarchismus“, die nur unserer Zivilisation eigen ist.

    – Die Initiative orientiert sich nicht an fremden Werten (etwa einem „demokratischen Europa“), sondern an ureigenen, althergebrachten: Wir sind aufgerufen, ein „großmächtiges Russland“ zu errichten.

    Mit anderen Worten, die „souveräne Demokratie“ wird von einem neuen Ideologem abgelöst: dem „sozialen Monarchismus“. Dieser krasse Cocktail stößt unter Fachleuten auf unterschiedliche Reaktionen.

    „Natürlich ist die mangelnde Originalität unserer sämtlichen Sonderweg-Ideologen deprimierend“, meint Alexej Malaschenko, Leiter des Programms Religion, Gesellschaft und Sicherheit am Moskauer Carnegie-Zentrum. „Wir haben es mit Doubletten westlicher Vorlagen zu tun, ohne jeden Versuch einer Reflexion: Dort bei denen sieht die Gesellschaft so und so aus, und bei uns soll es so und so sein – Hauptsache, alles andersrum. Die Sonderwegler sind in erster Linie darauf aus, sich von allem Westlichen abzustoßen, und zum Abstoßen wird wahllos alles benutzt, was in unserer Kultur verfügbar ist: So erscheint Nikolaj Berdjajew plötzlich in enger Verbindung mit Iwan Iljin, der Sozialismus wird zum Synonym für Monarchismus und so weiter. Paradoxerweise muss man für die Konstruktion der eigenen Besonderheit den Reichtum der Kultur mit ihren verschiedenen Facetten opfern und sie über den Staatskamm scheren.”

    Irina Sandomirskaja, Professorin am Zentrum für baltische und osteuropäische Studien der schwedischen Södertörn University, hat darauf hingewiesen, dass die Themen Sonderweg und Russentum in der politischen Rhetorik des Landes in regelmäßigen Abständen auftauchen, und zwar stets begleitet von leidenschaftlichen Wortschöpfungen und plakativer Abneigung gegenüber Europa. Am Anfang gibt es Versuche, „wissenschaftlich“ zu formulieren und zu begründen, warum wir besser sind als alle anderen. Dann wird die „wissenschaftliche“ Basis durch eine emotionale Komponente untermauert, nämlich durch die Behauptung, die „Besonderheit“ des Vaterlandes werde von westlichen Feinden bedroht. Und schon sind wir bei der Heimat, die „immerfort ruft“ und dem Vaterland, das „immerfort in Gefahr“ ist.

    Als einer der ersten Begründer der weltlichen Vaterlandsreligion gilt in der Wissenschaft Alexander Schischkow, Held puschkinscher Epigramme und Staatssekretär, der das Primat staatlicher vor privaten Interessen begründete und die Notwendigkeit formulierte, den „verlogenen Gesinnungen“ des Westens zu trotzen (es sei bemerkt, dass Schischkow selbst Europa liebte und seine Kartenspielgewinne in Reisen nach Florenz und Rom investierte). In eine vollendete Formel gegossen wurden diese Ansätze in der Uwarowschen Theorie der offiziellen Volkstümlichkeit, die von den russischen Sonderweglern bis heute verehrt wird: Orthodoxie, Selbstherrschaft, Volkstümlichkeit. Wie der Historiker Sergej Solowjow bemerkte, ersann Graf Uwarow „als Gottloser die Orthodoxie, als Liberaler die Selbstherrschaft und als einer, der in seinem Leben kein einziges russisches Buch gelesen hatte und andauernd auf Französisch und Deutsch schrieb, die Volkstümlichkeit“[1]. Insofern gebührt dem Verfasser der „offiziellen Volkstümlichkeit“, der ebenso gekonnt wie zynisch den Staatsauftrag einer „besonderen Ideologie“ erfüllte, wohl der Titel des ersten russischen Polittechnologen.

    Heute beobachten wir im Konzept des „sozialen Monarchismus“ die Präsentation einer modernen Version dieser Ideologie, die wie ein Versuch wirkt, Russland mit seiner eigenen Vergangenheit auszusöhnen: Der Zar, heißt es, ist heilig und auch die KPdSU – die Architektin der Industrialisierung und des Großen Sieges. Schon finden entsprechende Ausstellungen statt, die alle mit allem versöhnen, es ertönen offizielle Reden. Und immer öfter der Refrain: Von außen kann man uns gar nichts – die Hauptbedrohung für unser Land sind innere Wirren, die die Einheit zerstören. Da möchte man fragen: Wartet das Glück, wenn wir die erstmal im Griff haben?

    Unterdessen lebt das Land, in dem alles in eins zusammengerührt wird, weiterhin in leichter Schizophrenie durch ständiges Vereinbaren des Unvereinbaren: Da wird ein genetisches Gutachten zu den sterblichen Überresten der – von den Bolschewiki gemarterten – Zarenfamilie angefertigt, gleichzeitig appelliert der Patriarch, den Blick zu richten auf die „Schönheit der Heldentaten unseres Volkes in den 20er, 30er und 40er Jahren“, und auf der Internetseite der Metropole Nowosibirsk ist ein rätselhafter Text über das „Rote Imperium“ zu lesen, das eine „neue, sonnige Zivilisation“ geschaffen habe, eine „Gesellschaft des Schöpfertums und des Dienens“, auf die der Westen das Dritte Reich „gehetzt“ habe …

    Es sind übrigens nicht viele, die sich an derartigen Widersprüchen stören. Die Vertreter der „orthodoxen Mehrheit“ (auch diese Wortverbindung war vergangene Woche aus dem Mund des Erzpriesters Wsewolod Tschaplin zu hören) sind ob der gewonnenen Klarheit sogar nahezu euphorisch gestimmt. In der Staatsduma wurde in erster Lesung bereits ein Gesetzesentwurf gebilligt, dem zufolge religiöse Organisationen, die finanzielle Mittel aus dem Ausland erhalten, einer schärferen Kontrolle unterzogen werden sollen, und auf mehreren Fernsehkanälen wurden Beiträge ausgestrahlt, die zur Wachsamkeit bei der Begegnung mit „Sektierern“ aufriefen, wobei als „Sektierer“ Vertreter der anerkannten protestantischen Kirchen gezeigt wurden.

    „Die politische Religion ist unsere neue Realität, die wenig gemein hat mit dem orthodoxen Glauben“, erklärt Boris Knorre, Religionswissenschaftler und Dozent an der Higher School of Economics. „Die Kirche wird zum Treibriemen in der Staatsmaschinerie, wie es im Großen und Ganzen bereits 1993 beabsichtigt war, als das Weltkonzil des russischen Volkes unter Beteiligung von Vizepräsident Alexander Ruzkoi ins Leben gerufen wurde, um die Staatsideologie zu stärken. Doch alle diese Spiele sind äußerst riskant: Wir haben erreicht, dass der Fundamentalismus salonfähig geworden ist.“


    1.Die eindeutige Einschätzung von Sergej Solowjow, der Sergej Uwarow persönlich gut kannte, wird oft in Frage gestellt. Andrej Subow, Professor der Moskauer Universität für Internationale Beziehungen, merkt in einem Aufsatz an, dass Solowjew Uwarow gegenüber gehässig und äußerst unobjektiv gewesen sei, was wahrscheinlich persönliche Gründe hatte. – dek

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