Elektroautos, Windkraft und Solaranlagen: Die Sowjetunion hatte das alles schon. Wie die UdSSR zunächst Vorreiter der erneuerbaren Energien wurde und weshalb daraus schließlich doch nichts wurde – das beschreibt Konstantin Ranks in einem Rückblick auf Republic.ru.
Was erneuerbare Energien angeht, liegt Russland weit hinter den Weltmarktführern zurück. Was bei genauerer Betrachtung recht sonderbar ist: Denn noch vor einem halben Jahrhundert gehörte Russland zur Avantgarde innerhalb der Bewegung für eine neue Energiewirtschaft. Damals ging es allerdings noch nicht um ökologische Nachhaltigkeit – eher um eine billige Energievariante.
Man kann sich das heute kaum noch vorstellen, aber bis Mitte der 1960er Jahre war die Sowjetunion im Grunde Erdölmangel-Land. Die Stromgewinnung aus erneuerbaren Energiequellen war eine objektive Notwendigkeit – zumal der Führer des Weltproletariats Lenin und seine Gesinnungsgenossen die saubere Elektroenergie als Hauptquell der neuen Industrialisierung ansahen – und nicht die durch Dampf oder Benzin erzeugte Energie. Der GOELRO-Plan zur staatlichen Elektrifizierung Russlands aus dem Jahr 1920, der von einem 200-köpfigen Wissenschaftlerkollektiv vorgelegt worden war, sah den Einsatz unterschiedlichster Energiequellen vor.
Exotische ingenieurtechnische Forschungen
Die Frage, wo die elektrische Energie herkommen sollte, um Industriebetriebe und die über das riesige Land verteilten Orte zu versorgen, regte zu recht exotischen ingenieurtechnischen Forschungen an, die bis Anfang der 1990er Jahre fortgeführt wurden. Im Moskauer Krshishanowski-Institut für Energietechnik erforschte man die Nutzung von Sonnenenergie mit dem Ziel, Sonnenöfen und Solarheizkraftwerke zu bauen.
Ein Solarofen namens Sonne in Taschkent
Ein Solarofen namens Sonne wurde 1981 in der Nähe von Taschkent errichtet. Der Ofen war mit 62 beweglichen Heliostaten ausgestattet, die die Sonnenstrahlen auf einen Sammelspiegel lenkten; dieser wiederum bündelte die Strahlen dann auf einem speziellen Versuchstisch. Innerhalb weniger Sekunden stieg die Temperatur im Brennpunkt des Systems auf über 3000 Grad Celsius. Das ermöglichte es, das Verhalten von Stoffen unter den Bedingungen des sogenannten thermischen Schocks zu untersuchen.
62 bewegliche Heliostaten bündeln das Sonnenlicht auf einem Versuchstisch – in kürzester Zeit steigt die Temperatur auf über 3000 Grad Celsius
Das Sonnenwärmekraftwerk SES-5 funktionierte nach dem gleichen Prinzip: Ein System von 1600 Heliostaten, die sich automatisch nach der Sonne ausrichteten, warf das Sonnenlicht auf einen in der Spitze des 99 Meter hohen Turms untergebrachten Dampfkessel. Der erhitzte Dampf wurde in den Turbinenraum im unteren Teil des Turms geleitet. Mit Hilfe der dort befindlichen Wärmespeicher konnte der Normalbetrieb des Kraftwerks für drei bis vier Stunden aufrechterhalten werden, etwa im Fall unerwarteter Bewölkung.
Das Kraftwerk stand im Osten der Krim, seine Leistung betrug 5000 kW, womit es damals (1985) zu den stärksten Solarkraftwerken der Welt gehörte. Im Übrigen war das Krim-Kraftwerk in erster Linie eine Versuchsplattform, dort sollte erarbeitet werden, welche Besonderheiten bei einem Kraftwerk mit erheblich höherer Leistung zu beachten wären. Doch als mit dem Zerfall der UdSSR die Finanzierung eingestellt wurde, stellte auch SES-5 seinen Betrieb ein und kam auf den Schrott.
Erfinder sahen für die Windkraft in Russland eine große Zukunft
Insgesamt hatte die Nutzung von Wasserkraft einen bedeutenden Anteil an der Energiebilanz des Landes (bis zu 20 Prozent). Doch die Gewinnung von Wasserkraft im Flachland erfordert den Bau von Staudämmen (und verursacht entsprechende Kosten), wohingegen die Nutzung von Windkraft nichts Derartiges notwendig machte.
Elektroautos, Windkraft und Solaranlagen: Die Sowjetunion war lange Zeit Vorreiter in der Entwicklung erneuerbarer Energie
1923 hatte der sowjetische Staat für die Windkraftanlage des Kursker Erfinders Anatoli Ufimzew 5000 Rubel bereitgestellt. Im Februar 1931 ging das Kraftwerk an den Start. Die Erfinder sahen für die Windkraft in Russland eine große Zukunft – sie sprachen [in Anspielung auf Lenins Staatsplan zur Elektrifizierung] von der „Anemofizierung“ Russlands: das Ufimzewsche Windrad überlebte sowohl den Zweiten Weltkrieg als auch seine Erbauer und gab erst in den 1950er Jahren seinen Geist auf.
Nach dem Krieg wurden serienmäßig kleinere Windaggregate für den Betrieb von Rundfunkstationen und für die Ortsbeleuchtung hergestellt. Damals kamen auch die sogenannten kombinierten Windkraftanlagen auf, bei denen Windgeneratoren mit Dieselanlagen kombiniert wurden (sobald der Wind nachließ, sprangen automatisch die Dieselgeneratoren an).
Auf der Suche nach dem Energie-Eldorado der UdSSR
In den 1950er Jahren weckte die Suche nach einem Energie-Eldorado in der UdSSR das Interesse an den unterschiedlichsten Energieformen. Neben industriellen Experimenten mit Atom-, Sonnen- und Windenergie wurde auch Exotischeres erforscht. So zum Beispiel im Jahr 1966 in einem Flusstal auf der Kamtschatka-Halbinsel, wo ein Geothermie-Kraftwerk mit einer Leistung von 5000 kW gebaut und in Betrieb genommen wurde – es war landesweit das erste und weltweit das erste mit Niedertemperatursystem. Solche Kraftwerke, die als Wärmeträger leichterhitzbare Flüssigkeiten benutzen, hätte man gut auch im Nordkaukasus, in Ostsibiren und sogar in der Ukraine errichten können.
Erdölmangelverwaltung
Offensichtlich konnte Sowjetrussland auf dem Gebiet der Erdölförderung mit den entwickelten Ländern nicht Schritt halten. Obwohl 1932 Öl in Baschkirien entdeckt worden war, kam die Erschließung nur schleppend voran. Zwar betonte die sowjetische Führung stets die Notwendigkeit, die Erdölförderung auszubauen, Öl galt als strategische Ressource, unter anderem für Verteidigungszwecke. Die Frage, weshalb sie damals dennoch prioritär auf Kohleförderung setzte, ist in der Geschichtsforschung Gegenstand zahlreicher Diskussionen.
Ende der 1960er Jahre hatte die Sowjetunion die Chance verpasst, in der Entwicklung moderner Technologien weiter mitzuhalten
Der Entwicklung erneuerbarer Energien hingegen lag eine klare Logik zugrunde: Je mehr die nur knappen Erdölprodukte durch „kostenlose“ Elektrizität ersetzt werden konnten, desto mehr blieb für den Bedarf von Armee, Luftwaffe und Flotte sowie weitere nach Ansicht der sowjetischen Führung elementare Aufgaben übrig.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde schnell klar, dass großzügige Erdölreserven eine entscheidende strategische Ressource darstellten. Die USA schwammen in billigem Öl. Auch die Europäer hatten diese Quelle angezapft, aber das Fahren solcher Riesenschlitten, wie sie bei den Amerikanern mittlerweile beliebt waren, konnte man sich im vom Krieg zerstörten Europa und in der UdSSR nicht leisten. Der Bau von Wasserkraftwerken, eines leistungsstärker als das andere, die Errichtung des ersten Atomkraftwerks der Welt in Obninsk, Experimente mit Wind-, Erdwärme- und Flutkraftwerken waren weniger Ausdruck eines neuen Umweltbewusstseins, als vielmehr Konsequenz mangelnder Kohlenwasserstoffreserven.
Das „große Öl“ in Westsibirien
Kurioserweise gab es nach der Entdeckung des „großen Öls“ in Westsibirien 1963 noch mehrere Jahre ein Gerangel mit den Wasserkraftanhängern, die im Flusstal des Ob ein neues Wasserkraftwerk bauen wollten. Doch Ende der 1960er Jahre und besonders nach dem Erdölembargo der arabischen Länder 1973 sah die sowjetische Führung im Öl eine einfache Lösung für den Berg von Problemen, mit denen sich die Wirtschaft der UdSSR konfrontiert sah.
Die Arbeit mit erneuerbaren Energieträgern verlor vor diesem Hintergrund für die Parteiführung an Reiz. Sie verteilte nun begeistert Öldevisen an Länder, die sich für den „sozialistischen Entwicklungsweg“ entschieden hatten.
Entwicklung zum Erdöl-Junkie
Im Westen hingegen setzte ab Mitte der 1970er Jahre im Zuge der Vervierfachung des Erdölpreises ein rasanter Wettlauf um die Effektivierung der Ressourcennutzung ein. Letztlich hatte die Sowjetunion Ende der 1960er Jahre die Chance verpasst, in der Entwicklung moderner Technologien weiter mitzuhalten. Sonnenöfen und Wärmekraftwerke, Windgeneratoren- und Hydrothermalkraftwerke auf der Basis von Niedertemperatur-Kältemitteln – das alles war Weltniveau. Darüber hinaus war im Wolga-Automobilwerk jahrelang an der Entwicklung von Elektroautos gearbeitet worden.
Welches Verhängnis für Russland darin lag, sich zum „Öl-Junkie“ zu entwickeln, erkannte man sogar in der Erdölbranche. Der Entdecker des sibirischen Öls Salman Farmanow sowie der ehemalige Erdölindustrie-Minister und stellvertretende Vorsitzende des sowjetischen Ministerrats Nikolaj Baibakow hatten in den 1980er Jahren nachdrücklich davor gewarnt, dass eine Wirtschaft, die sich auf den Ölhandel gründet, das Land in die technologische Abhängigkeit führen werde. Doch um diese Gefahr abzuwenden, war es bereits zu spät, wie die folgende Entwicklung zeigte. Dass neue Generationen von russischen Ingenieuren in der Lage sein werden, auf dem Gebiet der regenerativen Energien Neuigkeiten vorzulegen – davon kann man ausgehen.
Das Problem liegt vielmehr darin, dass es eine Nachfrage für diese Entwicklungen nicht nur auf dem Weltmarkt, sondern auch in Russland geben müsste.
Rauchende Schornsteine und stampfende Maschinen – die Fabriken und Schmelzwerke waren einst stolzes Symbol der sowjetischen Wirtschaftsmacht. Viele von ihnen findet man bis heute in der Ural-Region, die während des Großen Vaterländischen Kriegs zu einem der wichtigsten sowjetischen Industriezentren ausgebaut wurde. So konnte weitab der Front die industrielle Produktion sichergestellt werden. Ein Propaganda-Gedicht besang die Region als „Stützregion der Staatsmacht“, als eine Kraft, die weit draußen im Hinterland dafür sorge, dem Feind ein jähes Ende zu bereiten.
Vom Reißbrett aus schossen die Fabriken aus dem Boden. Viele von ihnen bildeten das Zentrum sogenannter Monostädte –Arbeitersiedlungen, die Stalin ab den 1930er Jahren rund um einen einzigen Betrieb oder ein Kombinat errichten ließ. Statistisch gesehen liest sich die Geschichte der Monostädte wie eine magische Zahlenreihe: Über 400 Monostädte gab es in Russland, die einst 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschafteten. Jeder vierte russische Staatsbürger lebt in einer solchen Stadt. Die in der Ural-Region angesiedelten Monostädte entwickelten sich dank reicher Rohstoffvorkommen zu wichtigen Industriezentren mit einem Lebensstandard, der mancherorts weit über dem sowjetischen Durchschnitt lag. Doch mit dem Ende der Planwirtschaft begann ihr Niedergang, auch die globale Wirtschaftskrise 2008 und die anhaltende Russische Wirtschaftskrise setzen ihnen zu. Zahlreiche Betriebsschließungen sind die Folge.
Das trifft sowohl die Monostädte, als auch historisch im Ural verwurzelte Städte, die ihr Gesicht in der Sowjetunion zur Industriestadt wandelten. Solche Städte fernab der üblichen Transport- und Handelswege geraten zunehmend in Vergessenheit. So auch die Stadt Resh, einst eine Hochburg der Nickelproduktion, der die Journalistin Victoria Ivleva für Takie Delaeinen Besuch abstattete. Die Stilllegung des Nickelwerks brachte nun schon die dritte große Entlassungswelle mit sich – mit verheerenden Folgen für die Bewohner.
Wenn man nach Resh hineinfährt, passiert man eine Stelle mit dem Datum der Stadtgründung: 1773. Ein Stückchen weiter fällt einem der etwas irritierende Schriftzug „Baden-Baden Smaragdküste“ ins Auge – und das mitten im Uralgebirge.
„Das ist dieses Kurbad hier bei uns, mit Thermalbecken, da können Sie sogar bei extremen Minusgraden draußen baden“, sagt mein Fahrer und fängt dann plötzlich an, von den echten Smaragden zu erzählen, die hier haufenweise herumliegen, und von der verlassenen Goldmine neben dem Haus seiner Großmutter, wo er immer schon mal hineinklettern wollte, aber er hat Angst, eins auf die Mütze zu bekommen, wenn er da „irgendwas ausbuddelt“, sagt er.
Kurz gesagt, ich bin umringt vom Ural.
Am Ortsanfang steht ein Schild ,Baden-Baden Smaragdküste‘ – und das mitten im Uralgebirge
Resh ist ein ruhiges Städtchen, hübsch anzusehen, es fügt sich ein in den Ural und seine reiche Natur, ohne sie zu erdrücken. Viel Himmel ist hier zu sehen, viel Wasser, alte Bäume, die Stadt wirkt malerisch im Sommer, im Winter wie eine Grafik. Resh mit seiner weitverzweigten Anlage nimmt einen für sich ein, seine verschlungenen, hinan- und hinabeilenden Straßen, der riesige alte, asymmetrisch geformte Teich, in dem man ganzjährig angeln kann, die noch aus dem 19. Jahrhundert erhaltenen Villen und die erstaunlich sanftmütigen Menschen.
Es war der größte Betrieb der Stadt, 1000 Menschen arbeiteten dort
Die Hauptsehenswürdigkeit von Resh, von jedem Punkt aus zu erahnen, ist der rot-weiß gestreifte Schornstein des Nickelwerks, das die Stadt achtzig Jahre lang ernährt hat und das es nun, unerwartet für die Bewohner und anscheinend auch für das Werk selbst, plötzlich nicht mehr gibt. Es war der größte Betrieb der Stadt, 1000 Menschen arbeiteten dort. Im Zuge der Betriebsschließung sollen alle entlassen werden, und die eigentliche Fabrik, in der der Betrieb früher Tag und Nacht nicht zum Erliegen kam, liegt bereits verlassen da. Totenstille. Zwei weitere Fabriken in Resh haben ihre Seele schon früher ausgehaucht. Das Werk und seine überraschende Stilllegung, die hier alle kalt erwischt hat, sind es auch, die mich nach Resh geführt haben.
Man muss wissen, dass Resh Nickel kein eigenständiger Betrieb ist. Er ist das Mittelglied in einer Kette, die von der Gewinnung des Nickelerzes bis zur Schmelzung des Metalls reicht. Resh Nickel stellt das Zwischenprodukt Rohstein her; das Reinnickel wird in einer Stadt mit dem märchenhaften Namen Werchni Ufalei gewonnen. Die Werke in Resh und Ufalei sowie die Nickelgrube in der Stadt Serow bilden zusammen die Firma Rus Nickel, die 15 Prozent des russischen Nickels produziert.
Totenstille. Zwei weitere Fabriken in Resh haben ihre Seele schon früher ausgehaucht
Iwan Iwanytsch Dimitrijew, Betriebsleiter von Resh Nickel:
„Dass der Preis für Koks sich verdoppelt hat und gleichzeitig der Nickelpreis gesunken ist, das haben wir nicht verkraftet, das muss man so sagen. Aber das heißt ja nicht, dass man den Betrieb so Knall auf Fall dichtmachen musste, einfach hinschmeißen und dem Unkraut überlassen. Stillstandsphasen hatten wir auch früher schon, aber wir haben jedes Mal wieder neu angesetzt, haben Teile modernisiert, uns irgendwas überlegt …“
„Und der Betrieb florierte?“
„Na sicher doch. Hier war schließlich die wissenschaftliche Plattform der UPI [Uralski Gossudarstwenny Technitscheski Universitet, dt.: Staatliche Technische Universität des Uralgebiets – dek], hier pulsierte das wissenschaftliche Leben, der Erfindergeist, hier war es so interessant! Das ist es ja, was mich fertigmacht: Generationen haben das alles hier aufgebaut, und wofür? Es tut einem in der Seele weh. Gusseisen und Stahl können wir hier produzieren, wir haben eine extrem vorteilhafte geografische Lage, beste Infrastruktur. Wir müssen umstrukturieren, aber doch nicht das Werk stilllegen – ich könnte wirklich schreien! 2013/14 haben wir nämlich mit Gewinn gearbeitet, kleinem zwar, aber immerhin. Dann hat der Staat die Transportkosten erhöht – und das war´s dann. Man könnte meinen, er arbeite selbst auf die Liquidation hin, ist doch wahr, oder? Ich meine, schauen Sie mal – auf dem Wappen der Oblast Swerdlowskda heißt es ,Stützregion der Staatsmacht‘, also vielleicht sollte man die nicht mal eben so weghauen, diese Stütze!“
Vom Betriebsleiter bis zu den Besitzern von Resh – das ist eine Entfernung wie von hier bis zum Stern Aldebaran
Ach, Iwan Iwanytsch! Der ist so ein echtes Arbeitstier, zuerst war er Schmelzergehilfe in Werchni Ufalei, dann hat er eine Lehre gemacht, ist Werkmeister geworden und jetzt eben Betriebsleiter. Arbeiten will der Mann, Feuer und Flamme ist Iwan Iwanytsch für seinen leitenden Posten, und gerade mal 40 ist er heute. Aber Iwan Iwanytsch ist bloß der Betriebsleiter, von ihm bis zu den Besitzern von Resh Nickel, deren Namen im Betrieb kaum einer kennt, das ist eine Entfernung wie von hier bis zum Stern Aldebaran.
Die Besitzer sind Leute von ganz anderem Schlag, die haben weder mit der Staatsmacht, noch mit dem Nickel oder den entlassenen Arbeitern irgendwas am Hut. Denn so ist es nun mal bei uns im Land: je größer das Geschäft, desto kleiner das Gewissen und das Verantwortungsgefühl gegenüber den Menschen.
Heute gehört zum Beispiel das gesamte Gesellschaftsvermögen des Betriebs seinem Gläubiger, der B & N Bank; wie es aussieht, entschwindet die ganze Leidenschaft für den Nickel in unbekannte Höhen – bis über die Wolken – und landet bei dem Schlagerdichter Michail Guzerijew und seinem Neffen Michail Schischchanow.
Wie gesagt – von Iwan Iwanytsch bis zu denen, das ist wie von hier bis zum Aldebaran.
Die ganze Abwicklung begann wie üblich damit, dass den Leuten Lügenmärchen aufgetischt wurden. In der letzten Januardekade, als der Liquidierungsfahrplan für den Betrieb längst stand (solche Pläne werden auf Grundlage einer Produktionsanalyse gemacht und nicht an einem Tag erstellt), kam der Generaldirektor in den Betrieb und erklärte wörtlich, es gehe „zum jetzigen Zeitpunkt nicht um Personalabbau“.
Und? Kam etwa der Gouverneur mit blitzenden Scheinwerfern angebraust? Oder ließ sich die städtische Obrigkeit am Werkseingang sehen?
Und schon ging es los mit dem Entlassen. Sicher, formal lief alles korrekt ab, Dinge wie die Zahlung des Monatslohns wurden eingehalten, da gibt es gar nichts groß auszusetzen. Wenngleich hartnäckige Gerüchte, es werde bald kein Geld mehr da sein, die Leute zu einer Kündigung im beiderseitigen Einvernehmen bewegten, was für die Fabrikbesitzer von Vor- und für die Arbeiter von Nachteil ist.
Aber bei aller formalen Korrektheit weiß doch jeder, dass es unmöglich ist, in Resh Arbeit zu finden; es werden keine neuen Arbeitsplätze geschaffen. Das Einzige, was wie Pilze aus dem Boden schießt, sind irgendwelche Geschäfte. Und selbst auf der Homepage der örtlichen Behörde für Soziales heißt es, die Arbeitslosenquote liege über dem Durchschnitt der Oblast.
Und? Kam etwa der Gouverneur mit blitzenden Scheinwerfern angebraust? Oder ließ sich die städtische Obrigkeit am Werkseingang sehen? Eilte vielleicht die allmächtige Partei Einiges Russland den Arbeitern zu Hilfe, so wie diese ihr stets am Wahltag zu Hilfe geeilt waren? Oder packten wenigstens die Kommunisten, die sich jetzt schon das zweite Jahrhundert um die Sache der Arbeiterklasse bemühen, die Gelegenheit beim Schopfe?
Sein Glück schmiedet jeder Entlassene nun für sich allein
Natürlich passierte nichts von alledem. Kein Mensch ließ sich sehen. Auf die Arbeiter pfeift man hier dermaßen, dass der B & N-Bankautomat neben dem Werk manchmal einfach kein Geld ausspuckt. Eine Filiale der B & N Bank gibt es in Resh erst recht nicht.
Sein Glück schmiedet jeder Entlassene nun für sich allein. Das ist nicht leicht für Menschen, die der Staat gelehrt hat, sich aus allem rauszuhalten, bang am Ofen zu sitzen und auf ein Wunder zu warten.
„Normale Stellen gibt es für uns nur auf dem Friedhof“
Die Entstehung von Metall ist viele tausend Mal beschrieben worden, und innerlich ist man gleichsam darauf vorbereitet: Jetzt gleich geht der Ofen auf, daraus ergießt sich ein feuerspeiender Strom und glühende Goldteilchen stieben nach allen Seiten. Aber wenn die Ofentür dann wirklich aufgeht und der Strom sich ergießt und eine weiße Rauchsäule aufsteigt und Fontänen von Funken die Augen blenden und der Feuerbrei die Rinnen füllt und Gestalten in seltsamen Anzügen, die wie Außerirdische aussehen und sich zu beiden Seiten des Stroms postiert haben, der glühenden Masse mit geschicktem Schwung ein wenig nachhelfen – dann verschlägt es einem angesichts dieser enormen Kraft dennoch den Atem, und es treten einem die Tränen in die Augen.
Das war Resh Nickel noch vor wenigen Monaten.
Die Fabrik, die ein Wahrzeichen der Arbeit war, ist zum Friedhof eben dieser Arbeit geworden
Heute schaue ich vom Dach der Schmelzhalle aus auf das Werk – sein Atem ist beinahe versiegt, auf dem riesigen Gelände ist kein Leben mehr. So weit das Auge blickt – kein einziger Mensch, kein einziger rollender Förderwagen, nicht das kleinste Geräusch, kein Ton ist zu hören. In der Sonne glänzt, silbrig schillernd, der nagelneue Kühlturm, der Ende letzten Jahres aus unbekannten Gründen errichtet wurde. Der Turm hat zehn Millionen Rubel gekostet [etwa 144.000 Euro – dek], war nicht einen einzigen Tag in Betrieb, und jetzt wird er im besten Fall eingemottet, im schlimmsten in seine Einzelteile zerlegt. Die Fabrik, die wie jede andere Fabrik ein Wahrzeichen der Arbeit war, ist zum Friedhof eben dieser Arbeit geworden.
„Wir leben hier auf Metall und Eisen, warum soll es sich auf einmal nicht mehr rentieren?“
Wir wandern von Halle zu Halle mit Irina Schewtschenko – der einzigen Resh Nickel-Mitarbeiterin, die beschlossen hatte, wenigstens irgendwie, behutsam und vorsichtig, um den Betrieb zu kämpfen. Sie schlug damals vor, Putin und dem Gouverneur der Oblast Swerdlowsk einen Brief zu schreiben, aber das Gewerkschaftskomitee hatte Angst, fragte bei der Metallarbeiter-Gewerkschaft um Erlaubnis, der war es auch nicht geheuer, man fand eine Ausrede – angeblich liege der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb unter 50 Prozent, ja was soll man da schreiben? Daran, dass die Gewerkschaft die Interessen der Arbeiterschaft schützen soll, erinnerte sich natürlich ohnehin niemand mehr.
Daran, dass die Gewerkschaft die Interessen der Arbeiterschaft schützen soll, erinnerte sich natürlich ohnehin niemand mehr
Schewtschenko ließ nicht locker; sie liebte ihre Arbeit, hatte sich immer mit dem Betrieb identifiziert, war stolz auf ihn gewesen und konnte nicht glauben, dass von heute auf morgen plötzlich alles in sich zusammenfallen sollte. Die Briefe wurden geschrieben, von knapp der Hälfte der Kollegen unterzeichnet und an die Empfänger geschickt.
„Und wieso haben nicht alle unterzeichnet?“, frage ich Irina.
„Manche waren schon gekündigt und sagten, der Betrieb gehe sie nichts mehr an, andere meinten, das würde nichts bringen, und wieder andere hatten Angst.“
„Sie hatten Angst, den Brief zu unterzeichnen?“
„Na klar.“
Irina liebte ihre Arbeit, hatte sich immer mit dem Betrieb identifiziert
Mir fällt Pikaljowo ein, eine kleine sogenannte Monostadt in der Leningrader Oblast, deren Bewohner aus Protest gegen die Schließung wesentlicher Betriebe eine wichtige Verkehrsader blockiert und damit erreicht hatten, dass der Präsident vor Ort erschien und eine relative Gerechtigkeit wiederhergestellt wurde. Sieben Jahre ist das gerade mal her.
„Ha“, lacht Iwan Iwanytsch, „von wegen Pikaljowo, hier hat kein Mensch von Pikaljowo gehört, und wer davon gehört hat, der hat es längst vergessen. Den Leuten wird ja das Hirn derart vollgemüllt.“
„Womit denn?“, frage ich – vielleicht wird den Menschen im Ural das Hirn ja mit anderem Zeug vollgemüllt als in Moskau.
„Ich sag nur Mara Bagdassarjan“, knurrt Iwan Iwanytsch unvermittelt, und ich weiß im ersten Moment gar nicht, wen er meint, so abwegig ist hier, in der erlöschenden Fabrik, der Gedanke an diese verwöhnte Moskauer Bonzengöre.
Jeden Freitag zwischen acht und zehn Uhr morgens versammeln sich in der Eingangshalle des Resh Nickel-Werks die Mitarbeiter zur Registrierung: Um drei Monate lang den durchschnittlichen Monatslohn zu bekommen, muss man hier erscheinen und nachweisen, dass man noch keine Arbeit gefunden hat und dass man noch am Leben ist. Und es fühlt sich an, als wäre man selbst es, der dem Unternehmen etwas schuldig ist, und nicht umgekehrt. Die Abteilungsleiter notieren den Namen auf der Liste – man kann wieder gehen.
Es fühlt sich an, als wäre man selbst es, der dem Unternehmen etwas schuldig ist, und nicht umgekehrt
Die Leute gehen aber nicht gleich nach Hause, sie stehen noch zusammen und reden. Diskutieren, was man jetzt machen soll. Wirken aber irgendwie verloren. Am Nebentisch schlägt eine adrett gekleidete und apart frisierte Dame mit Namensschild vom Arbeitsamt Resh mir vor, die Stellenanzeigen durchzuschauen; sie hält mich für jemanden vom Betrieb. Ich schaue sie mir an – insgesamt etwas über 100 Jobs, in erster Linie für Menschen mit Hochschulabschluss. Für einfache Leute ohne Ausbildung gibt es auch etwas: Reinigungskräfte für Produktionsräume werden gesucht, für 8000 Rubel [etwa 115 Euro – dek] und ein paar Zerquetschte.
Geld für einen eigenen Gasanschluss hatten Serjosha und Ira nie. Nun wird es damit auch nichts mehr werden
„Ach herrje, also da hat mein Mann mal gearbeitet, da hauen sie alle wieder ab, das ist nur furchtbar da“, sagt eine Frau neben mir. „Das sind sowieso fast alles nur so windige Jobs, die da angeboten werden“, fügt eine andere hinzu. „Zu Privatunternehmern darf man nicht gehen, die hauen einen nur übers Ohr. Normale Stellen gibt es für uns nur auf dem Friedhof, die scheißen doch alle auf uns, unser lieber Präsident inbegriffen, vom großen Glockenturm runter.“
Ich bin zu Besuch bei zwei der entlassenen Resh Nickel-Mitarbeiter, bei Irina und ihrem Mann, dem Gabelstaplerfahrer Sergej. Sergej schlägt sich inzwischen mit Gelegenheitsjobs durch – mal was ausfahren oder austragen, irgendwo mit anpacken. Sie wohnen in einem klitzekleinen eigenen Häuschen, das Sergejs Großmutter seinerzeit gebaut hat. Fließend Wasser haben sie keins. Und einen öffentlichen Hydranten gibt es in der ganzen Straße nicht. Sergej karrt das Wasser mit dem Auto von irgendwo an. Eine Gasleitung verläuft wenige Meter von ihrem Haus entfernt, aber das Geld für einen eigenen Gasanschluss hatten Serjosha und Ira nie, und nun wird es damit auch nichts mehr werden.
Wir sitzen auf Gas und Erdöl, und das Benzin ist so teuer, dass wir im Urlaub kaum 200 Kilometer weit kommen
So etwas ist mir an vielen Orten in Russland begegnet – das Gasrohr vor der Haustür und die Leute kochen ihr Essen auf dem Holzofen. Irina kocht mit Flaschengas. Das Grundstück, auf dem das Haus steht, misst 300 Quadratmeter, dort wird das Gemüse angebaut, das die Familie ernährt, alles von Kartoffeln bis Tomaten. Vieh halten Serjosha und Ira nicht mehr, das alles lohnt sich nicht mehr, dafür gibt es einen Hahn.
„Der ist bloß zum Krähen!“, erklärt Serjosha.
Das Haus hatte Sergej angefangen umzubauen, sie wollten eine zweite Etage draufsetzen, und die Sache zog sich eh schon hin wie bei Cipollinos Freund Gevatter Kürbis. Jetzt ist das ganze Bauprojekt natürlich auf unbestimmte Zeit vertagt.
„Was mir nicht in den Kopf will“, sagt Sergej, „wir leben hier auf Metall und Eisen, warum soll es sich auf einmal nicht mehr rentieren? Wir sitzen auf Gas und Erdöl, und das Benzin ist so teuer, dass wir im Urlaub kaum 200 Kilometer weit kommen.“
„Haben Sie damit gerechnet, dass das Werk dichtgemacht wird?“
„Wir dachten, es würde einen Betriebsstillstand geben, das hatten wir ja früher auch schon, davon geht die Welt nicht unter. Wir haben den Nickelpreis an der Londoner Börse im Fernsehen verfolgt, von dem hängen wir ab, hieß es. Bisher haben wir noch keine Kündigung unterschrieben, weder Irina noch ich, wir wollen warten bis zum Schluss – vielleicht machen sie ja plötzlich doch noch wieder auf.“
„Ich habe meine Arbeit sehr geliebt, ich hänge sehr an ihr und dem ganzen Betrieb, Prüferin war ich nämlich, in der Buntmetallproduktion“, ergänzt Irina.
Wie es aussieht, braucht man uns lediglich bei den Wahlen
„Es fällt einem schwer zu glauben, dass wir nicht mehr gebraucht werden, wir haben ja nun auch nicht zwei linke Hände oder so, wir können unsern Teil beitragen für unser Land, wir bitten nicht um Geld, wir wollen keine Almosen, sondern die Chance, uns unseren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, in unserer Stadt, da wo wir hingehören. Aber wie es aussieht, braucht man uns lediglich bei den Wahlen. Eine Art Menschen auf den Knien sind wir, billige Arbeitskräfte, die ihre Rechte nicht kennen“, sagt wiederum Sergej.
„Gab es mal eine Zeit, in der Sie nicht aufs Geld schauen mussten?“, wechsle ich das Thema.
„Ach, na woher denn!“ Irina winkt ab. „Dicke hatten wir es noch nie. Dass man sich einfach das kaufen kann, was einem gefällt – das gab es bei uns nicht. Ich nehme immer nur das Billigste, egal ob Lebensmittel oder Kleidung. Wir haben alles Geld in das Haus gesteckt, vor drei Jahren haben wir einen Kredit über 150.000 [etwa 2186 Euro – dek] aufgenommen, jetzt zahlen wir 5000 [etwa 73 Euro – dek] im Monat ab. Wie das jetzt werden soll, wissen wir auch nicht, unsere Tochter geht ja auch noch zur Schule, dieses Jahr wird sie fertig, sie will Architektin werden.“
„Menschen auf den Knien sind wir, billige Arbeitskräfte, die ihre Rechte nicht kennen“
In dem winzigen Kämmerchen, das ihre Tochter Nastja bewohnt, hängt ein von ihr selbstgemaltes Plakat an der Wand. Darauf steht: „Du und nur du allein hast dein Leben in der Hand.“
Bloß – in der Hand haben Sergej und Irina nicht allzu viel.
Nach dem Besuch bei den beiden ist einem bitter zumute, schreien möchte man, so laut, dass es bis zum Aldebaran zu hören ist, und sagen: Du Gutsherr, oder wie soll man ihn sonst nennen, diesen Patron in weißem Anzug und teurem Hut, da hast du hier ganz wunderbare, einfache Arbeiter vor dir, wieso fährst du denn nicht zu ihnen hin, rufst sie alle zusammen und redest mit ihnen, aber nicht in der Saldo-Popaldo-Sprache und auch nicht von oben herab runtergepöbelt, sondern ganz normal und geradeaus, von Mensch zu Mensch, falls du dich noch erinnerst, wie das geht – sich ganz normal-menschlich, nicht überheblich, mit den Leuten unterhalten, erklären, was passiert ist. Und dann: Die eigene Gier im Zaum halten und etwas für die tun, die dir und deinesgleichen so fleißig dabei behilflich waren, Geld zu scheffeln, und dabei selber weniger verdient haben als einer von den Tabakkrümeln in deiner Hosentasche gekostet hat …
Aber so laut, dass man es bis zum Aldebaran hört, kann man nicht schreien.
Wir erinnern uns, wie in Tschechows Kirschgarten der greise Firs, der seiner Herrschaft das ganze Leben voller Ergebenheit gedient hat, in der Eile [von seinen eigenen Leuten im Haus – dek] vergessen wird. Hier sollen jetzt 1000 Menschen vergessen werden, und bald womöglich auch Resh selbst.
Und der Ton, nicht einmal nur der einer gerissenen Saite – vielmehr einer ganzen Stadt! – wird niemanden erschaudern lassen.
Wer ihn einordnen will, der greift daneben: Regisseur Andrej Kontschalowski. Wie eine Art Zwitterwesen aus Konservativem und Liberalem changiert der ältere Bruder des berühmten Schauspielers und Regisseurs Nikita Michalkow zwischen den politischen Lagern. Seine Ideen über Russland sind noch gespeist von den Positionen russischer Philosophen wie Berdjajew. Als Opfer der Tauwetter-Zensur geht ihm die Freiheit jedoch über alles, 2012 unterschrieb er etwa einen Brief zur Unterstützung von Pussy Riot.
Sein neuester Film Rai (dt. Paradies) kommt diesen Donnerstag in die deutschen Kinos, 2016 gewann Kontschalowski in Venedig den Silbernen Löwen dafür. Es geht darin um drei unterschiedliche Protagonisten – einen SS-Offizier, einen französischen Kollaborateur und eine emigrierte russische Aristokratin. Ihre Wege kreuzen sich während des Zweiten Weltkriegs.
Katerina Gordejewa traf den Regisseur für Meduza, um mit ihm über den Film zu sprechen. Es ging dann aber vor allem um den besonderen Weg Russlands, die Beziehung zum Westen, bäuerliches Bewusstsein und die Notwendigkeit von Zensur. Immer wieder ist das Gespräch auch eine kleine Lehrstunde in Mansplaining.
Meduza: Ihr Film Paradies hat mich extrem beeindruckt. Ich verstehe, dass man Sie in Venedig mit stehenden Ovationen gefeiert hat.
Andrej Kontschalowski: Danke.
Auch das russische Kulturministerium war an Paradies beteiligt. Das scheint mir ja mal eine richtig gute Investition. Noch nie sind Gelder, die für Propaganda bewilligt wurden, derart intelligent eingesetzt worden: Ein glänzend gemachter Film erzählt der Welt – ganz europäisch – von der Wichtigkeit und Größe der russischen Idee. Hat Ihnen das von vorneherein so vorgeschwebt?
Das Kulturministerium wird sich durch Ihre Meinung geschmeichelt fühlen, nehme ich an. Mir fällt es schwer, in solchen Kategorien zu denken und über irgendwelche Interessen zu sprechen. Jedenfalls kann man in dem Moment, in dem man an einen Stoff herangeht, schwer die Aussagen im Kopf haben, die sich im Laufe des Schaffensprozesses möglicherweise entwickeln.
Sie fragen einen Komponisten ja auch nicht, welche Idee er der Welt offenbaren, wovon er die Menschheit überzeugen wollte, denn Musik ist eben Musik.
Was Komponisten nie daran gehindert hat, sich auf kreative Weise zu diversen aktuellen, auch politischen Fragen zu äußern. Aber sprechen wir über Paradies. Ihr Film berührt gleich mehrere Themen, die für die verschiedenen Länder und Kulturen äußerst schmerzhaft sind: den Holocaust, die französische Résistance, die Idee der Auserwähltheit der Russen als Retter und Befreier der gesamten Menschheit.
All das, was sie nennen, ist schließlich das Ergebnis. Das Thema von Paradies ist die Universalität des Bösen und sein Reiz.
Paradies ist für mich eine sehr wichtige Erfahrung, die Auseinandersetzung mit der Ambivalenz von Verbrechen – das ist ein etwas anderes Thema als der Holocaust. Das Böse tritt nicht zwangsläufig in Monstergestalt auf den Plan. Es kann ein kluger, gebildeter, begabter Mensch sein ….
Ja, der Tschechow liebt, ein aristokratischer, schöner Mensch, eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Für mich ist es sehr wichtig, dass er diesen trüben Fluss des Bösen betritt und die Strömung ihn fortträgt.
Welche Reaktion in Frankreich erwarten Sie vor dem Hintergrund, dass zum Beispiel Alexander SokurowsFrancofonia, ein Film, der ebenfalls das Thema Résistance und Kollaboration aufwirft, in Frankreich Probleme mit dem Verleih hatte: Das Außenministerium intervenierte gegen die Vorführung in Cannes, das französische Kulturministerium und sogar der Louvre haben sich quasi von dem Film distanziert. Wie es aussieht, sind die Franzosen nicht gerade erpicht darauf, dass Außenstehende sich dieser Themen annehmen.
Ich habe Sokurows Film leider noch nicht gesehen, aber ich bedaure sehr, wie die Jury in Venedig mit ihm umgegangen ist [Francofonia lief 2015 im Wettbewerb, erhielt aber keine der wichtigen Auszeichnungen – Anm. Meduza]. Das war sehr ungerecht.
Den Franzosen ist es außerordentlich unangenehm, ihre eigene Vergangenheit wieder ans Licht zu zerren. Und es war eine vollkommen richtige Entscheidung von de Gaulle damals, alle Akten von Kollaborateuren für 60 Jahre zu sperren. Erst heute, wo die Leute alle schon gestorben sind, werden die Archive geöffnet.
Wissen Sie, warum de Gaulle diese Entscheidung getroffen hat? Weil er verstanden hatte, dass man die Gesellschaft nicht spalten darf. Halb Frankreich hatte ja mit den Deutschen kollaboriert, also wenn wir ganz ehrlich sind, sogar der überwiegende Teil der Franzosen.
Finden Sie das wirklich richtig? Auf unser Land übertragen würde das ja heißen: Das Unglück liegt nicht darin, dass es 1991, als die KPdSU zerschlagen und die UdSSR aufgelöst wurde, keine Lustration gab. Sondern darin, dass man überhaupt angefangen hat diejenigen zu benennen, die Menschen hinter Gitter gebracht, denunziert und erschossen haben?
Jede Geschichte hat ihre Ambivalenzen und es geht um weitaus tieferliegende Zusammenhänge von Ursache und Wirkung als um die bloße Auflistung der Verbrechen irgendwelcher Bastarde. Davon handelt im Grunde auch mein Film.
Was die Auflösung der Kommunistischen Partei betrifft, kann man das kaum als glückliche politische Entscheidung bezeichnen. Man darf nicht vergessen, dass die kommunistischen Ideen das Hoffen und Streben einer großen Zahl von Menschen verkörperten. Diese Menschen glaubten inbrünstig und aufrichtig an diese Ideen. Das waren ganz normale, ehrliche Leute. Sicher waren sie auch mit manchem unzufrieden, aber die 1960er Jahre – sprich die Zeit nach der Entstalinisierung – war für sie keine gute Zeit. Sie konnten nichts gegen die in der Chruschtschow-Ära entstandene, nennen wir es, Gedankenwelt tun, aber sie träumten keineswegs davon, dass man ihr Leben und ihre Ideale in den Dreck zog.
Eine andere Zeit war angebrochen: All die Ideen, an die sie geglaubt hatten, waren in Verruf geraten, und Stalin wurden alle Sünden angehängt, die eigentlich diejenigen zu verantworten hatten, die die Entstalinisierung eingeleitet hatten.
Na und dann, wie ging es weiter? Sind alle Russen gute Menschen geworden? Haben sie aufgehört, in den Hauseingang zu pissen? Und ihren Müll aus dem Fenster zu werfen? Dass ich nicht lache.
Die Mentalität des Volkes verändert sich nicht dadurch, dass plötzlich beschlossen wird, mit der Vergangenheit abzuschließen
Die Mentalität des Volkes verändert sich nicht dadurch, dass plötzlich beschlossen wird, mit der Vergangenheit abzuschließen. Zumal es unmöglich ist, damit abzuschließen. Nehmen Sie zum Beispiel China: der Mao-Kult ist bis heute ungebrochen, und mit dem Land geht es voran.
Also ich würde ungern China als Beispiel nehmen und ungern so leben wie in China. Sie vielleicht?
Ich schlage Ihnen ja nicht vor, in China zu leben, sondern die politischen Probleme zu lösen wie die Chinesen. Ein politisches Problem in einem archaischen Land zu lösen ist eine völlig andere Sache als in Jugoslawien oder sonst irgendwo in Osteuropa.
Leben wir denn in einem archaischen Land?
Meiner Ansicht nach lebt ein gewaltiger Teil unseres Landes in einem archaischen Wertesystem. Bei uns ist das Heidentum mit dem Kommunismus verwoben und der Kommunismus mit der Orthodoxie. Und jede Regierung in Russland, auch die jetzige, ist die Regierung eines sozial ausgerichteten Staates.
Inwiefern?
Insofern, als dass die Regierung sich verpflichtet fühlt, Menschen zu versorgen, die kein Interesse daran haben, viel zu arbeiten und zu verdienen und sich mit wenig begnügen. Man kann Menschen schwerlich gegen ihren Willen dazu bringen, „Business“ zu treiben. Es geht nicht darum, dass jemand sie nicht lässt, sondern darum, dass dem russischen Menschen daran nichts liegt.
Weder am Business noch an der sagenumwobenen Freiheit ist der Mehrheit der Russen etwas gelegen
Weder am Business noch an der sagenumwobenen Freiheit ist der Mehrheit etwas gelegen. Würde ihnen etwas daran liegen, würden sie sie sich ohne Weiteres nehmen. Freiheit wird einem schließlich nicht gegeben, man nimmt sie sich! Aber den Menschen liegt nichts daran. Ihnen ist hoffentlich klar, dass wir von der russischen Nation sprechen und nicht von den Bürgern, die innerhalb des Moskauer Gartenrings leben.
Das erinnert daran, wie sich die Rhetorik Wladimir Putins gewandelt hat: Zu Beginn seiner Präsidentschaft hob er ja gerne auf die europäischen Werte und auf Russland als Teil Europas ab, später war davon dann immer weniger und heute ist davon überhaupt nicht mehr die Rede.
Mir scheint, Sie haben eine falsche Wahrnehmung von dem, was passiert ist. Russland hatte sich tatsächlich darum bemüht, zum europäischen Gebiet dazuzugehören.
Der Westen hat Russland abgewiesen, weil ihnen an uns als starkem Land nichts liegt, ihnen liegt an uns nur, solange wir vollkommen am Boden sind wie zu Zeiten der Perestroika
Das war Putins Plan, der von seinen Überzeugungen her selbstverständlich der größte Europäer im ganzen Land ist. Doch der Westen hat Russland abgewiesen, hat Putin abgewiesen, weil ihnen an uns als starkem Land nichts liegt, ihnen liegt an uns nur, solange wir vollkommen am Boden sind wie zu Zeiten der Perestroika: ein großartiges Land mit einer Menge Scheiße ringsherum und einer bettelarmen Armee. Putin hat das verstanden. Und es blieb ihm kein anderer Ausweg, als die Armee aufzubauen und Verbündete im Osten zu suchen.
Behagt Ihnen diese Kehrtwende?
Ich war früher ein Befürworter der Westorientierung Russlands und glaubte damals auch, Russland hätte nur einen Weg – nämlich den nach Westen. Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass es diesen Weg für uns nicht gibt. Und Gott sei Dank sind wir auf dem Weg in diese Richtung stark zurückgefallen.
Europa steht am Rande der Katastrophe – so viel scheint klar. Man darf die Menschenrechte eben nicht über alles stellen
Denn Europa steht am Rande der Katastrophe – so viel scheint klar. Die Ursachen dieser Katastrophe liegen darin, dass man die Menschenrechte eben nicht über alles stellen darf. Die Rechte eines Menschen sind immer im Zusammenspiel mit seinen Pflichten zu sehen. [In Europa] hat man sich von den traditionellen europäischen, also den christlichen, Werten verabschiedet.
Für Sie ist Wladimir Putin also wirklich ein Europäer?
Für Sie nicht? Das liegt wahrscheinlich daran, dass Sie nicht den gesamten Verlauf seiner Präsidentschaft im Blick haben. Er ist Europäer, ja, und zwar sowohl vom Kopf her als auch durch seine persönliche Erfahrung, er hat ja in Europa gelebt.
„Das Böse tritt nicht zwangsläufig in Monstergestalt auf den Plan. Es kann ein kluger, gebildeter, begabter Mensch sein …“
Ich glaube, als er die Führung des Landes übernahm, hatte er bestimmte Ideen, die sich unter dem Druck der inneren und äußeren Umstände später stark verändert haben. Er kam in ein vollkommen zerstörtes Land und stand vor der Aufgabe, eine gigantische archaische Masse von Menschen zu regieren, die dem Staat gegenüber extrem ablehnend eingestellt waren. Seine Bemühungen waren zuallererst darauf gerichtet, den Zerfall abzuwenden. Im Grunde finde ich es unvorstellbar, wie er das geschafft hat.
Putin als Westler, als Mensch, der hervorragend deutsch spricht und mit der Weltkultur vertraut ist, hatte natürlich die Illusion, dass Russland nach Europa zurückkehren müsse. Doch in Europa sagten sie zu ihm: „Wer seid ihr überhaupt? Auf euch haben wir hier nicht gewartet.“
In Europa sagten sie zu Putin: ,Wer seid ihr überhaupt? Auf euch haben wir hier nicht gewartet.‘
Putins Münchner Rede war das Resultat einer kolossalen Enttäuschung hinsichtlich seiner Europa-Ideen, verbunden mit der Einsicht, dass ein Leben in dem Teil der Welt bevorsteht, der von einer Zivilgesellschaft noch weit entfernt ist.
Das sind alles äußerst schwierige Probleme, die für uns beide, die wir hier innerhalb des Moskauer Gartenrings sitzen, nicht erkennbar sind, aber das Land zu führen ist ohne diese Einsicht nicht möglich.
Meine Schlussfolgerung wird Ihnen nicht gefallen: Wir sind nicht Westeuropa und wir werden es nie sein, und es hat auch keinen Sinn, sich darum zu bemühen.
Wann ist Ihnen das klar geworden? Wie hat sich diese Veränderung vollzogen: Bis zu einem bestimmten Moment waren Sie Kontschalowski, der zum Beispiel mir immer durchaus wesensverwandt schien, und dann …
… wann ich zu Michalkow geworden bin, meinen Sie?
Ja. Danke, dass Sie das jetzt selbst ausgesprochen haben.
Strengen Sie mal Ihr hübsches kleines Köpfchen an und denken Sie so an die 20 Jahre nach – da werden Sie sich auch verändern. Denkende Menschen ändern öfter mal ihren Standpunkt. Nur Idioten verändern sich nicht. Was mich stark beeinflusst hat, war mein Leben an dem See Kenosero, wo ich den Postboten gedreht habe. Das Leben mit Menschen, die mit allem, was sie tun, im Einklang sind, die weder Wladimir Putin noch Wladimir Posner etwas angeht. Sie leben in der reinsten Archaik, in der geradezu bewundernswerten Welt ihrer shakespearehaften Harmonie. Oder gar der einer antiken Tragödie.
Wie äußert sich das?
Diese Menschen dort streben nach nichts. Die lassen sich weder in den Kapitalismus noch ins private Unternehmertum treiben. Natürlich gibt es dort absolut großartige Menschen, aber ein Bürgertum, das dynamisch ist und Verantwortung für das Land empfindet, ist das nicht. Ein Bürgertum hat es nie gegeben und gibt es bis heute nicht. Auch das ist eins der Probleme der russischen Geschichte – das sollte man nicht einfach so übergehen.
Jetzt tun Sie doch nicht so naiv. Warum müssen Sie denn derart vereinfachen? Ich habe drei Filme in einem russischen Dorf gedreht, ich lebe in diesem Land, und ich kenne mein Volk – besser als Sie, das liegt auf der Hand, schon allein deshalb, weil ich 40 Jahre älter bin als Sie.
Jetzt tun Sie doch nicht so naiv. Ich habe drei Filme in einem russischen Dorf gedreht, ich lebe in diesem Land, und ich kenne mein Volk – besser als Sie, das liegt auf der Hand
Und ich bin nach und nach zu der Überzeugung gelangt: Wenn man das Land verändern will, muss man die Mentalität verändern. Und um die Mentalität zu verändern, muss man das kulturelle Genom verändern. Und um das kulturelle Genom zu verändern, muss man es zuerst in seine Bestandteile zerlegen, gemeinsam mit den großen russischen Philosophen – also den Zusammenhang von Ursache und Wirkung begreifen, der in unserem Land bis heute noch nicht erforscht ist. Und erst dann kann man entscheiden, wohin es gehen soll.
Wenn man das Land verändern will, muss man die Mentalität verändern
Es ist naiv zu glauben, wenn alle lesen und schreiben können, verändert das den Menschen. Zum Beispiel gilt „Business“ in der russischen Vorstellung als Diebstahl. Vom Moskauer Gartenring aus ist das keineswegs augenfällig, aber so ist es. Und das ist nicht alles. Dort draußen, hinter dem Ring, hinter Moskau, da gibt es vollkommen andere Werte und Menschen: Die wollen, dass der Staat sie in Ruhe lässt. Und das heißt, sie sind keine Staatsbürger, sondern Bevölkerung. Millionen Russen sind schlicht Bevölkerung. Von welchen Bürgerinitiativen reden wir da?
Sie sprechen von einem kulturellen Code, der die Russische Nation prägt. Was genau meinen Sie?
Bei uns herrscht ein bäuerliches Bewusstsein. Der russische Mensch hat vorbürgerliche Werte: „Das Hemd ist mir näher als der Rock“, „Rühr mich nicht an, dann rühr ich dich nicht an“ „’Ach, wählen gehen – wozu soll das gut sein.’ ‘Hingehen muss man, sonst kommen sie und scheuchen einen oder bestrafen einen sogar.’“
„Paradies ist für mich eine sehr wichtige Erfahrung, die Auseinandersetzung mit der Ambivalenz von Verbrechen“
Das bäuerliche Bewusstsein ist die Abwesenheit des Wunsches, an der Gesellschaft teilzunehmen. Alles, was außerhalb der Interessen der eigenen Familie liegt, löst im besten Falle Gleichgültigkeit, im schlimmsten Falle feindselige Reaktionen aus.
Die Entstehung des Bürgertums in Europa hat das republikanische Bewusstsein hervorgebracht. Die Republik ist ja die Gesellschaft der Bürger. In Russland gab es ein republikanisches Bewusstsein in ganzen zwei Städten, und zwar in Pskow und in Nowgorod. Und darüber hinaus niemals und nirgends. Im Übrigen wurde auch diese Wiege [des Republikanischen – dek] plattgemacht.
Das Plattmachen gehört ja nun zu den Traditionen, die in unserem Land von jeher akkurat befolgt werden. Kaum dass irgendetwas Neues, Frisches sein Haupt erhebt, fängt es sich schon eine klatschende Ohrfeige ein: Bleib bloß weg hier, wag ja keine Experimente, untersteh dich, irgendwelche Gefühle zu beleidigen. Wir leben in einer Zeit der Renaissance von Denunziation und des Triumphs der Zensur.
Ganz ehrlich: Was Sie hier vortragen, ist nicht mit anzuhören. Ihren Fragen entnehme ich, dass Sie keine Ahnung haben, was wirkliche Zensur und echtes Denunziantentum bedeuten. Ich persönlich bedaure, dass es keine Zensur gibt. Die Zensur hat die Menschen noch nie daran gehindert, große Kunst zu erschaffen. Cervantes hat zur Zeit der Inquisition Meisterwerke geschaffen, Tschechow schrieb all das, was er der Zensur wegen nicht in einem Theaterstück unterbringen konnte, in Prosa.
Ganz ehrlich: Was Sie hier vortragen, ist nicht mit anzuhören
Denken Sie vielleicht, Freiheit bringt Meisterwerke hervor? Niemals. Große Kunst wird durch Beschränkungen hervorgebracht. Schöpferisch bringt die Freiheit dem Künstler gar nichts. Zeigen Sie mir mal diese Scharen von Genies, auf die die Zensur Druck ausübt? Die gibt es nämlich nicht.
Leider ist es mit der Kultur im umfassenden Sinne des Wortes bei uns vorbei, es gibt keine Regisseure mehr. Denn bei Lichte besehen – was ist Regie? Regie bedeutet Reichtum an künstlerischen Assoziationen, das ist die unermessliche kulturelle Basis, ohne die ist alles nichts, alles andere sind Späßchen und Pointen. Die findet man bei unseren heutigen jungen Regisseuren jede Menge, aber künstlerische Assoziationen – Fehlanzeige. Darin liegt das Unglück und nicht in irgendeiner angeblichen Zensur. Da werden einfach Begriffe vertauscht.
„Ich versuche eine neue Kinosprache für mich zu erkunden“
Genauso wie man heute gerne behauptet, es werde die Geschichte umgeschrieben, Ereignisse würden unterschlagen … In den letzten 20 Jahren ist so viel sogenannte Wahrheit geschrieben worden, die sich dann später als Nicht-Wahrheit erwiesen hat. Und wissen Sie warum? Weil Geschichte immer subjektiv ist. Die Wahrheit in der Geschichte kann überhaupt nicht triumphieren, weil Geschichte immer im Sinne desjenigen interpretiert wird, der sie interpretiert. Objektive Geschichte – das ist eine gewaltige Illusion. Wieder einmal eine. Nun ja, das Leben besteht aus Illusionen.
Es hat wohl niemand irgendwelche Zweifel daran, dass Hitler ein blutiger Verbrecher war. An den Verbrechen des Nationalsozialismus zweifelt keiner. Wenn wir es rein rechnerisch betrachten wollen: Stalin hat eine vergleichbare Anzahl von Menschen getötet, sogar seine eigenen Leute. Aber heute ist diese Tatsache bei uns offenbar wieder strittig.
Nehmen Sie einen chinesischen Kaiser aus dem 13. Jahrhundert, zu dem die Chinesen ins Mausoleum strömen – der hat innerhalb von zwei Wochen vierhunderttausend Menschen umgebracht. Ich frage also: „Aber der hat doch viele Leute getötet?“ Und kriege zur Antwort: „Stimmt, hat er, aber er ist doch ein Teil unserer Geschichte. Und wir besuchen hier sein Grab.“
Na sicher, wenn ein Tyrann die Menschen umbringt, das ist eine eindeutige – und blutige – Katastrophe. Und natürlich war Hitler ein Wahnsinniger, aber vergessen Sie nicht, dass der Großteil der Deutschen ihn gewählt hat.
Ich würde gerne noch einmal auf Ihren Film zurückkommen. Am Schluss von Paradies heißt es „Wir sind Russen, mit uns ist Gott“, fast wörtlich wird das so gesagt, ohne dass es mit irgendwelchen Reflexionen verbunden wäre. Quasi: So ist es halt – alles wissenschaftlich erwiesen.
Glauben Sie wirklich, das könnte unsere Nationalidee sein und damit könnten wir im Westen für uns Werbung machen?
Derart frontal wird das im Film nicht gesagt. Die Protagonistin spricht allgemein davon, was menschliche Selbstaufopferung bedeutet - das ist ja ihr Lebensthema. Die ganze Erfahrung dieses Films ist für mich neu. Ich muss dazu sagen, dass mit meinem letzten Film, dem Postboten Trjapizyn, mein neues Regie-Leben angefangen hat. Paradies ist jetzt der zweite Film in diesem Leben, bei dem ich meine Rolle als Filmschaffender oder Künstler anders verstehe.
Was heißt das?
Ich versuche, die Gesetze des Films zu verstehen, die nicht offenliegen. Es ist nämlich eine Illusion, dass wir wissen, wie man Kino macht. Bei den Surrealisten hat es Versuche gegeben, das herauszukriegen, Buñuel in den naiven 1920er Jahren. Aber dann wurde Buñuel sehr tiefsinnig, und seine formale Suche nach anderer Bedeutung hatte ein Ende. Und jetzt versuche also auch ich diese neue Kinosprache für mich zu erkunden, solange ich noch am Leben bin.
Ich habe Abstand zu dem gewonnen, was ich früher gemacht habe, und inzwischen eine ganz neue Haltung zum Film als Ton- und Bildkunst entwickelt. Mit einem Mal habe ich begriffen, dass es nicht mehr braucht als Ton und Bild, das sind ausreichend Ingredienzien für eine ganze Symphonie, verstehen Sie? Bloß Ton und Bild. Keinerlei unnötiges Beiwerk.
„Die Russische Revolution von 1917 kann man sich ohne Marseillaise und rote Fahnen kaum vorstellen“, schreibt der Historiker Boris Kolonizki in seinem Buch Machtsymbole und Machtkampf. Und es geht nicht nur um Vertonung und Illustration. Zu Zeiten von sozialen Revolutionen, wie sie Russland im Jahr 1917 erlebt hat, werden Lieder zu einem der wichtigsten Instrumente des Machtkampfs. Sie konsolidieren und trennen gesellschaftliche Gruppen manchmal mehr als politische Programme und Reden. Da, wo staatliche Institutionen in Schutt und Asche liegen, da, wo das Rechtssystem stark beschädigt ist, können die bekannten Melodien Gewalt legitimieren und auch den politischen Ton mit angeben.
Musik: Claude Joseph Rouget de Lisle Text: Pjotr Lawrow
Solisten der Kiewer Oper und das Orchester der Schallplattenfirma Extrafon. Kiew 1917
Die russischen Revolutionäre verglichen sich gern mit ihren französischen Vorkämpfern aus der Zeit von 1792, in der die Marseillaiseentstanden ist. Pjotr Lawrow, Wissenschaftler und Angehöriger der [sozialrevolutionären – dek] Narodnikibewegung verlieh dieser Stimmung Ausdruck, als er 1875 einen neuen russischen Text zu der bekannten Melodie verfasste: „Lasst uns die alte Welt verdammen, // Lasst uns ihren Staub von den Füßen schütteln!“
In Frankreich wurde die Marseillaise 1879 [endgültig – dek] zur Nationalhymne erklärt, was in den Beziehungen zwischen dem Russischen Reich und Frankreich als seinem engsten Verbündeten für peinliche Kollisionen sorgte. Denn nun galt es, neben Gott, schütze den Zaren auch das Revolutionslied zur Aufführung zu bringen.
Im offiziellen Kontext gab es die Marseillaise in Russland entweder mit dem französischen oder ganz ohne Text – jegliche andere Darbietung war verboten. Zudem fügte sich Lawrows Text nicht allzu glatt in die französische Melodie, sodass der Komponist Alexander Glasunow die Musik ein wenig an den russischen Text anpasste. Ausländer wunderten sich, warum sie langsamer klang als das Original.
„Man singt die Marseillaise bei uns auf eigene Art, und zwar schlecht, geradezu verhunzt wird dieses schwungvolle Lied“, klagte der Maler Alexander Benois.
Zur Februarrevolution waren die russischen Musikkapellen mit der Marseillaise bereits vertraut, und der verbotene Lawrow-Text wurde im ganzen Land offen gesungen.
Hymne auf ein freies Russland
Musik: Alexander Gretschaninow Text: Konstantin Balmont
Fjodor Oreschkewitsch und das Orchester der Schallplattenfirma Extrafon. Kiew 1917
Die Hymne auf ein freies Russland ist das einzig wirklich neue Massenlied, das während der Revolution 1917 geschrieben wurde – alle anderen waren Umarbeitungen alter Lieder oder hatten schon vorher im Untergrund existiert.
Im revolutionären Schwung schrieb der Moskauer Komponist Alexander Gretschaninow innerhalb einer halben Stunde die Melodie nieder, der symbolistische Dichter Konstantin Balmont verfasste den Text dazu. Wobei die ersten beiden Zeilen bei einem anderen Symbolisten, nämlich Fjodor Sologub, entlehnt waren: „Es lebe Russland, freies Land! Freie Urkraft, zu Großem bestimmt!“
Das Lied verbreitete sich augenblicklich im Land, Orchester und Kapellen machten sich die Melodie zu eigen, die Hymne wurde auf Kundgebungen gesungen. Doch ihr ein offizielles Siegel aufzudrücken, war bis zum Oktober nicht gelungen oder nicht gewollt.
Nach der Oktoberrevolution wurde die Hymne auf ein freies Russland zum Emigrationslied, das man in den Zwischenkriegsjahren in Europa und Amerika sang und auch aufnahm. Nach dem Krieg schließlich, noch zu Lebzeiten des Komponisten Gretschaninow, erlangte die Melodie weltweite Bekanntheit: als Sendezeichen von Radio Swoboda.
Die hier vorliegende Aufnahme, eine der ersten, entstand in Kiew auf der Woge der immensen Popularität, die die Melodie innerhalb kürzester Zeit erreichte. Interpret ist der Tenor Fjodor (Theodor) Oreschkewitsch, der in Tbilissi und Warschau, im Marinski und im Bolschoi-Theater sang und 1917 Solist an der Kiewer Oper war. Sein stilvoller klassischer Gesang harmoniert nicht allzu gut mit dem schrillen Sound des Extrafon-Blasorchesters, doch über solche Kleinigkeiten sah man im Revolutionsjahr hinweg.
[Der spätere Trauermarsch der Revolutionäre – dek] hat eine reiche vorrevolutionäre Geschichte. Die Melodie wurde in den 1830er Jahren von Alexander Warlamow komponiert, einem Klassiker des russischen Kunstlieds. Dem Text liegt ein Gedicht zugrunde, das Charles Wolfe 1816 zum Tod eines britischen Generals verfasst hatte. Iwan Koslow hat es bearbeitet.
1870 fand das Lied Eingang in das revolutionäre Milieu, wo es einen neuen, feurigen Text erhielt, verfasst von dem Narodnik Anton Amossow: „Wy shertwoju pali w borbe rokowoi // Ljubwi bessawetnoi k narodu …“ (dt. „Ihr seid als Opfer gefallen im schicksalhaften Kampf // Der bedingungslosen Liebe zum Volk … “). Wy shertwoju pali (dt. Ihr seid als Opfer gefallen) wurde zum Trauerlied, dem Trauermarsch der Revolutionäre, mit dem sie von den gefallenen Kameraden Abschied nahmen.
Man sang es während der Revolution von 1905, als man die Opfer des niedergeschlagenen Aufstands zu Grabe trug. Dann wurde es verboten und seine Aufnahmen heimlich nach Russland geschmuggelt. 1917 erklang das Lied erneut im bereits bekannten Kontext – „Ihr seid als Opfer gefallen …“ – sobald die Helden der Revolution die ersten Opfer ausriefen. Es war diese Trauermelodie, die bei ihrem Begräbnis am 23. März 1917 in Petrograd spielte.
Die Schallplatte der legendären Plattenfirma Poliaphone, die hier zu hören ist, war etwa zehn Jahre vor dem Revolutionsjahr 1917 erschienen: Die Aufnahme (ohne Text) ist aller Wahrscheinlichkeit nach in Deutschland entstanden, wo die Platte gepresst wurde, auf dem Etikett ist jedoch die neutrale Bezeichnung Pochoronny Marsch (dt. Trauermarsch) zu lesen. Dort ist zur Tarnung auch eine Handelsfirma Poljakin und Söhne in Odessa angegeben, die nie existierte. Die Orchesterversion wirkt klangvoll und qualitativ hochwertig – die deutsche Aufnahmetechnik war damals eine der besten.
„Vorwärts, Genossen, im Gleichschritt“
Musik: Verfasser unbekannt Text: Leonid Radin
Chor des Moskauer Staatstheaters. Moskau 1917
Entstanden ist dieses Lied in Deutschland als Protestlied gegen den Einmarsch der napoleonischen Truppen. Im 19. Jahrhundert gehörte es zum Repertoire deutscher Gesangs- und Studentenvereinigungen.
Nach Russland gelangte das Lied Mitte des 19. Jahrhunderts, gegen dessen Ende wurde es von den Revolutionären in Gebrauch genommen: 1898 verfasste der den Narodniki angehörende Chemiker Leonid Radin im Moskauer Taganka-Gefängnis einen neuen Text und studierte diesen sogar mit seinen Mitgefangenen ein. „Den Weg ins Glück der Freiheit wollen wir uns bahnen mit Macht.“ Mit diesen kämpferischen Zeilen büßte die bewährte Melodie ihren melodischen, walzerartigen Rhythmus ein und wurde zum Kampfmarsch.
Nachdem sie 1905 erklungen war, blieb sie bei den Revolutionären eine der beliebtesten Melodien. 1917 war sie von Anfang an und überall zu hören. Nach der Revolution gelangte das Lied wieder nach Deutschland, wo es [unter dem Namen Brüder zur Sonne zur Freiheit – dek] zunächst von Arbeiterchören und Kommunisten gesungen wurde, später dann auch von den Nazis.
Doch in den Ländern Osteuropas bestand daneben auch die beinahe vergessene, langsame und melodiöse Version fort: Noch Mitte der 1930er Jahre sang man im unabhängigen Lettland auf diese Melodie von dem Mädchen eines Fischers, das sich nach dem Geliebten sehnt.
Ukrainische Hymne
Musik: Michail Werbizki Text: Pawel Tschubinski
Ukrainischer Volkschor unter der Leitung von Alexander Koschiz. Kiew 1917
Kiew gehörte nicht nur zu den Zentren der revolutionären Ereignisse von 1917, es spielte auch für die Schallplattenindustrie im vorrevolutionären Russland eine bedeutende Rolle.
Hier betrieb die große Schallplattenfabrik der Firma Extrafon rege Geschäfte. In den Klang-Annalen der Februarrevolution hat die Firma eine besonders markante Spur hinterlassen. Auf ihrem Etikett, reich verziert mit Blättern von Kiewer Kastanien, nahm sich ein in den 1860er Jahren entstandenes Lied besonders eindrucksvoll aus, das feierlich (und erstmalig!) Ukrainische Hymne genannt wurde. Für die Ukraine erwies sich diese Aufnahme als eine Art Auftakt zu der [kurzen – dek] Epoche der Zentralna Rada, die die zeitweilige Unabhängigkeit der Ukraine proklamierte.
Hymne der Zionisten (HaTikwa)
Musik: Samuel Cohen Text: Naphtali Herz
Orchester spielt unter der Leitung von Arkadi Itkis. Kiew, 1917
Auf der Schallplatte mit der Hymne der Ukraine war auch die Hymne der Zionisten – als B-Seite. Die Februarrevolution und die mit ihr aufgekommene Hoffnung auf eine neue nationale Identität hatten alte Konflikte vorübergehend abgemildert. Doch die Idee der Gemeinschaft von Ukrainern und Juden in einem von der Autokratie befreiten Land sollte nun ausgerechnet ein Lied verkörpern, das dazu aufrief, Russland so bald wie möglich zu verlassen.
1888 hatte Samuel Cohen ein Gedicht von Naphtali Herz Imber über die Hoffnung auf die Rückkehr nach Palästina mit einer moldawischen Volksmelodie unterlegt. Heute ist dieses Lied die israelische Nationalhymne.
1917 war die Hymne der Zionisten nicht unumstritten. Gewiss, den Verfechtern der Auswanderung stand es jetzt frei, nach Palästina zu gehen. Aber auch in Russland waren jahrhundertealte Grenzen gefallen – nämlich die des [sogenannten jüdischen – dek] Ansiedlungsrayons, was mitunter weitreichende Möglichkeiten eröffnete.
Ein Beispiel hierfür ist etwa der Dirigent des Orchesters, das im revolutionären Kiew die HaTikwa eingespielt hatte. Gebürtig aus dem kleinen Städtchen Rschyschtschiw im Kiewer Gouvernement, bekleidete Arkadi Itkis nach der Revolution den Posten eines Regimentskapellmeisters der Roten Armee und wurde 1919 Inspekteur der ukrainischen Militärorchester. Ab 1924 war er Kapellmeister der Infanterieschule in Iwanowo-Wosnessensk und machte sich durch den Marsch Krasnaja Swesda (dt. Roter Stern) einen Namen.
Text [02/2017]: Alexej Petuchow Übersetzung: Anja Lutter Veröffentlicht am 15.05.2017
Quellen
Druskin, M. S. (1954): Russkaja revoljuzionnaja pesnja [Das russische Revolutionslied – dek], Moskau
Shitomirski, D. V. (1963): Is proschlowo russkoi revoljuzionnoi pesni [Aus der Geschichte des russischen revolutionären Liedes – dek], Moskau
Kolonizki, B. I. (2012): Simwoly wlasti i borba sa wlast: K isutscheniju polititscheskoi kultury rossiskoi revoljuzii 1917 goda (Die Symbole der Macht und der Kampf um die Macht: Zur Untersuchung der politischen Kultur der russischen Revolution von 1917 – dek), St. Petersburg
Arkady Ostrovsky wurde in der Sowjetunion geboren. Heute lebt er mit seiner Familie in London, schreibt für den Economist und die Financial Times über Russland und Osteuropa. Für sein Buch The Invention of Russia erhielt er 2016 den renommierten Orwell Prize. Nun erscheint das Werk, das sich mit dem postsowjetischen Russland im Allgemeinen und mit Medienmanipulation im Besonderen auseinandersetzt, auf Russisch. Anlass für Colta.ru den Autor zum Interview zu bitten.
Ostrovsky spricht über Fake-News, Trump und eine neue Weltordnung – und warum das alles vor allem mit Russland zu tun hat.
Arnold Chatschaturow: Vorbei ist er, der Honeymoon von Donald Trump und dem Kreml – der Name des US-Präsidenten taucht in den russischen Medien inzwischen deutlich seltener auf, der Ton ist abgekühlt. Kann die Rückkehr zu einer feindseligen Rhetorik gegenüber den USA für die russischen Machthaber von Vorteil sein?
Arkady Ostrovsky: Zunächst muss man sagen, dass der Antiamerikanismus für Russland nichts Althergebrachtes ist. In der russischen Kultur ist Amerika eher Traum und Zukunftsbild gewesen, Jenseits und Neue Welt.
Meines Wissens taucht Amerika als Ballung des Bösen erstmals bei Gorki in der Stadt des gelben Teufels aus dem Jahr 1906 auf. Wobei aber Gorkis Briefe über Amerika äußerst wohlwollend sind. Das Bild von Amerika als Zukunft zieht sich durch die Dichtung der 1910er und 1920er Jahre. Und Stalin schrieb in seiner Arbeit Über die Grundlagen des Leninismus, der Leninismus sei die Vereinigung von revolutionärem Geist und amerikanischer Geschäftstüchtigkeit.
In den 1970er und 1980er Jahren gab es in der UdSSR dann eine Karikatur des Antiamerikanismus – allen war vollkommen klar, wie sehr der Westen tatsächlich „am Verfaulen“ war.
Das ‚böse Amerika‘ ist für den Kreml Erklärung und Rechtfertigung für alles, was im Land geschieht
Doch heute ist der Antiamerikanismus für den Kreml eine der tragenden Säulen und der wesentlichen ordnenden Konstruktionen geworden; das „böse Amerika“ ist Erklärung und Rechtfertigung für alles, was im Land geschieht. Der Gedanke, diese Konstruktion einzureißen, macht natürlich Angst. Erstens ist unklar, was an ihre Stelle treten sollte. Zweitens könnte bei der Bevölkerung eine erhebliche kognitive Dissonanz auftreten – bisher leuchtete nämlich allen ein, weshalb man fest zusammenhalten und sinkende Löhne akzeptieren muss. Insofern ist es für die Ideologie des Kreml weitaus günstiger, die USA zum Feind zu haben als zum Partner.
Die anfängliche Euphorie des Kreml nach der Wahl Trumps hatte nicht nur mit Schadenfreude zu tun (seht mal, bei denen bröckelt alles, die haben sich ihren eigenen Maidan organisiert), sondern auch mit der Freude, sich selbst im anderen wiederzuerkennen.
Für den Kreml ist es günstiger, die USA zum Feind zu haben als zum Partner
Zwar sind sich Putin und Trump vom Persönlichkeitstyp her nicht besonders ähnlich, es ist jedoch absolut bemerkenswert, dass Trump tatsächlich genau dieselben Techniken verwendet – zum Beispiel wenn er die Presse von Briefings ausschließt und sie als Fake-News bezeichnet. Alle im Fernsehen lügen – das war ja einer der Schlüsselsätze Putins im Jahr 2001, als er mit den Angehörigen der Kursk-Opfer sprach. Und Trumps Hauptlosung Make America great again? ist natürlich ein Abklatsch von Russland von den Knien erheben.
Kann man sagen, dass das Konstruieren von gefakter Wirklichkeit für politische Zwecke gewissermaßen eine russische Technik ist?
In Russland hat dieses Phänomen tatsächlich immer eine wichtige Rolle gespielt. Die russischen Medien haben die Wirklichkeit stets konstruiert anstatt sie zu beschreiben. Das gilt sowohl für die sowjetischen als auch für die postsowjetischen Medien. In diesem Sinne ist die Rede davon, dass „wir jetzt hier mal ordentlich was aufbauen“ eine ausgesprochen russische Sache, das fing schon bei den Bolschewikian, wenn nicht noch früher.
Und in den 1990er Jahren ging dieses Konstruieren munter weiter. Selbst das profilierteste und fähigste Presseorgan jener Zeit, die Tageszeitung Kommersant, beteiligte sich an der Konstruktion der Wirklichkeit: geschrieben wurde nicht über das Land, das existierte, sondern über das Land, das man sich wünschte.
Später, in den 2000er Jahren, übernahm dies die Hochglanzsparte – [das trendige Moskauer Stadtmagazin – dek] Afischa etwa beschrieb eine europäische Stadt, die es noch gar nicht gab. Solche futuristischen Entwürfe sind immer gefährlich.
Sowjetische und postsowjetische Medien haben die Wirklichkeit stets konstruiert, anstatt sie zu beschreiben
In der Politik hat man nach den Wahlen von 1996 begonnen, mit Fakes zu arbeiten, bis später die Politik endgültig durch Polittechnologie ersetzt wurde. Man kann über die Wahlen von 1996 sagen, was man will, aber immerhin war Jelzin eine reale historische Figur, er war nicht dem Fernsehen entsprungen. All das, was danach losging – die idiotischen Spiele der Oligarchen, die 1997 die Regierung demontierten, dort ihre Silowiki unterbrachten und so weiter – diese Entwicklung gipfelte in der Olympiade 2014, als herauskam, dass die Medaillen-Erfolge der russischen Sportler gar nicht echt, sondern gedopt waren. Und dann stellt sich heraus, dass die Krim genau so ein Dopingmittel ist.
Meinen Sie, dass die Ereignisse in den USA vielleicht in einem komplexeren Sinne mit Russland zu tun haben? Also jenseits der mutmaßlichen Versuche des Kreml, Einfluss auf die US-Wahlen zu nehmen?
Richtig, ich meine nicht die Hackerangriffe, wenngleich es die bestimmt gab, davon bin ich überzeugt. Das hat es immer gegeben: Die Sowjetunion hat sich auch 1984 in die US-amerikanischen Wahlen eingemischt.
Ich glaube, die Verbindung ist in der dringenden Notwendigkeit einer neuen Agenda zu sehen, eines einfach gestrickten Narrativs, das mit der Geschichte zu tun hat.
Warum ist in beiden Ländern von Fake-News die Rede? Wenn man sich mit der Gegenwart befasst, braucht man Fakten, wenn man aber nostalgischen Erinnerungen an die Vergangenheit nachhängt, stören Fakten nur.
Wenn man nostalgischen Erinnerungen an die Vergangenheit nachhängt, stören Fakten nur
Trump ist ein Symptom der weltweiten Verschiebungen, die bis zu einem gewissen Grad mit dem Ende des Kalten Krieges zusammenhängen. Die Konfrontation mit der UdSSR hielt alle in Spannung. Danach setzte die große Entspannung ein, ja eine gewisse Faulheit.
Lange Zeit herrschte überall der Eindruck, das postsowjetische Russland sei eine Geschichte für sich: Das Land war mit sich selbst beschäftigt, irgendwelche Prozesse waren dort im Gange, die keinerlei Ähnlichkeit mit dem hatten, was man im Westen kannte. Und mit einem Mal stellt sich heraus, dass Russland überhaupt keine Ausnahme ist, sondern im Gegenteil – ein Vorreiter dessen, was heute in der Welt passiert. Nur haben sich diese Probleme in Russland früher und heftiger offenbart.
Russland ist zum „Pilotprojekt“ einer neuen Weltordnung geworden?
Ja, und dieses Projekt hängt mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zerfall der UdSSR zusammen.
Eine Weile ging man davon aus, Russland werde sich, nachdem es sich von der kommunistischen Herrschaft befreit hatte, zu einem normalen westlichen Land entwickeln. Doch die sogenannte russische Elite setzte ihre Macht nicht für den Aufbau von Institutionen und die Schaffung einer politischen Basis ein, sondern für die Vermehrung von Macht und Geld. Und bald wurde klar: eine Idee muss her. Russland ist so gesehen ein ideenzentriertes Land, mit einer besonderen Mission und einem Ziel, wie auch die USA.
Mit einem Mal stellt sich heraus, dass Russland überhaupt keine Ausnahme ist, sondern im Gegenteil – ein Vorreiter dessen, was heute in der Welt passiert
In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre war Jelzin besessen davon, eine russische Idee zu finden, herauszufinden, wie wir uns selbst definieren können, wenn nicht über das Imperium oder die Konfrontation mit dem Westen. Er rief sogar spezielle Kommissionen zu dieser Frage ins Leben, wofür man ihn damals allerdings belächelte.
Als er zum dritten Mal die Amtsgeschäfte übernahm, stand es schlecht um die Wirtschaft, dazu kamen die Ereignisse auf dem Bolotnaja-Platz. Es wurde offensichtlich, dass nun die ideologische Agenda oberste Priorität hatte.
Putin und Trump haben gemerkt: Wenn es an ökonomischen Siegen mangelt, ist es deutlich effektiver, wieder in den Kampfmodus zurückzukehren. Wir leben im Zeitalter der Postmoderne: Es reicht, den Anschein einer Mobilmachung zu erzeugen, was ihnen auch bestens gelingt. Putin mit den Olympischen Spielen und der Krim, Trump mit seiner mexikanischen Mauer und dem Kampf gegen den Islam. Ein solcher Medienkrieg erfordert keine so großen Mittel. Eine andere Sache ist es, dass in diesem Krieg reale Menschen sterben.
Wie wir sehen, versucht Trump, sich von der messianischen Rolle der USA als Verfechterin liberal-demokratischer Werte loszusagen, stattdessen setzt er auf Pragmatismus und nationale Interessen. Was geschieht in dieser Hinsicht heute in Russland?
In Russland haben noch die Bolschewiki Anspruch auf das vierte Rom erhoben. Die UdSSR war in gewissem Sinne wirklich das Zentrum der Komintern, die Wiege einer zukünftigen weltweiten proletarischen Revolution. Heute wird Russland zum Symbol für die geistige Klammer, die traditionellen Werte und den Nationalismus.
Putin und Trump haben gemerkt: Wenn es an ökonomischen Siegen mangelt, ist es deutlich effektiver, wieder in den Kampfmodus zurückzukehren
An symbolischer Aufladung mangelt es dem Regime nicht: Selbst der letzte Diktator beeilt sich heute Putin zu preisen, und die amerikanischen Ultrarechten sagen, Russland sei das Zentrum traditioneller Zivilisation. Russland ist dabei, für viele europäische Politiker so etwas wie ein ideologisches Leuchtfeuer zu werden.
Die USA haben sich tatsächlich von dieser Rolle verabschiedet, haben ihren Status einer besonderen Nation, der für das Land lange Zeit sehr wichtig war, abgegeben.
Äußerst bezeichnend war Trumps Antwort auf eine Frage des Senders Fox News, wie er es mit Putin halte, der sei doch ein Mörder? – „Ach, wissen Sie, wir haben auch viele Mörder.“ Im Westen war man davon allenthalben schockiert, schließlich bedeutet das, wir sind alle gleich, von einer moralischen Überlegenheit der USA kann nicht mehr die Rede sein.
Auf der anderen Seite des Atlantiks wird George Orwells 1984 gerade wieder gern zitiert. Die Dystopie als Abschreckung erlebt ihre kleine Renaissance. In der Moskauer Theaterlandschaft erfüllt derzeit Vladimir SorokinsDer Tag des Opritschniks diese Funktion. Dem postmodernen Roman aus dem Jahr 2006 wird seit der Angliederung der Krim und der Roll-back-Politik des Kreml eine neue Aktualität zugeschrieben. Deshalb und mit Blick auf eine Fülle an Schimpfwörtern erscheint es vielen als ein Wagnis, diesen Stoff im gegenwärtigen Russland aufzugreifen.
Nun ist es ausgerechnet Mark Sacharow, der Der Tag des Opritschniks auf die Bühne bringt. Schon zu Sowjetzeiten war Sacharow als Filmregisseur erfolgreich, seine Literaturverfilmung von Dwenadzat Stuljew (dt. Zwölf Stühle) ist längst ein Klassiker. Seit Jahrzehnten leitet er außerdem das Lenkom, eine der wichtigsten Bühnen in Moskau. Für seine Arbeit wurde Sacharow mehrfach ausgezeichnet, unter anderem als Volkskünstler der UdSSR. Präsident Putin überreichte ihm 2013 den Verdienstorden für das Vaterland.
Sacharows Opritschnik ist nicht ganz der Opritschnik Sorokins: Im Original spielt die Handlung im Jahr 2027, Sacharow hat sie auf einen Tag „hundert Jahre nach der Premiere“ verlegt. Bei Sacharow gibt’s auch, anders als im Original, ein Happy End. Kritiker werfen ihm das vor.
Das multimediale Kulturmagazin Colta.ru hat Sacharow getroffen zu einem Gespräch über Sorokin, Putin, Trump, Grusel und Gehirnverknöcherungstendenzen.
Jelena Kowalskaja: Ich gratuliere zur Premiere, Mark Anatoljewitsch. Der Tag des Opritschniks ist ein Theaterereignis, es ist aber auch ein Akt großer Courage. Sie spotten über die reaktionäre russische Politik; das Anti-Mat-Gesetz [das die Verwendung „obszöner Lexik“ in den Medien unter Strafe stellt – dek] hat für Sie keine Relevanz, kurzum, Sie benehmen sich wie ein freier Mensch. Aber vielleicht täusche ich mich und Sie haben bei der Arbeit an Sorokin doch auch Ängste überwinden müssen? Was haben Sie riskiert?
Mark Sacharow: Die Frage kann ich so eigentlich gar nicht beantworten. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich hier einen todesmutigen Akt hingelegt habe. Das Buch ist veröffentlicht und bekannt. Vladimir Sorokin steht dafür mit seinem Namen – dem unsere rechtgläubigen Aktivisten zu rechtem Ruhm verholfen haben, nachdem einst einige Jugendorganisationen angefangen hatten, seine Bücher zu vernichten.
Der Name Sorokin ist weithin bekannt, auch ich habe so einiges gelesen. Mit der Lektüre des gesamten Sorokin kann ich nicht glänzen; ich gebe zu, dass es einen bei manchen seiner Bücher graust. Ich habe meine Nerven geschont. Aber den Tag des Opritschniks habe ich gelesen, und ich fand dieses Buch ausgesprochen scharfsinnig, es hat eine ganz eigene humoristische Haltung. Sorokin lacht ein ganz besonderes Lachen, das hat nichts mit Entertainment zu tun. Dabei gibt es auch bei ihm ein paar kleine Witzeinlagen.
Mit der Lektüre des gesamten Sorokin kann ich nicht glänzen. Ich habe meine Nerven geschont
Zum Beispiel?
„Ein Mensch, der zwölf Jahre lang ununterbrochen Geige spielt, wird automatisch zum Juden.“ Seine Haltung gegenüber den Dingen, sein Humor ist oft ironisch oder sarkastisch, und häufig ist dieser Humor bei ihm versteckt in Provokation oder Krawallgetöse. Aber Gogol, der Sorokin meiner Meinung nach beeinflusst hat – beziehungsweise führt Sorokin die Gogolsche Tradition in einer neuen Situation fort – Gogol ist auch manchmal ganz schön gruselig, bei ihm sind es andere Dinge, die einen zusammenzucken lassen. Ich würde Sorokin als Komödienschreiber bezeichnen. Denn die Texte, die ich besonders mag, zeichnen sich durch einen starken Sinn für das Komödiantische aus, das bei ihm ziemlich tief verborgen liegt und sich mit den dunklen Seiten der menschlichen Natur vermischt.
Wann haben Sie Sorokin zum ersten Mal gelesen?
Gelesen habe ich ihn schon früher, aber mich richtig in ihn vertieft und etwas verstanden habe ich wohl so vor sieben, acht Jahren. Damals hatte ich mir auch zum ersten Mal den Tag des Opritschniks vorgenommen, das war der erste Anlauf. Ich zeigte Sorokin meine Bühnenfassung, er fand sie gut, und wir kamen sogar so weit, dass ich mit den Proben anfing. Für die Rolle des Gossudar wurde der Komiker Gennadi Chasanow engagiert. Dann verlor ich das Vertrauen in das, was ich da tat, aus mehreren Gründen, die hier aufzuzählen langweilig wäre. Ich nahm mir eine Auszeit.
Als ich später wieder weitermachen wollte mit dem Tag des Opritschniks, meinte Sorokin, die Zeit dafür sei vorbei. Nach dem Motto, damals sei es interessant und zeitgemäß gewesen, jetzt müsse man etwas anderes spielen. Da wurde ich dann leicht demagogisch und trug ein wenig dicker auf, wie man das als Regisseur zuweilen ja tut. Ich sagte zu ihm: Wissen Sie, der Gogol, der hat damals die Toten Seelen geschrieben. Die kamen 1842 heraus und wurden als ein talentiertes, überraschendes Werk gewertet. Und dann vergehen sechs Jahre, und das Buch soll tatsächlich seine Aktualität eingebüßt haben? Wenn man bedenkt, dass uns die dahinfliegende Ptiza-Troika noch heute in Bann zieht und dass Tschitschikows Kunden uns immer noch zum Lachen bringen.
Heute wird Sorokins ungereimtes Zeug plötzlich zum Widerschein unserer Zeit, zum Spiegel unserer Propaganda und unserer Polit-Phrasen
Sorokin begriff, dass es keinen Zweck hat, sich in solchen Diskussionen mit mir anzulegen. Er erklärte: „Ich vertraue Ihnen, machen Sie, was Sie wollen.“ Wir besorgten uns die Aufführungsrechte, und ich schrieb meine Bühnenfassung. Ich arbeitete ziemlich lange daran, es war nicht leicht, aber dann war das Kollektiv wie immer bereit, mir zu vertrauen – in den letzten Jahren haben sie angefangen, mir zu vertrauen, und wir haben die Sache zu Ende gebracht. Die Premiere hat stattgefunden.
Zu der Zeit hatten Sie dann auch schon Telluriagelesen.
Ja, Sorokin meinte zu mir: „Schauen Sie sich mal meine neuen Bücher an, Telluria zum Beispiel.“ Es gibt da so einen herrlichen Monolog, der stammt aus Telluria, den verwenden wir bei uns in der Vorstellung ganz am Anfang und dann noch einmal nach der Pause. Da tritt so eine kryptische Figur auf, die die ganze Zeit ungereimtes Zeug redet. Zuerst wirkt es wie eine Aneinanderreihung sinnloser Wortverbindungen, aber sobald sich die Leute auf das Vergnügen des absurden Humors einlassen, fällt einer nach dem anderen in das Gelächter ein.
Der absurde Humor verfolgt uns seit den Zeiten von Mrożek und Ionesco. Meine Generation jedenfalls hat sich immer zu ihm hingezogen gefühlt, aber in Russland war es unmöglich, die absurden Dramatiker zu inszenieren. Und heute wird Sorokins ungereimtes Zeug plötzlich zum Widerschein unserer Zeit, zum Spiegel unserer Propaganda und unserer Polit-Phrasen.
Sorokins Roman ist eine Antiutopie. Wo er voller Pessimismus in die Zukunft blickt, bleiben Sie indes optimistisch. Sie geben Sorokins Opritschnik die Chance, ein Mensch zu werden, und dem Land die Chance, sich zu besinnen, bildlich gesprochen. Denken Sie wirklich, dass das, was derzeit in Russland passiert, keine Sache von Dauer ist? Die globale Entwicklung legt das Gegenteil nahe. Die reaktionäre Wende ist weltweit zu beobachten: Polen, Ungarn, der Brexit und nicht zuletzt Donald Trump.
Trump, der Brexit, na gut. Aber es ist ja nicht so, dass hier irgendjemand ein Loblied auf Mussolini anstimmen oder für Hitler, Göring und Goebbels schwärmen würde. Die werden genau studiert. Aber gepriesen werden sie nicht. Die Deutschen haben uns wunderbar vorgemacht, wie man mit den dunklen Seiten der Geschichte umgehen muss. Was uns nicht gelingt.
Die Gehirnverknöcherungstendenzen setzen sich möglicherweise durch und bringen unser Land an den Rand der Katastrophe
Bei Sorokin gibt es, wenn man seine Grundidee vereinfacht, eine Warnung: Wenn alles so weitergeht, stehen wir bald am Rande einer neuen Katastrophe. Jetzt haben sie Iwan dem Schrecklichen ein Denkmal gesetzt, ein Held unserer Zeit, der Biker Chirurg, hielt eine öffentliche Lobrede auf ihn. Wie die Motten zum Licht waren allerhand Leute herbeigeflogen gekommen, darunter auch hochrangige Beamte. Und einer von denen stellt sich also hin und erklärt: „Iwan der Schreckliche hat seinen Sohn gar nicht erschlagen. Er wollte ihn bloß nach Petersburg zum Arzt bringen.“ Und dabei fällt ihm nicht einmal auf, dass es damals noch gar kein Petersburg gab.
Die Gehirnverknöcherungstendenzen setzen sich möglicherweise durch und bringen unser Land und die öffentliche Stimmung an den Rand der Katastrophe. Denn wer ist der größte Held unserer Geschichte, wenn man der öffentlichen Meinung glauben will? Stalin. Er ist unsere große Lichtgestalt, nahezu ein Heiliger. Okay, er hat getötet, aber schließlich nicht einfach so – das war doch im Namen des Guten. Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit hat auch nach so langer Zeit weiterhin unheilvollen Einfluss auf das gesellschaftliche Bewusstsein.
Und Sorokin warnt uns: Wenn wir unsere slawophile Gesinnung und die Tendenzen, die uns die Denkmäler fürIwan den Schrecklichen und Stalin eingebracht haben, weiter bis zum Irrsinn treiben, werden wir in ein neues Mittelalter abgleiten.
Wird das noch lange so gehen? Was sagt Ihnen Ihre Intuition, die Erfahrung eines langen Lebens?
Ich glaube, es geht bis zu dem Augenblick, in dem die politische und wirtschaftliche Konstruktion unseres Staates abgelöst wird – kluge Menschen sagen, diese Veränderung ist unabdingbar, sonst droht dem Land der Verfall.
Meine Güte! Dem Menschen ist das Gehirn gegeben, damit er seine Ansichten korrigieren kann
Ihr naturgegebener Optimismus wird von anderen Optimisten genährt.
Wissen Sie, ich bin Optimist, aber ich glaube nun auch nicht, dass eines schönen Tages von heute auf morgen alles anders sein wird. Ich glaube daran, dass der Mensch mit seinen kleinen grauen Zellen dazu in der Lage ist, seinen Lebensweg und seine Ansichten zu überdenken. Leute, die voller Stolz verkünden, dass sich in ihrem ganzen Leben noch nie etwas an ihren Überzeugungen verändert hat – „wie ich vor sechzig Jahren dachte, so denke ich heute noch“ – die kann ich nur bedauern. Meine Güte! Dem Menschen ist das Gehirn gegeben, damit er seine Ansichten korrigieren kann, denn die Wirklichkeit verändert sich doch ständig!
Als die russische Führung 2012 den rückwärtsgewandten Kurs einschlug, stellte sich die Frage: Welche Fehler hat die Gesellschaft in den 1990er und den 2000er Jahren begangen, wie war es möglich, dass die Staatsmacht das Rad der Geschichte zurückdrehen konnte? Was haben wir damals versäumt? Die Toten zu begraben? Eine Lustration durchzuführen? Was wurde unterlassen?
Wahrscheinlich haben wir eine Art Defekt in unserer Mentalität, dessen sollte man sich bewusst sein. Unser Nationalcharakter ist nicht ideal. Sollte das, von dem Sorokin erzählt, in uns triumphieren, kann es sein, dass es für uns in einer künftigen Zivilisation – sofern unser Planet weiter besteht – keinen Platz mehr gibt.
Sie haben eben beim Sprechen mit dem Finger eine vertikale Linie auf den Tisch gezeichnet. Sehen Sie unseren Defekt in dieser Richtung?
Das habe ich nicht gesagt, aber ich stimme Ihnen zu.
Wissen Sie, ich bin Optimist, aber ich glaube nun auch nicht, dass eines schönen Tages von heute auf morgen alles anders sein wird.
Gerade ist Lew Dodins Hamlet herausgekommen, wo pauschale Aussagen über Russland gemacht werden: Bei uns trete das Alte und Tote in junger Gestalt wieder ins Leben.
Mir scheint, eine russische Eigenschaft – und ich wünschte, sie würde sich durchsetzen – ist der Zweifel. Heutzutage müssen wir zweifeln. So wie die großen russischen Schriftsteller gezweifelt haben und zwar bis hin zu den Staatsdienern unter ihnen, Saltykow-Schtschedrin zum Beispiel. Zweifeln und sich Gedanken machen. Der Mensch bedarf der schwankenden Ungewissheit eines Hamlet, er muss geneigt sein, den eigenen Weg – die eigenen Vorhaben und das eigene Handeln neu zu bewerten.
Ein kluger Mensch hat einmal gesagt: „Es geht darum, sich klarzumachen, welche Dinge man selbst getan hat und welche einem widerfahren sind.“ Das ist nicht leicht. Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, kann ich das nicht immer mit letzter Sicherheit sagen. Manches von dem, was mir in meinem Leben später sehr geholfen hat, hatte sich zufällig ergeben, darauf hatte ich keinerlei Einfluss. Andere Schritte waren wohlüberlegt. Und hatten damit zu tun, dass ich etwas von mir selbst verstanden habe. Zum Beispiel habe ich begriffen, dass ich ein lausiger Schauspieler bin und auf der Bühne nichts zu suchen habe.
Ich erinnere mich, wie Sie in der Zeit der Perestroika Ihr Parteibuch verbrannten. Später haben Sie diese Geste bedauert. Warum?
Ich fand diese Geste ziemlich exaltiert. Dem konnte man sich nur schwer entziehen damals. Es waren die Besten, die aus der Partei austraten, vernünftige Leute – Jelzin, Sobtschak. Jelzin besaß diese phänomenale Fähigkeit, die auch uns Theaterleuten eigen ist: Er konnte die Leute mitreißen. Er verkündete die Niederlegung seiner Parteiämter und legte das Parteibuch auf das Podium, bahnte sich den Weg durch die Menge und sah den Menschen in die Augen, dabei wurden sie alle ganz klein, doch sobald er sie in seinem Rücken hatte, fingen sie an zu pfeifen und zu buhen. Mir fiel das wieder ein, als ich aus dem Satire-Theater ins Lenkom wechselte und der Leiter des Theaters, Valentin Plutschek, mir sagte: „Mark, kehre niemals Schauspielern den Rücken zu. Das ist gefährlich, sie können beißen. Schau ihnen in die Augen.“
Wie konnte es Ihrer Meinung nach zu der Kehrtwende unseres Landes kommen?
Mein Freund Gawriil Popow (ich nenne ihn Freund, wenngleich wir uns selten sehen), der erste Oberbürgermeister von Moskau, der später die Amtsgeschäfte an Lushkow übergab, hat einmal gesagt: „Wir haben keine Ressourcen, auf eine neue Art zu arbeiten, jetzt und auch künftig werden auf den neuen Stellen weiterhin die alten Beamten des staatlichen Verteilungssystems sitzen, alte Parteifreunde, und vermutlich wird aus der allumfassenden demokratischen Umgestaltung, von der wir in den Neunzigern geträumt haben, nichts werden.“
Ich weiß ja nicht. Wenn ich mir Ihre Generation anschaue, haben Sie den jungen Leuten in Sachen Courage einiges voraus.
Danke für die freundlichen Worte. Mitunter beschleicht mich aber doch eine gewisse Zurückhaltung. Und zu den acht Menschen, die auf dem Roten Platzgegen den Einmarsch unserer Truppen in die Tschechoslowakei protestiert haben, hätte ich mich wahrscheinlich nicht gesellt. Das Einzige, was ich damals gemacht habe (und das war mein spektakulärster Akt als Bürger), das war, als bei uns im Satire-Theater Belegschaftsversammlung war und der Direktor fragte: „Wer ist dafür, Panzer in die Tschechoslowakei zu schicken?“ Als ich das hörte, machte ich mich in leicht gekrümmter Haltung auf den Weg zum Ausgang – so als müsste ich mal. Ich wurde nicht weiter beachtet, aber danach war ich stolz auf mich. Obwohl das natürlich lächerlich ist. Was für eine Heldentat!
Was werden Sie denn jetzt nach dem Opritschnik machen, haben Sie Pläne?
Zwei Tage nach der Premiere erkundigte sich der Mann, von dem ich dachte, ich hätte ihm wirklich gerade das Äußerste abverlangt, Viktor Rakow [der den Opritschnik spielt – dek], bei meiner Tochter: „Was will dein Vater eigentlich als nächstes machen?“ So sind Schauspieler gestrickt. Dieses „Was kommt als nächstes?“ ist der Alptraum für einen Regisseur. Welches Stück werde ich machen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es etwas ganz anderes sein muss als der Tag des Opritschniks.
„Über lange Zeit hatte ich mit heftiger innerer Homophobie zu kämpfen, an der ich mehrere Jahre mit einem Psychologen gearbeitet habe.“ So schildert eine junge Russin ihre erste Hürde auf dem Weg von einer mit Zweifeln belasteten Jugendlichen hin zur selbstbewussten Frau. Innerlich kann sie inzwischen zu sich und ihrer gleichgeschlechtlichen Liebe stehen. Ein großer Schritt in Russland, wo Homosexuelle offen angefeindet werden, Homophobie weit verbreitet ist. Nun ist sie 25 Jahre alt, arbeitet als Lehrerin und plant ihr öffentliches Coming Out.
Das bewegende Protokoll einer jungen Lesbe hat das Webmagazin Takie Dela aufgeschrieben.
Jedes Kind beschäftigt sich zu einer bestimmten Zeit mit seiner Identität. Ich überlegte, was ich werden soll: Junge oder Mädchen? Ein Mädchen zu sein ist gut, weil man als Mädchen hübsch sein und schicke Kleidchen anziehen kann, ein Junge zu sein ist gut, weil man als Junge mit einem Mädchen zusammen sein kann.
Mit neun gefiel mir ein Mädchen. Natürlich war das keine Beziehung. Meine ganze Kindheit über war mir klar, dass mir Mädchen gefallen, aber an meinem Bewusstsein zog das irgendwie vorbei. Mich störte dieses Wissen nicht weiter. Vielleicht nahm ich es nicht ernst, vielleicht weigerte sich mein Gehirn, genauer darüber nachzudenken.
Viel später erst wurde mir klar, dass ich Schwierigkeiten hatte, mich selbst zu akzeptieren, und dass ich darüber dringend sprechen musste. Für mich war das ein Problem, denn ich bin in einer gläubigen Familie aufgewachsen, ging in die Sonntagsschule. Über lange Zeit hatte ich mit heftiger innerer Homophobie zu kämpfen, an der ich dann mehrere Jahre mit einem Psychologen gearbeitet habe.
Die Bewusstwerdung
Mit achtzehn, ich studierte schon an der Uni, verliebte ich mich in meine Russischdozentin. Ich war heftig verliebt damals. In diesem Moment musste ich mir eingestehen, dass ich nicht einfach von ihr als Mensch fasziniert war, am liebsten hätte ich permanent Zeit mit ihr verbracht. Wir saßen einfach zusammen und redeten über die russische Sprache und Literatur. Sie ahnte nichts von meinen Gefühlen, und ich war noch nicht fähig, mich ihr zu offenbaren. Ich glaube auch nicht, dass sie davon angetan gewesen wäre.
Dann begann ich, mit einem Psychologen zu arbeiten. Zwei Jahre hatte ich Einzeltherapie und machte auch Gruppentherapie. Als ich so weit war, dass ich mich selbst akzeptieren konnte, erzählte ich die ganze Sache zunächst meinen engsten Freunden. Dann meiner Familie. Meine Schwestern reagierten ganz entspannt, mit meiner Mutter war es schwierig, und das ist es bis heute. Meine Mutter kann mich nicht akzeptieren, das erste halbe Jahr redeten wir überhaupt nicht mehr miteinander, inzwischen sprechen wir über alles mögliche, aber nicht darüber. Sie streift das Thema äußerst selten – „deine Freundinnen“ sagt sie höchstens mal etwas spitz.
Mir ist bewusst, dass ich ein Doppelleben führe. Sobald ich bei der Arbeit bin, verhalte ich mich komplett anders, sage andere Dinge
Die Hilfe
Die innere Homophobie hatte bei mir krasse Auswirkungen. Eine Zeitlang verließ ich gar nicht mehr das Haus, schloss mich in meinem Zimmer ein, meine Freunde haben mich gerettet, sie brachten mir Essen. Ich stand bloß noch auf, um mich zu betrinken und wieder einzuschlafen. Ich wollte nicht mehr leben, hatte Selbstmordgedanken. Eine schreckliche Zeit in meinem Leben war das, an die ich heute nur noch selten denke.
Irgendwann wurde mir klar, dass ich mir professionelle Hilfe suchen muss, weil ich einfach nicht mehr konnte. Ich ging zu einem Psychologen, lernte Leute kennen und begann, mich zu engagieren. Ungefähr vier Jahre hat es gedauert, bis ich mich voll akzeptieren konnte. Erst vor zwei Jahren konnte ich aufatmen und sagen: „Alles cool!“
Ich hab mich für den Weg von Engagement und Selbstakzeptanz entschieden, denn ich glaube, das Wichtigste im Leben eines jeden Menschen ist es, zu spüren, dass er ist, wer er ist, und dass man deswegen nicht leidet. Ich fühlte, dass ich das Richtige tue und anderen Menschen helfen kann, die mit den gleichen Problemen konfrontiert sind wie ich.
Der Glaube
Als ich aufhörte, zur Sonntagsschule zu gehen, litt und weinte ich sehr, schließlich war es ein wichtiger Teil meines Lebens. Ich liebe Frauen, und das ist aus Sicht der orthodoxen Religion so etwas wie Sünde. Irgendwann war ich zu dem Schluss gekommen, dass es Gott nicht gibt, wenn er uns erst so erschafft und dann nicht akzeptiert. Mittlerweile finde ich trotzdem wieder zu Gott zurück, aber heute unterscheide ich für mich klar zwischen Glauben und Religion. Mit der Religion habe ich nichts zu schaffen, mit dem Glauben durchaus.
Der Beruf
Während meines Studiums an der pädagogischen Hochschule war ich nicht überzeugt davon, dass ich später als Lehrerin arbeiten würde, aber es machte mir Spaß. Bereits im vierten Studienjahr fing ich an, zu unterrichten. Vor drei Jahren habe ich mein Studium abgeschlossen, und seitdem arbeite ich als Lehrerin.
Natürlich kann ich bei der Arbeit nicht über meine sexuelle Orientierung sprechen. Das ist unmöglich. Nur ein paar Kollegen von mir wissen Bescheid, sie sind enge Freunde. Mir ist bewusst, dass ich ein Doppelleben führe. Sobald ich bei der Arbeit bin, verhalte ich mich komplett anders, sage andere Dinge. Die Unmöglichkeit offen zu sprechen bedeutet für mich, dass ich in meinem Beruf nicht frei atmen kann.
Außerdem ist es für mich wirklich hart, genau solche Kids zu sehen, wie ich früher eins war, und zu wissen, dass ich nicht offen mit ihnen sprechen kann, obwohl ich zu meinen Schülern eigentlich ein sehr vertrauensvolles Verhältnis habe. Einmal wandte sich ein Transjunge an mich [eine junge Frau, die sich als Mann versteht – Takie Dela]. Ich weiß nicht, warum er ausgerechnet zu mir kam. Er hat noch keine Geschlechtsangleichung gemacht, nimmt keine Hormone, fühlt sich einfach als Mann. Er kam zu mir und erzählte mir davon. Ich bin keine Psychologin und bin nicht berechtigt, darüber zu sprechen, aber auf der anderen Seite war mir klar, dass ich ihm irgendetwas raten musste.
Es war ziemlich riskant, jedes Wort von mir hätte später gegen mich verwendet werden können, aber ich sprach trotzdem mit ihm, gab ihm Broschüren und Sticker zu Transsexualität und sagte ihm, er könne sich jederzeit an mich wenden. Bisher ist er nicht noch einmal zu mir gekommen, aber in unserer Korrespondenz bezeichnet er sich als Mann. Ich finde das sehr gut.
Die Stadt
Hier in der Stadt gibt es etliche Gruppierungen, die Schwule und Lesben ablehnen. Es ist schon mehrfach zu Prügelattacken auf LGBT-Aktivistinnen und Aktivisten gekommen, und zwar zu ziemlich schlimmen. Ich selbst habe vor fünf Jahren angefangen, mich zu engagieren. Mein Psychologe hatte mir geraten, doch mal zu einer LGBT-Veranstaltung zu gehen. In dem Jahr planten Nazis einen Überfall auf die Aktivisten, die das Festival veranstalteten, sie haben uns sogar mit Bussen weggekarrt und es gab Wachschutz, damit uns nichts passierte. Etwas wirklich Schlimmes war dann auch nicht, keine Prügeleien oder so, allerdings hatten die Typen die Treppe zum Festivalgebäude mit Farbe übergossen.
Dieses Jahr fand wieder eine Veranstaltung statt, und mittlerweile gehörte ich zu den Organisatoren. Es war echt hart. Wir wollten lediglich ein Turnier abhalten, aber das wurde uns verboten, immer wieder bekamen wir Ablehnungen. Nur ein einziger Sportplatz hat uns zugesagt. Wir haben alle unsere Telefone ausgeschaltet und die Adresse nur untereinander weitergegeben, so waren wir nicht „aufzuspüren“. Nur so konnte das überhaupt normal ablaufen.
Ich will nicht in dem Bewusstsein leben, dass man mich für die Wahrheit, die ich ausspreche, ins Gefängnis bringen kann
Die Angst
Mir graut davor, mein ganzes Leben so zu verbringen. Eines Tages wird es einen Postauf meiner Seite geben und ich werde mich für alle Menschen, die mich kennen, outen … Natürlich nicht jetzt gleich, zwei, drei Jahre werde ich noch brauchen, um mich psychisch darauf vorzubereiten.
Wenn das Gefühl kommt, dass ich moralisch bereit bin, werde ich merken, dass es soweit ist. Ich werde wissen, dass es keinen Weg zurück mehr gibt, ich muss mich nicht mehr an Vergangenes halten, weder an Leute noch an die Arbeit.
Die Zukunft
Mein Plan ist, den Schuldienst zu verlassen und als Nachhilfelehrerin zu arbeiten. Ich werde keiner kommunalen Einrichtung angehören, so wird es schwer sein nachzuvollziehen, mit wem und wo ich arbeite. Das ist der Kompromiss in meiner Situation.
In den siebziger Jahren haben Lehrer und Lehrerinnen in den USA erkämpft, dass sie in ihrem Beruf arbeiten und dabei offen schwul oder lesbisch leben können. Als ich davon hörte, verspürte ich eine Art Stolz und wünschte mir, es würde bei uns auch so sein.
Meine Freundin und ich planen, Kinder zu haben. Ich denke schon jetzt an Familie, will selbst ein Kind zur Welt bringen oder auch adoptieren. Ich hoffe sehr, dass wir einmal eine große Familie haben werden und ein großes Haus.
Das Gesetz
Wenn ich mich mit besagtem Transjungen unterhalte, kann ich dem Gesetz nach für meine Äußerungen belangt werden. Ich will nicht in dem Bewusstsein leben, dass man mich für die Wahrheit, die ich ausspreche, ins Gefängnis bringen kann. Aber ich habe keine andere Wahl.
Ich würde sagen, die gesellschaftliche Aggression hat zugenommen. Kann sein, dass die staatliche Politik sich im Verhalten der Menschen widerspiegelt, die Leute haben Angst, selbständig zu denken. Andererseits habe ich viel Kontakt zu Kindern und Jugendlichen und sehe unter ihnen eine Menge LGBT-Kids. Während die ältere Generation stärker eingeschüchtert ist und weniger über sich spricht, ist die junge, in Zeiten des Internets aufgewachsene Generation bei uns freier, wobei auch sie Probleme mit der Selbstakzeptanz und mit ihren Eltern hat.
Die Zuversicht
Auch jemand, der sich selbst im Grunde akzeptiert, kann in Bezug auf bestimmte Lebenssituationen unsicher sein. Wenn du das Gefühl hast, du wirst allein damit nicht fertig, solltest du dir professionelle Hilfe holen. Es gibt das russische LGBT-Netzwerk, wo man anrufen und mit Psychologen oder Juristen sprechen kann.
Früher war ich voller Selbstzweifel – was meine Standpunkte und Ansichten betraf. Wenn dir klar wird, dass du eine Persönlichkeit bist, hörst du auf, Angst zu haben und machst alles richtig, und das gibt dir viel Kraft.
Ich glaube, mit der LGBT-Bewegung in Russland wird alles gut werden. Allerdings weiß ich nicht, wann das das sein wird und ob ich es noch erleben werde.
„Zoi ist tot“ prangt seit Ende Juni in riesigen Lettern auf der Moskauer Viktor-Zoi-Gedenkmauer, der inoffiziellen Pilgerstätte für einen der wichtigsten russischen Rockmusiker. Sein Todestag jährt sich am 15. August.
Viele sahen in dieser Aktion unbekannter „Künstler“einen symbolischen Sinn: Die Zerstörung des Denkmals für den Mann, der einst die Perestroika-Hymne My shdjom peremen (dt. „Wir warten auf Veränderungen“) sang, entspricht ganz und gar dem Zeitgeist.
Wie Letzterer mit der Musik zusammenhängt und warum die Protestsong-Tracklist in Russland noch heute aus Werken längst vergangener Tage besteht, darüber sprach Rus2Web mit Juri Saprykin, Musikkritiker, Publizist und ehemaliger Chefredakteur der Zeitschrift Afischa.
Sie sagten eben, dass Sie praktisch keine aktuelle russische Musik mehr hören. Was sind die Gründe dafür? Worin unterscheiden sich heutige Interpreten von den Künstlern der 1980er und 1990er, die Ihnen so am Herzen liegen?
Also ganz so ist es nun auch nicht. Es gibt immer noch bestimmte Richtungen, die ich verfolge, es sind bloß einfach deutlich weniger geworden. Zum Teil liegt das daran, dass Geschmack sich verändert, zum Teil aber auch an, naja … warum hören Menschen überhaupt Musik? Sie wollen starke Gefühle erleben, sich selbst darin wiederfinden, Schwingungen auffangen, die sich mit dem eigenen Lebensgefühl decken. Die russische Pop- und Rockmusik liefert das alles nicht mehr.
Haben die Stars der Rockmusik in letzter Zeit irgendetwas [Erwähnenswertes] hervorgebracht oder ist ihre Zeit abgelaufen?
Splinzum Beispiel geben Konzerte im Moskauer Sportkomplex Olympiski, und die Riesenhalle ist dann rappelvoll. Diese Band ist extrem gefragt. Die Musiker der 1980er und 1990er, das war die letzte Generation, die es geschafft hat, zu Nationalhelden zu werden, und nach Splin oder Korol i Schut gibt es keine Band mehr, die solche großen Hallen füllen könnte.
In den 1980er Jahren war die sozial relevante und inhaltlich aussagekräftige Musik der Rock, und der formierte sich als Gegengewicht zur konventionellen sowjetischen Unterhaltungsmusik. Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre hatten diese Inhalte einiges an Anziehungskraft verloren, scheint mir. Welche Erklärung haben Sie dafür?
Zunächst mal beruhte die Hauptwirkung der Rockmusik Ende der 1980er Jahre nicht auf irgendeiner sozialen Aussage, sondern darauf, dass diese Musiker einfach vollkommen andere Menschen waren – sie sahen anders aus, sprachen eine komplett andere Sprache.
Als ich beispielsweise zum ersten Mal Aquarium hörte – ich glaube, das war der Song Ja smeja (dt. „Ich bin eine Schlange“) oder Slushenje mus ne terpit kolessa (dt. „Der Musendienst duldet kein Rad“) – also darin war nicht das kleinste Quentchen Soziales. Aber wenn du diese Musik gehört hast, hast du begriffen, dass bestimmte Mauern eingerissen sind.
Alle bisherigen Vorstellungen davon, wie Musiker aussehen und was für Musik sie machen können, welche Wörter man im Russischen aneinanderfügen kann – alles hatte sich komplett verändert oder sollte sich im allernächsten Augenblick verändern.
Die Wirkung dessen, was die Leute Ende der 1980er machten, hing nicht damit zusammen, dass sie irgendwelche verbotenen Themen aufwarfen.
Dieses Explosionsgefühl kam vor allem daher, dass innerhalb kürzester Zeit eine ganze Reihe vollkommen unterschiedlicher Musiker auf der Bildfläche erschienen und jeder von diesen Leuten Sachen machte, die auf einer sowjetischen Bühne bis dahin ganz und gar unvorstellbar gewesen waren.
Wenn man heute Russkoje Radio oder Nasche Radio einschaltet oder selbst die Flow-Playlist von Apple Music, da ist einem in etwa klar, was die Leute da singen – alles klingt mehr oder weniger wie das, was man kennt. Mitte der 1980er Jahre aber machten ein paar Leute plötzlich etwas wirklich vollkommen anderes, etwas absolut neues. Da ging es eher um den Effekt der Neuartigkeit und darum, dass sich plötzlich sämtliche Grenzen auflösten, als um irgendwelche sozialen Aussagen.
Ich dachte bei der sozialen Dimension weniger an Aufrufe, auf die Straße zu gehen, als an den allgemeinen Protest gegen Beschränktheit und Einförmigkeit. Wie hat sich dieser Protest, wie hat sich diese Musik seit Ende der 1980er Jahre verändert? Wie würden Sie die Veränderungen der 1990er und der 2000er Jahre charakterisieren?
Mit überraschend neuen Erkenntnissen kann ich da wohl kaum aufwarten. Klar ist, die zweite Hälfte der 1980er – das war eine Explosion, mit einem Mal tauchten da diese ganzen abgefahrenen Leute auf, die unterschiedlichsten Musiker, und die landeten dann sehr schnell auf der professionellen Bühne und in der kommerziellen Musikindustrie, wofür sie eindeutig nicht bereit waren.
Alle, die damals anfingen, seien es Aquarium, Kino, Kalinow Most oder Grashdanskaja Oborona – alle gingen fest davon aus, dass sie die ganze Sache ausschließlich für sich selbst und für ihre nicht allzu zahlreichen Freunde machten, dass sie lediglich Unannehmlichkeiten zu erwarten hatten und das alles mit Geld und Karriere nichts zu tun hatte. Wer Geld und Karriere machen wollte, musste sich gänzlich anders orientieren. Und dann werden diese Leute nach ein paar Jahren der Mühen und Entbehrungen tatsächlich zu kommerziell erfolgreichen Superstars.
Das war eine Herausforderung, die alle ziemlich dramatisch durchlebten damals, und nicht alle haben das gemeistert.
Ich würde sagen, die letzten Jahre der 1980er und die erste Hälfte der 1990er, das war die Zeit, als diese Musikergeneration sich in der neuen sozialen Wirklichkeit selbst zu finden suchte. Als das für unerschütterlich gehaltene sowjetische Haus mit einem Mal anfing zu bröckeln und man lernen musste, mit einem neuen Status zu leben – dem eines erfolgreichen, gut verdienenden Musikers.
Meiner Meinung nach waren die 1990er für die russische Musik eine ziemlich verhängnisvolle Zeit. Es gab eine ganze Menge guter Sachen, zum Beispiel Grashdanskaja Oborona und die ihnen nachfolgenden sibirischen Punkgruppen, die in dieser Realität nicht heimisch wurden; oder der ganze aus Moskau und Tjumen stammende Underground, also Gruppen wie Solomennye Jenoty (dt. „Die Stroh-Waschbären“), Banda Tschetyrjoch (dt. „Die Viererbande“) und so weiter – das waren Leute, die sich komplett außerhalb der Medienöffentlichkeit befanden, die die neurussische Weltordnung explizit ablehnten und sich ihr – nicht auf der sozialen, sondern eher auf der existenziellen Ebene – widersetzten.
Ende der 1990er begann dann bereits eine völlig andere Geschichte, Mumi Troll (dt. „Der Mumin-Troll“) tauchte auf und nach ihnen eine regelrechte Welle von Bands, die so einen solide gemachten, westlich orientierten Trend-Pop mit menschlichem Antlitz und lebendigen, mysteriösen Texten machen. Unter anderem entstand auf dieser Welle auch [der Rock-Radiosender] Nasche Radio. Das war in gewisser Weise das Ende des Undergrounds und der Beginn einer neuen Popmusik-Ära.
Naja und alles, was dann in den 2000er Jahren kam … da ist ja im Prinzip alles bekannt. Allmählich bildete sich der russische Hip-Hop heraus, der heute, Mitte der 2010er Jahre, endgültig zur neuen Volksmusik geworden ist, zum russischen Chanson 2.0.
Andererseits verabschiedeten sich allmählich auch alljene Musiker, die seit den 1980er, 1990er Jahren dabeigeblieben waren und mit unterschiedlichem Erfolg weiter interessante oder auch uninteressante Sachen gemacht hatten. Abgesehen vom Hip-Hop in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen ist in den 2000er Jahren in Russland wahrscheinlich nichts Neues entstanden.
Und warum nicht? Wollen die Leute nichts Neues hören?
In den 1980ern war das, was einen jungen Musiker vor allem reizte, eine gewisse Weltflucht, der Versuch, einer drückenden und verhassten Realität zu entfliehen und sich eine ästhetische Nische zu suchen, in der man sich cool und stark, in der man sich als Held fühlen konnte.
In den 2000ern war der Anreiz ein vollkommen anderer – vor der Wirklichkeit fliehen wollte jetzt keiner mehr, im Gegenteil, man wollte sich allmählich in ihr einrichten. Die Rezepte dafür waren ja bereits da. Mach es wie Mumi Troll oder wie Semfira, halte dich an Splin oder auch an Korol i Schut. Bitte sehr, es gibt jede Menge Beispiele dafür, wie man es machen muss, wenn man Erfolg haben will.
Verlaufen die Entwicklungslinien von Musik und Gesellschaft deckungsgleich?
Nein, die Musik und die Gesellschaft bewegen sich in unterschiedliche Richtungen. Das heißt, es gibt vermutlich irgendeine Korrelation, aber die ist schwer zu erfassen, besonders wenn man so dicht dran ist. Im Nachhinein, mit einem Abstand von 10 bis 20 Jahren erkennt man die Zusammenhänge, aber so auf Anhieb ist das kaum zu erfassen.
Sie haben zu den Protesten auf dem Bolotnaja-Platz eine Tracklist erstellt …
Richtig, das habe ich damals.
Auf dieser Liste fanden sich all die üblichen Verdächtigen der 1980er und 1990er, darunter der besagte Zoi-Titel Peremen(dt. „Veränderungen“), die dort so offen gefordert werden …
Nennen Sie mir mal einen weiteren Titel von Viktor Zoi, der irgendeine Forderung beinhaltet.
Viele seiner Lieder haben einen offensichtlichen Subtext.
Nein. Die Leute machen sich immer an Peremen fest, als ob es das wäre, was Zoi ausgemacht hat. Meiner Ansicht nach hat es das überhaupt nicht. Seine extreme Popularität und sein unglaublicher, geradezu religiöser Status hatten überhaupt nichts mit dem Lied My shdjom peremen (dt. „Wir warten auf Veränderungen“) zu tun.
Wenn in Zois Musik der Zeitgeist zum Ausdruck kam, dann darin, dass er auf seinen letzten Alben ein unwahrscheinlich romantisches und zugleich äußerst tiefgründiges Bild vom Krieg als dem natürlichen Zustand der Menschheit entworfen hat. Einem Krieg, an dem teilzunehmen weder Sünde noch Übel oder Fluch ist, sondern ein ganz natürlicher Teil des Lebenskreislaufs, wenn auch nicht der erhebendste.
Das ist ein uraltes östliches Verständnis, das vor allem den jungen Menschen in jener extrem schweren Zeit damals offenkundig auf der Seele lag. Ich meine Krieg nicht im Sinne mit Waffengewalt ausgetragener Konflikte, sondern als Zustand des Konflikts mit der Realität auf den verschiedensten Ebenen.
Wenn es bei Zoi eine historische Mission gibt, dann nicht die, dass er die Leute darauf vorbereitet hat, vors Weiße Haus oder zum Bolotnaja-Platz zu ziehen, eher hat er sie für die zahlreichen Konflikte mit der Realität gewappnet, mit denen seine Hörer in den 1990er Jahren konfrontiert wurden. Zoi hat ihnen geholfen, diese Konflikte zu überstehen … denen, die noch am Leben geblieben waren.
Gibt es einen Viktor Zoi 2016?
Nein, den gibt es nicht. Es gibt niemanden, in dessen Liedern die Menschen heute Antworten auf die großen Fragen des Lebens suchen würden, dessen Lieder nahezu religiösen Status hätten.
Sollte denn ein Musiker seiner politischen Haltung außerhalb seiner Musik Ausdruck verleihen?
Ein Musiker sollte gar nichts. Du bist ein König: Leb allein auf deinem Thron. Ein Musiker macht das, was seiner Natur entspricht. Es gibt Leute, die kann man sich sofort auf den Barrikaden vorstellen, die begeben sich gerne in die Politik. Und es gibt solche, denen liegt das gänzlich fern. Das sind unterschiedliche Temperamente und unterschiedliche Schaffens- und Lebenswege. In dieser Frage lässt sich unmöglich eine allgemeingültige Regel aufstellen.
Apropos Politik in der Musik. Dass Juri Schewtschuk [damals] nach Grosny gefahren ist, wird nicht als Politik wahrgenommen – er hat ja eh alles, was er dort zu Gesicht bekommen hat, in Musik umgesetzt. Heutzutage machst du entweder Musik und redest generell nicht über soziale, politische Themen oder du redest drüber, aber dann wirst du automatisch zur politischen Figur …
Ich sehe Schewtschuks Reise nach Grosny definitiv nicht als musikalisches Ereignis. Er hat da am Lagerfeuer gesessen und zur Gitarre Poslednjaja Ossen (dt. „Der letzte Herbst“) gesungen. Und politisch war an der Aktion offen gestanden auch nichts. Es war eine ganz natürliche menschliche Geste: Da sterben unsere Jungs, sie machen dort eine schwere Zeit durch, und ich möchte bei ihnen sein.
Das Lied Kapitan Kolesnikow pischet vam pismo (dt. „Kapitän Kolesnikow schreibt euch einen Brief“;Kapitänleutnant Dimitri Kolesnikow war als Besatzungsmitglied der im August 2000 gesunkenen Kursk ums Leben gekommen – Anm.d.R.), das er später schrieb – einfach herzzerreißend – das ist auch so eine menschliche Geste. Es ist nicht gegen Putin, es ist nicht für Putin, es ist über Menschen, die auf dem Grunde des Meeres für ihre Heimat sterben, während diese Heimat sie längst vergessen hat.
Heutzutage kommt es vor, dass selbst eine einfache menschliche Geste am Ende eine Fernseh-Hetzjagd und abgesagte Konzerte zur Folge hat, wie es zum Beispiel Andrej Makarewitsch erlebt hat.
In der Situation eines tiefgreifenden inneren Konflikts, eines kalten Bürgerkriegs, wie wir ihn im Frühjahr 2014 erlebt haben – einer Situation, die gerne als völliger Triumph und als große Einigung des Volkes im Rausch der Begeisterung über die Krim-Annexion beschrieben wird, die in Wirklichkeit aber ein innergesellschaftlicher Konflikt von unglaublicher Heftigkeit war –, in einer solchen Situation kommt jedes zu diesem Konflikt geäußerte Wort einem Schuss gleich. Das liegt auf der Hand, und dafür braucht man nicht Makarewitsch zu sein.
Du postest auf facebook ein Foto von deinem Kätzchen, und sofort melden sich mehrere hundert Kommentatoren zu Wort, die sich gegenseitig an die Gurgel gehen und den Chochly dieses und den Moskali jenes anlasten. Wenn du dich dann auch noch zu diesem Konflikt äußerst, selbst wenn du einen allgemein menschlichen, humanistischen oder sonst einen Standpunkt vertrittst, wirst du für einen Teil der Gesellschaft auf jeden Fall zum erbitterten Feind.
Seit Ende der 1980er Jahre hat die russische Gesellschaft so etwas nicht gesehen, eine derart offen an den Tag gelegte Konfrontation.
Auf Ihrer Bolotnaja-Tracklist fanden sich neben Viktor Zoi Stücke von Aquarium, AuktYon, Grashdanskaja Oborona, ein paar Songs von DDT und Kasta. Welche aktuelleren Titel könnten auf Ihrer Protest-Tracklist von 2016 stehen?
Auf den Kundgebungen [damals] habe ich immer davon geträumt, Uprising von Muse aufzulegen und den Song bis zum Ende rauf und runter zu spielen. Alles andere ist dann schon ein Kompromiss. Was Besseres ist mir zu dem Thema bislang nicht eingefallen.
Es sind, so sagt die Redaktion, „Geschichten aus ihrem und unserem Leben“, die die Autorin und Journalistin Olga Beschlej (dekoder-Leser kennen sie schon) ab Ende Mai regelmäßig auf dem unabhängigen Online-Portal Colta.ru erzählt.
Schon der erste Text ihrer Reihe hatte Tausende Leser: Olga Beschlej fängt die Atmosphäre russischer Studentenwohnheime, die Unsicherheiten junger Erwachsener und die Unzulänglichkeit aller Schwarz-Weiß-Raster so gut ein wie kaum jemand sonst. Viel Spaß beim Lesen.
„I don’t mind saying hello at stations, but I don’t like saying good-bye.” Career Girls, Mike Leigh
I.
Meine Mutter hatte mich im Wohnheim abgesetzt mit einer großen Frischhaltebox voll hausgemachter Bouletten, Pfannen und einem Bademantel von derart ätzender Farbe, dass ich damit bei einem Wettbewerb der penetrantesten Damenbademäntel mit Sicherheit auf einem der vorderen Plätze gelandet wäre.
Meine neuen Zimmergenossinnen – zwei dicke, rotwangige Soziologiestudentinnen im dritten Studienjahr – beobachteten schweigend, wie ich meinen Koffer auspackte und unbeholfen das obere Stockbett mit dem Bettzeug von zu Hause bezog.
„Will jemand eine Boulette?“
Keine Antwort.
Insgeheim war ich froh, dass sie keine wollten. Die Bouletten würden nach meinen Berechnungen für drei Tage reichen.
Alles in allem war es ganz schön mies von meiner Mutter und meinem Vater – erst jahrelang auf Zehenspitzen herumzuschleichen und irgendwas zu murmeln von wegen „lass das Kind ruhig lernen“, und dann dieses Kind einfach in eine fremde Stadt zu karren und es dort mit irgendwelchem Haushaltszeug von unklarer Bestimmung sich selbst zu überlassen.
Ich konnte nichts.
Ich hatte noch nie einen Boden gewischt oder Geschirr gespült. Ich hatte noch nie ein Bett bezogen. Noch nie Wäsche gewaschen. Nie gekocht. Ich wusste nicht, wie lange ein Ei braucht, welches Wasser man zum Würstchen-Warmmachen nimmt und wie man Fleisch einkauft. Der Anblick des Wischlappens in der Gemeinschaftsküche ließ mich schaudern, und von glitschigen Makkaroni in fremden Töpfen bekam ich Magenkrämpfe.
Als ich am zweiten Tag hörte, dass in der Waschküche Ratten lebten, schwor ich mir, diese niemals zu betreten, und ich blieb diesem Schwur die folgenden fünf Jahre treu. Meine Wäsche transportierte ich alle zwei Wochen zum Waschen in meine hundert Kilometer von Moskau entfernte Heimatstadt.
Als ich am dritten Tag anrief und fragte, was ich denn essen solle, wenn die Bouletten alle wären, geriet meine Familie in Panik. Doch mein erster Einkauf verlief einwandfrei
Meine Mutter erklärte später, mein Schulabschluss, dann mein 17. Geburtstag im Juli, und dann der Beginn meines Studiums – das alles sei damals allzu plötzlich gekommen. Als ich am dritten Tag anrief und fragte, was ich denn essen solle, wenn die Bouletten alle wären, geriet meine Familie in Panik. Doch mein erster Einkauf verlief einwandfrei – auf Anhieb erstand ich für ein Drittel des gesamten mir überlassenen Geldes eine große Flasche kaltgepressten Orangensaft und war damit äußerst zufrieden. Mein neues Leben kam mir sogar mit einem Mal gar nicht mehr so schrecklich vor. Bis meine Zimmergenossinnen von mir verlangten, ich solle den Boden wischen.
„Wieso, gibt es denn hierfür keine Putzfrau auf der Etage?“, erkundigte ich mich.
„Nee. Aber du kannst ja deine Mutti rufen“, meinte die eine und lachte höhnisch. Ich sah auf den Eimer mit dem angetrockneten Lappen. Dann auf meine finster dreinblickenden Mitbewohnerinnen. Und dann trat ich auf den Gang hinaus, stapfte zur diensthabenden Etagenfrau und bat sie, mich umzuquartieren, weg von den garstigen Soziologinnen.
„Was hacken die bloß immer alle auf euch Journalisten rum“, knurrte die Diensthabende. „Im ersten Stock ziehen zwei Erstsemestlerinnen ein, die eine studiert auch Publizistik. Ich werd mal fragen, ob du nicht bei denen mit reinkannst.“
Am nächsten Tag stand ich in der Tür zu dem anderen Zimmer – mit meinem Koffer, der leeren, dreckigen Frischhaltebox, Pfannen und dem Bademantel, den die eine meiner neuen Zimmergenossinnen – eine dürre, finstere Blondine – prompt kommentierte:
„Echt krasses Farbdesign.“
Das war Latyschka, „die Lettin“, so nannte ich sie.
II.
Latyschka war am 9. Mai geboren. Eine sich selbst und anderen Menschen gegenüber derart schonungslose Person ist mir noch nie begegnet.
Eigentlich hieß sie Olga – wie ich. Ich fand es aber immer schon befremdlich, jemand anderen mit meinem eigenen Namen anzusprechen, deshalb hatte sie bei mir praktisch vom ersten Moment an ihren Spitznamen weg.
Geboren und aufgewachsen war sie in Riga. Sie hatte die russischsprachige Schule mit Bestnoten absolviert, es locker an die Wirtschaftsfakultät der führenden lettischen Universität geschafft, dort ein Jahr durchgezogen und war, unzufrieden mit der Qualität der dortigen Lehre, nach Russland gegangen.
Latyschka verfügte über beängstigende Leistungsfähigkeit und physische Stärke. Alles an ihr funktionierte wie eine Maschine: Abends legte sie sich hin und sank noch in der gleichen Sekunde in Schlaf, und morgens sprang sie aus dem Bett, sobald der Wecker schrillte. Ihre Angewohnheit, ins Zimmer zu stürmen, machte mich wahnsinnig, und an den Klang ihrer Schritte auf dem Flur erinnere ich mich noch genau – sie nahte heran wie etwas Unausweichliches.
Alles, was Latyschka tat, war ideal. Sie gab ihre Hausaufgaben rechtzeitig ab, lernte fleißig, hatte vom ersten Studienjahr an einen Job und versäumte keine Lehrveranstaltung. Ich flog wegen Spickens aus den Vorlesungen und bekam Stress wegen Schwänzerei. Morgens schlug ich die Augen auf, sah eine Minute lang zu, wie Latyschkas kornblumenblauer Bademantel durchs Zimmer wirbelte, machte den Wecker aus und zerfleischte mich, bis sie das Zimmer verließ. Mir schien, wenn man nicht in der Lage war, so zu lernen wie Latyschka, lohnte sich die Mühe erst gar nicht.
Ich war in allem schwächer als sie, träumte aber dennoch davon, ihr es einmal richtig zu zeigen und zwar bei zwei Dingen: Wenigstens ein einziges Mal wollte ich in Literatur besser abschneiden und wenigstens einmal einen politischen Disput gegen sie gewinnen.
Ich sage es gleich: Weder das eine noch das andere ist mir gelungen.
Innerhalb der Universitätsmauern war Latyschka unbesiegbar.
Alles an ihr funktionierte wie eine Maschine: Abends legte sie sich hin und sank noch in derselben Sekunde in den Schlaf und morgens sprang sie aus dem Bett, sobald der Wecker schrillte. An den Klang ihrer Schritte auf dem Flur erinnere ich mich genau – sie nahte heran wie etwas Unausweichliches
Das erste Mal stritten wir uns gleich zu Beginn des Studiums. Wir kamen aus einer Vorlesung. Vermutlich politische Geschichte. Ich hatte irgendeine Bemerkung über die despotischen Neigungen unseres Präsidenten losgelassen, da sagte Latyschka plötzlich, ich würde Müll reden.
„Jetzt sag bloß, du stehst auf ihn.“ Ich lachte laut auf.
„Ich habe große Achtung vor dem Präsidenten des Landes, dem ich so viel zu verdanken habe“, erwiderte Latyschka gemessen. „Ich kann eben dankbar sein.“
„Was meinst du damit – viel zu verdanken?“
„Ich bin aus Lettland hierhergekommen und habe keine russische Staatsbürgerschaft. Man hat mir die Chance gegeben, bei den Prüfungen gleichberechtigt mit den russischen Studenten die Aufnahmeprüfungen zu machen und umsonst an einer der besten Unis zu studieren, ich kann im Studentenwohnheim wohnen und ich bekomme ein Stipendium.“
„Ja schön, und was willst du mir damit sagen?“
„Dass du genauso Grund hättest, dankbar zu sein.“
Diese Argumentation haute mich derart um, dass wir eine Weile schweigend nebeneinander hergingen. Bis zu dem Zeitpunkt hatten wir nie über Politik diskutiert, aber ich war aus irgendeinem Grund fest davon ausgegangen, dass Latyschka meine Ansichten teilte. Oder vielmehr die Ansichten meiner Familie. Die Küchenbetrachtungen meines Vaters waren mir immer derart logisch, zutreffend und zwingend erschienen, dass ich mir einfach nicht vorstellen konnte, in Moskau, zumal an der Moskauer Universität, könnte jemand anders argumentieren.
Dabei hatten Latyschkas Worte mich nicht bloß überrascht. Ich bekam regelrecht Schiss, ich hatte es nämlich nicht gelernt zu streiten. Die paar jämmerlichen Male, die einer meiner Klassenkameraden von seinen Sympathien für den Präsidenten gesprochen hatte, hatte ich die Betreffenden einfach voller Geringschätzung angesehen und gedacht, was kapieren die schon. Aber Latyschka voller Geringschätzung ansehen ging gar nicht. Erstens schien sie mir ungeheuer klug. Zweitens sah sie mich schon voller Geringschätzung an.
„Ich soll also dem Präsidenten dankbar dafür sein, dass ich umsonst studieren darf?“, fragte ich schließlich. „Aber das ist doch … also ist doch eigentlich gar nicht sein Verdienst. Das ist sowas wie unsere Vereinbarung mit dem Staat, oder? Dass Bildung nichts kostet, war außerdem schon zu Sowjetzeiten der Fall. Das hat sich doch nicht Putin ausgedacht.“
„Ausgedacht nicht“, stimmte Latyschka zu. „Aber dank Putin kann der Staat dafür aufkommen.“
„Zu Jelzins Zeiten hat das Studieren auch nichts gekostet.“
„Zu Jelzins Zeiten waren die Menschen damit beschäftigt zu überleben. Unter Putin kannst du nicht nur irgendwie studieren, sondern sogar noch unter würdigen Bedingungen.“
„Naja, unsere Uni ist einfach ziemlich reich. Das ist ja nun nicht überall so.“
„Aber immerhin bist du an dieser Uni genommen worden. Und deine Eltern bezahlen dafür keinen Rubel.“
„Was meinst du, was die für meine Repetitoren abdrücken mussten!“
„Na gut, aber das ist eine Frage deiner persönlichen Fähigkeiten. Ich habe kein Geld für Repetitoren ausgegeben.“
Ich kochte vor Wut.
„Wir studieren doch Publizistik! Und Putin schafft die Meinungsfreiheit ab!“
„Freiheit ohne Kontrolle geht nicht. Und er hat Maßnahmen ergriffen, die notwendig waren. Ich sehe nicht, dass die Presse hier ernsthaft drangsaliert würde. Es gibt die Novaya Gazeta, Echo Moskvy, den Kommersant, Vedomosti, das ganze Internet.“
‚Ich habe große Achtung vor dem Präsidenten des Landes, dem ich so viel verdanke‘, erwiderte Latyschka gemessen. ‚Ich kann eben dankbar sein. Unter Putin kannst du nicht nur irgendwie studieren, sondern sogar unter würdigen Bedingungen. Du hättest genauso Grund, dankbar zu sein‘
Sämtliche Argumente, die ich in der elterlichen Küche gehört hatte, zerschellten an der unerschütterlichen Überzeugtheit in Latyschkas Stimme in tausend Stücke. Ich bedauerte auf einmal, dass ich meinen Vater nicht einfach aus der Manteltasche ziehen konnte.
„Und was ist mit dem Mord an Politkowskaja?“, fiel mir endlich noch ein. „Nach der Sache können wir uns in unserem Beruf wohl kaum noch sicher fühlen!“
Latyschkas Gesicht verfinsterte sich. Sie hatte [damals vor Anna Politkowskajas Haus – dek] in der Lesnaja Uliza Blumen niedergelegt.
„Für das Material, das sie geliefert hat, hätte die Politkowskaja auch in jedem anderen Land der Welt ermordet werden können. Journalismus ist einfach gefährlich, Beschlej. Aber du hast bisher nichts zu befürchten. Wenn du eine Politkowskaja werden willst, hör zuallererst mal auf, dich vor dem Küchenlappen zu fürchten.“
III.
Heute heißt es auf der Homepage des Studentenwohnheims, in das ich 2006 einzog, die 14,5 Quadratmeter großen Zimmer seien mit jeweils zwei Studierenden belegt, auf jeder Etage gebe es zwei Duschräume mit Einzelduschen und die Küchen seien rund um die Uhr offen. Sei‘s drum, zumindest weiß ich jetzt, was sich in den letzten zehn Jahren alles zum Besseren verändert hat.
Ich erinnere mich an keine einzige Vorlesung. Doch, ich erinnere mich, wie Latyschka und ich in Makroökonomie einen Streit wegen des lettischen Präsidenten hatten
Zu unseren Zeiten wohnte man jedenfalls zu dritt, und ich erinnere mich noch gut an die stickige Luft morgens in unserem Zimmer und an den Geruch des Waschschwamms aus der Schüssel unter meinem Bett. In den ersten drei Jahren gab es einen einzigen Duschraum – riesig und gnadenlos ohne Vorhänge oder Kabinen, dank dem mir die anatomischen Besonderheiten meiner Kommilitoninnen heute besser in Erinnerung sind als ihre Nachnamen. Die Küchen schlossen die Etagenfrauen nachts immer ab. Warum sie das taten, wusste keiner, aber es wollte sich auch keiner mit ihnen anlegen.
Mit Latyschka und Katja – unserer dritten Zimmergenossin, einer Psychologiestudentin – habe ich ein Fünftel meiner Lebenszeit verbracht. Wenn ich heute jedoch versuche, diese Jahre im Detail zu rekonstruieren, entsteht in meinem Kopf eine Art Ansammlung von Episoden, die zusammengenommen wahrscheinlich eine Zeitspanne von einigen wenigen Tagen ergeben. Vielleicht eine Woche.
Also, ich stehe morgens auf oder ich stehe nicht auf, sondern schlafe bis mittags. Ich trödele in der Gemeinschaftsdusche rum. Ich ziehe mich an, komme immer und überall zu spät. Ich gehe zur Uni. Oder gehe nicht zur Uni, sondern zwei Treppen runter in den gelb gekachelten Raucherraum und lasse dort lange Zeit Ringe an die verqualmte Decke steigen. Oder ich gehe raus, Richtung Kirche. Es ist grauer Herbst. Oder Frühling. Aus irgendeinem Grund kann ich mich nicht an Winter erinnern. Ich rauche. Der Weg den Hügel hinauf. Das goldene Schild der Universität. Erster Stock, zweiter Stock. Die Plastiktüren. Die engen Bänke.
Ich erinnere mich an nichts. An keine einzige Vorlesung. Doch, ich erinnere mich, wie ich in Westlicher Literatur Würstchen mit Ketchup gegessen habe. Und wie Latyschka und ich in Makroökonomie einen Streit wegen des lettischen Präsidenten hatten.
Bei uns galt damals als chic, Wirtschaftszeitungen dabeizuhaben, doch im Unterschied zu den meisten anderen las Latyschka die gesamte Presse auch tatsächlich durch
Es war im zweiten Studienjahr. Ich hatte die Vedomosti mit in die Vorlesung gebracht, und Latyschka hatte sie mir natürlich prompt abgeknöpft. Bei uns galt damals als chic, Wirtschaftszeitungen dabeizuhaben, doch im Unterschied zu den meisten anderen las Latyschka die gesamte Presse auch tatsächlich durch. Rasch überflog sie die Spalten, schlug die Zeitung auf der Pultbank auf und fing an, auf dem Foto des damaligen lettischen Präsidenten Valdis Zatlers herumzukritzeln.
Die Dozentin – eine stramme Kommunistin, die uns in Makroökonomie unterrichtete -, schritt gemächlich vor der Tafel auf und ab.
Ich flüsterte:
„Auf den stehst du nicht so oder wie?“
„Stimmt.“
„Und wieso?“
Latyschka bedachte mich mit einem abfälligen Blick.
„Der Typ ist einfach ein Niemand“, entgegnete sie nach einer Pause.
„Wie meinst du das?“
„Ich weiß gar nicht, wer er ist. Zwei Wochen vor seiner Ernennung haben sie ihn uns vorgestellt. Ein Arzt, Traumatologe. Nicht mal ein Programm hatte er vorzuweisen.“
„Naja, also so viel besser ist die Lage ja bei uns nun auch nicht“, hob ich zaghaft an. „In dem Land, das du dir ausgesucht hast, wird der Präsident auch nicht gewählt.“
„Du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, wie wenig er in Lettland gewählt wird. Er wird von den Parlamentsabgeordneten bestätigt, nicht vom Volk.“
„Aber das Parlament, das wählt ihr doch.“
„Und ihr wählt sowohl das Parlament als auch den Präsidenten!“
„So ein Schwachsinn. Wir wählen hier überhaupt niemanden!“ Langsam war ich echt genervt. „Es geht doch die ganze Zeit nur um den ‚Erben‘. ‚Nachfolger-Wahlen‘. Wenn ich das schon höre! Stößt dir an der Formulierung nichts auf?“
„Putin habt ihr selber gewählt. Ihr, das russische Volk, seid zur Wahl gegangen und habt für ihn gestimmt. Und für seinen Nachfolger werdet ihr auch stimmen.“
„Bei uns ist die große Mehrheit einfach nicht ganz dicht, das ist alles.“
„Da musst du dich jetzt mal entscheiden: Sind die Leute bei euch nicht ganz dicht oder stimmt was mit Putin nicht?“
„Die haben hier alle einen an der Waffel. Ganz Russland hat einen an der Waffel.“
„Nicht Russland hat einen an der Waffel, du bist es, die hier einen an der Waffel hat. Du hast doch alles, deine Familie hat alles, was willst du denn noch? Wenn’s dir hier nicht gefällt, kannst du ja auswandern.“
„Was weißt du denn bitte über meine Familie? Meine Eltern haben einen kleinen Laden. Aber früher, da hatten sie drei kleine Läden. Jetzt haben sie nur noch den einen, die Steuern, die Miete, ständig steht der Brandschutz auf der Matte.“
Ich kochte vor Wut. Wut auf sie – weil sie so selbstsicher und so überzeugend war, und auf mich selbst – weil ich angefangen hatte zu zweifeln
„Die Situation der Kleinunternehmer ist mir nicht so geläufig, aber ich sehe das große Ganze. Das Bruttoinlandsprodukt steigt, die Einkommen steigen, meine Oma in Lettland bekommt inzwischen eine russische Rente ausgezahlt. Kann sein, dass es speziell deine Familie nicht so gut getroffen hat, aber das heißt ja nicht, dass allgemein alles schlecht ist. Aber wenn du nicht bereit bist abzuwarten, dass das Land sich entwickelt, wenn du nicht bereit bist, deinen Beitrag zu leisten, dann hau doch ab! Ich bin dazu bereit. Ich will die Staatsbürgerschaft, ich will hier leben und arbeiten. Und du haust eben ab! Niemand hindert dich. Setz dich irgendwo ins gemachte Nest.“
„Und wie ich abhauen werde, da kannst du Gift drauf nehmen“, knurrte ich.
Latyschka vertiefte sich demonstrativ in ihre Aufzeichnungen, während ich noch etwa fünf Minuten brauchte, um meine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Ich kochte vor Wut. Wut auf sie – weil sie so selbstsicher und so überzeugend war, und auf mich selbst – weil ich angefangen hatte zu zweifeln.
Mehr als alles auf der Welt wünschte ich mir in diesem Augenblick – wie auch später nach jedem unserer Streits wieder – die Zukunft möge jetzt sofort anbrechen und sich als derart furchtbar herausstellen, dass selbst Latyschka mir nicht mehr würde widersprechen können.
IV.
Mit der Zeit hörte ich auf, mit ihr zu streiten. Latyschkas Autorität hatte sich in meinen Augen mit jedem Jahr weiter gefestigt. Außerdem lebte ich in der ständigen Angst, sie könnte mir die ungewischten Böden vorhalten.
„Ich will leben wie in Europa!“
„Aber du hast seit drei Jahren den Boden nicht gewischt!“
Doch Latyschka hielt einem nichts vor. In regelmäßigen Abständen nahm sie demonstrativ den Schrubber zur Hand, wischte damit zwei Minuten lang grimmig über den Boden – wobei man sagen muss, dass es im Zimmer davon nicht sauberer wurde – und setzte sich wieder an ihr Notebook. Wirklich gewischt hat den Boden lediglich Katja – jedoch derart leidend und still, dass niemand von uns ihre Mühen würdigte oder überhaupt nur zur Kenntnis nahm.
Latyschka machte Karriere beim staatlichen Rundfunksender. Ich schleppte mich einmal die Woche zum Praktikum in der Wirtschaftsredaktion des Kommersant
Was mich betraf, war jedoch durch Latyschkas Bemühungen bereits zu Beginn des zweiten Studienjahres das Bild einer faulen dummen Gans aus reichem Hause fest verankert. Und – ich kann es nicht verhehlen – ich entsprach diesem Bild von Jahr zu Jahr mehr.
Latyschka machte Karriere beim staatlichen Rundfunksender. Ich schleppte mich einmal die Woche zum Praktikum in der Wirtschaftsredaktion des Kommersant, tat dort absolut nichts, was irgendeinen Nutzen gehabt hätte, ging dem stellvertretenden Chefredakteur der Abteilung auf die Nerven und sah dafür selbstredend kein Geld.
Im dritten Studienjahr hielt es Latyschka nicht mehr aus und sagte mir ganz direkt:
„Ich kann keinen Respekt vor dir haben, Beschlej. Du bist neunzehn Jahre alt und hängst deinen Eltern am Hals. Ich würde das ja alles noch verstehen, wenn du wenigstens studieren würdest. Aber du studierst nicht. Du schläfst bis mittags, machst das Zimmer nicht sauber, hängst stundenlang im Raucherraum rum und verfrisst irre viel Geld. Zur Zeitung gehst doch du bloß für den äußeren Schein. Oder wo sind deine Artikel? Na?“
Ich hatte ihr eigentlich eine von mir entworfene Grafik aus der letzten Ausgabe zeigen wollen, auf die ich sehr stolz war. Aber unter Latyschkas eisigem Blick kam sie mir mit einem Mal farblos und armselig vor.
Ich machte mich auf die Suche nach einem neuen Job und fand schnell was bei einer neu gegründeten Wirtschaftszeitung. Dort wurde ich die ganze Zeit angeblafft und runtergeputzt, von früh bis spät schlug ich mich mit irgendwelchen Zahlen herum, brachte alles durcheinander und machte mir große Sorgen, dass sie mich feuern würden. Dafür schien Latyschka sehr zufrieden mit mir und ersetzte zeitweise ihren herablassenden Ton durch freundschaftliche Anteilnahme.
Ich konnte mir nur beim besten Willen nicht vorstellen, dass es in Zukunft keine Latyschka mehr geben sollte. Sie stand für alles, wovon ich träumte. Und ich hoffte auf Anerkennung von ihr
Im vierten Studienjahr wurde mir das Leben vollends zur Qual. Zu dem umfangreichen Arbeitspensum kamen die Vorbereitungen auf die Prüfungen und das Diplom. Wir schliefen so gut wie gar nicht mehr. Latyschka verwandelte sich endgültig in einen Roboter und ich mich in ein zutiefst unglückliches, nölendes Wesen.
Manchmal schlich ich mich früh morgens hinunter in den Raucherraum, stellte mich an das Fenstergitter, blies Rauch durch die Stäbe und dachte an die Zeit, wenn das alles vorbei sein würde. Wenn es kein Studium mehr gäbe. Ich nicht mehr eine kleine dumme Reporterin wäre. Ich mich bis zur Redakteurin hochgedient hätte und selber alle anblaffen würde. Ich mir eine eigene Wohnung mieten und in meiner eigenen Küche rauchen würde.
Ich konnte mir nur beim besten Willen nicht vorstellen, dass es in dieser Zukunft keine Latyschka mehr geben sollte.
Sie stand für alles, wovon ich träumte. Und ich hoffte auf Anerkennung von ihr.
V.
Inzwischen weiß ich, dass auch Latyschka ein ganz ähnliches Gefühl – das Gefühl einer unerträglichen Schwere des Erwachsenenlebens – hatte. Uns fehlte in allem, was mit uns geschah und was wir erlebten, Freude und irgendetwas Menschliches.
Um der Tristesse des Wohnheims und einer bestimmten kaum zu ertragenden Stallatmosphäre des Bürolebens zu entfliehen, verliebte ich mich in einen Unidozenten und erklärte von nun an alles mit meinem Liebeskummer. Ich rauche zu viel – denn ich leide. Ich lerne schlecht – denn ich leide. Ich hab den Küchendienst verpennt – ich leide. Ich bin zu spät – habe wieder die ganze Nacht gelitten. Von meinem Leiden wurde mir leichter ums Herz.
An die Wahrhaftigkeit dieser Liebe glaubte Latyschka keine Sekunde, doch schwang sie sich nicht auf, sie mir abzusprechen. Lügen konnte ich noch nie und so litt ich tatsächlich, mit Heulen, hysterischen Szenen, Verzweiflung und Alkohol. Unbeholfen versuchte sie mich zu trösten, aber Gespräche über meine Gefühle fielen ihr nicht leicht – man konnte merken, nicht, dass sie für solche Situationen keine Worte gehabt hätte, aber ihr fehlte irgendwie eine bestimmte Art von Reaktionen.
Ich stand auf. Öffnete den Mund. Und bekam mit einem Mal kein Wort heraus. Ich stand eine Zeitlang da und setzte mich wieder hin
Nie werde ich den Tag im vierten Studienjahr vergessen, an dem ich mich fürchterlich blamierte.
Der Dozent – der besagte – stellte im Seminar die Frage nach der Definition der Verfassunggebenden Versammlung. Die gesamte Seminargruppe schwieg hartnäckig und ich entschloss mich, die Situation zu retten. Ich würde aufstehen und diese ausgesprochen einfache Frage beantworten. Ich stand auf. Öffnete den Mund. Und bekam mit einem Mal kein Wort heraus. Ich stand eine Zeitlang da und setzte mich wieder hin.
Abends nahm mich Latyschka, die zu einer anderen Seminargruppe gehörte und die Szene nicht miterlebt hatte, ins Verhör:
„Das heißt also: Du warst vor lauter Liebe nicht imstande, die Frage zu beantworten, was die Verfassunggebende Versammlung ist? Wie ist so etwas möglich?“
Sie sah mich mit einer Mischung aus Besorgnis, Verärgerung und Neugier an. Als würde ich ihr gleich ein lebenswichtiges Geheimnis offenbaren. Ich war verheult, verquollen und konnte ihr keinerlei schlüssige Auskunft geben.
„Ich weiß nicht. Ich bin aufgestanden, habe ihn angesehen, und meine Kehle war plötzlich wie zugeschnürt, so ein Druck auf der Brust, weißt du.“
„Vor lauter Liebe?“
„Ich weiß nicht … ich denke schon, ja, vor lauter Liebe.“
Latyschka ging ein paarmal im Zimmer auf und ab, setzte sich dann und hob in bedeutendem Ton an zu sprechen – so hatte sie mit mir noch nie gesprochen. Beinahe auf Augenhöhe.
„Nur etwas wirklich Großes kann einen Menschen daran hindern, die einfache Frage zu beantworten, was die Verfassunggebende Versammlung ist, Beschlej. Ich wünschte, ich würde so etwas empfinden.“
VI.
Ich denke nicht, dass die Veränderungen, die in Latyschka vorgingen, durch mich und meine alberne Verliebtheit ausgelöst wurden, mit der ich unser ganzes Zimmer nervte. Ich denke, irgendetwas in ihr war schon vorher in Gang gekommen.
Sie entwarf neue Programme und Formate. Schrieb fortwährend irgendwelche Konzepte. Machte Präsentationen. Jedes Mal endete es mit einer Enttäuschung. Und jedes Mal hatte diese Enttäuschung etwas von kindlichem Erstaunen
Mir fällt zum Beispiel ein, dass sie von Jahr zu Jahr mehr über die Arbeit klagte. Irgendwann war sie auf die Idee gekommen, sie könne bei dem Radiosender, bei dem sie arbeitete, eine Art Fortschrittsmotor werden. Sie sprach von Reformen, träumte davon, den schwerfälligen Koloss von Staatsorgan Schritt für Schritt in Richtung einer besonnenen Effizienz zu manövrieren. Sie entwarf neue Programme und Formate. Schrieb fortwährend irgendwelche Konzepte. Machte Präsentationen. Arbeitete Wohltätigkeitsprojekte aus. Jedes Mal endete es mit einer Enttäuschung. Und jedes Mal hatte diese Enttäuschung etwas von kindlichem Erstaunen. „Ich verstehe nicht“, sagte sie dann, „ich verstehe nicht, warum die sich nicht verändern wollen. So würde es doch allen besser gehen.“
Immer häufiger schickte sie mir Meldungen, über die sie sich aufregte. Sie redete von der Schwäche der russischen Wirtschaft, der Erdölabhängigkeit, der Ineffizienz der Staatsmacht, der schlechten Qualität der Ausbildung. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir ihre Einbürgerung und ihren ersten russischen Pass gefeiert hätten.
Nachdem wir den Bachelor abgeschlossen hatten (sie – mit Rotem Diplom, ich – mit Mühe und Not), begannen wir gemeinsam den Master. Ihre Uni-Verdrossenheit nahm rasant zu. Sie begann Vorlesungen zu schwänzen, lieferte schlechte Klausuren ab. Und verkündete kurz vor den Sommerprüfungen, sie werde das Studium schmeißen. In ihrer üblichen schroffen Art erklärte sie, das Masterstudium habe ihre Erwartungen nicht erfüllt und es gebe außer dem Studieren noch so viel anderes Wertvolles im Leben. Eines Tages packte sie ihre Sachen und weg war sie.
Latyschkas Entschluss erschütterte mich. Mehre Tage war ich vollkommen in Aufruhr. Latyschkas leeres Bett mit der meerwellenfarbenen Synthetikdecke darauf versetze mich in größte Unruhe. Nachts bog sich das Metallfedernetz ihres Bettes nicht mehr durch, es blieb ganz still. Da oben war niemand mehr.
Mir grauste.
Ich überlebte mit Mühe und Not die Prüfungen, aber noch im selben Sommer wurde mir klar, dass ich das zweite Masterjahr nicht mehr weitermachen würde. Ohne Latyschka hatte das Studium vollkommen seinen Sinn verloren – mir war mein Bezugspunkt abhandengekommen.
Die nächsten beiden Jahre trafen wir uns hin und wieder, blieben in Kontakt.
Sie machte weiter Karriere und bekam immer wieder neue Stellen. Doch bereits damals sagte sie mir bei jedem unserer Treffen, sie sehe keine Perspektive. Fühle sich oft kraftlos und apathisch. Sie war genervt von ihren Chefs und der Zensur. Nach der Verkündung der Präsidenten-Rochade im September 2011 hörte ich Latyschka zum ersten Mal etwas murmeln wie „Zeit die Zelte hier abzubrechen“.
‚Du darfst nicht vergessen, dass unsere Sendungen in der gesamten GUS laufen, Beschlej. Jetzt haben sie Nawalny in Tadschikistan, Usbekistan und Kirgistan gehört. Das war eine ganz schön subversive Aktion.‘ Kurz darauf fing sie plötzlich mit den Massage-Kursen an
Sie legte sich Hobbys zu, die man keinesfalls von ihr erwartet hätte – Fengshui, Psychologie, Horoskope. Sie probierte verschiedene Extremsportarten aus und hatte sich einen merkwürdigen Typen angelacht, der, wie sie behauptete, mit bloßem Blick Schlösser knacken konnte. Dann fing sie an, sich mit östlichen Praktiken zu beschäftigen und liebäugelte mit verschiedenen Religionen. Sie machte Urlaub in Tibet und als sie zurückkam, tötete sie keine Mücken mehr.
Ihr Interesse an der uns umgebenden Wirklichkeit flackerte auf in der Zeit der Proteste 2011/2012. Sie stürzte sich aufs Neue kopfüber in ihre Arbeit. Nur dass sie dieses Mal diejenige sein wollte, die alles von innen heraus ins Wanken bringt. Sie triumphierte jedes Mal, wenn es ihr gelang, in einer Nachrichtenmeldung inoffizielle Zahlen zur Anzahl der Kundgebungsteilnehmer einzuschleusen, wenn sie Zitate von den Protestanführern oder auch einfachen Teilnehmern unterbringen konnte. Doch mit der Zeit wurden die Protestnachrichten abgelöst durch eine regelrechte Welle von Verhaftungsmeldungen, später waren es Berichte von den Gerichtsverfahren. Latyschkas Enthusiasmus erlosch. Ihre letzte Heldentat war eine Rede Alexej Nawalnys nach einer seiner Verurteilungen, die sie persönlich auf Sendung schaltete.
„Mann, du bist echt cool“, sagte ich damals zu ihr.
Latyschka wirkte nicht glücklich.
„Du darfst nicht vergessen, dass unsere Sendungen in der gesamten GUS laufen, Beschlej. Jetzt hat man Nawalny in Tadschikistan, Usbekistan und Kirgistan hören können. Das war eine ganz schön subversive Aktion.“
Ich bin aber bis heute der Meinung, dass sie damals mutig gehandelt hat.
Binnen kurzem hatte sie ihren eigenen Kundenstamm. Die Arbeit beim Radio wurde mittlerweile bloß noch als Störfaktor thematisiert
Kurz darauf fing sie plötzlich mit den Massage-Kursen an. Ich dachte, dieses Hobby würde ebenso schnell wieder verschwinden wie die übrigen. Doch kaum hatte Latyschka einen Kurs absolviert, fing sie schon den nächsten an. Und dann noch einen. Bald knetete sie mir und meinen Freunden regelmäßig den Rücken durch. Binnen kurzem hatte sie ihren eigenen Kundenstamm. Die Arbeit beim Radio wurde mittlerweile bloß noch als Störfaktor thematisiert.
„Weißt du, das ist … das ist so ein Glück, wenn deine Arbeit darin besteht, jemandem etwas Gutes zu tun“, erklärte mir Latyschka. „Darüber habe ich früher nie nachgedacht. Ich wusste nicht, wie wichtig das ist – nicht einfach nur nichts Böses, sondern etwas Gutes zu tun, etwas Richtiges und Notwendiges.“
Sie nahm sich alles sehr zu Herzen. Als klar war, es würde darauf hinauslaufen, dass sie die Arbeit beim Sender aufgab, brach bei ihr eine offensichtliche Krise aus. Ihr Job war gut bezahlt, sie hatte eine gute Wohnung, einen hohen Posten. Und schließlich war da ihre Mutter in Lettland, so stolz, dass ihre Tochter in die „historische Heimat“ zurückgekehrt und dort so erfolgreich war.
„Wie kann ich das alles aufgeben, Beschlej? Was sage ich meiner Mutter? Und was werden all die anderen Leute sagen? Unsere Kommilitonen? Meine Kollegen?“
Und ich, die ich ihr mehr als irgendjemand sonst sagen konnte und wollte, gab zur Antwort:
„Weißt du was, die können dich alle mal. Na gut, alle bis auf deine Mutter.“
Ende Mai will sie die Aufnahmeprüfungen ablegen. Mit dem europäischen Diplom in der Tasche hofft sie dann später irgendwo in Europa arbeiten zu können
Beim Sender kündigte sie kurz nach den Krim-Ereignissen von 2014. Und machte dann eine Pilgertour auf dem Jakobsweg, bis nach Santiago de Compostela.
Ihre Reiseberichte schickte sie an die Zeitschrift, bei der ich damals arbeitete. Ich redigierte ihre Texte, las grollend von dem WEG, den „jeder für sich finden sollte“, während ich ihre Fotos betrachtete, die so farbenfroh waren und so surreal in meinem staubigen Büro.
„Okay“, dachte ich, „früher oder später wird sie ja zurückkommen.“
VII.
Latyschka ging zurück nach Lettland.
Der Umzug zog sich quälend lange hin. Immer wieder hatte sie irgendwelche Sachen vergessen, derentwegen sie noch einmal wiederkam. Wir hatten uns bestimmt schon dreimal verabschiedet.
Im Februar endlich war es so weit.
Sie hat sich in Riga eine Wohnung gemietet. Ihr eigenes Geschäft angemeldet. Sie massiert jetzt legal, zahlt Steuern. In Moskau war das aus irgendwelchen Gründen äußerst schwierig und vollkommen unrentabel gewesen.
Der Käse sei in Lettland jetzt viel besser als damals, als sie wegging, schrieb sie.
Ende Mai will sie die Aufnahmeprüfungen für die Medizinische Universität ablegen. Mit dem europäischen Diplom in der Tasche hofft sie dann später irgendwo in Europa arbeiten zu können.
Ich denke oft daran, wie ich ihr eines Nachts, kurz vor den Abschlussprüfungen, meinen Gedanken vorstellte, dass irgendwo schon jetzt die Zeit und der Raum existieren, wo alles, was jetzt ist, bereits hinter uns liegt:
„Nehmen wir mal an, es sind zum Beispiel fünf Jahre vergangen. Es ist Nacht wie jetzt. Du liegst im Bett. Wo liegst du da?“
„Ich habe keine Ahnung. Aber ich hoffe, es wird nicht allzu weit bis zum Meer sein. Ich vermisse das Meer. Und du, Beschlej?“
„Ich weiß es auch nicht. Aber ich hoffe, ich habe dann eine gute Matratze.“
In der Beziehung zwischen Russland und der EU nimmt Griechenland eine besondere Stellung ein: Die Verbindungen zwischen den orthodoxen Staaten sind traditionell eng, beide betrachten sich als Erben der byzantinischen Welt.
Seit 2014 und den Ereignissen in der Ukraine sind Russlands Freunde in EU-Europa rar geworden. Wohl nicht ohne Grund erinnerte Putin nun, kurz vor seinem zweitägigen Besuch in Athen und dem russisch-orthodoxen Mönchskloster auf dem heiligen Berg Athos, in einem Gastbeitrag in der konservativen griechischen Tageszeitung Katherimini an die historische Verbundenheit der beiden Staaten: Moskau sucht den Schulterschluss mit Athen.
In Griechenland ist das politische Spektrum stark polarisiert, sowohl linke wie rechte Parteien sind einflussreich, bei einer schwachen Mitte. Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch in anderen EU-Ländern beobachten. Umso aufschlussreicher kann ein Blick auf die griechisch-russischen Konstellationen sein, wie ihn Leonid Ragosin von The New Times unternimmt: Wie stehen die unterschiedlichen Strömungen der griechischen Politik zu Russland? Ist Athen wirklich der engste Verbündete Moskaus in der EU?
Im Oktober 2015 versammelten sich in einem verqualmten und graffitibedeckten Hörsaal der Athener Technischen Universität Vertreter von 30 linken Organisationen aus 15 europäischen Ländern zum „antifaschistischen Forum" – European Forum for Donbass. Der Stadtteil, in dem das sogenannte Polytechnio liegt, war immer eine Hochburg der Linksradikalen gewesen: Noch vor kurzem wagte sich die Polizei, mit der die jungen Kommunisten und Anarchisten traditionell auf Kriegsfuß standen, kaum hierher. Die Versammelten einte der Wunsch, die Bewohner des Donbass in ihrem Kampf gegen die „ukrainischen Faschisten“ zu unterstützen.
In breiter Front
Auf dem Podium saßen, vor einer mit roten Hammer-und-Sichel-Fahnen behängten Wand, griechische Kommunisten, Gäste aus dem Donbass und ein junger Deutscher in einem grünen Trikot mit einer – russischsprachigen – „Pro Gaddafi“-Aufschrift.
Der Headliner der Veranstaltung, Sergej Marchel, war ein ehemaliger IT-Mann aus Odessa, der die Ukraine verlassen hat und jetzt in ganz Europa Veranstaltungen zur Unterstützung des Donbass organisiert. Er erklärte, die Teilnehmer hätten sich darauf verständigt, ein internationales antifaschistisches Forum zu gründen.
„Wir haben einen Beschluss darüber gefasst, dass weltweit in allen Ländern eigene Untereinheiten für den Kampf gegen den Faschismus aufgebaut werden sollen, damit alle freiheitsliebenden Menschen in Frieden leben können“, erläuterte Marchel.
Der griechische Organisator Andreas Safiris war selbst im Mai 2015 im Rahmen einer humanitären Hilfsaktion in den Donbass gereist. „Dort werden einfache Menschen zu Helden“, erinnerte sich der von der Standhaftigkeit der Donbass-Bewohner begeisterte Safiris in unserem Gespräch. „Sechzigjährige Frauen erklärten uns, sie würden lieber hungern und sterben als unter die Herrschaft der ukrainischen Faschisten zu geraten.“
Wir haben einen Beschluss darüber gefasst, dass weltweit in allen Ländern der Welt eigene Untereinheiten für den Kampf gegen den Faschismus aufgebaut werden sollen, damit alle freiheitsliebenden Menschen in Frieden leben können
Die griechische Delegation hatte damals unter anderem den Lugansker Separatistenführer Alexej Mosgowoi getroffen – die Reise fand zwei Wochen vor dessen Tod statt. Die Mosgowoi-Brigade „Prisrak“ [Gespenst – dek] genoss bei den europäischen Linken Kultstatus, weswegen sich Spanier, Franzosen, Griechen und zahlreiche andere ihren Reihen angeschlossen hatten.
„Ich war aber doch erstaunt, da ein Foto von Mosgowoi mit einem Porträt von Zar Nikolaus II. zu sehen. Ich hatte den Eindruck, der Mann ist Monarchist“, berichtete ein Teilnehmer, der anonym zu bleiben wünschte. Der griechische Donbass-Besucher ließ sich jedoch dadurch nicht weiter beirren, schließlich müsse man „in breiter demokratischer Front gegen den Faschismus kämpfen“, das sei seine Meinung.
Die Frage ist nur: Wen bezeichnet man eigentlich als Faschisten? Diejenigen, die in Griechenland den dortigen Linken als Faschisten gelten, sind schließlich selbst ebenfalls Russland- und Putinfreunde.
Der Goldenen Morgenröte entgegen
Mit Ilias Kasidiaris treffen wir uns an seinem Arbeitsplatz – dem griechischen Parlament, wo er die rechtsextreme Partei Chrysi Avgi vertritt, die „Goldene Morgenröte“. Der zweite Mann in der Organisation (er selbst) sowie weitere Führungsfiguren der Goldenen Morgenröte sind derzeit in ein Verfahren verwickelt wegen Gründung einer kriminellen Organisation, die mit politischem Terror, mehreren Morden und der Verbreitung nazistischer Ideologie in Verbindung gebracht wird. Wobei er letztere auch schon auf seinem eigenen Körper verbreitet: Seine in griechischer Ornamentik gestaltete Hakenkreuz-Tätowierung geriet griechischen Fotojournalisten bereits mehrfach vor die Linse.
Die Goldene Morgenröte ist aus der neonazistischen Subkultur aufgestiegen, und obwohl ihre Mitglieder heute die Verbindung ihrer Ideologie mit dem klassischen Faschismus leugnen, ist die Nachfolge in ihrer Rhetorik und ihren Attributen doch klar erkennbar.
Kasidiaris hat umfangreiche Pläne zur Stärkung des russisch-griechischen Bündnisses. Unter anderem will er, dass Russland Gasleitungen durch griechisches Territorium verlegt und bei der Förderung von Erdgas im griechischen Schelf behilflich ist. Der Mythos von der möglichen Energie-Autarkie Griechenlands ist bei den griechischen EU-Gegnern populär, wird allerdings von Geologen nicht bestätigt.
„Da ja die Amerikaner eine Militärbasis auf Zypern haben – was unseren (den griechischen) Interessen ganz und gar nicht förderlich ist – warum soll man nicht auf [der griechischen Insel] Syros auch eine russische Basis aufbauen, wenn von russischer Seite ein solches Interesse besteht“, sagt der Abgeordnete. Ihm zufolge gab es solche Überlegungen bereits unter der Regierung Kostas Karamanlis, der von 2007 bis 2009 griechischer Ministerpräsident war.
Alle Schuld den Amerikanern
Was den Ukraine-Konflikt betrifft, so gibt Kasidiaris alle Schuld den Amerikanern, die den Kiewer Maidan angezettelt und das Land in den Krieg getrieben hätten. In Russland, so Kasidiaris, arbeite seine Partei eng mit Shirinowskis LDPR und der Partei Rodina [Heimat – dek] zusammen, die ehemals vom heutigen russischen Vizepremier Dimitri Rogosin geführt wurde.
Zwei Vertreter der Goldenen Morgenröte nahmen an einem Kongress politisch weit rechts angesiedelter Organisationen teil, den Rodina im Frühjahr 2015 in Petersburg ausgerichtet hatte. Die Veranstaltung verfolgte in erster Linie das Ziel, eine Koalition zur Unterstützung des russischen Vorgehens und der prorussischen Kämpfer in der Ostukraine zu bilden. So gesehen unterschied sie sich nur wenig von der weiter oben geschilderten Zusammenkunft der Linken in Athen, nur dass hier Leute teilnahmen, die in Fachkreisen für gewöhnlich als Neonazis gelten.
Einer von ihnen war Alexander Miltschakow, Spitzname „Fritz“ – ein bekennender Petersburger Nazi, Anführer des im Donbass aktiven Diversions- und Sturmtrupps Russitschi, der sich aus seinen Nazi- und Neopaganisten-Freunden zusammensetzt.
Ein weiterer extrem wichtiger Kontaktmann der Goldenen Morgenröte in Russland ist der Philosoph Alexander Dugin, eine Kultfigur in Neonazikreisen in ganz Europa. Die Partei teile – so Kasidiaris – seine Überzeugung, dass Russland (und nicht, zum Beispiel, das moderne Griechenland) der Erbnachfolger des Byzantinischen Reiches sei. Allerdings, sagt Kasidiaris, hätten die Goldene Morgenröte und Dugin unterschiedliche Meinungen zur Türkei: Der Russe Dugin betrachte das Land als Verbündeten, während es für die rechten Griechen ein Erzfeind sei.
2014 hatte Dugin, Professor an der MGU, zwei hohe Mitglieder der Goldenen Morgenröte in der Universität empfangen, die zum Abschluss des Treffens erklärten, sie würden Russland als den wichtigsten Verbündeten im Kampf gegen die „amerikanische Expansionspolitik“ betrachten.
Syriza hin …
Dugin – ein Mann von aufgeschlossenem Charakter – ist dabei nicht nur mit den griechischen Neonazis befreundet, sondern auch mit deren Erzfeinden von der linken Partei Syriza, die aktuell in Griechenland die Regierung stellt.
Dugin hatte 2013 auf Einladung von Nikos Kotsiatis, der heute das Amt des griechischen Außenministers bekleidet, einen Vortrag an der Universität Piräus gehalten. Allerdings ließen wiederum die griechischen Grenzbeamten Dugin am 18. Mai 2016 nicht ins Land – „auf ein Ersuchen Ungarns hin“.
Ich verstehe nicht, wie eine Partei, die sich offen für Adolf Hitler begeistert, ein Freund Russlands sein kann, das dermaßen unter dem Nationalsozialismus gelitten hat
Bei Vertretern von Syriza, unter denen viele ehemalige Kommunisten sind, rufen die herzlichen Beziehungen der Ultrarechten mit Russland Eifersucht und Ratlosigkeit hervor. „Ich verstehe nicht, wie eine Partei, die sich offen für Adolf Hitler begeistert, ein Freund Russlands sein kann, das dermaßen unter dem Nationalsozialismus gelitten hat“, sagt Panos Trigazis, Koordinator der Arbeitsgruppe für außenpolitische Fragen im Syriza-Parteivorstand.
Als die Partei im Zuge der Wirtschaftskrise und der Enttäuschung der Griechen über die Europäische Union an die Macht kam, schien es klar, dass dies die russlandfreundlichste Regierung aller Zeit in Europa werden würde. Noch in der Rolle der Opposition war Syriza für eine Aufhebung der Sanktionen eingetreten, die die EU aufgrund des russischen Vorgehens in der Ukraine verhängt hatte. Kurz vor seiner Vereidigung als Premierminister traf sich der Parteichef Alexis Tsipras mit dem russischen Botschafter.
Wenn wir sagen, die Beziehungen zu Russland müssen ausgebaut werden, heißt das nicht, dass wir unserer europäischen Orientierung den Rücken kehren wollen
Den Posten des Verteidigungsministers in Tsipras Kabinett bekam Panos Kammenos, Chef der kleinen rechtspopulistischen Partei Unabhängige Griechen und ein persönlicher Freund des Unternehmers Konstantin Malofejew, der eine Schlüsselrolle bei der Angliederung der Krim durch Russland und der Organisation des bewaffneten Aufstandes im Donbass gespielt hatte.
Informationen verschiedener europäischer und amerikanischer Medien zufolge war Kammenos in Moskau zu Gast bei der Hochzeit von Giannis Karageorgis – einem griechischen Reeder, mit dem Malofejew die Gründung einer TV-Senderkette in Griechenland und anderen Balkanländern plant.
… Syriza her
Doch das anfänglich herzliche Verhältnis zwischen dem Kreml und dem Vorstand von Syriza kühlte allmählich ab. Tsipras erhielt nicht die russischen Kredite und Verträge, mit deren Hilfe er gehofft hatte, das Land aus der Krise zu führen, und sah sich gezwungen, demütigende Kompromisse bei Verhandlungen mit den führenden Ländern der EU einzugehen.
„Ja, die früheren Regierungen haben den Ausbau der Beziehungen mit Russland vernachlässigt“, bemerkt Panos Trigazis jetzt. „Aber wenn wir sagen, die Beziehungen müssen ausgebaut werden, heißt das nicht, dass wir unserer europäischen Orientierung den Rücken kehren oder Europa verlassen wollen.“
Übrigens gibt es innerhalb von Syriza selbst höchst unterschiedliche Sichtweisen auf Russland. Der Anführer der prorussischen Fraktion, Panagiotis Lafazanis, hatte bis Juli 2015 einen Ministerposten in der Tsipras-Regierung inne, verließ dann jedoch die Partei und wechselte in die Opposition. Zur selben Zeit verabschiedete sich Finanzminister Yanis Varoufakis aus dem Kabinett, der – im Gegensatz zu seinem Parteikollegen – Putins Politik wiederholt kritisiert und von diktatorischen Tendenzen in Russland gesprochen hatte.
Griechenland muss viele Faktoren berücksichtigen, unter anderem die Zypern-Frage
Trigazis ist nicht einverstanden mit Varoufakis' Sichtweise. „Wenn Russland eine Diktatur wäre, dann säße die Kommunistische Partei nicht im Parlament“, meint er. Seiner Ansicht nach erfülle Russland die Kriterien eines demokratischen Mehrparteiensystems. Außerdem, fügt er hinzu, spiele Russland eine Schlüsselrolle im Kampf gegen das Bestreben der USA, eine unipolare, auf Washington zentrierte Weltordnung zu errichten.
Die internationale Gemeinschaft muss sich ausreichend flexibel zeigen, damit in Bezug auf derart große Gefüge wie das Kosovo oder die Krim nicht das Gefühl von Rechtlosigkeit entsteht
Im Hinblick auf das russische Schlüsselthema, die Ukraine, äußert Trigazis einen vorsichtig prorussischen Standpunkt: Syriza respektiere die Unabhängigkeit und territoriale Integrität der Ukraine, aber die müsse wiederum „die Gefühle von nationalen Minderheiten respektieren“. Und weiter: „Die ethnischen Russen in verschiedenen Regionen der Ukraine wollen mehr Autonomie. Ich denke, diese Frage kann auf demokratischem Wege gelöst werden.“
Mit der Krim ist es noch vertrackter: Die Halbinsel, führt Trigazis aus, sei Teil eines föderalen Systems gewesen – so wie der Kosovo innerhalb Serbiens und des ehemaligen Jugoslawiens. „Die internationale Gemeinschaft muss sich ausreichend flexibel zeigen, damit in Bezug auf derart große Gefüge wie das Kosovo oder die Krim nicht das Gefühl von Rechtlosigkeit entsteht“, sagt er, und fügt hinzu, man müsse die „historischen Ungerechtigkeiten“ bedenken, unter denen die Krim in der Vergangenheit gelitten habe.
Aber in jedem Fall werde die Syriza-Regierung, offenbart Trigazis, das Thema Krim nicht aktiv vorantreiben oder gar die Krim als Teil der Russischen Föderation anerkennen, denn: Priorität hat es nach wie vor, auf die territoriale Integrität der Insel Zypern hinzuarbeiten, die 1974 teilweise durch die Türkei annektiert worden war.
Zudem erkennt Griechenland auch die Unabhängigkeit des Kosovo nicht an. Insofern tritt die Syriza-Regierung für einen umfassenden Ansatz ein, der sowohl den Zypern- als auch den Kosovo-Faktor zu berücksichtigen hätte.
In der Praxis bedeutet das: Syrizas Unterstützung für die russische Position bezüglich der Ukraine wird sich auf reine Rhetorik beschränken. Bisher jedenfalls hat Griechenland keinen Versuch unternommen, von seinem Veto-Recht bei der Verlängerung der Sanktionen gegen Russland Gebrauch zu machen, und auch in Zukunft wird es das nicht tun.
Der Grad der griechischen Loyalität wird von der russischen Polit-High-Society stark überzeichnet.