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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Bystro #26: Ist die belarussische Unabhängigkeit in Gefahr?

    Bystro #26: Ist die belarussische Unabhängigkeit in Gefahr?

    Am 25. August 1991, vier Tage nach dem gescheiterten Augustputsch in Moskau, stimmte der Oberste Sowjet der BSSR für die Unabhängigkeit der Sowjetrepublik. Damit war die Republik Belarus geboren. Neben einer kurzen Episode der Volksrepublik im Jahr 1918 war es das erste Mal in der Geschichte, dass die Belarussen eine Eigenstaatlichkeit erlangten. 

    Haben die Belarussen ihre Unabhängigkeit herbeigesehnt? Warum wurde 1994 ausgerechnet Alexander Lukaschenko in weitgehend freien Wahlen zum ersten Präsidenten gewählt? Welche Bedeutung haben die Proteste des Jahres 2020 für die Unabhängigkeit? In einem Bystro in acht Fragen und Antworten erklärt der renommierte kanadische Historiker David R. Marples 30 Jahre Unabhängigkeit für Belarus.

    1. 1. Wie war die Lage in der BSSR kurz vor dem Zerfall der Sowjetunion? Gab es eine starke nationale Bewegung, die nach Unabhängigkeit strebte, wie etwa in den baltischen Staaten ?

      Die nationale Bewegung war ziemlich schwach und kämpfte ums Überleben. Zwar gewann die Belarussische Volksfront (Partyja BNF) Glaubwürdigkeit durch ihr Eintreten für die nationale Kultur und Sprache, durch ihre Reaktion auf die Folgen der Tschernobyl-Katastrophe von 1986 und auch durch die Entdeckung der Massengräber von Stalins Opfern in Kurapaty dank des BNF-Vorsitzenden Sjanon Pasnjak. Pasnjaks übertriebene Behauptung, dort lägen bis zu 300.000 Opfer begraben, hat Aufsehen erregt. Die BNF blieb jedoch eine Randpartei und musste ihren Gründungskongress in Vilnius abhalten, da sie nicht in Minsk tagen durfte. Nach den Wahlen von 1990 war sie mit nur 26 Sitzen im kommunistisch dominierten Parlament vertreten – im Gegensatz zu einigen Volksfronten in anderen Ländern, insbesondere in den baltischen Staaten und der Ukraine. Das Endziel der BNF war zwar die Unabhängigkeit, doch ihre wichtigste Errungenschaft bestand wohl in der Anerkennung von Belarussisch als Staatssprache der Republik Anfang 1990. Diese Regelung blieb in den folgenden fünf Jahren bestehen. 

    2. 2. Wie hat der Oberste Sowjet der BSSR am 27. Juli 1990 schließlich die Unabhängigkeit erklärt?

      Ich möchte zwischen der Unabhängigkeitserklärung vom 25. August 1991 und der Erklärung der staatlichen Souveränität unterscheiden. Am 27. Juli erklärte die BSSR ihre Souveränität – das heißt aber nur, dass sie die Kontrolle über ihre natürlichen Ressourcen beanspruchte, nicht aber über den Staatshaushalt, die Außenpolitik oder Verteidigungsangelegenheiten. Auch andere Sowjetrepubliken verabschiedeten zu dieser Zeit solche Erklärungen; nur Litauen erklärte seine völlige Unabhängigkeit. Das Parlament von Belarus war zwischen den Parteien und ihren Anführern zerrissen mit besonders ausgeprägter Rivalität zwischen dem Parlamentsvorsitzenden Nikolaj Dementei und dem Premierminister Wjatscheslaw Kebitsch. Zum Zeitpunkt der Souveränitätserklärung war Kebitsch die führende politische Persönlichkeit in Belarus. Das Land hatte den Ruf einer „Partisanen-Republik“: Von 1956 bis 1980 wurde die Kommunistische Partei von ehemaligen Partisanen angeführt. Von Nationalismus waren sie weit entfernt – es sei denn, man betrachtet den sowjetischen Patriotismus als eine Form des Nationalismus –, es gab aber einige Spannungen zwischen den Parteioberhäuptern in Moskau und in der Republik. Nachdem der Vorsitzende des BSSR-Zentralkomitees Pjotr Mascherow 1980 bei einem Autounfall ums Leben kam, sorgte Moskau dafür, dass seine Nachfolger keine ehemaligen Partisanen oder auch nur deren Verbündete waren.

    3. 3. Die belarussischen Kommunisten galten als besonders konservativ und loyal gegenüber Moskau. Was geschah mit ihnen, vor allem mit den wichtigsten Politikern, nach der Unabhängigkeit?

      In Belarus dominierten die Kommunisten 1991 zwar im Obersten Sowjet, doch die Lage war unbeständig. Der erste Sekretär der Kommunistischen Partei Anatoli Malofejew und der Parlamentsvorsitzende Nikolaj Dementei unterstützten 1991 den Augustputsch in Moskau. Als der Putsch gescheitert war, wurde Dementei seines Amtes enthoben und durch den Physikprofessor Stanislaw Schuschkewitsch ersetzt, der als seine erste Amtshandlung die Abspaltung der Republik von der Sowjetunion verkündete. Die Kommunistische Partei von Belarus wurde nach dem gescheiterten Moskauer Putsch verboten; ein Jahr später entstand die Partei der Kommunisten von Belarus (PKB). Die Mitglieder der ursprünglichen Kommunistischen Partei traten 1993 offiziell der PKB bei (Malofejew war zwei Monate zuvor zurückgetreten). Es entstanden auch einige kommunistische Randparteien mit progressiveren Ansichten. Kurz nach der Unabhängigkeitserklärung 1991 hatten die Kommunisten noch eine beträchtliche Anzahl von Sitzen, sahen sich jedoch starkem Druck ausgesetzt, neue Parlamentswahlen abzuhalten. Kebitsch befürwortete eine Wirtschafts- und Sicherheitsunion mit Russland, wobei er sich auf die gemeinsame Geschichte und Kultur berief. Er galt jedoch als korrupt, was ihm bei der Präsidentschaftswahl von 1994 zum Verhängnis wurde.

    4. 4. In wirtschaftlicher Hinsicht hatte Belarus mit einer gut ausgebildeten Bevölkerung und relativ soliden Staatsbetrieben beste Voraussetzungen für eine erfolgreiche Transformation. Warum ist diese dennoch gescheitert?

      Belarus funktionierte gut als BSSR, innerhalb des kommunistischen Systems, in dem seine industrielle Entwicklung eng mit der seiner Nachbarn verflochten war. Als Russland 1992 mit seiner wirtschaftlichen Schocktherapie begann, blieb Belarus allerdings auf der Strecke. 
      Das Land litt unter mehreren Problemen: Erstens hatte es nicht genug natürliche Ressourcen und war damit stark von Energieimporten aus Russland abhängig. Zweitens fehlte auch ein Programm für Wirtschaftsreformen. Schuschkewitschs Bemühungen, dem Beispiel Russlands nachzueifern, wurden von den Kommunisten im Parlament blockiert. Drittens musste das unabhängige Belarus die Auswirkungen der Tschernobyl-Katastrophe tragen; die Unterstützung der Union war weggefallen. Einer Schätzung zufolge beliefen sich die Kosten des Unfalls für Belarus auf 32 Jahreshaushalte. So viel Geld stand zwar nicht zur Verfügung, aber immerhin wurden in den ersten Jahren etwa 25 Prozent des Haushalts für die Gesundheitsversorgung aufgewendet. Schließlich die Privatisierungsrate – sie war eine der niedrigsten unter allen ehemaligen Sowjetrepubliken. Viele Branchen waren auf staatliche Subventionen angewiesen, um zu überleben. In den ersten Jahren wurde Belarus von Jelzins Russland subventioniert, doch diese Großzügigkeit hatte ihren Preis: Russland strebte eine engere Integration von Währung, Volkswirtschaften, Armeen und Sicherheitsdiensten an. Als dann von 1991 bis 1999 die Wirtschaftskrise Russland ereilte, die im Finanzkollaps von 1998 gipfelte, litt Belarus mit.

    5. 5. Warum wurde Lukaschenko 1994 zum ersten Präsidenten der Republik Belarus gewählt?

      Lukaschenko war zwar keine ganz unbekannte Figur, als er 1994 bei der Präsidentschaftswahl antrat, aber als Favorit galt der 39-jährige Schweinezüchter sicherlich nicht. Er war zum Interimsdirektor einer parlamentarischen Kommission zur Untersuchung von Korruption berufen worden und nutzte gleich die Gelegenheit, die Führung des Landes anzugreifen. Er wurde aber schlichtweg nicht ernstgenommen – genauso wie er selbst 26 Jahre später Swetlana Tichanowskaja nicht ernst nahm. Die anderen Kandidaten argumentierten vor allem gegen Kebitsch als einen Vertreter des Establishments. Der Altkader Kebitsch selbst wiederum konzentrierte sich auf Pasnjak von der BNF, nannte ihn einen Nationalisten, der die wahren Sorgen der belarussischen Durchschnittsbürger nicht kenne. Auch Schuschkewitsch, der keine Partei hinter sich hatte, war misstrauisch gegenüber Pasnjak. Die beiden demokratischen Kandidaten, Schuschkewitsch und Pasnjak, konnten sich also nicht einigen und bekämpften sich gegenseitig. Die Bevölkerung war der alten Garde wie Kebitsch überdrüssig; Schuschkewitsch betrachtete sie als Teil derselben Hierarchie und Pasnjak als zu radikal. Damit blieb Lukaschenko übrig, eine scheinbar attraktive Alternative, unbelastet von früheren Verbindungen, ehrgeizig und leidenschaftlich prorussisch. Seine persönlichen Schwächen, wie etwa das jähzornige Temperament, wurden ignoriert.

    6. 6. Lukaschenko hat sich in den letzten 26 Jahren immer wieder als alleiniger Garant für die belarussische Souveränität positioniert. Wie ist diese Positionierung zu bewerten, auch im Hinblick auf den Unionsstaat?

      Lukaschenko hatte verschiedene Phasen. In seinen Anfangsjahren versuchte er, sich Russland kontinuierlich anzunähern, von einer Gemeinschaft bis zur Gründung der Union (1999). Er verstand sich gut mit Jelzin, der seine späteren Jahre abwechselnd in Sanatorien und im Kampf mit wirtschaftlichen Problemen verbrachte. Aber Putin war ein ganz anderer Präsident: Er stellte die Öl- und Gassubventionen in Frage, ebenso wie die Logik einer gleichberechtigten Partnerschaft mit einem Staat, der leicht in die Russische Föderation integriert werden könnte. Auch persönlich mochten sich die beiden Staatschefs nicht. 
      Die Jahre von 2008 bis 2020 waren geprägt von Spannungen und Handelsstreitigkeiten, von Belarus’ Unwillen, Anweisungen aus Russland zu befolgen; von Russlands Versuchen, profitable belarussische Industrien zu übernehmen, von gemeinsamen militärischen und sicherheitspolitischen Maßnahmen, und immer wieder von Versuchen Lukaschenkos, die russische Kontrolle zu begrenzen. Seine Hauptmethode bestand dabei darin, den Westen zu umwerben und die EU zu überzeugen, dass er ein zuverlässiger Partner sei. Kredite des IWF und Chinas bildeten eine Alternative zu denen aus Russland, das sie nur zu harten Konditionen gewährte. In dieser Zeit entwickelte sich auch eine Art „sanfter Nationalismus“ in Belarus, als Lukaschenko nationale Gefühle nutzte, um seine persönliche Macht zu sichern und zu fördern. Auf diese Art verband er den Staat unmittelbar  mit seiner Präsidentschaft.

    7. 7. Warum war die demokratische Bewegung im unabhängigen Belarus immer relativ schwach und bis 2020 chancenlos? 

      Von 2001 an kontrollierte der Staat den Wahlprozess über zentrale und lokale Wahlkommissionen sowie über Registrierungsverfahren. Lukaschenkos erster Schritt bestand darin, Zeitungsredakteure zu ersetzen, die seine Autorität in Frage stellten. Auch das Fernsehen wurde zum Teil der Staatspropaganda. 
      Die Opposition suchte den traditionellen Weg zur Macht – in der Regel über politische Parteien, die weder genug Mitglieder noch genug Mittel hatten und dazu noch innerlich gespalten waren. So existierten zeitweise drei Ableger der Sozialdemokratischen Partei und zwei der Volksfront. 
      Zwar gab es Bemühungen, die Wahlkampagnen zu vereinheitlichen, aber diese fruchteten erst 2001, und auch da nur bedingt. Belarus hatte also nie eine oppositionelle Partei mit bedeutendem Rückhalt in der Bevölkerung, im Gegensatz beispielsweise zu Viktor Juschtschenkos Unsere Ukraine (ab 2000). Lukaschenko erklärte die Oppositionsparteien geschickt zu ausländischen Kräften, zu Blutsaugern, die mit westlichen Geldern ihre persönlichen Ausschweifungen finanzierten. Über längere Zeit wurden Geldstrafen, Verhaftungen und Schikanen zur Einschüchterung eingesetzt. Dies führte dazu, dass einige führende Oppositionelle das Land verließen und die Wählerschaft bis 2020 Passivität und Apathie an den Tag legte.

    8. 8. Was bedeuten die Proteste von 2020 und die anschließende Repressionswelle für die belarussische Unabhängigkeit? 

      Die Proteste und Repressionen haben alle Illusionen über Lukaschenko endgültig zerstört. Für die meisten Belarussen ist er als Präsident nicht mehr akzeptabel. Aber die Proteste waren friedlich und hatten keine Chance, einen Regimewechsel herbeizuführen, vor allem weil die Sicherheitskräfte und das Kabinett dem Präsidenten gegenüber loyal blieben und zu extremen Maßnahmen bereit waren. Vor den Repressionen sind Tausende von (vor allem jungen) Menschen aus Belarus ins Ausland geflohen. Andere sitzen in Gefängnissen und Arbeitslagern. Westliche Sanktionen, insbesondere nach der Zwangslandung des Ryanair-Fluges im Mai, haben Belarus noch stabiler in die russische Umlaufbahn geschubst. Der sehr geschwächte Lukaschenko machte Zugeständnisse an Russland, die früher undenkbar gewesen wären. Die belarussische Außenpolitik ist nicht mehr von der russischen zu unterscheiden. Die offiziellen Medien werden von Russland betrieben; auch die Sicherheits- und Militärpolitik ist koordiniert. Lukaschenkos einziger (symbolischer) Widerstand besteht in der Hoffnung auf eine Verfassungsänderung im nächsten Frühjahr durch die unrechtmäßige Volksversammlung. Kurzum, die belarussische Unabhängigkeit hängt am seidenen Faden. Aber die belarussische Bevölkerung hat letztes Jahr ihre Meinung sehr deutlich gemacht. Es kann keine Rückkehr zu der Situation vor 2020 geben, keinen Gesellschaftsvertrag zwischen diesem Präsidenten und dem Volk. 

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: David R. Marples
    Übersetzung: Alexandra Berlina
    Veröffentlicht am: 24. August 2021

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  • „Verlass nicht dein Zimmer, sei nicht so unbesonnen“

    „Verlass nicht dein Zimmer, sei nicht so unbesonnen“

    Das Gedicht Verlass nicht dein Zimmer (Ne wychodi is komnaty, 1970) ist wohl eines der bekanntesten Gedichte von Joseph Brodsky. Es ist beliebt, wird viel zitiert und einzelne Zeilen funktionieren in der russischen Sprache schon fast unabhängig vom eigentlichen Inhalt. Trotzdem scheint es auch vieldeutig zu sein und ist nur schwer einzuordnen und zu analysieren: Für die einen ist es ein ironischer und fast satirischer Text, der auf die rechtlosen und ängstlichen Sowjetmenschen in den Kommunalkas abzielt, für andere dagegen ein philosophisches und fast existenzialistisches Gedicht. 

    Eine neue Welle fast flächendeckender Bekanntheit erfasste das Gedicht im Frühjahr 2020 während des ersten Lockdowns. Die Assoziationen mit Corona sind im Gedicht zu offensichtlich: Es beginnt mit dem Aufruf, das eigene Zimmer nicht zu verlassen und endet mit einem weiteren Appell:

    „Barrikadier es / mit dem Schrank vor dem Chronos, dem Kosmos, dem Eros, dem Virus.“

    Zum 25. Todestag Joseph Brodskys bringt dekoder das Gedicht in einer Neuübersetzung von Alexandra Berlina. 

    Verlass nicht dein Zimmer, sei nicht so unbesonnen.
    Du hast was zum Rauchen, was willst du noch mit der Sonne?
    Draußen ist alles sinnlos, vor allem Glück.
    Raus geht’s höchstens aufs Klo, und dann gleich zurück.

    Verlasse dein Zimmer nicht, mache nicht den Fehler.
    Ruf dir kein Taxi: Der Raum fasst keinen Zähler.
    Kommt dein Liebchen herein, höre nicht mal ein Wort
    aus dem rosa Maul. Schick sie gleich, noch bekleidet, fort.

    Verlass nicht dein Zimmer. Tu so, als hättest du dich verkühlt.
    Was kann schon spannender sein als ein Tisch und Stuhl?
    Wozu dein Zimmer verlassen, wenn du nach einem Bummel
    Unverändert zurückkehrst – oder vielleicht verstümmelt?

    Verlasse dein Zimmer nicht, stell das Radio laut.
    Tanz Bossa Nova im Mantel auf bloßer Haut.
    Auf dem Gang riecht’s nach Kohl und Skiern, Mai bis April.
    Du hast viele Wörter geschrieben. Noch eins wäre eins zu viel.

    Verlass nicht dein Zimmer. Zeige dich nur dem Zimmer.
    Zürnt die Substanz der Form, macht es die Sache schlimmer.
    Incognito ergo sum. Nun, wie dem auch sei,
    verlass nicht dein Zimmer! Du lebst ja nicht in Versailles.

    Sei kein Trottel! Sei einzigartig, wohl oder übel.
    Verlasse dein Zimmer nicht! Verlasse dich auf die Möbel,
    wachse in die Tapete, ins Zimmer. Barrikadier es
    mit dem Schrank vor dem Chronos, dem Kosmos, dem Eros, dem Virus.

    Joseph Brodsky, 1970
    Übersetzerin: Alexandra Berlina
    Veröffentlicht am 29.01.2021

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  • Brodskys Venedig

    Brodskys Venedig

    Für Joseph Brodsky war eine Reise nach Venedig immer mit Winter verbunden. In Leningrad hatte er mal auf eine Postkarte mit einer seltenen Ansicht – Venedig im Schnee – gezeigt und mit Bestimmtheit gesagt: „Das werde ich einmal sehen.“ Wie konnte er sich so sicher sein? Damals war Venedig für einen Sowjetbürger so unerreichbar wie der Mond.
    Zum 25. Todestag Joseph Brodskys bringt dekoder Fotos aus der Sammlung des Anna Achmatowa Museums in Sankt Petersburg, die Brodskys Freundin, die Historikerin Véronique Schiltz (1942–2019), in Venedig aufgenommen hat. Mit einem Essay von Zakhar Ishov.

    Foto © Véronique Schiltz/Anna Achmatowa Museum in Sankt Petersburg
    Foto © Véronique Schiltz/Anna Achmatowa Museum in Sankt Petersburg

    Brodskys erzwungene Emigration aus der UdSSR hatte zumindest einen Silberstreif. Er konnte nun seinen Plan verwirklichen, Venedig im Winter zu besuchen. Im Herbst 1972 hatte Brodsky einen Lehrauftrag an der Universität von Michigan; er nutzte seine ersten Winterferien, um nach Italien zu fliegen. Von da an reiste er zwanzig Jahre lang fast jeden Winter nach Venedig, „mit der Häufigkeit eines aufdringlichen Traums“, wie er später in Watermark (1989) scherzte, seiner buchlangen Essay-Hymne an Venedig, einem ebenso aufrichtigen wie ausführlichen Bericht über seine Liebesbeziehung mit dieser Stadt.

    „Venedig ist das immer schon Geschriebene, schon Gesehene, schon Gelesene“,1 meinte ein großer Literaturwissenschaftler. Wie kann man etwas Neues über den Ort sagen, der bereits von Shakespeare, Schiller, Byron, Puschkin, Wjasemski, de Régnier, James, Mann, Proust, Achmatowa, Pasternak und Mandelstam beschrieben wurde, um nur einige zu nennen? Die amerikanische Schriftstellerin Mary McCarthy schrieb: „,Ich beneide dich, dass du über Venedig schreibst!‘, sagt der Neuankömmling. ‚Ich bemitleide dich‘, sagt der alte Hase.“2 Brodsky gesellte sich so spät zu diesem Chor dazu, dass er den Vorteil des Nachzüglers hatte: Er musste nicht unter Einflussangst leiden. Er konnte es kaum erwarten, an dem großen Venedig-Buch mitzuschreiben. „Ich wollte meine Spur hinterlassen“, erinnerte er sich später.3

    Beginnend mit der Weihnachtsromanze (1962) versuchte Brodsky, „jedes Jahr zu Weihnachten ein Gedicht zu verfassen, als eine Art Glückwunsch zum Geburtstag“. Da er Ende Dezember 1972 in Venedig ankam, war es kaum verwunderlich, dass sein erstes und vielleicht bemerkenswertestes venezianisches Gedicht, Lagune, als Weihnachtsgedicht begann. Es blieb aber nicht dabei – neben dem Weihnachtsthema finden sich dort auch Elemente eines Reiseberichts und einer lyrischen Auseinandersetzung mit dem frischen Trauma des Exils.

    Foto © Véronique Schiltz/Anna Achmatowa Museum in Sankt Petersburg
    Foto © Véronique Schiltz/Anna Achmatowa Museum in Sankt Petersburg

    Das erste, was einem Neuankömmling in Venedig auffällt, ist, dass das Verhältnis zwischen terra ferma und dem Wasser hier umgekehrt ist. Petrarca nannte es einfach mundus alter [andere Welt].4 Und so greift Brodsky in seinem venezianischen Weihnachtsgedicht zu maritimen Metaphern: Die Pensione, die das lyrische Ich bewohnt, wird mit einem Kreuzfahrtschiff verglichen, das „in die Weihnachtsflut“ segelt; der Rezeptionist wird zum Kapitän am Steuer, und der einsame Gast auf dem Weg zu seinem Zimmer verwandelt sich in einen Passagier:

    [bilingbox]I
    Drei strickende Omas im Foyer, so 
    vertieft in die Leidensgeschichte Jesu. 
        Der Fernseher dröhnt. Es treibt die Pension 
    Accademia Heiligabend entgegen. 
    Der Kosmos auch. Mit Jahresbelegen 
        steht am Steuer der Mann von der Rezeption.

                 II
    Ein Gast kommt die Schiffstreppe hoch. Eine Flasche
    Grappa trägt er in seiner Tasche.
        Ein Niemand, ein Mantelträger. Er ist
    Heim- und kinderlos. Ihn vermissen die frischen
    Ruten, um ihm eins auszuwischen.
        Ansonsten wird er von keinem vermisst.

    („Lagune“, 1973, Nachdichtung von Alexander Nitzberg5)~~~I
    Три старухи с вязаньем в глубоких креслах
    толкуют в холле о муках крестных;
        пансион «Аккадемиа» вместе со
    всей Вселенной плывет к Рождеству под рокот
    телевизора; сунув гроссбух под локоть,
        клерк поворачивает колесо.

    II
    И восходит в свой номер на борт по трапу
    постоялец, несущий в кармане граппу,
        совершенный никто, человек в плаще,
    потерявший память, отчизну, сына;
    по горбу его плачет в лесах осина,
        если кто-то плачет о нем вообще.

    („Лагуна“, 1973)[/bilingbox]

    Folglich findet sich in der venezianischen Krippenszene ein Fisch statt eines Ochsen und ein Seestern statt des Sterns von Bethlehem; statt Jesu Wiege wippen nur die Boote im Wind. Schließlich isst der lyrische Held selbst eine Brasse statt des traditionellen Weihnachtsgeflügels:

    [bilingbox] Boote sind Wiegen. Kein Schaf, kein Ochs
    stehen umher (mit den Strahlen-Fängen
    nestelt ein Seestern an den Behängen),
       sondern höchstens die Kräne des Docks.

    V
    Wie früher: Mit gläsernen toten Fluten
    der Karaffe löschen wir feuchte Gluten
        vom Grappa. Statt einer Weihnachtsgans
    eine Weihnachtsbrasse. Uns speist dein Weiland
    im Wasser lebender Urahn, Heiland,
         in der Winternacht eines feuchten Lands.

    („Lagune“, 1973, Nachdichtung von Alexander Nitzberg)~~~лодки качает, как люльки; фиш,
    а не вол в изголовьи встает ночами,
    и звезда морская в окне лучами
         штору шевелит, покуда спишь.
    V
    Так и будем жить, заливая мертвой
    водой стеклянной графина мокрый
        пламень граппы, кромсая леща, а не
    птицу-гуся, чтобы нас насытил
    предок хордовый Твой, Спаситель,
        зимней ночью в сырой стране.

    („Лагуна“, 1973)[/bilingbox]

    Brodskys im sowjetischen antireligiösen Kontext so subversiver Brauch, dem Heiland zu huldigen, hatte weniger mit Religion zu tun als mit seinem Wunsch, an der „Weltkultur“ teilzuhaben.6 Wie sein Freund, der litauische Dichter und Gelehrte Tomas Venclova, erklärte, hatte sich Brodsky nie einer offiziellen Religion verschrieben.7 Und tatsächlich findet er an sich sogar „heidnische“ Züge – zum Beispiel in der Verehrung, nahezu Vergötterung, des Wassers: „seiner Falten, Runzeln und Wellen, und […] seines Grau“:8

    Ich denke einfach, das Wasser ist ein Bild der Zeit, und in jeder Silvesternacht versuche ich, auf etwas heidnische Art, irgendwo am Wasser zu sein, am liebsten am Meer oder am Ozean, um das Entstehen einer neuen Portion, einer neuen Tasse Zeit zu beobachten.9

    Foto © Véronique Schiltz/Anna Achmatowa Museum in Sankt Petersburg
    Foto © Véronique Schiltz/Anna Achmatowa Museum in Sankt Petersburg
    Brodskys zweites venezianisches Gedicht, San Pietro (1977), handelt von einem weniger touristischen Teil Venedigs. Einige Details kann man hier vielleicht trotzdem erkennen, wie zum Beispiel den Himmel, wie frische Wäsche an einer Schnur zwischen zwei Gebäuden in einer engen Gasse aufgehängt: 

    [bilingbox]Das gewaschene, gebügelte Laken
    der Bucht raschelt mit seinen Volants, und die farblose
    Luft verdichtet sich ganz kurz zu einer Taube oder Möwe …

    („San Pietro“, 1977, Nachdichtung hier und weiter, falls nicht anders genannt von Alexandra Berlina)~~~Выстиранная, выглаженная простыня
    залива шуршит оборками, и бесцветный
    воздух на миг сгущается в голубя или в чайку

    („Сан-Пьетро“, 1977)[/bilingbox]

    Wenn die Farbe der Pflastersteine mit der Farbe gebratenen Fischs verglichen wird, denkt man vielleicht an die beliebten Fischrestaurants in dieser Gegend: „Das Straßenpflaster hat einen Hauch von gelbem / gebratenem Fisch.“ (San Pietro) In Watermark beschreibt Brodsky, wie er in einem anderen Teil Venedigs gegrillten Fisch genießt, und bekennt sich zu den einfachen Genüssen des venezianischen Lebens: 

    Ich kam aus einer kleinen Trattoria im entlegensten Teil des Fondamente Nuove. Ich hatte gegrillten Fisch gegessen und eine halbe Flasche Wein getrunken. […] Der Tag war warm, sonnig, der Himmel blau, alles wunderschön. […] Und auf einmal spürte ich: Ich bin ein Kater. Ein Kater, der sich gerade den Bauch mit Fisch vollgeschlagen hat. Spräche mich in diesem Moment jemand an, wäre meine Antwort ein Miau. Ich war absolut animalisch glücklich.10

    Weniger bekannt ist, dass Brodsky 1977 nach Venedig gekommen war, um an der Dissens-Biennale teilzunehmen, einem einzigartigen und historischen Ereignis Nachkriegsitaliens. In diesem Kontext schrieb er eine Polemik gegen den berühmten italienischen Slawisten Vittorio Strada, der die Veranstaltung zu diskreditieren versuchte, um die sowjetische Regierung zu beschwichtigen.11 Dieser politische Hintergrund ist in dem Gedicht San Pietro jedoch nicht zu spüren. Wie Pawel Muratow – ein Kunsthistoriker des Silbernen Zeitalters, dessen Buch Italienbilder Generationen von russischen Reisenden inspirierte – treffend sagte, kann das Wasser Venedigs wie die „Wasser der Lethe“ beruhigen und vergessen helfen.12 Brodsky griff dieses Gefühl auf:

    [bilingbox]denn nur das Wasser und es allein 
    bleibt sich treu auf immer und ewig –
    unempfindlich gegen Verwandlung, flach, 
    dort zu Hause, wo es kein Land mehr gibt. 
    Und das Pathos des Lebens – mit Anfang, Mitte, 
    immer dünner werdendem Wandkalender und schließlich Ende – 
    verblasst angesichts der ewigen, seichten, 
    farblos gekräuselten Wasserfläche.

    (San Pietro)~~~только вода, и она одна,
    всегда и везде остается верной
    себе — нечувствительной к метаморфозам, плоской,
    находящейся там, где сухой земли
    больше нет. И патетика жизни с ее началом,
    серединой, редеющим календарем, концом
    и т. д. стушевывается в виду
    вечной, мелкой, бесцветной ряби.
    („Сан-Пьетро“)[/bilingbox]

    Es ist eine alte Tradition, Sankt Petersburg mit Venedig zu vergleichen.13 Doch für Brodsky war Venedig kein bloßer Ersatz für seine Heimatstadt, in die er nach seiner Ausbürgerung 1972 nicht zurückkehren konnte. Das Wichtigste an Venedig war für ihn die enorme Kulturdichte,14 die er in seinen nächsten beiden venezianischen Werken, Venezianische Strophen I und Venezianische Strophen II erkundet, wobei er sich der Malerei und Musik metaphorisch bedient: 

    [bilingbox]IV

    Hinter goldenen Schuppen, hinter der Fischfassade,
    findet sich Öl in Bronze, Klaviergeklimper, ein Dinggeflecht,
    Ja, da versteckt in sich, kiementief, die Dorade,
    die Forelle, der Hecht!

    („Venezianische Strophen I“, 1982)~~~IV
    За золотой чешуей всплывших в канале окон – 
    масло в бронзовых рамах, угол рояля, вещь
    Вот что прячут внутри, штору задернув, окунь!
    жаброй хлопая, лещ!

    („Венецианские строфы I“, 1982)[/bilingbox]

    Wie die meisten seiner russischen Vorgängerinnen und Vorgänger15 empfand Brodsky die Stille als eine der magischsten Eigenschaften Venedigs. Paradoxerweise schaffte er es, diese mit musikalischen Metaphern wiederzugeben, wobei er auch seinem venezianischen Lieblingskomponisten Vivaldi huldigte: 

    [bilingbox]Die Geigenhälse der Gondeln wiegen sich 
    in dissonanter Stille.

    (Venezianische Strophen I)~~~Скрипичные грифы гондол покачиваются, издавая
    вразнобой тишину.

    („Венецианские строфы I“)[/bilingbox]

    In demselben Gedicht, Venezianische Strophen I, stellt Brodsky das nächtliche Venedig als Klangbild mehrerer Orchester dar, das die Stille spielt: 

    [bilingbox]VII
    So verstummen Orchester. Als versuchte die Stadt am Ende,
    einen Ton der Stille abzugewinnen …
    Und die Paläste schimmern wie Notenständer – 
    im schwachen Flimmern.
    Nur ein Stern singt ganz hoch zwischen den Telegrafen- 
    Leitungen, ein Falsett inmitten des tiefen Blaus.
    Unter ihm liegt einer aus Perm im Schlafe,
    und das Wasser rauscht ihm den Applaus.

    („Venezianische Strophen I“) ~~~VII
    Так смолкают оркестры. Город сродни попытке
    воздуха удержать ноту от тишины,
    и дворцы стоят, как сдвинутые пюпитры,
    плохо освещены.
    Только фальцет звезды меж телеграфных линий – 
    там, где глубоким сном спит гражданин Перми.
    Но вода аплодирует, и набережная – как иней,
    осевший на до-ре-ми.
    („Венецианские строфы I“)[/bilingbox]

    Mit dem Verweis auf Perm ist Sergej Djagilew gemeint, der aus dieser Stadt im Ural stammt. Der Vater des Ballet Russe verbrachte seine letzten Jahre in Venedig und wurde auf der Insel San Michele begraben. 
    In den letzten Kapiteln von Watermark beschreibt Brodsky eine Gondelfahrt zur „Insel der Toten“, San Michele. Dieser Abschnitt liest sich wie ein Abschied von Venedig – und man spürt, dass dieser für Brodsky nahezu einen Abschied vom Leben bedeutet. Obwohl er Freud gegenüber skeptisch war, ist Brodskys lyrische Meditation über den Tod in Venedig erotisch gefärbt und bestätigt indirekt die Erkenntnisse des Wiener Arztes über die Zusammenhänge zwischen Eros und Thanatos: 

    … wir glitten in die Lagune und steuerten auf die Insel der Toten zu, auf San Michele. Der Mond stand außerordentlich hoch […] und das Gleiten der Gondel war absolut still. Das geräusch- und spurlose Gleiten des geschmeidigen Gefährts auf dem Wasser hatte etwas ausgesprochen Erotisches – als würde die Hand über die glatte Haut der Geliebten gleiten. Das Erotische lag darin, dass aus dieser Berührung nichts folgte. Das Wasser blieb unendlich und fast unbeweglich, die Liebkosung abstrakt.16 

    Nach seinem frühen Tod am 28. Januar 1996 wurde auch Brodsky auf dem Friedhof von San Michele begraben, in Anerkennung seiner tiefen literarischen Verarbeitung Venedigs. Solange er lebte, war Venedig Brodskys „irdisches Eden“. So nannte er die Stadt in seinem letzten venezianischen Gedicht, das er auf Russisch schrieb und selbst ins Englische übersetzte – nur wenige Wochen vor seinem Tod.17

    Foto © Véronique Schiltz/Anna Achmatowa Museum in Sankt Petersburg
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    Foto © Véronique Schiltz/Anna Achmatowa Museum in Sankt Petersburg
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    Autor: Zakhar Ishov
    Übersetzerin: Alexandra Berlina
    Fotos: Véronique Schiltz († 2019)/Anna Achmatowa Museum in Sankt Petersburg
    veröffentlicht am 28.01.2021


    1.Tanner, Tony (1992): Venice Desired, Oxford, S. 20 
    2.McCarthy, Mary (1963): Venice Observed, San Diego/New York/London, S. 12 
    3.zit. nach Brodskij, Iosif (1995): Peresečennaja mestnost‘: Putešestvija s kommentarijami, in: Vail, Petr (Hrsg.): Nezavisimaja Gazeta, Moskau, S. 170 
    4.wörtl. „Mundus alter Venetia dicta est.“, zit. nach Petrarca, Francesco: Epistolae familiares, in: Manilius, Sebastianus (Hrsg.): Liber XXIII, Letter XVI, Venedig: Johannes und Gregorius de Gregoriis, 13. September 1492, S. 88 
    5.deutsch: Brodsky, Joseph (2004): „Lagune“, in: Weihnachtsgedichte, München, S. 57, Nachdichtung von Alexander Nitzberg 
    6.Brodskij, Iosif (1997): „Roždestvo: Točka otsčeta“, in: Roždestvenskie stichi, Nezavisimaja Gazeta, Moskau, S. 62 
    7.so auch Tomas Venclova: „Brodsky, ein gebürtiger Jude, gehörte formal keiner Religion oder bestimmten Konfession an, obwohl theologische Motive einen wichtigen Platz in seinem Werk einnehmen und die Entwicklung einer inneren Einstellung zu Gott für ihn ein wichtiges Bedürfnis war.“ Venclova, Tomas (2005): „Aleksandr Vat i Iosif Brodskij: Zamečanija k teme, in: Stat’i o Brodskom, Baltrus; Novoe izdatel’stvo, Moskau, S. 126 
    8.Brodsky, Joseph (1992): Watermark, London, S. 42-43 
    9.Brodsky, Watermark, S. 42-43 
    10.Brodsky, Watermark, S. 102-103 
    11.Brodskij, Iosif (1977): „Necessario per tutti questo dissenso“, in: Corriere della sera, 12.12.1977, S. 5
    12.Muratov, Pavel P. (1999): „Venecija. Letejskie vody“ (1911-1912), in: Obrazy Italii, Moskau, S. 11: „Für uns, Nordländer, die durch die goldenen Tore Venedigs nach Italien eindringen, werden die Wasser der Lagune zu wahren Wassern der Lethe.“ 
    13.sh.auch Toporov, V.N. (1990): „Italija v Peterburge“, in: Italija i slavjanskij mir: Sovetsko-ital’janskij simpozium in honorem Professore Ettore Lo Gatto, Moskau, S. 49-81 
    14.sh. auch Ishov, Zakhar (2015): Joseph Brodsky and Italy (PhD dissertation), Yale 
    15.sh. auch Kara-Murza, Alexei (2001): Znamenitye russkie v Venetsii, Nezavisimaja Gazeta, Moskau 
    16.Brodsky, Watermark, S. 128 
    17.Brodsky, Joseph (2000): „In Front of Casa Marcello“, in: Kjellberg, Ann (Hrsg.): Collected Poems in English, New York, S. 435-436 

     

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  • Joseph Brodsky

    Joseph Brodsky

    In seiner Nobelpreisrede im Jahr 1987 erinnert sich Joseph Brodsky an die russische Kulturszene der frühen 1950er: „Wir begannen in einer Leere – ja, mehr noch, in erschreckender Verwüstung […] eher intuitiv als bewusst versuchten wir, […] die Kontinuität der Kultur wiederherzustellen.“1 Der 1940 geborene Brodsky war eine der herausragendsten Persönlichkeiten einer außergewöhnlich talentierten Generation, die gerade rechtzeitig zur Entstalinisierung erwachsen wurde. Es wurde zu ihrer Aufgabe, die russische Poesie nach dem späten Stalinismus wiederzubeleben, nach „der unfruchtbarsten Zeit in der gesamten Geschichte der modernen russischen Literatur“.2 Mit 15 hatte Brodsky die permanente ideologische Fütterung satt und verließ die Schule; später beschrieb er dies als seine erste „freie Tat“. Dieser unerhörte nonkonformistische Akt erwies sich als ein wichtiger Schritt hin zu intellektueller Unabhängigkeit in einem totalitären Umfeld. Von da an eignete er sich sein gesamtes Wissen als Autodidakt an.

     
    Wer auch immer heute Gedichte auf Russisch schreibt, muss sich erst einmal ein Stück Existenz im Schatten Brodskys erobern / Foto © Véronique Schiltz/Anna Achmatowa Museum in St. Petersburg

    Während der Tauwetter-Periode – einer kurzen Zeit der Entstalinisierung und relativen Liberalisierung – flammte in Russland ein aufrichtiges Interesse an Poesie auf.3 Laut Nadeshda Mandelstam, der Witwe Ossip Mandelstams (1891–1938), eines im Arbeitslager umgekommenen großen Dichters des Silbernen Zeitalters, war die Geburt des Samisdat entscheidend für diese Wiederbelebung. Illegal kopierte Texte schafften Wunder: „Vor unseren Augen entstand der neue Leser – wie es geschah, wissen wir selbst nicht. Das ganze Erziehungssystem war darauf ausgelegt sein Aufkommen zu verhindern. Einige Namen wurden einfach unterdrückt, andere in der Presse und den Parteidekreten denunziert, und es schien undenkbar, dass auch nur ein Mensch die Mauer des Vergessens durchdringen könnte – als sich mit einem Mal alles änderte, dank des Samisdat.“4

    Außerhalb des offiziellen Systems fanden sich informelle Gruppen von gleichgesinnten Dichterinnen und Dichtern zusammen. Es wurde zu ihrer Hauptaufgabe, Brücken zur westwärts gerichteten vorrevolutionären Kultur Russlands zu bauen. Polen wurde ihr Fenster nach Europa: Nach 1956 waren die Zensurbestimmungen hier weit weniger streng als in der UdSSR, und so lernten Brodsky und seine Kollegen Polnisch, um Zugang zu der westlichen und anderen verbotenen Literatur zu bekommen. Der Stil und die Themen dieser Gruppen kollidierten mit der offiziell verordneten literarischen Kost, und ihre Lyrik hätte es nie durch die sowjetische Zensur geschafft. Als Dichter außerhalb des offiziellen Systems konnte man indes keinen Lebensunterhalt verdienen. Also jobbte sich Brodsky durch ein Dutzend geistloser Tätigkeiten, und verdiente zusätzlich etwas Geld mit Übersetzungen – zunächst aus dem Polnischen, später auch aus dem Englischen.

    „Wodka trinken mit Genies“

    Eine andere Art, Brücken zur kosmopolitischen Kultur der vorrevolutionären Zeit zu schlagen, war das „Wodkatrinken mit Genies“.5 Dieser Begriff beschreibt die Praxis, überlebende Dichterinnen und Dichter der vorrevolutionären Generation ausfindig zu machen und Freundschaften mit ihnen zu knüpfen. Die wohl prominentesten literarischen Überlebenden des „Krieges gegen die russische Kultur“ (Isaiah Berlin), den Stalin von den 1930ern bis zu seinem Tode führte, waren Boris Pasternak (1890–1960) und Anna Achmatowa (1889–1966). Sie wurden zu den letzten lebenden Verkörperungen der vorrevolutionären Hochkultur. Brodskys Freundschaft mit Achmatowa an ihrem Lebensabend verschaffte ihm eine Verbindung zur klassischen Sankt Petersburger Lyriktradition und insbesondere zu ihrem akmeistischen Dichterkollegen Ossip Mandelstam. Mandelstam, ein jüdischer Paria im russischen Reich, bestand auf der tiefen europäischen Prägung der russischen Kultur. Brodsky, auch er ein jüdischer Außenseiter im sowjetischen Kontext, berief sich häufig auf Mandelstams Konzept der Weltkultur – in der Hoffnung, Russland könnte den Bann der sowjetischen Selbstisolation brechen.

    „Ich bin infiziert mit normalem Klassizismus“: So fasst der 25-jährige Brodsky in der ersten Zeile seines Gedichts An eine gewisse Lyrikerin sein poetisches Credo zusammen. Der Klassizismus war der vorherrschende Stil in der Architektur Sankt Petersburgs. Brodskys Heimatstadt war zu seiner Lebzeit zwar nicht mehr die Hauptstadt eines Reichs, nicht mehr Russlands Fenster nach Europa, sondern eine in Leningrad „umbenannte Stadt“ (A Guide to a Renamed City, 1979)  in einem Land, das sich vom Rest der Welt abgeschottet hatte – doch ihre klassizistische Architektur konnte immer noch inspirieren. Für Brodsky war sie das Sinnbild der harmonischen Schule, die im Goldenen und Silbernen Zeitalter der russischen Poesie ihre Blütezeit erlebt hatte, die er fortsetzen wollte. Ein Freund Brodskys, der deutsche Schriftsteller Hans Christoph Buch, sah eine politische Dimension dieses klassizistischen Programms: 
    „Brodskys Ziel war von Anfang an nicht die Zertrümmerung der Form wie in der westlichen Avantgarde, sondern die Wiederherstellung des Reichtums der überlieferten Kunst und Literatur in einem durchaus klassizistischen Sinn. Das bedeutete zugleich eine Kampfansage gegen den totalitären Staat, dessen lähmendem Zugriff sich die russischen Dichter seiner Generation zu entziehen versuchten – nicht durch politischen Protest, sondern durch ästhetische Verweigerung.“6 

    „Wer hat Sie in den Dichterrang erhoben?“

    Nach dem Vorbild der russischen klassizistischen Dichter des 18. Jahrhunderts verlieh Brodsky der sowjetischen Poesie wieder eine metaphysische Dimension. Doch natürlich waren den Behörden Gedichte mit einer philosophischen Ebene, geschweige denn mit auch nur einer Andeutung von metaphysischen Elementen, ein Dorn im Auge. Der Ton von Brodskys Lyrik stand in erstaunlichem Kontrast zu den Orten, an denen er schrieb. Man kann sich kaum etwas weniger Klassizistisches vorstellen als die Kolchose in dem schlammigen Dorf Norenskaja, „zwischen Sümpfen und Wäldern verloren, nahe dem Polarkreis“7, wo er 1964 als sogenannter „Schmarotzer“ fünf Jahre Zwangsarbeit leisten musste. Die Richterin Saweljewa, die den Vorsitz in dem kafkaesken Prozess führte, erklärte, als Nicht-Mitglied des sowjetischen Schriftstellerverbandes sei Brodsky buchstäblich ein Niemand. „Wer hat gesagt, Sie seien ein Dichter?“, fragte sie, „Wer hat Sie in den Dichterrang erhoben?“ Brodsky entgegnete trotzig: „Niemand. […] Wer hat mich denn in den Menschenrang erhoben?“8 Seine geistreicher Konter hinderte die Richterin natürlich nicht daran, ihren Stempel unter den Schuldspruch zu setzen.

    Brodskys Verbannung hatte den Zweck, seinem Schaffen ein Ende zu setzen. Stattdessen wurde sie zu einem Wendepunkt in seiner dichterischen Entwicklung. In Norenskaja brachte Brodsky sich selbst Englisch bei und entdeckte die Dichtung von Auden. Er übersetzte auch den englischen Metaphysiker des 17. Jahrhunderts John Donne und schrieb Gedichte in Anlehnung an Robert Frost. Frosts stoische Begegnungen mit der ungezähmten amerikanischen Natur inspirierten Brodsky, als er sich in der russischen Arktis den Urgewalten stellen musste.

    Brodskys Lyrik hat oft etwas von einem Tagebuch. Überraschenderweise spricht der arktische Sträfling Brodsky mit der gleichen zurückhaltenden Stimme wie der venezianische Tourist Brodsky. Seine seltene Gabe der distanzierten, leidenschaftslosen Beobachtung steht über den persönlichen Umständen, so dass auch die Lesenden sich unabhängig von ihren Umständen mit seinem Wunsch identifizieren können, die Trostlosigkeit zu überwinden und das Unbelebte zu beleben: 

    [bilingbox]Gott lebt nicht „in den Ecken“ auf dem Lande, 
    wie Spötter witzeln, sondern überall. 
    Er segnet jeden Teller, jeden Stall,
    und ist zu teilen jede Tür imstande.

    Ja, hier herrscht Er im Überfluss. Er kocht
    am Samstag Linsen, und die Flammen beugen
    sich schläfrig über Ihm, dem Holz und Docht.
    Da zwinkert er mir zu als Augenzeugen.

    (Gott lebt nicht in den Ecken auf dem Lande…, 1964, Nachdichtung hier und weiter, falls nicht anders genannt von Alexandra Berlina)~~~В деревне Бог живёт не по углам,
    как думают насмешники, а всюду.
    Он освящает кровлю и посуду
    и честно двери делит пополам.
    В деревне он – в избытке. В чугуне
    он варит по субботам чечевицу,
    приплясывает сонно на огне,
    подмигивает мне, как очевидцу.

    («В деревне Бог живет не по углам…», 1964)[/bilingbox]

    Internationale cause célèbre

    Die Verfolgung Brodskys ging weitgehend nach hinten los. Das Gerichtsverfahren machte ihn im Westen zur nächsten internationalen cause célèbre nach der Affäre um Pasternaks Schiwago im Jahr 1958. Im November 1965 kehrte Brodsky nach Leningrad zurück. Während er für offizielle Kreise natürlich ein Paria blieb und die Geheimpolizei ihn bewachte, wurde er zu einem Star des Leningrader literarischen Untergrunds. Junge Leute suchten seine Gedichte im Samisdat und strömten zu seinen inoffiziellen Lesungen. Ebenso besuchten Westler, die es in die UdSSR schafften, seine „anderthalb Zimmer“ (In a Room and a Half, 1986) in einer Gemeinschaftswohnung.9 1967 lernte ihn George Kline kennen, ein amerikanischer Professor für russische Philosophie, der fortan seine Gedichte ins Englische übertrug. 1970 gelang es Kline, von Auden ein Vorwort für eine Sammlung dieser Übersetzungen zu erhalten.10 Dies war ein symbolischer Moment für die gesamte russische poetische Tradition: Die jahrzehntelange künstliche Isolation von internationalen kulturellen Entwicklungen wurde durchbrochen.

    Brodsky lernte weiterhin Englisch. Die englischsprachige Poesie, insbesondere Donne und die metaphysischen Dichter des 17. Jahrhunderts, prägten seine russische Poetik: seine Prosodie, seinen Stil und seine Themen.11 Der englische Einfluss wurde auch zu einer Quelle der Innovation, die ihm half, das abgestandene sowjetische poetische Idiom wiederzubeleben.12 Im Gegenzug hoffte Brodsky bereits damals, dass die englischen Übersetzungen seiner Lyrik einen Einfluss auf britische und amerikanische Dichtung ausüben könnten. Der Westen nahm einen immer größeren Raum auf Brodskys mentaler Landkarte ein. Ein amerikanisches Akademikerehepaar, Carl und Ellendea Proffer, half, ein Bändchen von ihm am Eisernen Vorhang vorbeizuschmuggeln, und es wurde in den USA veröffentlicht.13 Obwohl er nicht vorhatte, Russland zu verlassen, wollte Brodsky doch reisen, die Welt sehen, die großen Städte Europas erleben: London, Paris, Venedig, Rom … All seine Versuche, von den sowjetischen Behörden ein Ausreisevisum zu erhalten, erwiesen sich jedoch als erfolglos, wie er 1969 in dem Gedicht Das Ende einer schönen Epoche sardonisch zusammenfasste:

    [bilingbox]Sei es, dass mir die Mächtigen stahlen die Karte der Welt,
    sei es, dass die fünf Sechstel des Festlands von hier schlicht zu weit 
    weg sind. Sei es, dass eine es sicher gutmeinende Fee
    mich gebannt hält, doch kann ich von hier nicht entfliehen.

    (Das Ende einer schönen Epoche, 1969)~~~То ли карту Европы украли агенты властей,
     то ль пятерка шестых остающихся в мире частей
     чересчур далека. То ли некая добрая фея
     надо мной ворожит, но отсюда бежать не могу.

    («Конец прекрасной эпохи», 1969)[/bilingbox]

    Erzwungene Emigration

    Am 4. Juni 1972 war Brodsky dann gezwungen, seine Heimat von einem Tag auf den anderen für immer zu verlassen. Ein Flugzeug brachte ihn nach Wien, während seine schon alten Eltern, seine ehemalige Lebensgefährtin und ihr gemeinsamer Sohn, seine Freunde und seine Leserschaft in der Sowjetunion blieben. Bald darauf besuchte er in Begleitung von Auden das Poetry International Festival in London. Das britische Publikum bereitete ihm einen großen Empfang. Auden selbst wurde in den letzten Monaten seines Lebens zu einem Freund, und auch andere bedeutende englischsprachige Dichter wie Spender und Lowell hießen ihn willkommen. Sein Traum, das anglophone Publikum zu beeindrucken, war in Erfüllung gegangen, aber der Erfolg war bittersüß. Es tat Brodsky weh, dass ihm in der Heimat nie ein solches Publikum erlaubt gewesen war. Und er befürchtete, dass seine Muse die Verpflanzung nicht überleben würde – dass er anfangen könnte, das lebendige Russisch zu verlernen, wenn er es nicht an jeder Straßenecke hörte; dass er aufhören würde, ein Dichter zu sein.

    Zu diesem Thema erhielt Brodsky aber bald nach seiner Niederlassung in Amerika einen beruhigenden Brief von einem Dichterkollegen im Exil, Czesław Miłosz. Dieser schrieb, die Vorstellung, „dass das Leben eines Schriftstellers endet, wenn er seine Heimat verlässt“14 sei ein slawischer Mythos. Und tatsächlich entwickelte Brodsky bald eine psychologische Strategie gegen seine Angst: Er wollte sich selbst und andere überzeugen, dass seine erzwungene Emigration nichts Wesentliches in seinem Leben verändert hatte und auch nichts hätte verändern können – dass sein amerikanisches Leben im Grunde nahtlos sein Leben in Leningrad fortsetzte.15

    Poesie war für Brodsky schon immer ein Dialog mit seinen Vorgängerinnen und Vorgängern. Aber um sich als Dichter in einem neuen Land zurechtzufinden, musste er auch Zeitgenossen für sich gewinnen. Sein Ruf eilte ihm Voraus: Achmatowa und später Auden bürgten für sein Talent und erzählten der Welt, wie Brodsky verfolgt und später ins Exil getrieben wurde. Doch er konnte sich nicht allein auf Politik und seinen literarischen Ruf verlassen; er wollte in der neuen sprachlichen Umgebung als Dichter überleben. Fünf Jahre nach seiner Verbannung aus der Sowjetunion machte er sich daran, „auf Englisch zu schreiben – Essays, Übersetzungen, gelegentlich auch mal ein Gedicht“ (To Please a Shadow). Englische Übertragungen seiner Werke wurden für Brodskys dichterische Karriere in Amerika lebenswichtig. Er beauftragte verschiedene Übersetzer, und einige bedeutende englischsprachige Dichter boten Hilfe an. Aber Brodsky war sehr wählerisch. Er wollte vor allem, dass Metrum und Reim des Originals erhalten bleiben. Als sich sein Englisch verbesserte, begann er, die Nachdichtungen zu überarbeiten und wurde schließlich zum Selbstübersetzer.16

    Zweisprachiger Schriftsteller

    Brodskys Auftrag in Amerika war anders als der von Vladimir Nabokov, einem anderen zweisprachigen Schriftsteller aus seiner Heimatstadt, mit dem er immer wieder verglichen wird. Man könnte sagen, dass Brodsky es schwerer hatte. Nabokov war aus dem nationalsozialistischen Berlin nach Frankreich und weiter nach Amerika geflohen und hatte sich dem Englischen zugewandt, der Sprache seiner mehrsprachigen russischen Aristokratenkindheit. Brodsky hingegen versuchte, in Amerika als russischer Dichter zu überleben, während er gleichzeitig mit englischsprachigen Essays und Übersetzungen ins Englische in sprachliches Neuland vorstieß. Doch sowohl Nabokov als auch Brodsky gelang, was früheren Generationen von russischen Emigranten nicht gelungen war: „sich die Länder des Exils, wenn auch widerwillig, zu eigen zu machen, sie durch das poetische Wort in Besitz zu nehmen“, wie Miłosz es formuliert.17 
    1987 wurde Brodsky mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet; 1991 wählte ihn die Library of Congress zum Poet Laureate Amerikas. Er war der erste Dichter mit ausländischem Akzent, dem diese Ehre zuteil wurde: Seine obsessive Liebe zur englischen Sprache machte jeden Mangel wett. Brodsky zeichnete sich auch als Essayist aus. Die Hälfte seiner Essays sind inspirierende Close Readings seiner Lieblingsdichter, als deren Summe er sich bezeichnete18 – Mandelstam, Zwetajewa, Frost, Achmatowa, Auden, Hardy und Rilke. Die andere Hälfte beschäftigt sich mit seiner sowjetischen Kindheit. Brodsky gelingt es, in ihnen Erfahrungen zu artikulieren, für die seinen Landsleuten oft die Worte fehlten.

    Literatur als Impfstoff gegen Unfreiheit

    Brodsky glaubte innig, dass Sprache und Poesie sowohl versklaven als auch befreien können: Literatur biete zwar keine Garantie der Freiheit, aber doch einen Impfstoff gegen Unfreiheit. Er hatte das Trauma des 20. Jahrhunderts und die Versklavung einer ganzen Nation durch die Sprache der Ideologie miterlebt. Es lag ihm unendlich viel an intellektueller und geistiger Freiheit, und er hoffte, dass auch sein Werk eine Rolle bei der Befreiung des Geistes spielen könnte. Daher auch seine Nobelvorlesung und sein „unbescheidener Vorschlag“, Gedichtbände in Hotelzimmern zu verteilen.19 Als Autodidakt lernte er sowohl aus Büchern als auch von den Großen, die er kannte – zum Beispiel von Achmatowa, deren Hauptwerkzeug des politischen Widerstands die Erinnerung war.20 Die Erinnerung an Menschen, deren Leben von der Staatsmaschinerie ausgelöscht wurde, sowie die vielen Gedichte, die sie auswendig kannte, halfen ihr, als Dichterin und Mensch Würde zu bewahren. Für sie gehörte die Bewahrung der poetischen Tropen – Metrum und Reim – zum Bollwerk gegen den Zerfall der Zivilisation, der poetischen Tradition, des historischen und künstlerischen Gedächtnisses. Brodsky war ihr Schüler gewesen; sein Ehrgeiz galt nicht sich selbst, sondern der Sprache, der er diente. Und es gelang ihm, was sonst niemandem gelang – seine Dichterfigur in ihrer Gesamtheit in eine andere Sprache und Kultur zu übersetzen. Mit seinem Charisma, seinem Genie und seiner Überzeugungskraft wurde er schließlich im Englischen wie im Russischen zu einem Teil der Sprache: 

    [bilingbox]Was von dem Menschen als Ganzes bleibt,
    ist nur ein Teil. Teil der Rede. Ein Redeteil.

    („Bei dem Wort ‚Zukunft‘ entrinnen der russischen Sprache …“, 1975)~~~От всего человека вам остается часть
    речи. Часть речи вообще. Часть речи.

    («И при слове ‚грядущее‘…», 1975)[/bilingbox]

    (Nicht-)Rückkehr und Mythisierung

    Brodskys Rückkehr nach Russland war ein Triumph – auch wenn nur seine Worte zurückkehrten, nicht er selbst. Die meisten seiner russischen Werke und Übersetzungen aus dem Englischen erschienen schon zu Lebzeiten in seinem Heimatland. Zu dem Erstaunen vieler weigerte sich Brodsky nach dem Zerfall des Sowjetimperiums aber, auch nur für einen kurzen Besuch zurückzukehren, trotz unzähliger nahezu flehentlicher Bitten. Wenn man ihm das aber vorwirft, vergisst man, dass nach seinem Exil in der Sowjetunion sogar sein Name tabu war. Die russischen Freunde, die inoffizielle Sammlungen seiner Gedichte zusammenstellten, waren Verfolgung und Schikanen ausgesetzt.21 Die New Yorker Schriftstellerin Susan Sontag, die mit Brodsky befreundet war, fand seine Weigerung, zurückzukehren, „symbolisch für das, was er war.“22 Zudem waren „diejenigen, die [ihn] mehr geliebt hatten als sich selbst, nicht mehr am Leben“23 – seine Eltern, die er jahrelang verzweifelt und erfolglos wiederzusehen versuchte. Er durfte nicht einmal ihren Beerdigungen beiwohnen. Wozu also zurückkehren, wenn sie nicht an seinem Triumph teilhaben konnten? 

    Am 28. Januar 1996 starb Brodsky an einem Herzinfarkt in seiner New Yorker Wohnung. Er war erst 55. Sein Leichnam wurde in Venedig beigesetzt, einer von ihm innig geliebten Stadt. In Russland wurde er indes zu einer Dichterfigur von nahezu puschkingroßer, mythischer Statur. Brodsky mag oft beklagt haben, dass wegen des Puschkin-Kults gleichbedeutende Lyriker seiner Zeit wie Baratynski und Wjasemski in Vergessenheit gerieten, aber die hohe Stellung eines Dichters in Russland als solche hätte er nie in Frage gestellt. In seinem 1976 als Hommage an Dante geschriebenen Gedicht Dezember in Florenz prophezeite Brodsky, dass er in Wortgestalt nach Russland zurückkehren würde. Man mag einen Dichter aus seiner Stadt verbannen, aber die Sprache der Daheimgebliebenen werde am Ende von dem im Exil geprägt: 

    [bilingbox]Es gibt Städte, in die man nicht zurückkehren kann.
    […] 
    Dort flimmern Kolonnaden, eherne Ungeheuer am Ufer;
    Dort spricht die Menge in der Tram, dicht gedrängt bis zu den Stufen,
    in der Sprache eines Menschen, der von dort längst abberufen.

    („Dezember in Florenz“, 1976, Nachdichtung von Isolde Baumgärtner)~~~ Есть города, в которые нет возврата. …
    […]
    там рябит от аркад, колоннад, от чугунных пугал;
    там толпа говорит, осаждая трамвайный угол,
    на языке человека, который убыл.

    («Декабрь во Флоренции», 1976)[/bilingbox]

    Ob Brodsky die Sprache geprägt hat, die heute in Russland auf der Straße gesprochen wird, ist schwer zu sagen. Aber wer auch immer heute Gedichte auf Russisch schreibt, muss gegen Brodskys Meisterschaft im dichterischen Handwerk, seine Vielseitigkeit, seine intellektuelle Kraft und seine Weltoffenheit ankommen – muss sich erst einmal ein Stück Existenz im Schatten Brodskys erobern.


    1. Brodsky, Joseph (1996): „Uncommon Visage: The Nobel Lecture“, in: On Grief and Reason: Essays, New York, S. 55 ↩︎
    2. Smith, Gerald S. (2001): „Russian poetry since 1945“, in: Cornwell, Neil (Hrsg:): The Routledge Companion to Russian Literature, London/New York, S. 197 ↩︎
    3. sh. auch: Kizeval’ter, Georgij (Hrsg., 2018): Vremja nadežd, vremja illjuzij: Problemy istorii sovetskogo neoficial’nogo iskusstva: 1950-1960 gody, Novoe literaturnoe obozrenie, Moskau ↩︎
    4. Mandel’štam,Nadežda (2014): Vtoraja kniga, Bd. 2, Ekaterinburg, S. 35 ↩︎
    5. Der Ausdruck stammt von der Dichterin Junna Moriz, die ihn abfällig meinte und sich „rühmte, daran nicht teilzunehmen“, zitiert nach Smith 2001, S. 199 ↩︎
    6. Buch, Hans Christoph (1996): „Nachmittag eines Nobelpreisträgers: Begegnung mit Joseph Brodsky“, in: Übung mit Meistern: Begegnungen Und Gespräche, Berlin, S. 90-91, kursiv: Ishov ↩︎
    7. Brodsky, Joseph (1986): „To Please A Shadow“, in: Less Than One, London, S. 361-362: „Ich habe meine Zeit im Norden abgesessen, in einem Dorf, das sich zwischen Sümpfen und Wäldern in der Nähe des Polarkreises verlor.“ ↩︎
    8. Vigdorova,Frida (1964): „The trial of a young poet: the case of Josef Brodsky“, in: Encounter, Vol. 23, September 1964, S. 84-91 ↩︎
    9. Hinsey, Ellen /Venclova, Tomas (2017): Magnetic North: Conversations with Tomas Venclova, Rochester, NY, S. 230 ↩︎
    10. sh. auch: Brodsky, Joseph (1973): Selected Poems; Übersetzer: George L. Kline; Vorwort: W.H. Auden, London ↩︎
    11. sh. auch: Kreps, Michail (1984): O poezii Iosifa Brodskogo, Ann Arbor, Michigan, S. 27 ↩︎
    12. sh. auch: Bethea, David (1994): Joseph Brodsky and the Creation of Exile, Princeton, New Jersey, S. 226-227 ↩︎
    13. Brodskij, Iosif (1970): Ostanovka v pustyne, New York ↩︎
    14. sh. auch: Grudzińska-Gross, Irena (2009): Czesław Miłosz and Joseph Brodsky: Fellowship of Poets, New Haven/London, S. 1-2 ↩︎
    15. sh. auch: Ishov, Zakhar (im Erscheinen): Joseph Brodsky: A Continuation of Space: American Poet Found in Translation, Evanston, Illinois ↩︎
    16. sh.Brodsky, Joseph (2000): Collected Poems in English, New York ↩︎
    17. ebd., S. 24 ↩︎
    18. Brodsky, „Uncommon Visage“, S. 44 ↩︎
    19. Brodsky, „An Immodest Proposal“, OGR, S. 198-211 ↩︎
    20. Grudzinska-Gross, Irena (1987): „Culture as Opposition in Today’s Poland“, in: Journal of International Affairs, Vol. 40, No. 2, (Winter/Spring), 1987, S. 387-390 ↩︎
    21. Die prominentesten von ihnen waren der Herausgeber Vladimir Maramzin, der Literaturkritiker Michail Сhejfec und der Übersetzer und Romanist Efim Etkind. Siehe auch Brodsky, Joseph (1974): „An Appeal for Vladimir Maramzin“, NYRB, 19.9.1974 ↩︎
    22. Sontag, Susan (1998): „Afterword“, in: Lemkhin, Mikhail (Hrsg.): Joseph Brodsky: Leningrad: Fragments, New York, S. 203-204 ↩︎
    23. Brodsky, „In Italien“, CPE, S. 340 ↩︎

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