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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Europas Energiewende – Russlands Systemkrise?

    Europas Energiewende – Russlands Systemkrise?

    Bei Gazprom rollt derzeit der Rubel: Die Ostseepipeline Nord Stream 2 ist fertig, der Gaspreis in Europa bricht historische Terminbörsen-Rekorde, die europäischen Gasspeicher sind nach dem kalten Winter noch nicht aufgefüllt, und schon steht der nächste Winter vor der Tür. Obwohl Gazprom mit erheblichen Problemen zu kämpfen hat, sind die Aussichten des Unternehmens in den nächsten Jahren offenbar glänzend. 
    Unkenrufe dagegen ertönen in jüngster Zeit zunehmend zum Thema Kohle und Erdöl(produkte): Sberbank-Chef German Gref etwa warnte kürzlich, dass durch die weltweit zunehmende Abkehr von fossilen Energieträgern Russlands Exporte einbrechen könnten, bis 2035 könnte sich dadurch ein riesiges Haushaltsloch auftun. Dann würden auch die Einkünfte der Menschen in Russland, so Gref, um fast 15 Prozent zurückgehen. 

    „25 Prozent“, korrigiert Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew nun im Interview auf Znak. Die in vielen Ländern angestrebte Energiewende, meint Inosemzew, werde Russland schon bald stark zusetzen. dekoder bringt einzelne seiner Thesen.

    „Das aktuelle politische System Russlands ist eine Rakete, die von der Erde losgeschossen in den offenen Kosmos geflogen ist, und nun fliegt sie und fliegt, weiter und weiter. Bis sie mit einem Asteroiden zusammenstößt.

    […]

    Der Ausstieg aus den fossilen Energieträgern könnte sich als ein solcher Asteroid erweisen. Und zwar weitaus früher als 2035. Seinerzeit sprach man von der Schiefergasrevolution und Flüssiggas in einem Zeithorizont von 15 bis 20 Jahren, doch der Übergang zu Fracking und Flüssiggas vollzog sich sehr viel schneller, innerhalb von nur rund sechs Jahren. So gesehen wird uns die Energiewende schon in acht bis neun Jahren merklich treffen.

    […]

    Noch sind die Preise für Energieträger hoch und steigen möglicherweise noch weiter an. Zwei oder drei Jahre mit beeindruckenden Exporterlösen sind uns wahrscheinlich noch sicher. Der Staatshaushalt und der Nationale Wohlstandsfonds werden vor lauter Geld bersten. Doch es wird der letzte Atemzug sein, wie an einem Beatmungsgerät. Von 2024 oder 2025 an werden die Preise und die Exporerträge schnell schrumpfen. Angesparte Reserven und Staatsanleihen werden wohl noch weitere fünf Jahre für Linderung sorgen. Aber Anfang der 2030er Jahre wird es dann brenzlig.

    Selbst wenn man sich vorstellt, der Kreml und das Weiße Haus würden morgen früh anfangen, Russland zu modernisieren, wird es immer noch anderen Ländern hinterherhinken. Man hätte damit schon vor 13 Jahren beginnen sollen, als die Ölpreise bei bis zu 140 Dollar pro Barrel lagen, der US-Dollar 23 Rubel wert war und die Bedingungen für Import und die Inbetriebnahme moderner Technik noch bestens waren. Doch stattdessen entspannte sich das russische Establishment und war glücklich und zufrieden. Und damit ist es nicht allein: Man geht keine Reformen an, wenn es einem gut geht. Das war bei den Japanern so, bei den Koreanern, in Taiwan, eigentlich überall.

    Der Unterschied besteht darin, dass unsere Ganoven, so scheint mir, keine Reformen in Angriff nehmen werden. Denn trotz der Warnungen von Sberbank-Chef German Gref […] sind sie zu sehr damit beschäftigt, sich auf ihren Lorbeeren auszuruhen – und merken kaum, wie die Krise näher und näher rückt.“

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  • „Entweder man sucht ein Übereinkommen mit den Taliban oder man baut eine Mauer“

    „Entweder man sucht ein Übereinkommen mit den Taliban oder man baut eine Mauer“

    Die tragischen Bilder vom Flughafen Kabul machen viele Menschen weltweit fassungslos. Für den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier sind sie „beschämend für den politischen Westen“. Neben hämischen Kommentaren in russischen Staatsmedien fragen unterdessen auch vermehrt einzelne unabhängige Stimmen, inwieweit der Westen überhaupt noch Vorbild für Russland sein kann.

    Russland führt Gespräche mit den Taliban – die offiziell als Terrororganisation gelten –, belässt einen Teil seiner Diplomaten in Kabul und schickt gleichzeitig zusätzliches Militärgerät nach Tadshikistan, wo es einen Stützpunkt unterhält.

    Diese Haltung kommentiert der russische Journalist Michail Koshuchow, der von 1985 bis 1989 Kriegskorrespondent in Afghanistan war, im Interview mit Znak. Er greift tief in die Geschichte, um die heutigen Probleme Afghanistans zu erklären und dessen mögliche Zukunft zu vorhersagen. Dabei kommt er teilweise zu überraschenden Ergebnissen, betont gleichzeitig aber auch die Sinnlosigkeit von Kriegen. 

    Ignat Bakin/Znak: Als wäre es das Normalste der Welt führt Russland offizielle Gespräche mit den Taliban – die uns noch Anfang der 2000er Jahre den Krieg erklärt und diese Erklärung bis heute nicht annulliert haben. „Schizophrenie der gegenwärtigen russischen Diplomatie“ nennt das etwa Andrej Serenko, der Leiter des Zentrums zur Erforschung des modernen Afghanistan (ZISA). Noch viel ungeheuerlicher erscheinen diese Gespräche vor dem Hintergrund, dass in Russland Journalisten, Oppositionelle und Organisationen, die alles andere als terroristisch sind, zu „ausländischen Agenten“ erklärt und verboten werden.

    Michail Koshuchow: Das stimmt zwar, aber wir haben genau zwei Möglichkeiten: Entweder versucht man ein Übereinkommen zu erreichen, oder man folgt dem Traum von Ex-US-Präsident Donald Trump und baut an der Grenze zwischen Afghanistan und Tadshikistan eine Mauer. Einen dritten Weg sehe ich nicht.Der ehemalige Kriegskorrespondent Michail Koshuchow © Facebook Michail Koshuchow/Znak

    Außenminister Sergej Lawrow hat erklärt, Russland werde keine Truppen nach Afghanistan schicken. Es gibt aber schon Informationen, dass wir Kriegsgerät nach Tadshikistan verlegen, wo Russlands Militärstützpunkt Nr. 201 Dienst tut. In den sozialen Netzwerken erkundigen sich Leute nach den Bedingungen für eine Entsendung als Vertragssoldat nach Tadshikistan. Wie bewerten Sie diesen Feuereifer unserer Landsleute?

    Zu allen Zeiten wurden Ackerbauern, Dichter und sonstige Talente geboren, aber eben auch Krieger. Auch bei uns. Und dann gibt es welche, die gern in den Krieg ziehen, schließlich ist das leichter, als Felder zu bestellen. Wenn also irgendwo ein Schuss fällt, sammeln sich sofort die unterschiedlichsten Leute. Einige kämpfen vielleicht für eine Idee, doch denke ich, dass sich die meisten von profaneren Motiven leiten lassen.

    „Wenn irgendwo ein Schuss fällt, sammeln sich sofort die unterschiedlichsten Leute“

    Die Ereignisse der letzten Jahre haben gezeigt, dass es vielen egal ist, auf wen sie schießen. Für Geld sind sie bereit, in jeden Krieg zu ziehen. Das ist 2014 mit dem Krieg im Donbass endgültig klar geworden.

    Könnte es passieren, dass die Taliban Tadshikistan angreifen und für die ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien zu einer unmittelbaren Gefahr werden?

    Das ist nicht völlig unwahrscheinlich. Allerdings steht diese Frage heute nicht auf der Agenda. Die Menschen in Afghanistan haben vorläufig genug mit sich selbst zu tun. Wir müssen aber natürlich ernsthaft darüber nachdenken, was morgen passieren kann.

    Es hat sich historisch ergeben, dass beträchtliche Abschnitte der afghanischen Grenze zu Tadshikistan und Usbekistan unbewacht sind. Dort gibt es sehr hohe Berge, die man ohne Bergsteigerfähigkeiten und entsprechende Ausrüstung nicht überqueren kann. Die Einrichtung vollwertiger Grenzschutzanlagen würde unglaubliche Anstrengungen und Investitionen erfordern. Selbst zu sowjetischen Zeiten musste man sich damit begnügen, in diesen Abschnitten ab und zu mobile Grenzschutzbrigaden abzusetzen, um Flagge zu zeigen: Man konnte nur so tun, als würde man eine Staatsgrenze bewachen. In einigen Abschnitten der tadshikisch-afghanischen Grenze ist der Amu-Darja nur wenige Meter breit. Dort kann selbst ein Jugendlicher sein Bündel ans andere Ufer werfen. Das macht auch den Schmuggel von afghanischem Heroin möglich, der für viele Länder immer noch eine beträchtliche Gefahr darstellt.

    Pressekonferenz von Vertretern der Taliban in Moskau, Januar 2021. Foto © Igor Iwanko/Kommersant

    Wie wahrscheinlich ist ein neuer Krieg in Afghanistan unter Beteiligung der Supermächte dieser Welt?

    Wenn ein militärischer Konflikt ausbricht, finden sich immer und überall Generäle, die die Ärmel hochkrempeln, denen es in den Fingern juckt: Schließlich bedeutet Krieg für sie Orden, Karriere und neue Waffen. Das ist ihr Leben. Und sie finden meist Argumente, um die Politiker davon zu überzeugen, sie schießen zu lassen. Ich habe dennoch die Hoffnung, dass die kollektive Vernunft der Menschheit die Oberhand gewinnt und das Problem auf andere Weise gelöst wird.

    „Wenn ein militärischer Konflikt ausbricht, finden sich immer und überall Generäle, die die Ärmel hochkrempeln, denen es in den Fingern juckt“

    Was meinen Sie, belagern unsere Generäle bereits Wladimir Putin mit der Forderung nach einem Einmarsch in Afghanistan oder einer Beteiligung an einem Grenzkonflikt?

    Sollten sie noch nicht an die Tore des Erlöserturms des Moskauer Kreml klopfen, so hegen sie doch höchstwahrscheinlich solche Gedanken, grübeln und kratzen sich ihre Generalsnacken.

    Worum geht es Russland in Afghanistan? Um wirtschaftliche und politische Beziehungen, weil Afghanistan an der Grenze zu Zentralasien und dem Nahen Osten liegt? Oder ist das eine Region, in der kriegerische Auseinandersetzungen permanent zum Zerfall des Landes und zu Radikalisierung führen und in der immer wieder neue terroristische Gruppierungen entstehen?

    Sowohl als auch. Russland hat seit Jahrhunderten sehr enge Beziehungen zu Afghanistan. Natürlich mussten bestimmte Strukturen in letzter Zeit aufgegeben werden, aber es gibt auf beiden Seiten Menschen, die intensiv zusammenarbeiten und Handelsbeziehungen pflegen. Die geografische Nähe legt nahe, dass die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit solcher Verbindungen im Vordergrund steht. Außerdem grenzt Afghanistan an die ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken, und alles, was dort passiert, betrifft auf die eine oder andere Art auch unsere Interessen.  

    „Alles, was dort passiert, betrifft auf die eine oder andere Art auch unsere Interessen“

    Es ist nicht auszuschließen, dass der Wind aus Afghanistan die Saat des religiösen Extremismus nach Tadschikistan, Usbekistan und sogar noch weiter trägt. Niemand kann garantieren, dass in Moskau nicht demnächst Gastarbeiter auftauchen, die solchen Ideen anhängen.  

    Wenn wir von Afghanistan sprechen, denken wir unweigerlich an den längsten Krieg in der sowjetischen Geschichte: den Afghanistankrieg von 1979 bis 1989. Ein Kontingent sowjetischer Truppen unterstützte damals die Streitkräfte der afghanischen Regierung im Kampf gegen die Mudschaheddin. Die militärische Präsenz der UdSSR ist bis heute umstritten, genauso wie die Sinnhaftigkeit der Unterstützung der USA für die Mudschaheddin. Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen war der Bürgerkrieg in Afghanistan nicht beendet, sondern flammte mit neuer Kraft auf. Was meinen Sie, war der sowjetische Einmarsch ein Fehler?

    Man kann es drehen und wenden, wie man will, es gibt nicht den geringsten, nicht einmal einen mikroskopisch kleinen Anlass, das Urteil anzuzweifeln, das der Erste Kongress der Volksdeputierten 1990 über den Afghanistankrieg fällte: Er war ein tragischer und verhängnisvoller Fehler. Da gibt es keine Diskussion.

    „Der Afghanistankrieg war ein tragischer und verhängnisvoller Fehler. Da gibt es keine Diskussion”

    Als Sie für die Komsomolskaja Prawda arbeiteten, haben Sie sich aber freiwillig für Afghanistan gemeldet.

    Ich bin ein Vertreter einer romantischen Generation. Trotz unserer Enttäuschung durch das sowjetische Regime hatten sich viele von uns eine romantische Illusion bewahrt: Wenn sich die „lichte Zukunft“ bei uns nicht einstellt, heißt das noch lange nicht, dass die Sache hoffnungslos ist. Viele, vor allem Offiziere, sind freiwillig nach Afghanistan gegangen. Aber schon nach den ersten Tagen dort war von meinen Illusionen nicht mehr viel übrig. Und nicht nur von meinen – dieser Krieg war sinnlos. 

     „Die Jahre, die ich in Afghanistan verbrachte, waren die besten meines Lebens”

    Wobei die Jahre, die ich dort verbrachte, die besten meines Lebens waren, die Zeit, in der ich beruflich maximal gefordert war. Ich danke dem Schicksal für alle Menschen, denen ich in der Armee begegnet bin. Und alles, was ich jetzt über diesen Krieg sage und denke, beruht auf meiner Einschätzung seiner Sinnhaftigkeit und seiner Folgen, gilt aber keinesfalls für die Soldaten, ihre treuen Dienste und ihre Bereitschaft zur Selbstaufopferung.     

    Was sind die Ziele der Taliban, die Anfang des Jahrtausends von US-Truppen ja beinahe vernichtet worden waren? Wollen sie in Afghanistan nun einen islamischen Staat aufbauen, der auf den Gesetzen der Scharia basiert?

    Ich habe ihre Statuten, wenn man das so nennen kann, nicht gelesen. Aber eines weiß ich: Der Kampf um die Macht in Afghanistan, auch der bewaffnete, war schon vor dem Einmarsch der sowjetischen Truppen im Gange. Doch hat erst die Anwesenheit unserer Truppen aus diesen kleinen Streitereien einen heiligen Krieg des ganzen Volkes gemacht – einen Dschihad. Wir wissen nicht, wie sich die Dinge entwickelt hätten, wäre unsere Armee nicht in Afghanistan einmarschiert. Fakt ist aber, dass diese unüberlegte Entscheidung des Politbüros des Zentralkomitees der KPdSU der Grund war, warum sich dieser Kampf zu einem Dschihad mit all seinen Folgen auswuchs. An vorderster Front standen die Glaubenskrieger, die Mudschaheddin oder, wie wir sie nannten, die Duschmany.

     „Erst die Anwesenheit unserer Truppen hat aus kleinen Streitereien einen heiligen Krieg des ganzen Volkes gemacht“

    Auf den Schultern der Mudschaheddin sind mit kolossaler Finanzierung der Amerikaner, mit chinesischer Hilfe und unmittelbarer Beteiligung Pakistans die Taliban entstanden. Aus den Taliban ging Al-Qaida hervor. Das Banner der Al-Qaida hat dann der IS übernommen. Die Kausalität ist für mich hier offensichtlich. Ohne das eine hätte es auch das andere nicht gegeben. 






     

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  • „Rundherum lagen Menschen in Blutlachen“

    „Rundherum lagen Menschen in Blutlachen“

    Während der anhaltenden landesweiten Proteste in Belarus sind mehr als 6000 Menschen verhaftet worden. In sozialen Medien tauchten zahlreiche Fotos von großen Menschenmengen vor Gefängnissen auf, die Leute waren auf der Suche nach ihren Angehörigen. Derzeit häufen sich Berichte, wonach zahlreiche Festgenommene wieder aus den überfüllten Gefängnissen entlassen werden, viele davon mit Verletzungen. Hunderte Frauen, teilweise in Weiß gekleidet und mit Blumensträußen, bildeten in zahlreichen Städten Ketten, um ihre Solidarität mit Verhafteten und Verwundeten auszudrücken. Landesweit haben außerdem Mitarbeiter von Fabriken gestreikt und unter anderem faire Wahlen und die Freilassung der Festgenommenen gefordert. Auch Krankenhauspersonal versammelte sich und forderte ein Ende der Gewalt.

    Unterdessen häufen sich in unterschiedlichen Medien Augenzeugenberichte von grausamer Polizeigewalt, auch Folter. Auch der russische Znak-Korrespondent Nikita Telishenko war am 10. August in Minsk festgenommen worden. Sein Bericht über die Gewalt, die er danach gesehen und erfahren hat, wird derzeit in sozialen Netzwerken zehntausendfach geteilt und gelesen.

    Am Abend des 10. August wurde der Znak-Korrespondent Nikita Telishenko in Minsk festgenommen, ehe eine Protestaktion gegen die Wahlfälschungen losging. Er kam beruflich nach Belarus, im Auftrag seiner Redaktion. Nach der Festnahme gab es 24 Stunden keinen Kontakt zu ihm. Nikita wurde erst am Dienstagabend freigelassen.

    Inhaftierung 

    Ich wurde am 10. August festgenommen, als ganz Minsk an der zweiten Protestaktion gegen die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl in Belarus teilnahm. Die Aktion war in der Uliza Nemiga geplant, wo bereits Kampffahrzeuge und Lastwagen aufgefahren waren. In den Durchgängen und zwischen den Häusern waren viele Soldaten, Spezialkräfte der OMON und die Polizei. Ich bin da einfach langgelaufen und habe mir die Vorbereitungen für die Demonstration angeschaut. Ich sah Wasserwerfer, schrieb das an das Redaktionsbüro, und eine Minute später kamen Polizeibeamte auf mich zu, sie trugen normale Uniform. Sie baten mich, zu zeigen, was denn in meiner Tasche sei, sie erschien ihnen verdächtig. Ich zeigte ihnen, dass ich darin einen Pulli hatte. Danach ließen sie mich gehen.


    Dann sah ich an der Haltestelle Sportpalast, wie sich die OMON-Kräfte alle schnappten, die aus einem Bus ausstiegen, und sie in einen Gefangenentransporter steckten. Ich fotografierte das mit meinem Telefon und schrieb der Redaktion, berichtete über die ersten Verhaftungen bei der zweiten Protestaktion. Dann ging ich in Richtung des Heldenstadt-Obelisken [beim Museum des Großen Vaterländischen Kriegs – dek], wo sich am Tag zuvor Demonstranten und Ordnungskräfte eine regelrechte Schlacht geliefert hatten, und wollte sehen, wie der Ort nun aussah. Aber auf halbem Weg kam ein Minivan auf mich zu. Und schon waren bewaffnete OMON-Leute herausgesprungen. Sie rannten auf mich zu und fragten, was ich hier mache. Später wurde mir klar, dass sie die Koordinatoren der Aktion suchten, sie wussten, dass die Demonstranten per Telegram Informationen über die Bewegung der Polizei austauschten und über Hinterhalte berichteten. Sie haben mich wohl für einen von denen gehalten. Ich sagte ihnen: „Ich habe nicht einmal Telegram auf meinem Telefon, ich schreibe eine SMS, ich bin Journalist, ich schreibe an die Redaktion.“ Sie schnappten mein Telefon, lasen die Nachrichten und setzten mich dann ins Auto. Ich sagte ihnen, dass ich gegen nichts verstoßen, nicht an der Protestaktion teilgenommen habe, dass ich Journalist sei, worauf ich die Antwort bekam: „Setzen Sie sich, gleich kommen die Chefs und klären die Sache.“

    Bald kam eine GAZelle, die zum Gefangenentransporter umgerüstet war. Sie verdrehten mir die Arme und steckten mich da rein. Ich bat um ein Telefon, um die Redaktion darüber zu informieren, dass ich nun doch festgenommen wurde. 

    „Wir haben dich nicht festgenommen“, sagte mir einer der OMON-Männer. 

    „Nun, ich bin hinter Gittern“, antwortete ich.

    „Halt die Klappe“, parierte er. 

    Dann nahmen sie meinen Pass und sahen, dass ich russischer Staatsbürger bin. 

    „Und … was machst du [obszönes Wort für männliches GeschlechtsorganZnak] hier?“

    „Ich bin Journalist“, antwortete ich.

    An diesem Punkt war der Dialog mit den OMON-Leuten beendet. Ich saß in der GAZelle und wartete darauf, dass sie mit genau solchen Nicht-Festgenommenen wie mir gefüllt würde. Es dauerte eine halbe Stunde. Neben mir saß dann ein 62-jähriger Rentner. Sein Name war Nikolaj Arkadjewitsch. Er erzählte mir, dass er auf dem Weg zum Einkaufen festgenommen worden war: Er hatte gesehen, dass sich die OMON-Leute einen Jungen gegriffen hatten. „Ich bin für ihn eingetreten, habe versucht, ihn freizukriegen. Ich sagte ihnen: ,Er ist ein Kind, was tun Sie da?‘“ Schließlich rannte der Junge weg, und er wurde festgenommen. 

    Nikolaj Arkadjewitsch hatten sie seinen Angaben zufolge heftig in die Leber geschlagen. Er bat darum, einen Krankenwagen zu rufen, doch niemand reagierte auf seine Bitte. 

    16 Stunden Hölle bei der Polizei im Moskowski Bezirk

    Und so fuhren wir irgendwohin. Wohin, das wusste ich da noch nicht. Doch dann stellte sich heraus, dass es zur örtlichen Polizei im Moskowski Bezirk ging – 16 Stunden, die für uns alle die Hölle sein würden. Wir sind etwa 20 bis 30 Minuten gefahren. 

    Kaum hielten wir an, ertönte ein Schrei von OMON-Leuten in kugelsicheren Westen: „Gesicht auf den Boden!“

    Polizisten stürmten in den Transporter, banden uns die Hände so hinter den Rücken, dass wir fast nicht laufen konnten. 

    Ich bekam meinen ersten Hieb, weil ich mich nicht tief genug gebückt hatte

    Ein junger Mann vor mir wurde mit dem Kopf gegen die Eingangstür des Polizeireviers geschlagen. Er schrie vor Schmerzen. Daraufhin schlugen sie ihm auf den Kopf schrien ihn an: „Halt's Maul, Hurensohn!“ Ich bekam meinen ersten Hieb, als ich aus dem Auto stieg: Ich hatte mich nicht tief genug gebückt und bekam einen Schlag mit der Hand auf den Kopf und dann mit dem Knie ins Gesicht.


    Im Polizeigebäude wurden wir zunächst in einen Raum im vierten Stock gebracht.

    Die Leute dort lagen als lebender Teppich auf dem Boden, und wir mussten direkt auf ihnen entlang laufen. Es war ein schreckliches Gefühl, war ich doch jemandem auf die Hand getreten, aber ich konnte überhaupt nicht sehen, wohin ich ging, weil mein Kopf stark nach unten geneigt war. 

    „Alle auf den Boden, Gesicht nach unten“, schrien sie uns an. Und mir war klar, dass man sich nirgendwo hinlegen konnte, rundherum lagen Menschen in Blutlachen. 
    Es gelang mir, einen Platz zu finden, wo ich mich nicht als zweite Schicht auf Menschen legen musste, sondern neben sie. Auf den Bauch, Gesicht nach unten. Auch hier hatte ich Glück: Ich trug eine Maske, die mir den schmutzigen Boden erträglich machte. 
    Um mich herum wurde derbe geprügelt: Von überall hörte man dumpfe Schläge, Schreie, Wimmern. Mir schien es, dass einige der Gefangenen Arme, Beine oder Wirbelsäule gebrochen hatten, denn bei der geringsten Bewegung schrien sie auf vor Schmerzen.

    Werden die Schläge von heute wohl auch als besondere Verdienste gewertet?

    Die neuen Häftlinge wurden gezwungen, sich als zweite Schicht auf die anderen zu legen. Nach einer Weile müssen sie jedoch kapiert haben, dass das eine schlechte Idee ist, und jemand befahl, Bänke zu bringen. Ich gehörte zu denen, die darauf sitzen durften. Aber man durfte nur mit gesenktem Kopf sitzen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Und erst dann sah ich, wo wir waren – es war die Aula der Polizeiwache im Moskowski Bezirk. Ich konnte einen Blick erhaschen und sah, dass an der Wand gegenüber Fotos von Polizisten mit besonderen Verdiensten hingen. Für mich war das böse Ironie: Werden die Schläge von heute wohl auch als besondere Verdienste gewertet?

    So haben wir 16 Stunden verbracht.

    Wer auf die Toilette wollte, musste die Hand heben. Einige der Wächter erlaubten es und brachten die Leute dorthin. Andere sagten: „Mach doch auf den Boden!“

    Ich spürte meine Arme und Beine kaum noch, der Nacken schmerzte schwer. Hin und wieder wurden die Plätze getauscht. Hin und wieder kamen neue Mitarbeiter und nahmen erneut all unsere Daten auf, den Namen, wann festgenommen … und so weiter.

    Wir hörten, wie Menschen in den Stockwerken unter und über uns geschlagen wurden

    Gegen zwei Uhr morgens wurden weitere Gefangene auf die Wache gebracht. Und da begann die echte Hölle. Die Polizisten zwangen die Festgenommenen, das Vater Unser zu beten. Wer sich weigerte, wurde mit allem, was nicht niet- und nagelfest war, verprügelt. Während wir in der Aula saßen, hörten wir, wie Menschen in den Stockwerken unter und über uns geschlagen wurden. Es fühlte sich an, als würden die Menschen praktisch in den Beton getrampelt. 

    Gleichzeitig konnten wir hören, wie Blendgranaten vor dem Fenster explodierten. Die Fenster und sogar Türen unserer Aula wackelten. Die Kämpfe fanden also direkt vor dem Polizeirevier statt. Mit jeder Stunde, mit jeder weiteren Charge von Gefangenen, die zur Polizei gebracht wurde, wurden die Vollzugsbeamten wütender und brutaler. 

    Die Polizisten waren von der Aktivität der Demonstranten tatsächlich überrascht. Ich hörte sie per Funk miteinander reden, dass zur Unterdrückung der Proteste Reserveeinheiten eingesetzt würden. Sie waren wütend, dass die Menschen nicht von der Straße verschwanden, trotz der brutalen Schläge, dass die Menschen keine Angst vor ihnen hatten, dass die Leute Barrikaden errichteten und Widerstand leisteten. 

    Du Wichser! Willst du Krieg?

    „Du Wichser, gegen wen hast du Barrikaden errichtet? Willst du gegen mich kämpfen? Krieg willst du?“, schrie ein Polizist während er einen Festgenommenen verprügelte. 
    Was mich wirklich fertig gemacht hat, ist, dass all diese Schläge vor zwei Frauen stattfanden, vor Mitarbeiterinnen des Polizeireviers, die die Festgenommenen und deren Eigentum dokumentierten. Vor den Augen der Frauen schlugen sie 15, 16-jährige Jugendliche und Kinder. Die zu schlagen ist das gleiche wie Mädchen zu verprügeln! Und die Polizeibeamtinnen reagierten nicht einmal …


    Fairerweise muss man sagen, dass nicht alle Mitarbeiter bei den sadistischen Gewaltexzessen mitgemacht haben. Es gab einen, der zu uns kam und fragte, wer Wasser brauche und wer auf die Toilette müsse. Aber er unternahm auch nichts gegen das, was seine jungen Kollegen auf dem Flur mit den Gefangenen machten. 

    In jeder Schicht fragten die neuen Mitarbeiter jeden von uns, wer wir sind, woher wir kommen und wann wir festgenommen wurden. Nachdem sie meinen russischen Pass gesehen hatten, wurden die Schläge schwächer als die, die ich erhielt, als sie dachten, ich sei Belarusse.
     
    Keiner von uns durfte auch nur einen einzigen Anruf tätigen, und ich bin sicher, dass viele Angehörige derjenigen, die in jener Nacht neben mir saßen, immer noch nicht wissen, wo sie sind.

    Sie kamen von den Minsker Straßen, wo Krieg herrschte

    Gegen sieben oder acht Uhr morgens trafen die Vorgesetzten ein. Man sah, dass sie nicht von zu Hause gekommen waren, sondern von den Minsker Straßen, wo Krieg herrschte.
    Sie begannen die Gefangenen durchzuzählen. Es stellte sich heraus, dass zwei fehlten. Die Leute liefen hektisch zwischen den Büros hin und her, sie versuchten herauszufinden, wohin die zwei verschwunden waren. Sie konnten es nicht herausfinden. 

    Als ich auf dem Boden lag, sah ich am Rande meines Blickfeldes eine Person, ich weiß nicht, ob Mann oder Frau, die auf einer Bahre weggetragen wurde. Die Person bewegte sich nicht, ich weiß nicht, ob sie noch am Leben war. 

    Danach wurden wir alle ins Erdgeschoss verlegt und in Zellen gesteckt. Die sind für zwei Personen konzipiert, bei uns haben sie 30 Personen in eine Zelle gestopft. Der Vorgang wurde von heftigen Mat-Flüchen und Prügeln begleitet. Man schrie uns an: „Enger zusammen! Noch enger!“ Unter meinen Zellengenossen waren sowohl Rentner als auch junge Leute. Ich traf dort Nikolaj Arkadjewitsch wieder. Er stand eine halbe Stunde lang bei uns, dann wurde er hinausgeführt und in eine leere Zelle nebenan gesteckt. 

    Es gab überhaupt keine Luft, Leute wurden ohnmächtig

    Nach einer Stunde waren Wände und Decke der Zelle mit Kondenswasser bedeckt. Jemand konnte nicht mehr stehen und setzte sich auf den Boden, aber es gab überhaupt keine Luft, Leute wurden ohnmächtig. Diejenigen, die standen, verzweifelten an der Hitze. So verbrachten wir dort zwei oder drei Stunden und warteten darauf, verlegt zu werden – wohin, wusste keiner … 

    Die Türen öffneten sich. „Gesicht zur Wand!“, schrien sie. Dann stürmten Vollzugsbeamte rein, drückten uns die Arme hinter den Rücken und schleiften uns über den Boden durch die ganze Polizeistation. Im Gefangenentransporter wurden wir wieder aufeinander gestapelt, als lebendiger Teppich. Sie schrien: „Das Gefängnis ist euer Zuhause!“ Diejenigen, die auf dem Boden lagen, rangen unter dem Gewicht der Körper nach Luft: Es lagen noch drei weitere Menschen-Schichten über ihnen.

    Der Weg von Schmerz und Blut 

    In dem Gefangenentransporter wurden die Leute weiter geschlagen: wegen Tätowierungen, wegen langer Haare. „Du alte Schwuchtel, im Gefängnis wird sich einer nach dem anderen dich vornehmen“, riefen sie.

    Menschen, die auf den Stufen lagen, baten darum, ihre Position ändern zu dürfen, doch stattdessen schlug man ihnen mit dem Gummiknüppel auf den Kopf. 

    In diesem Zustand verbrachten wir in dem Transporter eine Stunde. Ich erklärte mir die lange Zeit damit, dass sie wahrscheinlich nicht wussten, wohin mit uns, da es viele Häftlinge gab und alle Zellen der Polizeiwachen und Untersuchungsgefängnisse überfüllt waren. 

    Dann gab es wieder Gebrüll von OMON-Leuten mit dem Befehl: „Raus mit euch und in die Hocke!“ Die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Man durfte sich weder am Sitz abstützen noch aufrichten. Wer gegen diese Vorschrift verstieß, wurde gnadenlos geschlagen. Man durfte nur ab und zu das Gewicht verlagern: Dazu musste man die Hände heben, seinen Namen nennen, sagen, woher man kommt und wo man festgenommen worden war.

    Später haben sie gesagt, dass jeder Versuch, die Haltung zu ändern, einem Fluchtversuch gleichkomme – das bedeutet Erschießen auf der Stelle

    Wenn der Wache (damals dachte ich noch, dass wir von OMON eskortiert wurden, aber erst am Ende des Weges erfuhr ich, dass es sich um die belarussische Spezialeinheit SOBR handelte) deine Nase nicht gefiel, wurde dir verboten, die Haltung zu wechseln, und du wurdest wegen wiederholter Bitten geschlagen. Später haben sie gesagt, dass jeder Versuch, die Haltung zu ändern, einem Fluchtversuch gleichkomme – das bedeutet Erschießen auf der Stelle.

    Aufforderungen zum Anhalten, um zur Toilette zu gehen, wurden ignoriert. Wir sollen einfach auf den Boden machen, schlug man uns vor. Einige konnten es nicht aushalten, machten sogar großes Geschäft. Und so sind wir im matschigen Kot herumgefahren. Wenn unseren Begleitern langweilig wurde, zwangen sie uns Lieder zu singen, meist die belarussische Hymne, und nahmen alles auf Handy auf. Wenn ihnen die Interpretation nicht gefiel, schlugen sie wieder zu. Wenn jemand schlecht sang, ließen sie ihn wieder singen, und sie bewerteten, wer wie sang. „Wenn ihr glaubt, dass ihr Schmerzen habt: Das sind noch keine Schmerzen! Die bekommt ihr jetzt im Gefängnis. Eure Liebsten werden euch nicht mehr wiedersehen!“, sagten uns die Wächter.

    Ihr werdet nicht mehr lange leben

    „Ihr … [obszönes Wort für Vollidioten – Znak] sitzt jetzt hier, eure Tichanowskaja … hat sich aus dem Land verpisst. Und ihr werdet nicht mehr lange leben“, sagte einer der Begleiter. 

    Die Fahrt dauerte zweieinhalb Stunden. Das waren zwei Stunden voll Schmerz und Blut. 
    Während der Fahrt gelang es mir tatsächlich, einen unserer Wächter zum Sprechen zu bringen (irgendwann dann hatte ich erfahren, dass es SOBR-Leute sind). Natürlich habe ich dafür ordentlich kassiert, aber ich bereue es nicht, schließlich ließ er mich später eine bequemere Pose einnehmen. 

    Ich fragte ihn, weswegen ich festgenommen wurde, weswegen ich eins mit dem Schild in den Nacken bekam, weswegen mir in die Nieren geschlagen wurde. „Wir warten nur darauf, dass ihr auf der Straße irgendwas in Brand setzt“, sagte er mir. „Dann werden wir auf euch schießen, wir haben einen Befehl. Die Sowjetunion war ein großartiges Land, aber wegen solcher Schwuchteln wie euch, ist sie untergegangen. Denn niemand hat euch rechtzeitig in die Schranken gewiesen. Wenn ihr [Russen] glaubt, dass ihr hier eure Tichanowsjaka eingeschleust habt, dann hat sie euch einen Bären aufgebunden. Ihr sollt wissen, dass es hier keine zweite Ukraine geben wird, wir werden es nicht zulassen, dass Belarus ein Teil von Russland wird.“

     „Warum [obszönes Wort für Vollidioten – Znak] bist du hierher gekommen?“, fragte er mich.

    „Ich bin Journalist, ich bin gekommen, um über das zu schreiben, was bei euch los ist.“
    „Na und was hast du geschrieben, du Wichser? Das Material wird dir noch lange in Erinnerung bleiben.“

    Hört auf uns zu quälen, bringt uns einfach raus und erschießt uns

    „Hört auf uns zu quälen, bringt uns einfach raus und erschießt uns“, rief währenddessen ein junger Mann, der durch die Schläge und Schmerzen bereits die Nerven verloren hatte.

    „Fick dich! So leicht kommt ihr nicht davon“, antwortete einer der Begleiter. 

    Auf dieser langen Reise durch die Hölle wurde mir klar, dass unter den SOBR-Leuten, die uns begleiteten, sowohl offene Sadisten als auch Ideologen waren, die glaubten, dass sie ihr Heimatland wirklich vor äußeren und inneren Feinden retten würden. Mit denen kann man also durchaus reden.


    Auf dem ganzen Weg wussten wir nicht, wohin sie uns brachten: in ein Revier, in Untersuchtungshaft, in ein Gefängnis oder vielleicht auch nur in den nächsten Wald, wo wir entweder zu Tode geprügelt oder einfach getötet würden. Ich übertreibe in keiner Weise bei der letzten Option: Ich hatte das Gefühl, dass alles möglich ist. 

    Wir wurden auf allen Vieren in einen Keller mit Wachhunden gebracht

    Als wir an der Endstation ankamen (ich nenne es so, weil ich bis zum Schluss nicht wusste, wo wir waren), standen wir dort noch anderthalb oder zwei Stunden, denn es waren noch sieben weitere Lastwagen gekommen, wir standen Schlange. Als wir den Befehl bekamen, aus dem Transporter auszusteigen, wurden wir auf allen Vieren in einen Keller gebracht, da standen Leute, und es gab Wachhunde. 

    Davon wurde die Angst vor dem, was kommt, stärker, aber am Ende war nicht alles so schrecklich wie bei der Polizei im Moskowski Bezirk. 

    Wir wurden lange Zeit durch Korridore geführt, dann brachte man uns in den Gefängnishof – in Filmen sieht man immer, wie Gefangene an solchen Orten spazieren gehen. Für uns war es fast wie im Himmel. 

    Seine Kniescheibe war herausgesprungen und baumelte herum

    Zum ersten Mal seit 24 Stunden konnten wir die Arme hängen lassen, aufrecht gehen, uns hinlegen, und, was am wichtigsten war: Wir wurden erstmals nicht geschlagen. Einen Typen hatten sie an der Wirbelsäule verletzt, OMON-Leute waren draufgesprungen, und seine Kniescheibe war herausgeschlagen und baumelte herum. Er kam in diesen Hof und fiel um.

    Zum ersten Mal wurden wir wie Menschen behandelt: Sie brachten einen Eimer, damit wir endlich auf Toilette gehen konnten. Sie brachten uns eine 1,5-Liter-Flasche Wasser. Natürlich war das für 25 Leute nicht genug, aber trotzdem …

    „Wird heute nicht mehr geprügelt?“, fragte einer der Gefangenen den Mann, der den Eimer und das Wasser gebracht hatte.

    „Nein“, sagte der Aufseher. „Jetzt bringen wir euch nur noch in die Zellen, das ist alles.“

    Da waren Unternehmer, IT-Spezialisten, Schlosser, Ingenieure, …

    Zum ersten Mal seit 24 Stunden konnten wir miteinander sprechen. Außer mir waren da Unternehmer, IT-Spezialisten, Schlosser, zwei Ingenieure, ein Bauarbeiter und auch ehemalige Häftlinge. Einer von denen sagte, dies sei die Strafkolonie in Shodino, er wisse das, weil er hier gesessen habe. Bald wurde auch mein Freund Nikolaj Arkadjewitsch in den Hof gebracht. 
    Ein Mann in Uniform trat auf die Brücke über dem Gefängnishof. 

    „Telishenko?! Ist Nikita Telishenko hier?“, rief er. „Ja“, antwortete ich. Der Mann in Uniform sprach mit dem Mann, der neben ihm stand, und dann schrie er: „Nikita, komm zur Tür. Du wirst gleich abgeholt.“

    Meine Zellengenossen freuten sich sehr für mich. „Nun, holen sie dich endlich“, verabschiedete sich Nikolaj Arkadjewitsch von mir. 

    Der Heimweg

    Der Mann in Uniform entpuppte sich als Oberst des belarussischen Strafvollzugs namens Iljuschkewitsch. Er sagte, dass nun ich und ein anderer Russe (es stellte sich heraus, dass es ein Korrespondent von RIA Nowosti war) mitgenommen würden. Ich wusste nicht, wer uns abholen würde. „Jemand vom KGB oder von der Botschaft“, dachte ich. Sie gaben mir alle meine Sachen, und wir gingen durch die Gefängnistore hinaus. 

    Dort standen viele Menschen: Leute, die nach den Festnahmen ihre vermissten Angehörigen suchten, Menschenrechtler. Wir wurden von einer Frau empfangen, die sich als Mitarbeiterin des Migrationsamtes von Belarus vorstellte, sie brachte uns in die Stadt, wo unsere Fingerabdrücke genommen wurden und wir einen Abschiebebefehl erhielten, demzufolge ich und der Korrespondent von RIA Nowosti das Territorium von Belarus bis 24:00 Uhr dieses Tages verlassen sollten. Zu diesem Zeitpunkt war es bereits 22:30 Uhr. 

    Ihr zufolge sollte ich morgen vor Gericht gestellt werden, aufgrund welcher Anklage konnte sie nicht erklären (ich bekam keine Dokumente zu Gesicht, die mich zur administrativen oder strafrechtlichen Verantwortung zogen, es wurde keine Anklage gegen mich erhoben), sagte aber, ich könnte zwischen 15 Tagen und sechs Monaten ins Gefängnis gesteckt werden. 


    Dann kam ein Mitarbeiter der russischen Botschaft in Belarus. Er sagte, um uns zu finden, habe der russische Botschafter persönlich den belarussischen Außenminister angerufen. Der Diplomat setzte uns ins Auto und brachte uns nach Smolensk. 

    In den verbleibenden anderthalb Stunden schafften wir es, die Grenze zu Russland zu überqueren und kamen um 2:30 Uhr in Smolensk an. Der Konsul kaufte uns einen Burger, weil weder ich noch mein Kollege russisches Geld hatten, fuhr uns ins Hotel und ging.  
    Jetzt fliege ich nach Moskau, um von dort nach Jekaterinburg nach Hause zu fliegen.

    Die Redaktion von Znak dankt für die Hilfe bei der Freilassung von Nikita Telishenko dem russischen Außenministerium, der russischen Botschaft in Belarus, der Vertretung des russischen Außenministeriums in Jekaterinburg und dem Ministerium für Internationale und Außenwirtschaftliche Beziehungen der Region Swerdlowsk.

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  • „Die Menschen erheben Ansprüche auf ein besseres Leben“

    „Die Menschen erheben Ansprüche auf ein besseres Leben“

    In den vergangenen acht Jahren haben sich die Ausgaben des Moskauer Kommunalhaushalts mehr als verdoppelt. Heute gibt die russische Hauptstadt pro Kopf ungefähr das Dreifache des Landesdurchschnitts aus. 

    Da die Ausgabenerhöhung zum Teil durch regionale Umverteilung finanziert wird, glauben viele Beobachter, dass die Protestbereitschaft in den Regionen weiter steigen werde. Schließlich, so die Argumentation, seien hier sowohl die Folgen des seit fünf Jahren sinkenden Realeinkommens stärker spürbar als auch die der Steuer-  und Rentenreform.

    Vor dem Hintergrund des landesweit sinkenden Lebensstandards hat eine soziologische Forschungsgruppe die Frage nach der Entwicklung des gesellschaftlichen Bewusstseins in Russland gestellt. Zu diesem Zweck führten die Wissenschaftler qualitative Interviews durch mit Menschen aus Moskau und sechs weiteren Städten des Landes. Über die Ergebnisse dieser Studie spricht die RANCHiGS-Soziologin Anastassija Nikolskaja mit Znak

    Jewgeni Senschin: [Ihre Studie untersucht das gesellschaftliche Bewusstsein. – dek] Was hat Sie zu dieser Untersuchung bewogen?

    Anastassija Nikolskaja: Unser soziologisches Forschungsteam hatte den starken Eindruck, dass sich das Bewusstsein der Menschen gerade gravierend verändert. Vor einem Jahr, im Rahmen einer anderen Untersuchung, sagten uns die Leute, dass wir unsere Sklavenmentalität ablegen müssten. Solange das nicht passiere, würde sich nichts ändern. 

    Wir beobachten tiefgreifende Veränderungen im Denken der Menschen

    Seit diesem Zeitpunkt beobachten wir tiefgreifende Veränderungen im Denken der Menschen. Sie sagen plötzlich, dass sie verantwortlich sind für das, was passiert. Und wir stellen fest: Die Menschen wollen Autonomie für ihre Regionen.

    Was verstehen Sie unter dem Begriff „Autonomie der Regionen“? Wie wir wissen, reagiert das föderale Zentrum empfindlich auf jede Form der Autonomie. Wo liegt die Grenze zwischen Autonomiebestreben und separatistischen Tendenzen?

    Die Menschen in Magadan, Wladiwostok und Jakutsk sagen praktisch alle das Gleiche: Moskau frisst unser Geld, während wir gerade so überleben. Sie wollen nicht Syrien helfen oder Kuba Schulden erlassen. Sie sagen, es sind unsere Steuern, wir haben das Recht zu wissen, wie sie ausgegeben werden. Und dass es besser gewesen wäre, sich gar nicht erst mit anderen Ländern zu zerstreiten, damit man sich später keine Freundschaften erkaufen muss.

    Die Menschen in Magadan, Wladiwostok und Jakutsk sagen praktisch alle das Gleiche: Moskau frisst unser Geld, während wir gerade so überleben

    Daraus resultiert für sie der Gedanke, dass ihre Regionen autonom verwaltet werden sollten. Diese Einschätzung formulieren die Menschen übrigens selbst, von uns gab es da keine Vorgaben. Sie finden, die Regionen sollten die gleichen Rechte haben wie die nordamerikanischen Bundesstaaten. Dort gibt es zwar eine gemeinsame Armee, föderale Steuern und so weiter, aber grundsätzlich liegen viele Vollmachten bei den einzelnen Gliedstaaten.

    Die Bezeichnung „Russische Föderation“ impliziert ja bereits Autonomie. Und es gibt auch Regionen die das Wort „autonom“ in ihrem Namen tragen. Welche Autonomie wollen die Menschen noch?

    Wir haben eine Pseudo-Föderation, eine Pseudo-Demokratie, die Verfassung wird komplett missachtet. Das ist keine Neuigkeit. Der Staat als Ganzes hat versagt. So sehen es zumindest unsere Probanden. 

    Wir haben eine Pseudo-Föderation, eine Pseudo-Demokratie, die Verfassung wird komplett missachtet

    88 Prozent der Befragten sind der Meinung, die wirtschaftliche und politische Situation im Land habe sich drastisch verschlechtert.

    Vor fünf Jahren, als die Popularität der Regierung zu sinken begann, beschloss der Kreml, sie auf Kosten der Krim und der Ereignisse im Donbass anzukurbeln. Es ist ihm zunächst auch gelungen, die Menschen zu begeistern und die Gesellschaft hinter sich zu versammeln. Ist dieser Effekt noch spürbar?

    Auf die Frage nach Putins Errungenschaften nannten in Jakutsk nur zwei Prozent der Befragten die Krim. Die Olympiade in Sotschi erwähnte nicht ein einziger. Und an die Fußball-WM erinnert man sich auch nur im Zusammenhang mit der Rentenreform, die klammheimlich in ihrem Schatten durchgeführt wurde. Sobald den Menschen klar wurde, welchen Preis sie für die Krim zahlen, war die Begeisterung schnell verflogen.

    Sobald den Menschen klar wurde, welchen Preis sie für die Krim zahlen, war die Begeisterung schnell verflogen

    Wie schätzen die Leute das erste Jahr von Putins aktueller Amtszeit insgesamt ein?

    72 Prozent finden, es sei schlechter geworden, 26 Prozent sagen, es habe sich nichts verändert, und zwei Prozent, dass es besser geworden sei.

    Abgesehen von der Außenpolitik – welche Entscheidungen des Zentrums führen denn dazu, dass sich die Regionen immer weiter von ihm entfernen?

    Sprechen wir lieber nicht von Regionen, sondern von konkreten Menschen, die in dieser oder jener Region leben. 

    Hier beispielsweise Aussagen aus Jekaterinburg:

    „Die medizinische Versorgung hat sich verschlechtert, das Rentenalter und die Mehrwertsteuer wurden angehoben, das Gesetz zum ‚souveränen Runet‘, die Kleinunternehmern werden durch große Konzerne verdrängt; Folter durch Polizei und FSB; die Medien, die immer mehr und immer unbeholfener die öffentliche Aufmerksamkeit von den eigentlichen Problem ablenken wollen. An die Macht kommt, wer loyal ist, und nicht, wer professionell überzeugt. Wir haben die ewigen Lügen einfach satt und dass man uns als Menschen zweiter Klasse behandelt.“

    Und hier aus Magadan:

    „Putin nimmt das Volk nicht für voll, er hofft, weil wir ihn damals unterstützt haben, würde das ewig so weitergehen, aber das stimmt nicht. Der Lebensstandard ist dramatisch gesunken. Russland hat es sich mit der ganzen Welt verscherzt; überall nur Lügen und Aggression. Die Medien versuchen uns mit Nachrichten aus Paris, Venezuela und der Ukraine abzulenken, als ob wir nicht selbst sehen würden, was hier bei uns los ist. Die totale Stagnation.“

    Was die Menschen in den Regionen vom Zentrum nicht wollen, ist klar. Aber geht aus Ihrer Untersuchung auch hervor, was sie wollen?

    Die Menschen wollen dieses System zerstören, sie wollen einen demokratischen Staat aufbauen, in dem die Regierenden das Volk respektvoll wahrnehmen und ihre Entscheidungen transparent und nachvollziehbar gestalten. 

    Außerdem wollen die Leute, dass die Ressourcen des Landes dazu verwendet werden, aus Russland eine prosperierende Wirtschaftsmacht zu machen.

    Können sich die Stimmungen, die Sie in den Regionen vorgefunden haben, noch zerstreuen, wenn sich das Leben zum Besseren ändert? Oder ist der Point of no Return bereits überschritten?

    Ja, das ist er. Noch vor einem Jahr konnte das Zentrum diese Stimmungen durch Almosen zerstreuen. Jetzt sind die Menschen entschlossener, all diese grandiosen Ereignisse und Großveranstaltungen, angefangen bei der Krim und endend mit der WM, haben ihre Wirkung verloren. 

    All diese grandiosen Ereignisse und Großveranstaltungen, angefangen bei der Krim und endend mit der WM, haben ihre Wirkung verloren

    Die Menschen fürchten um ihre Existenz, und sie verbinden den sinkenden Lebensstandard eindeutig mit der Politik in Moskau.

    Wohin wird das Erstarken dieser Stimmungen führen? Zu einem Aufstand, zum Maidan, zur Revolution? Massenproteste beobachten wir ja schon heute: Inguschetien, Archangelsk, Jekaterinburg.

    Eine Revolution braucht Anführer. Bisher gibt es in den Regionen keine Führungspersönlichkeiten, die eine Revolution organisieren und anführen könnten.

    In vielen Regionen stehen Wahlen an. Bei den letzten Wahlen waren in mehreren Regionen oppositionelle und sogenannte „technische Kandidaten“ sehr erfolgreich. Angenommen, Sie wären politischer Berater bei den kommenden Wahlen – wozu würden Sie Ihrem Kandidaten in Anbetracht Ihrer Forschungsergebnisse raten?

    Ich würde ihm raten, sich möglichst stark von der jetzigen Regierung zu distanzieren und zu zeigen, dass man sich nicht durch Interaktion mit ihr die Finger schmutzig gemacht hat. Alle, die mit der Regierung zusammenarbeiten, sind aus Sicht der von uns Befragten korrupt.

    Als Schlussfolgerung: Würden Sie sagen, die Leute sind unzufrieden, aber sie werden es weiter hinnehmen? Wie immer?

    Sie werden es nicht mehr hinnehmen. Sie werden sich auflehnen. Das tun sie jetzt schon. Was wir im letzten Jahr gesehen haben, waren klare Protestwahlen, in diesem Jahr gehen die Menschen massenweise auf die Straße. Aber sie wollen nicht zum Spaß protestieren oder nur Randale machen, niemand will Autos umwerfen und Schaufenster einschlagen. Die Menschen sind bereit, auf die Straße zu gehen, und auch, einen Schlagstock auf den Kopf zu bekommen. Aber sie wollen wissen, wie das ihr Leben verbessern soll. Die Menschen erheben handfeste Ansprüche auf ein besseres Leben und auf die Durchsetzung ihrer Rechte. Das heißt, es entsteht eine neue Zivilkultur. Aber noch gibt es weder eine gemeinsame Idee noch eine gemeinsame Bewegung.                   

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  • „Jeder Fall hat seine eigene Logik“

    „Jeder Fall hat seine eigene Logik“

    Im Juni gab die Higher School of Economics an, den Fachbereich für Politikwissenschaft mit einem anderen Fachbereich zusammenzulegen – das Schicksal zahlreicher Lehrender an der Wyschka, wie die Hochschule genannt wird, ist damit offen. Gleichzeitig wurde der renommierte Politologe Waleri Solowei von der staatlichen MGIMO entlassen, er selbst sieht politische Motive dahinter.

    Unabhängige Hochschulen, wie die Moscow School of Social and Economical Sciences oder auch die Europäische Universität Sankt Petersburg, stoßen immer wieder auf bürokratische Hürden. An der Europäischen Universität etwa wurde rund eineinhalb Jahre lang nur noch geforscht, ihre Lehrlizenz hat die Hochschule erst nach zähem Ringen im August 2018 zurückerhalten.

    Wie frei ist die Wissenschaft in Russland? Wie stark nimmt der Staat Einfluss, welche Rolle hat dabei der FSB? Und trifft es nur „unangepasste“ Wissenschaftler? 

    Znak hat mit dem Politikwissenschaftler Alexander Kynew gesprochen – der als Dozent an der Wyschka noch bis 1. September angestellt ist. Wie es im neuen Semester für ihn weitergeht, ist nach den jüngsten Entwicklungen an der Hochschule derzeit noch ungewiss.

    Kürzlich wurde an der Higher School of Economics der Fachbereich für Politikwissenschaft aufgelöst. Dann informierte Professor Waleri Solowei über seine Kündigung an der MGIMO. Und bereits im Februar wurde ein Lehrbuch für Ökonomie von Igor Lipsiz aufgrund mangelnden Patriotismus nicht für den Schulunterricht empfohlen. 

    Erkennen Sie in diesen Ereignissen eine gewisse Gesetzmäßigkeit?

    Alle diese Fälle sind nicht Teil eines einheitlichen Plans, aber eine Gesetzmäßigkeit gibt es. Die Staatsmacht reagiert nervös auf abweichende Meinungen, und zwar proportional zu den sinkenden Umfragewerten. Unter diesen Bedingungen wird jeder abweichende Standpunkt als Bedrohung angesehen, insbesondere an den Hochschulen, da dort die bei Protestaktionen aktive Jugend ausgebildet wird. 

    Eigentlich ist das nichts Neues für Russland. Gegen Lehrer und Professoren ist man schon im 19. Jahrhundert vorgegangen. Vielleicht versucht die Staatsmacht mit solchen Säuberungen, die Jugend vor dem „zersetzenden“ Einfluss allzu freigeistiger Lehrer zu bewahren.

    Der Spielraum, einen unabhängigen Standpunkt einzunehmen, ist kleiner geworden

    In den letzten Jahren ist der Spielraum für Hochschullehrer, einen unabhängigen Standpunkt einzunehmen, zweifellos kleiner geworden. Entlassungen unbequemer Hochschullehrer gibt es ständig im ganzen Land. Und es wird Druck auf ganze Institute ausgeübt. Da gibt es beispielsweise die Geschichte mit der Europäischen Universität [Sankt Petersburg], den Fall der Moscow School of Social and Economic Sciences (Schaninka) und so weiter.

    Begonnen hat das alles an der Peripherie, aber mittlerweile hat diese Welle auch Moskau erreicht. Früher oder später musste es auch die Spitzenhochschulen in Moskau treffen. Aber natürlich hat jeder Fall seine eigene innere Logik, seine Vorgeschichte, seine Besonderheiten.

    Politikwissenschaftler Alexander Kynew / Foto © privat
    Politikwissenschaftler Alexander Kynew / Foto © privat

    Welche Vorgeschichte und welche Besonderheiten gibt es in Ihrem Fall?

    Ich bin sicher, dass es in meinem Fall keine Anordnung irgendeines Beamten gab. Mein Fall ist eine interne Geschichte, in der unter Ausnutzung des allgemeinen Trends versucht wird, Platz freizuräumen für „nützliche“ Freunde und einen wichtigen Bereich der Hochschule unter Kontrolle zu bringen. Das ist wie mit Plünderungen – Raub geht am besten im Krieg oder bei Naturkatastrophen. 

    Mein Fall ist eine interne Geschichte, in der unter Ausnutzung des allgemeinen Trends versucht wird, Platz freizuräumen für „nützliche“ Freunde

    Die Version, es hätte Anrufe vom FSB gegeben, hält keiner Kritik stand, das ist ohnehin bereits gewohnte, gängige Praxis. Dem einen passt vielleicht ein kommentierter Artikel nicht, wieder einem anderen ein kritischer öffentlicher Vortrag auf einer angesehenen Konferenz im Ausland – Erfahrungen mit Anrufen und Beschwerden verschiedener, besonders wichtiger Personen gibt es seit Jahren zuhauf. Die haben jedes Jahr angerufen, rufen an und werden wohl weiter anrufen. Aber deswegen wird man nicht entlassen. Dahinter will sich einfach nur jemand verstecken. 
    Die wirklichen Gründe erkennt man gut an den Versprechern in den Befragungen wie auch daran, wer die Stelle stattdessen übernimmt und wer versucht, die Kontrolle über die Fakultät zu gewinnen.

    Ich bin davon überzeugt und weiß aus eigener Erfahrung, dass die Politologie an der Wyschka ungeachtet aller Verluste insgesamt die beste (oder eine der besten) im Land bleiben wird. Viele hervorragende Fachleute werden weiterhin dort arbeiten. Und in diesem Sinne hat der öffentliche Skandal im Grunde einige von ihnen gerettet: In dieser Situation noch weiter zu gehen, haben die Initiatoren der Attacke nicht riskiert. Und ich hoffe, sie werden es auch nicht riskieren. Und ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass auch die Sache mit meinen Kursen noch geklärt werden kann.

    Handelt es sich dabei Ihrer Ansicht nach um Repressionen gegen die Geistes- und Sozialwissenschaften im Allgemeinen oder nur gegen einzelne Lehrkräfte, die sich einen unabhängigen Standpunkt erlauben?

    Einerseits gibt es offensichtliche Versuche des Staates, im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften einzugreifen. Wir wissen, dass die Geheimdienste an den Hochschulen ihre Leute haben, die sich in die Lehre einmischen und versuchen Druck auszuüben. Das ist normal geworden.

    Wir wissen, dass die Geheimdienste an den Hochschulen ihre Leute haben. Das ist normal geworden

    Andererseits wird innerhalb der Hochschulen ständig intrigiert, und die Unzufriedenheit der Staatsmacht mit Lehrkräften kann als Argument dienen, um unliebsame Personen loszuwerden.

    Bei uns wird die Politologie zwar als Dienerin der Staatsmacht angesehen und nicht als Wissenschaft, aber dennoch gibt es in den staatlichen Behörden genügend Beamte, die verstehen, dass sie Fachleute aus dem Bereich der Sozialwissenschaften benötigen. Denn Russland ist ein sehr kompliziertes Land, und heute umso mehr, da es eine Vielzahl an Widersprüchen und Konflikten gibt. 
    Gleichzeitig geht dieses Verständnis jedoch einher mit einer instinktiven Angst vor allen, die einen anderen Standpunkt vertreten. Daher weiß man irgendwie, dass Geistes- und Sozialwissenschaften notwendig sind, allerdings nur im Sinne der eigenen Interessen.

    Wenn der Faktor Loyalität an erster Stelle steht, wird jede Wissenschaft zunichte gemacht.

    Ihr Kollege Waleri Solowei gilt als Oppositioneller, wenn auch nicht als aktiver. Sie haben nicht zufällig vor, sich der Opposition anzuschließen?

    Ich war und bleibe Experte. Ich habe nicht vor, in die öffentliche Politik zu gehen. Ich bin mit vielen Oppositionellen bekannt und befreundet, die übrigens verschiedenen Parteien angehören und verschiedene Ansichten haben. Breitgefächerte Kontakte sind notwendig, um Professionalität zu bewahren.

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  • „Das gesellschaftliche Bewusstsein ist sehr dynamisch“

    „Das gesellschaftliche Bewusstsein ist sehr dynamisch“

    „Gehst du nach rechts – verlierst du dein Pferd, gehst du nach links – verlierst du deine Seele, gehst du geradeaus – dann stirbst du.“ Glaubt man den vielen Unkenrufen, dann steht das System Putin derzeit vor einer ähnlichen Ausweglosigkeit wie in dieser Variante des berühmten russischen Sprichworts. 
    Vor rund einem Jahr wurde Wladimir Putin als Präsident wiedergewählt. Seine offiziell vierte Amtszeit hat turbulent begonnen: Massenproteste wegen Rentenreform und Steuererhöhungen, wachsende Unzufriedenheit mit der Kreml-Politik, steigender Ruf nach Veränderungen – all das mache die politischen Eliten nervös, meinen Beobachter.
    Wie geht der Kreml mit diesem Spannungsverhältnis um? Hat er immer noch alle Hebel in der Hand? Und welche innenpolitischen Szenarien sind denkbar? Diese Fragen stellt die Internetzeitung Znak Grigori Golossow, dem Dekan der politikwissenschaftlichen Fakultät an der Europäischen Universität Sankt Petersburg. Golossows Stimme gilt sowohl in der Politikwissenschaft als auch in den liberal-demokratischen Kreisen als sehr gewichtig.

    Grigori Golossow gilt als wichtige Stimme in den liberal-demokratischen Kreisen Russlands / Foto © Alexej Salomatow
    Grigori Golossow gilt als wichtige Stimme in den liberal-demokratischen Kreisen Russlands / Foto © Alexej Salomatow

    Juri Grebenschtschikow/Alexander Sadoroshny: Der Kreml reagiert auf die gefallenen Beliebtheitswerte des Präsidenten mit umfangreichen sozialpolitischen Maßnahmen, die in Putins letzter (Jahres-)Ansprache angekündigt wurden. Denken Sie, dass diese Maßnahmen tatsächlich umgesetzt werden?

    Grigori Golossow: Um irgendwelche Sozialmaßnahmen umzusetzen, braucht man Geld. Gibt es im Staatshaushalt kein Geld, bleibt die Umsetzung unvollständig und folgenlos. Wo soll denn das Geld herkommen? Aus dem Wirtschaftswachstum? Dafür gibt es derzeit keine Anzeichen und nicht einmal Prognosen. Darin sind sich alle Experten einig, selbst die staatlichen. 

    Wo soll denn das Geld herkommen? Aus dem Wirtschaftswachstum?

    Man könnte die Ausgaben kürzen, die an die Außenpolitik, an die Sicherheitskräfte und die Verwaltung geknüpft sind. Aber auch das ist nicht abzusehen. Russland beteiligt sich nach wie vor aktiv an den Konflikten in der Ukraine und in Syrien, außerdem versucht es, seinen Einfluss auf der internationalen Bühne auszuweiten, bis hin zu den abgelegensten Winkeln der Welt wie der Zentralafrikanischen Republik. Dafür fließen horrende Summen. 

    Ein weiterer Faktor ist die permanente militärische Aufrüstung. Für die USA ist das Wettrüsten weitestgehend eine Metapher, für Russland hingegen ist jeder Versuch eines militärischen Wettbewerbs mit den USA eine Belastung. 
    Wenn es also keine überschüssigen Mittel gibt, kann man sie auch nicht für soziale Anliegen ausgeben.

    Aber wir haben doch einen Haushaltsüberschuss? Einen Puffer von fast zwei Billionen Rubel [rund 28 Milliarden Euro – dek]?

    Ein Überschuss ist noch kein Puffer, keine Rücklage, mit der sich Sozialprogramme finanzieren ließen. Der russische Haushaltsüberschuss ist dafür vorgesehen, der Inflation entgegenzuwirken und zeugt nicht von einer stabilen Wirtschaftslage. Eine Unmenge objektiver Anzeichen belegen den schlechten wirtschaftlichen Zustand. Eines davon ist, dass es einen Haushaltsüberschuss gibt, denn er ist schlichtweg die Auswirkung einer spezifischen Wirtschaftspolitik. Und wie wir sehen, ist diese Wirtschaftspolitik nicht gerade auf Sozialausgaben ausgerichtet.  

    Ein paar Fragen zur Zukunft. Auf der innenpolitischen Bühne gibt es bislang keine ernsthafte Bedrohung für Wladimir Putin. Was denken Sie, bleibt er noch lange?

    Macht übt bekanntermaßen eine große Anziehungskraft aus. Das Bestreben von Berufspolitikern, sie zu erhalten, ist also nichts Ungewöhnliches. Aber das ist nicht die einzige Erklärung. 

    Die Machthaber sind oft davon überzeugt, ihr Handeln sei wichtig und richtig für ihr Land. Selbst wenn sie tief in der Seele wissen, dass sie schwere Fehler begangen haben, sind sie sich sicher, jemand anderem wären noch schlimmere Fehlkalkulationen unterlaufen. Putin hat diese Überzeugung.

    Gleichzeitig ist den Machthabern bewusst: Je länger sie an der Macht sind, desto mehr Sprengkraft akkumuliert sich durch die Fehler, die man ihnen vorwirft. Aber sie wissen um ihre Verantwortung, nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Angehörigen und die Menschen, die ihnen aus unterschiedlichsten Gründen nahestehen. Deshalb wissen sie auch, dass ein Machtverzicht nicht nur für sie, sondern auch für all diese Menschen eine Tragödie wäre. Selbstverständlich wollen sie diese Tragödie vermeiden. 

    Aus Putins subjektiver Sicht wird es also niemals Umstände geben, die einen realen Machtverzicht erfordern. 

    Aus Putins subjektiver Sicht wird es niemals Umstände geben, die einen realen Machtverzicht erfordern

    Sicher, wenn es zu einer schweren Krise kommt und massiver Druck ausgeübt wird, beispielsweise durch außenpolitische Probleme, Massenproteste oder den Erfolg der Opposition, wird Putin gezwungen sein zu gehen. Aber es wird keine freiwillige Entscheidung sein. 

    Mir scheint, das Hauptproblem, das die Entwicklung des Landes behindert, ist ein psychologisches: die Angst der sogenannten Eliten, Putin eingeschlossen, alles zu verlieren, „was man mit unsäglicher Mühe erworben hat“. Deswegen zieht man es vor, alles zu belassen wie es ist, nicht auf Veränderungen hinzuarbeiten und in der Illusion von Sicherheit zu verharren. Wie könnte man dieses Problem lösen?

    Das hängt davon ab, wer es löst. Bislang gibt es niemanden, der es lösen könnte. Ganz im Gegenteil: Der Großteil der russischen Politiker ist am Erhalt des Status quo interessiert. Eigentlich ist die Angst der russischen Führungsriege, alles zu verlieren, durchaus berechtigt: Russland hat viel Erfahrung mit Revolutionen, jeder weiß, dass mit den Vertretern der herrschenden Klasse nicht lange gefackelt wurde, weder 1917 noch 1991

    Andererseits hat die Praxis gezeigt: Wenn im Land ein Demokratisierungsprozess in Gang kommt, beweist ein wesentlicher Teil der herrschenden Klasse Umsicht und schließt sich ihm an. Für jedes Beispiel à la 1917 finden sich auch Gegenbeispiele wie der Übergang zur Demokratie nach Francos Tod in Spanien, als fast die ganze herrschende Klasse, geradezu geschlossen, zur Demokratie überging.

    Das Verhalten der herrschenden Klasse ist rational, alles hängt davon ab, welchen Anstoß sie bekommt

    Kurzum: Das Verhalten der herrschenden Klasse ist rational, alles hängt davon ab, welchen Anstoß sie bekommt. Nur das bestimmt ihr Handeln. Ich denke, jedem ist klar, dass eine totale Revolution nach dem Beispiel von 1917 nicht im Interesse des Landes ist, solche Revolutionen haben meist einen sehr hohen Preis. 

    Bei uns kamen die Reformbestrebungen bisher nie von unten, sondern nur von oben – seien es die Reformen unter Alexander II., die Demokratisierung unter Gorbatschow oder die Liberalisierung der Märkte unter Jelzin. Sehen Sie in der heutigen Regierung potenzielle Initiatoren und Anhänger einer neuen Perestroika?

    Ich denke, das spielt überhaupt keine Rolle. Wenn Politiker finden, die Veränderungen sind in ihrem Interesse, sind notwendig für ihr eigenes politisches Überleben, dann werden sie zu Reformern, ganz unabhängig von ihren psychologischen Befindlichkeiten. So gesehen, kann jeder zum Reformer werden, der die nötige Initiative und den Mut dazu hat. Wenn ein Mensch allerdings weiß, dass ihn die Reformen ins Gefängnis bringen könnten, wird er sich hüten, Reformbestrebungen voranzutreiben.

    Wenn Politiker finden, die Veränderungen sind in ihrem Interesse, sind notwendig für ihr eigenes politisches Überleben, dann werden sie zu Reformern

    Anders gesagt: Die Vorteile der Reformen müssen die Risiken überwiegen. Ich vermute, dass in den oberen Etagen der heutigen russischen Politik zu viele Leute sitzen, die die Risiken als zu hoch erachten. Das gilt auch für Präsident Putin und viele Leute aus seinem direkten Umfeld. 

     

     

     


    Quelle: RAN

     

    Umfragen belegen, dass in der heutigen Gesellschaft ein Wunsch nach Veränderung besteht. Allerdings in sehr unterschiedlichen Formen. „Unter Stalin hätte es das nicht gegeben“ – ist ja auch ein Wunsch nach Veränderung. 

     

    Das Bild, das die Umfragen widerspiegeln, wird in großem Umfang (wenn auch nicht vollständig) von  Informationen geprägt, die Menschen über die ihnen zugänglichen, staatlich kontrollierten Medien bekommen. Wenn man ihnen ständig sagt, Stalin sei gut gewesen, glauben sie irgendwann, dass unter Stalin tatsächlich alles besser gewesen sei und vielleicht auch heute besser wäre. Das sollte man nicht allzu ernst nehmen. 

    Wenn man den Menschen ständig sagt, Stalin sei gut gewesen, glauben sie irgendwann, dass unter Stalin tatsächlich alles besser gewesen sei. Das sollte man nicht allzu ernst nehmen

    Wenn wir darüber sprechen, welche Phänomene im Massenbewusstsein einer Demokratisierung im Wege stehen, sollten wir unseren Blick auf jenen Teil der Bevölkerung richten, der sich ihr tatsächlich aktiv widersetzen würde. Die Meinungsumfragen belegen nicht, dass es in Russland einen maßgeblichen Bevölkerungsanteil gäbe, für den demokratische Veränderungen unannehmbar wären. 

    Viele Menschen sind desorientiert, ihre Loyalität zur gegenwärtigen Politik ist auf den Einfluss der Medien und auf das gesamte Propaganda-System zurückzuführen. Diese Menschen können ihre Meinung auch ändern und zu Anhängern einer Demokratisierung werden. 

    Viele Menschen sind desorientiert, ihre Loyalität zur gegenwärtigen Politik ist auf den Einfluss der Medien und auf das gesamte Propaganda-System zurückzuführen. Sie können ihre Meinung auch ändern

    In der russischen Geschichte gab es so etwas schon. Hätte Anfang 1988 jemand gesagt, dass die Sowjetunion in drei Jahren zerfallen und der Kapitalismus kommen würde, hätten die Menschen es nicht geglaubt. Und sie hätten diese Perspektive auch nicht begrüßt. Damals hielten fast alle den Sowjetstaat und den sowjetischen Sozialismus für ein hohes Gut, etwas anderes kannte man ja auch nicht. 
    Doch später, als man es kennenlernte, gab es überhaupt keinen gesellschaftlichen Widerstand gegen die Reformen. Im Gegenteil, viele fanden, alles entwickle sich zum Besseren. Das zeigt, wie dynamisch das gesellschaftliche Bewusstsein ist. Es ist durchaus in der Lage, ein sehr breites Spektrum von Veränderungen mitzumachen. 

    Eine neue Perestroika ist also möglich: Früher oder später wird man sich da oben ihrer Notwendigkeit bewusst und da unten wird der Wunsch nach ihr reifen. 
    Aber unsere Geschichte kennt doch auch andere Entwicklungen: Chaos mit anschließender Diktatur, Isolation und Stagnation hinter dem Eisernen Vorhang, das Scheitern eines Systems unter dem Druck der technischen Revolution wegen einer prinzipiellen Unreformierbarkeit. 
    Das könnten wir doch auch wiederholen?

    Auch diese Szenarien sind denkbar. Politik ist die Folge von Handlungen. Die Folgen ihrer Handlungen können Politiker in eine Sackgasse führen, zu einem Scheitern. Ich kann diese Entwicklung bei der herrschenden Klasse in Russland nicht ausschließen. Für das Land sind das nicht die besten Varianten, aber sie sind möglich. 

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  • Moskau. Kreml. Putin.

    Moskau. Kreml. Putin.

    Der staatliche Fernsehsender Rossija-1 hat eine neue Sendung an den Start gebracht: Moskau. Kreml. Putin. – jeden Sonntag eine Stunde über den Präsidenten, moderiert von keinem Geringeren als Wladimir Solowjow. Ein Relaunch der Sowjetpropaganda, wie manche Kommentatoren schreiben, oder ein adäquates Mittel um schlechte Ratings aufzubessern? Dimitri Kolesew kommentiert auf Znak.

    „Putin liebt nicht nur Kinder, er liebt alle Menschen“ / © Screenshot aus „Moskau. Kreml. Putin.“ vom 02.09.2018/Rossija-1
    „Putin liebt nicht nur Kinder, er liebt alle Menschen“ / © Screenshot aus „Moskau. Kreml. Putin.“ vom 02.09.2018/Rossija-1

    Eine ganze Stunde lang erzählt Moderator Wladimir Solowjow, bekannt für seine Loyalität gegenüber der amtierenden Regierung, ausschließlich positiv, ja mit Begeisterung davon, was der Präsident in den letzten Tagen so alles gemacht hat. In den Kommentaren zur Sendung fühlen sich viele inhaltlich und vom Tonfall her an die preisende Leniniana, das Fernsehen der Breshnew-Zeit oder stalinsche Propaganda erinnert. Von einem neuen Personenkult ist die Rede. Doch im Jahr 2018 fällt es schwer, ein derartiges TV-Format ernstzunehmen.

    Von einem neuen Personenkult ist die Rede

    Die Sendezeit beträgt sechzig Minuten. In seiner gewohnten Manier berichtet Wladimir Solowjow aus dem Studio, was Wladimir Putin in letzter Zeit so alles erlebt hat: Er hat verschiedene Regionen in Sibirien besucht, begabte Schüler im Zentrum Sirius getroffen und mit Verteidigungsminister Sergej Schoigu und FSB-Chef Alexander Bortnikow zusammen Urlaub in der Taiga gemacht.

    Am Ende der Sendung verraten wir Ihnen, warum Putin so gut in Form ist

    Um über die Handlungen und Erlebnisse des Präsidenten zu diskutieren, werden sogenannte „Experten“ ins Studio eingeladen, wie zum Beispiel der Journalist Pawel Sarubin, der auch für Rossija-1 arbeitet und im Pressepool des Präsidenten mit ihm quer durchs Land fährt, oder der Pressesprecher des Präsidenten Dimitri Peskow. Natürlich können die nur in begeisterten Tönen von Putin sprechen. Pawel Sarubin beispielsweise wundert sich, wie der Präsident ein solch straffes Arbeitspensum meistert. „Ich verstehe nicht, wie man so ein Tempo durchhält, ein Marathon ist das … Anfang der Woche – Kemerowo, Nowosibirsk, Omsk, dann wieder Moskau. Und überall – vergessen Sie das bitte nicht – unterschiedliche Zeitzonen! Und jetzt noch Sotschi. Alles innerhalb einer Woche. Das verlangt höchste Konzentration. Physisch eine echte Herausforderung.“

    „Am Ende der Sendung verraten wir Ihnen die Fitness-Geheimnisse des Präsidenten und zeigen Ihnen, warum er so gut in Form ist“, verspricht Solowjow.

    „Ja! Genau!“, freut sich Sarubin.

    Mit Bergleuten des Kusnezker Beckens spricht Putin über Produktionsrekorde und Pläne für ein glückliches Leben

    Gleich der erste Sendebeitrag lässt Erinnerungen an den Lieben Leonid Iljitsch oder die Lobgesänge auf Stalin wach werden. Die Erzählung beginnt mit einem heiteren Bericht über die Bergleute des Kusnezker Beckens: Was für eine gewaltige technische Ausrüstung (die, wie im Bild zu sehen, größtenteils von ausländischen Marken stammt – Caterpillar und P & H)! Weiter über Produktionsrekorde und Pläne für ein glückliches Leben. „Wie gefährlich und anstrengend die Arbeit der Bergleute ist, weiß Putin aus eigener Erfahrung“, sagt Sarubin. Offenbar ist damit eine einmalige Grubenfahrt gemeint, die der Präsident Anfang der 2000er Jahre in Norilsk unternommen hat. Und die Archivaufnahmen werden mit einem Stolz präsentiert, als hätte Putin da eine wahre Heldentat vollbracht. Am Ende des Beitrags zeigt sich Sarubin freudig überrascht, dass der Präsident bei diesem Anlass sogar ein paar Sekunden aufgebracht hat, damit der Gouverneur die Telefonnummer eines Kumpels notieren konnte. „Ich bin sicher, da folgen noch Telefonate, ob [der Gouverneur] seine Versprechen auch alle gehalten hat. Da versteht der Präsident keinen Spaß“, resümiert Wladimir Solowjow.

    In einem ganz ähnlichen Duktus ist auch der Rest der Sendung gehalten. Zusammen mit dem Vorsitzenden des Haushaltsausschusses, dem Jedinoross​ Andrej Makarow, „analysiert“ Solowjow Putins Auftritt zur Rentenreform (in Wirklichkeit vergehen beide die meiste Zeit im Chor vor Rührung, wie präzise Putin das Problem und die Lösungsansätze benannt hat). Wieder derselbe Pawel Sarubin erzählt von Putins Besuch im Sirius-Zentrum – auch dieser Beitrag sprüht vor Wohlwollen und entfaltet seine ganze Komik erst angesichts der Nachricht, dass einer der Jugendlichen auf dem Foto mit dem Präsidenten ein Nawalny-T-Shirt trägt.

    Er ist ein sehr menschlicher Mensch

    Dimitri Peskow plappert im TV-Studio fast wortwörtlich die Klischees der Sowjetpropaganda nach: „Putin liebt nicht nur Kinder, er liebt alle Menschen … Er ist überhaupt ein sehr menschlicher Mensch“, sagt Peskow. Die Majakowski-Worte über Lenin als „Der menschlichste Mensch“, sind in Wörterbüchern und Zitat-Sammlungen meist mit der Bemerkung  „in der Regel ironisch verwendet“ versehen, doch hier ist von Ironie nicht viel zu spüren.

    In den Schilderungen Peskows kommt Putin einem mythischen Helden gleich

    Peskow geizt auch nicht mit Lob für seinen Vorgesetzten: Der würde „in Sekundenschnelle auf neue Umstände reagieren“, eigenhändig an seinen Reden arbeiten; er sei „ein Mensch wie jeder andere“, könne jedoch „mit seinen Emotionen ganz feinsinnig umgehen“. Putin schwimme täglich eine Stunde, trainiere im Fitnessstudio, spiele Eishockey usw. In den Schilderungen Peskows kommt Putin einem legendären, mythischen Helden gleich – so habe er zum Beispiel eine ganz besondere Verbindung zu Tieren: „Der Bär ist ja nicht dumm. Wenn er Putin sieht, benimmt er sich natürlich anständig“, sagt Peskow, und aus seinem Munde klingt das nur teilweise wie ein Scherz.

    Der Bär ist nicht dumm. Wenn er Putin sieht, benimmt er sich anständig

    Das Finale von Solowjows Sendung bilden aktuelle Videoaufnahmen von Putins letztem Urlaub in Tuwa, die man sich offenbar eigens für die Premiere von Solowjows Sendung aufgespart hat. Putin wandert durchs Sajan-Gebirge („Acht Kilometer ist er gelaufen!“, begeistert sich wiederum Pawel Sarubin, diesmal aus dem Off), sammelt Beeren und Pilze, geht „bis an den Abgrund“, kocht sich eigenhändig Tee und rettet junge Bäume. Und wieder diese animalischen Motive: Ein Bergadler schwebt über Wladimir Putin, er selbst beobachtet Steinböcke, und auch die haben überhaupt keine Scheu vor dem Staatsoberhaupt, ganz, als hielten sie ihn für einen Artgenossen.

    Auch die Steinböcke haben überhaupt keine Scheu vor dem Staatsoberhaupt

    Nachdem man die Sendung gesehen hat, bleibt ein großes Fragezeichen: Was war das? Der Versuch einen Personenkult zu etablieren, wie manche Kommentatoren sofort danach behaupten? Doch die medialen Techniken, die zu Zeiten von Lenin und Stalin noch durchaus Erfolg hatten, riefen schon in der Breshnew-Periode eher Ärger und Sarkasmus in der Bevölkerung hervor: Zu groß war die Kluft zwischen dem Propaganda-Bild und dem wirklichen Leben. Schwer vorstellbar, dass im Jahre 2018, in Zeiten von Internet, Trollen und allgegenwärtiger Ironie, selbst der konservativste Teil der Bevölkerung einer solchen Berichterstattung glaubt.

    Die staatlichen Sender waren das Zaubermittel, Putins Beliebtheit aufrecht zu erhalten

    Vielmehr wirkt es wie ein ungeschickter Versuch, auf die Schnelle die sinkenden Zustimmungswerte des Präsidenten zu retten. Wladimir Putin und seine PR-Leute scheinen weiterhin bedingungslos an die magische Kraft des Fernsehens zu glauben. Die staatlichen Sender haben Putin 1999-2000 auf den Gipfel der Macht befördert und waren seitdem das Zaubermittel, das die Beliebtheit des Staatsoberhaupts allen Schwierigkeiten zum Trotz aufrecht erhielt.

    Aber die Entwicklung des Internets hat Jahr um Jahr das Monopol der TV-Kanäle untergraben, und die aktuelle Situation um die Rentenreform zeigt, dass das Fernsehen nicht mehr das effektivste Propaganda-Werkzeug ist. Alle Bemühungen der staatlichen TV-Sender konnten die Menschen bisher nicht von der Richtigkeit der Reform überzeugen, und Putins Zustimmungswerte stagnieren auf einem ungewohnt niedrigen Niveau.

    Wenn die Menschen Putin weniger lieben, muss man mehr und besser von ihm sprechen

    Angesichts dessen sind die Kreml-Propagandisten aber nicht so sehr darum bemüht, neue Methoden zu entwickeln – sie intensivieren einfach die erprobten. Wenn die Menschen Putin weniger lieben, dann muss man eben mehr und besser im Fernsehen von ihm sprechen. Doch scheint eine so grobschlächtige, schlecht zusammengezimmerte Propaganda selbst für den unbedarften russischen Zuschauer ein zu großer Fake. Oder denken wir zu gut über ihn?

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Fuck it! Let’s dance!

    Fuck it! Let’s dance!

    Street Art-Künstler Slawa PTRK kommentiert die Präsidentschaftswahl. Mit einer Tanzperformance.

    Der bekannte Street Art-Künstler Slawa PTRK hat ein Video seines Tanz-Flashmobs ins Netz gestellt. Die Aktion Fuck it! Let’s dance! ([im Original – dek] unter russische Zensur fallendes Synonym für „scheiß drauf“) fand auf dem zugefrorenen Wеrch-Issetski-Teich in Jekaterinburg statt. Der Film tauchte am 19. März [sic!] im Netz auf – dem Tag nach der Präsidentschaftswahl.

    Wie der Künstler gegenüber Znak sagte, nahmen 100 Menschen an der Straßen-Aktion teil: 50 Paare, die Walzer tanzten. Als die Musik stoppte, bildeten sie aus der Vogelperspektive den Schriftzug ПОХУЙ ПЛЯШЕМ (Fuck it! Let’s dance!). Danach tanzten die Paare weiter.

    Nach Angaben des Künstlers besteht der Sinn der Aktion darin, Optimismus in jeder Situation zu bewahren, was auch immer drumherum passiert. „Optimismus mit einer gesunden Portion Scheiß drauf-Haltung. Man muss sein Leben leben und sein Ding machen, es echt hammermäßig machen, und sich nicht den Kopf mit Politik und äußeren Problemen vollhauen. Sich nicht täglich an den Kopf fassen wegen der Meldungen im Newsfeed, sondern vorwärtsgehen und an sich selbst glauben. Wenn du etwas beeinflussen kannst – beeinflusse es. Wenn du die Ereignisse nicht beeinflussen kannst – sei’s drum. Kümmer dich nicht und walzere weiter“, erklärt der Autor.

    Der Dreh des Projekts hat insgesamt drei Stunden gedauert. Am schwersten sei es gewesen, so der Künstler, eine derartige Masse von Menschen zu koordinieren. „Ich hatte die Punkte gekennzeichnet, wohin man sich stellen muss bei der Bildung des Schriftzugs, darum hat es geklappt. Obwohl einige Buchstaben leicht schief geworden sind. Darum haben der Regisseur und ich schließlich einen Untertitel in das Video eingefügt, damit auch wirklich klar ist, was da steht“, berichtet Slawa PTRK gegenüber Znak.

    Slawa PTRK ist ein Street Art-Künstler aus Jekaterinburg, der schon mehr als sechs Jahre im öffentlichen Raum tätig ist. Seine Arbeit mit verschiedenen Techniken wie Stencil, Installation, Poster, Free Spray gibt ihm die Möglichkeit sich künstlerisch immer weiterzuentwickeln. Slawa PTRK ist vor einiger Zeit von Jekaterinburg nach Moskau gezogen, wo er als Künstler arbeitet. Vor Kurzem hat der bekannte Fernsehmoderator Andrej Malachow eines seiner Werke aus der Serie Die Einsamkeit erworben: ein Bügeleisen mit aufgemaltem Pionier. 

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    „Ich will, dass alle davon erfahren”

    Bei einem US-Luftangriff in Syrien Anfang Februar sollen russische Söldner der Einheit Wagner getötet worden sein. Mehrere Medien berichteten darüber. Doch der Kreml hüllte sich zunächst in Schweigen. Denn solche Privatarmeen sind illegal.

    Nach Darstellung der USA ereignete sich die Offensive regierungstreuer syrischer Truppen auf eine Raffinerie und ein Ölfeld, die unter Kontrolle der oppositionellen Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) in der Provinz Dair as-Saur waren. An der Seite der Assad-Truppen sollen auch Soldaten der Wagner-Einheit gekämpft haben – 200 russische Söldner kamen laut der Nachrichtenagentur Bloomberg bei dem US-Luftangriff ums Leben. Die USA sprachen von 100 russischen Toten und weiteren 100 Verletzten.

    Die Nachricht erregte große Aufmerksamkeit, aus mehreren Gründen: Das Portal Fontanka hatte im vergangenen Jahr einen Bericht veröffentlicht, wonach seit 2017 nicht das russische Verteidigungsministerium, sondern die syrische Regierung für Kosten und Ausstattung der Privatarmee aufkomme. Insofern heizt der Tod der russischen Söldner nun Gerüchte an, dass es Interessenskonflikte zwischen der russischen Armee und den privaten Milizen gebe.

    Zudem läuft schon seit längerem eine breite Debatte, solche Einheiten zu legalisieren. Allein schon, damit Hinterbliebene im Todesfall versorgt werden und angemessen trauern können. Die Wagner-Einheit soll auch in der Ukraine gekämpft haben.

    Der Außenpolitik-Experte Wladimir Frolow sprach nach dem US-Bombardement von einem Skandal. „Doch die russische Regierung wird so tun, als sei nichts passiert”, sagte er. Erst nach mehreren Tagen äußerte sich die Sprecherin des Außenministeriums Maria Sacharowa zu dem Vorfall, sprach von „fünf Toten, die vermutlich russische Staatsbürger sind“, aber nicht zur Armee gehörten.

    Das Portal Znak traf die Witwe und den Ataman eines Kosaken, der für Wagner in Syrien gekämpfte hatte – und beim US-Luftschlag ums Leben kam.

    Jelena Matwejewa – Fotos © Jaromir Romanow / Znak
    Jelena Matwejewa – Fotos © Jaromir Romanow / Znak

    Znak: Wie haben Sie vom Tod Ihres Mannes [Stanislaw Matwejew – dek] erfahren?

    Jelena Matwejewa: Unser Ataman aus der Stadt Asbest rief mich an. Als erstes fragte er, wann ich zum letzten Mal Kontakt zu Stas hatte. Ich sagte, dass ich ihn schon den dritten Tag nicht erreiche. Und dass die Mädels, deren Männer dort sind, auch von nichts und niemandem etwas wissen. Eine Minute später ruft mich der Ataman noch einmal an und sagt: „Stas und Igor sind nicht mehr unter uns.“ Ich war gerade einkaufen. Das Telefon fiel mir aus der Hand, da, das hat jetzt einen Sprung. Wie auf Autopilot ging ich nach Hause, fast wär ich überfahren worden.    

    Hat man Ihnen gesagt, unter welchen Umständen Ihr Mann umgekommen ist?

    Nein. Am Abend rief ich nochmal den Ataman an. Er bat mich, Ruhe zu bewahren, sagte, dass man bisher noch nichts Genaues weiß. Ich wollte erstmal wegen der Leichen Bescheid wissen. Bat darum, einen Priester anzufragen, der sie segnen würde, wie es sich gehört, wenn Sie gebracht werden. Der Ataman sagte dann, sie sollen gebracht werden, und es würde ein offizieller Anruf aus Rostow kommen. Ob das wirklich so ist, ich weiß es nicht. Die Kosaken bekommen alle Informationen aus dem Donbass (sie weint). Ich weiß nicht, wie bei denen alles zusammenhängt. Ich versuche bisher, das alles nicht zu glauben, bereite auch das Begräbnis noch nicht vor.  

    Haben Sie von der Wagner-Truppe gehört?

    Die Mädels haben davon erzählt. 

    Als Stas nach Syrien fuhr, wussten Sie davon?

    Er hatte mich vorgewarnt. Nach dem Donbass war er etwa ein Jahr zu Hause. Er war im Juli [2016] zurückgekommen. Ein Jahr später, am 27. September [2017], fuhr er wieder weg – im Zug saß er da schon mit den Jungs aus Kedrowoje. Aber jetzt setzt sich niemand so richtig mit uns in Verbindung, keiner sagt uns, ob es stimmt oder nicht. Zuerst so ein Schlag auf den Kopf – und dann halten sie die Klappe.

    Aus Kedrowoje, sagten Sie?

    Neun Mann aus Asbest, und etliche aus Kedrowoje. Mehr weiß ich nicht.

    Zu welchen Bedingungen ist Ihr Mann nach Syrien gefahren, wie viel Geld hat man ihm versprochen?

    Hat er mir nicht erzählt. Er hat so auf mich aufgepasst, dass er mich nie in solche Dinge eingeweiht hat. Seine Kumpels aus dem Donbass wurden begraben, und ich hab das immer als Letzte erfahren. 

    Mit wem hatte er Kontakt?

    Mit Igor Kossoturow, das ist Stas’ Kommandeur. Sie sind entfernte Verwandte. Stas hat eine Cousine, die früher mit Igor verheiratet war. Die hängen immer zusammen. Kosaken eben. 

    Konnte Ihnen Ihr Mann von dort Geld schicken?

    In eineinhalb Monaten 109.000 [1500 Euro]. Das war dafür, dass sie in Rostow waren. Von September bis Oktober, während der Ausbildung. Ich hab dieses Geld im Dezember bekommen.

    Wozu ist er überhaupt nach Syrien gefahren?

    Offenbar haben ihn diese ganzen Waffen und Militärtrainings fasziniert. Ein halbes Jahr nach dem Donbass fing er an, das alles zu vermissen – redete von seinem Gewehr, „wie geht es wohl meinem ‘Täubchen’”. Ich hab mit Engelszungen versucht, ihm das auszureden, wir standen kurz vor der Scheidung. Aber jetzt ist das ja alles sinnlos. 

    Fotos zeigen Stanislaw Matwejew in Syrien
    Fotos zeigen Stanislaw Matwejew in Syrien

    Hat Ihr Mann früher in der 12. Brigade des Militärgeheimdienstes GRU gedient, die hier in Asbest stationiert war?

    Nein. 

    Hat er Wehrdienst geleistet?

    Nein. Zumindest weiß ich nichts davon. Der Donbass war sein erster derartiger Einsatz. Wahrscheinlich gab es da irgendeine Armee. 

    Welchen militärischen Dienstgrad hatte er?

    Er war Stabsfeldwebel. Ich habe eine Kriegsauszeichnung von ihm, ein Georgskreuz aus dem Donbass

    Hat er dort diesen Rang erreicht?

    Sieht so aus, ja. Sagen Sie mir lieber, wer mich jetzt anrufen soll, wer wird mich informieren? Wenn dort alles, verdammt noch mal, in die Luft geflogen ist, wie erkennen sie ihn denn, tackern sie einfach die Fetzen zusammen und sagen dann, das ist mein Mann, oder wie?

    Jelena, Sie sagten, Ihr Mann hat im Donbass gekämpft, wann ist er da hingefahren?

    2016. 

    Was hat ihn dazu bewegt?

    Das haben die Männer alles unter sich entschieden. Er kam und sagte: „Du siehst ja, wie es im Donbass zugeht. Wir müssen den Leuten helfen.“ Er sagte, er fährt dahin und baut Häuser für Flüchtlinge. Er ist ja wirklich Bauarbeiter. 

    Und wie haben Sie erfahren, dass er dort nicht auf dem Bau arbeitet, sondern in der Volksmiliz kämpft?

    Das hat mir die Frau eines Kameraden gesagt. Er selbst hat es mir nicht mal erzählt.

    Wie haben Sie das aufgenommen?

    Ich war beunruhigt. Aber was soll ich machen?

    In welcher Brigade hat er gekämpft?

    Weiß ich nicht.

    War er lang dort?

    Etwa sieben Monate.

    Wie haben Sie ihn nach dem Donbass empfangen?

    Die Kinder haben vor Freude so gekreischt, dass seine Kameraden ganz entrüstet waren. Nach dem Motto: Uns begrüßt niemand so freudig. Er ist dann gleich zu seinen Eltern gefahren. Seine Mutter ist krank, sie hat Diabetes, und ich hab mich um sie gekümmert. Und dort tischten wir auf, klar, ordentlich Alkohol, das Übliche. 

    Was hätten Sie jetzt gern, welche Maßnahmen würden sie sich jetzt vom Staat wünschen?

    Ich würde mir wünschen, dass alle von meinem Mann erfahren. Und nicht nur von meinem Mann, von allen Jungs, die dort so sinnlos umgekommen sind. Arg ist das alles! Wohin wurden sie geschickt, warum? Es gab keinerlei Schutz. Wie Schweine wurden sie zur Schlachtbank geführt. Ich will, dass die Regierung sie rächt. Ich will, dass dieser Männer gedacht wird, dass die Frauen sich nicht schämen müssen für ihre Männer und die Kinder stolz sein können auf ihre Väter.


    Ataman Oleg Surnin, im Hintergrund ein Plakat mit der Aufschrift "Russen lassen die eigenen Leute nicht im Stich"
    Ataman Oleg Surnin, im Hintergrund ein Plakat mit der Aufschrift „Russen lassen die eigenen Leute nicht im Stich“

    Mit Ataman Oleg Surnin sprechen wir im Büro des örtlichen Verbands der Afghanistan-Veteranen, am anderen Ende von Asbest.

    Znak: Igor Kossoturow und Matwejew waren Kosaken?

    Oleg Surnin: Die waren von unserer Staniza. Wir haben sie im vorletzten Jahr zusammen aufgenommen, am Tag der Aufklärer [5. November – dek].

    Kannten Sie sie schon lange?

    Mit Igor Kossoturow hab‘ ich humanitäre Hilfe in die Ukraine gefahren, nach Luhansk. Dort ist er dann geblieben. Ich bin damals zurückgekommen, musste auf Arbeit.

    Welches Jahr war das?

    2015, glaub ich.

    Wie lang war Igor Kossoturow in der LNR [Volksrepublik Luhansk – dek]?

    Ein halbes Jahr ungefähr. Dann wurde er verwundet. Am Bein, ein Granatsplitter. Er kam hierher und wurde behandelt.

    Als was hat er da gekämpft?

    Als Aufklärer.

    Und was hat er nach der Verwundung gemacht?

    Ist nochmal für ein ein halbes Jahr hingefahren. Danach ist er nicht mehr in Luhansk gewesen.

    Warum nicht?

    Er hatte schon andere Pläne, wegen Syrien.

    Warum wollte er dann nach Syrien gehen?

    Ja, wie soll ich das sagen … Um zu helfen. Wieder aus Patriotismus! Viele seiner Regimentskameraden aus der Ukraine sind ja da hingegangen.

    Welchen Rang hatte Igor?

    In der Ukraine war er Hauptmann. Hier, in der Brigade, hatte er nicht mal einen Offiziersrang.

    Wie lief das, als sie nach Syrien zogen?

    Dort gibt es viele Russen. In Rostow gibt einen Ausbildungsstützpunkt. In solchen Stützpunkten werden sie trainiert. Folglich ist da auch die Gruppe Wagner dabei. Das erste Mal, als sie da hingingen, wurde ihnen vorgeschlagen, sich in zwei gleichgroße Gruppen aufzuteilen und in verschiedenen Flugzeugen nach Syrien zu fliegen. Die Jungs haben sich geweigert. Igor kam nach zwei Monaten aus Rostow hierher. Doch dann rief der Kommandeur an; sie sammelten sich alle und fuhren los.

    Es gab noch einen von meinen Kosaken dort, Nikolaj Chitjow.

    Hat er überlebt?

    Ja, wir haben schon miteinander gesprochen. Dann kam die Meldung aus dem Donbass, dass Kossoturow und Stas [Stanislaw Matwejew] umgekommen sind. Und jetzt erreiche ich keinen mehr per Telefon, der Mensch, der da die Leichen gesammelt hat, mit Codenamen „der Schwede“, der geht nicht mehr ran. Kolja Chitjow haben sie telefonisch erreicht, der hat auch erzählt, dass es drei Tote gibt: Igor, Stas und ein dritter, Codename „Kommunist“. Bei den beiden ist es sicher, die Informationen zum Dritten werden noch geprüft.

    Was geschieht jetzt mit den Leichen, werden die den Angehörigen übergeben?

    Gestern ging die Information ein, dass die Leichen schon nach Petersburg gebracht wurden. Das ist aber noch nicht bestätigt.

    Warum nach Petersburg und nicht nach Jekaterinburg?

    Das habe ich auch gefragt. Es wurden alle dorthin überführt.

    Sie sagen ständig „die Information ging ein“ – woher denn eigentlich?

    All diese Informationen kommen hauptsächlich über den Donbass, von Dienstkameraden.

    Sind Entschädigungszahlungen an die Angehörigen vorgesehen; die haben ja nunmal einen Ernährer verloren?

    Die müsste es geben. Es wird von drei Millionen Rubel geredet [ca. 42.850 Euro; pro Gefallenem – dek].

    Gibt es denn eine Garantie, dass gezahlt wird?

    Bis jetzt wurde noch niemand übers Ohr gehauen. Denjenigen, der mit der Überführung befasst war, können wir telefonisch nicht erreichen.

    Unterstützt der Staat diese Söldner denn irgendwie?

    Jetzt ist einer aus Syrien zurückgekommen, weil er krank ist. Der sollte am besten operiert werden, hat aber keinerlei Unterlagen, die das bestätigen. Wie auch, wenn er fünf Jahre Verschwiegenheit unterschrieben hat?!

    Gibt es bei den privaten Truppen wenigstens irgendeinen Vertrag mit den Leuten, Brief und Siegel?

    Natürlich, da werden Dokumente unterschrieben.

    Wird das alles denn auf irgendeine Art vom Verteidigungsministerium oder dem FSB kontrolliert?

    Was hat das Verteidigungsministerium damit zu tun?

    Wer übernimmt denn dann alle Kosten und die Entschädigungen?

    Weiß ich nicht.

    Wladimir Putin hat vor einiger Zeit öffentlich erklärt, dass alles geräumt ist, dass sich Syrien vollständig unter der Kontrolle der Regierungstruppen und Baschar al-Assads befindet…

    Ich schaue auch Fernsehen. Es gibt einen Unterschied zwischen dem, was uns gesagt wird und was reale, lebende Menschen aus erster Hand erzählen. Ein Teil des Territoriums wird immer noch vom IS kontrolliert. Unsere Leute ziehen in die Kämpfe, von Raffinerie zu Raffinerie, befreien eine und bleiben zur Bewachung da. Dann wird eine neue Operation vorbereitet und es geht zur nächsten Raffinerie. Man hat unseren Leuten diesmal aufgelauert. Es gab ein Informationsleck, sie wurden eindeutig erwartet. Wenn das einfache Angehörige des IS mit Schusswaffen gewesen wären, wäre das alles anders gelaufen.

    Die eroberten Raffinerien werden von unseren Ölleuten kontrolliert. Es gab Informationen, dass Mitarbeiter von Rosneft da hingefahren sind…

    Nein, das waren Syrer.

    Nach dem, was passiert ist, sollte der Staat da nicht irgendwie reagieren?

    Nein. Es wissen doch sowieso alle, dass unsere Leute dort sind.

     

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    Im Frühjahr und Sommer 2014 sah man Igor Girkin (genannt Strelkow, „der Schütze“) nahezu täglich im russischen Fernsehen: Der ehemalige FSB-Mitarbeiter aus Moskau war, wie er selber angibt, maßgeblich an der Operation zur Angliederung der Krim beteiligt. Im Mai 2014 wurde er dann Verteidigungsminister der Donezker Volksrepublik und führte in Slawjansk persönlich die pro-russischen Separatisten an. Mit seinem Rücktritt noch im August desselben Jahres verschwand er wieder von den Fernsehbildschirmen. Er lebt seitdem in Moskau, wo er die Bewegung Noworossija leitet. Außerdem ist er Vorsitzender der Allrussischen Nationalen Bewegung, deren Ziel die „Wiedergeburt Russlands als russischer Nationalstaat“ ist, wie es in einer kürzlich veröffentlichten Deklaration heißt.

    Im Interview mit Znak spricht der überzeugte Nationalist über die von ihm angestrebte Vereinigung Russlands mit der Ukraine und Belarus, über das dreckige Geschäft der Politik und potentielle Spione in Putins Umfeld.

     

    „Ich sehe eine Krisensituation im Land und kann mich da nicht raushalten“ – Ex-Separatistenführer Igor Girkin. Foto © Dom kobb/Wikipedia
    „Ich sehe eine Krisensituation im Land und kann mich da nicht raushalten“ – Ex-Separatistenführer Igor Girkin. Foto © Dom kobb/Wikipedia

    Die Bewegung Noworossija hat ihr Quartier in ein paar kleinen Zimmern unweit der Metrostation Taganskaja. Renoviert wurde lange nicht mehr, man muss aufpassen, wo man hintritt. Beim Eintreten verrät der Geruch: Hier ist der Lebensraum einer Katze.  Während des ganzen Interview schläft ein riesiger roter Kater, genannt der „Grimmige“, auf Strelkows Tisch. An der Wand hängt ein Kalender mit einem Portrait von Nikolaus II., ein ebensolches steht auf Strelkows Tisch.

    Neulich haben Sie eine Deklaration veröffentlicht. Ich würde gern zunächst nachvollziehen, wer die Verfasser dieser Deklaration sind. Außerdem enthält sie doch offensichtliche Widersprüche. Einerseits ist darin die Rede von europäischen Werten, von einer Annäherung an die Staaten der Ersten Welt, andererseits von der Notwendigkeit, die Ukraine und Belarus zurückzubekommen. Meiner Meinung nach lässt sich das nicht miteinander vereinbaren.

    Erstens ist die Deklaration ein Gemeinschaftswerk. Ich war an der Redaktion beteiligt und habe den einen oder anderen Absatz selbst geschrieben. Aber ich streite nicht ab, dass der Grundtext von Vertretern des nationalistischen Flügels stammt.

    Allerdings ist es eine Deklaration, es sind nicht die Zehn Gebote, die in Stein gemeißelt sind. Ein Arbeitspapier. Es kann sich verändern, wenn ein Wechsel der realpolitischen Zustände es erfordert. Sie müssen zugeben, dass alle demokratischen oder rechtlichen Normen nur gelten können, wenn sich der Staat oder die Gesellschaft in einem einigermaßen ruhigen Zustand befinden. In einer schweren Krise sind sie nicht nur wirkungslos, sie können sogar zu einem beschleunigten Zerfall von Staat und Gesellschaft beitragen.

    Derzeit stellt die Deklaration, schlicht gesagt, eine Sammlung unserer Wünsche dar – das, was wir im Idealfall gern sehen würden, wenn der Übergang aus der jetzigen Situation ohne herausragende Erschütterungen vonstattengeht.

    Ich verstehe trotzdem nicht ganz, möchten Sie eine Wiedervereinigung mit der Ukraine und Belarus oder möchten Sie Demokratie?

    Ich lese Ihnen mal den Wortlaut vor: „Wir treten ein für die Vereinigung der Russischen Föderation mit der Ukraine und Belarus sowie weiteren russischen Gebieten zu einem gesamtrussischen Staat, für die Umwandlung des Territoriums der ehemaligen Sowjetunion in eine bedingungslos russische Einflusszone.“

    Gut möglich, dass die unzähligen Kreml-Lakaien und Trolle das so auslegen wollen, dass es da diesen dummen Militärmenschen gibt, ein Fascho, der davon träumt, den Ruhm eines Napoleon zu erlangen. Aber so ist es nicht

    Nun sagen Sie mir mal, wo steht da was von Krieg? Ich kann mir vorstellen, dass sich jemand, der diesen Satz liest, Strelkow vorstellt, den Überfall auf Slawjansk, die Geschehnisse auf der Krim, die fünf Kriege, die ich auf dem Buckel habe und davon ausgeht, dass dieser Strelkow definitiv eine Art Wehrmacht errichten und in die Ukraine, Belarus oder sonst wo einfallen wird. Aber wo steht das in der Deklaration?

    Gut möglich, dass unsere politischen Gegner, die unzähligen Kreml-Lakaien und Trolle das so auslegen wollen, dass es da diesen dummen Militärmenschen gibt, ein Fascho, der davon träumt, den Ruhm eines Napoleon zu erlangen. Aber so ist es nicht.

    Wie stellen Sie sich diese Vereinigung denn ohne Blutvergießen vor?

    Ich sage es Ihnen nochmal, die Deklaration ist eine Reihe von Wünschen. Das, was wir anstreben. Für eine Vereinigung von Russland und Belarus muss man zum Beispiel gar nicht Krieg führen. Mit besonnener Politik und unter der Voraussetzung, dass man Belarus nicht als ein mögliches Objekt der Plünderung betrachtet, wäre eine Vereinigung denke ich gut möglich, und zwar ohne jeden Krieg und ohne Blutvergießen.

    Für eine Vereinigung von Russland und Belarus muss man keinen Krieg führen. Was die Ukraine betrifft, so ist das natürlich eine andere Frage

    Was die Ukraine betrifft, so ist das natürlich eine andere Frage. Der Krieg ist schon im Gange, da können wir nicht mehr raus. Jetzt müssen wir diesen Krieg gewinnen, denn im Fall einer Niederlage verlieren wir nicht nur in der Ukraine, sondern überall. Da bleibe ich bei meiner Meinung.

    Das Dilemma wurde alternativlos mit der Angliederung der Krim. Dieser Schritt war richtig, aber ich möchte hier nicht seine Richtigkeit, sondern seine Bedeutung betonen. Seitdem gibt es keine anderen Möglichkeiten der Befriedung mehr: Entweder muss man die Junta zerschlagen oder vor ihr kapitulieren.

    Und dennoch, wenn wir Ihrem Szenario folgen, dann kann doch von einer weiteren Annäherung an die „Erste Welt“, von der Sie in der Deklaration sprechen, gar keine Rede sein. Es werden nur weitere Sanktionen folgen.

    Ich war nie Jurist, meine Grundausbildung sind die fünfmonatigen Seminare an der Akademie des russischen FSB, wo ich im Kampf gegen den Untergrund und in der Organisation der Arbeit mit dem Untergrund ausgebildet wurde.

    Trotzdem, wenn es um so ernsthafte Dinge wie eine Deklaration geht, muss man sie wörtlich lesen und nichts erfinden. Wir sind dafür, Vertreter aus Politik und Wirtschaft aus der sogenannten Ersten Welt für Russland zu gewinnen. Da steht nichts davon, dass wir eine Freundschaft mit der gesamten Ersten Welt auf allen Ebenen und zu ihren Bedingungen wollen.

    Nein, wir sind für die Errichtung eines souveränen, freien und – so komisch das aus meinem Mund auch klingen mag – eines Rechtsstaates in Russland. Wenn das erreicht ist, kommen wir ganz von selbst auf ein Level mit den Ländern der Ersten Welt.

    In dieser Hinsicht bin ich einer Meinung mit Nawalny: Das ganze System wird durch Korruption angetrieben – ‚klauen, verkaufen, ins Ausland bringen‘

    Außerdem sind wir jetzt in wirtschaftlicher Hinsicht wunderbar in das System der Ersten Welt eingebunden. Nämlich auf der Ebene vom Rohstoffanhängsel, der Pipeline, durch die man alle unsere Ressourcen aus uns rauspumpt. Und im Gegenzug bekommen wir finanzielle Mittel, die dann ebenfalls außer Landes geschafft werden. In dieser Hinsicht bin ich einer Meinung mit Nawalny: Das ganze System wird durch Korruption angetrieben – „klauen, verkaufen, ins Ausland bringen“.

    Sie haben von einem möglichen Machtwechsel in Russland gesprochen. Wollen Sie um die Macht kämpfen? Haben Sie vor, für die Duma zu kandidieren?

    Nein. Die Politik reizt mich überhaupt nicht. Sie interessiert mich nicht. Ich weiß nur zu gut, was Politik bedeutet. Als ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter weiß ich das ganz genau: Es ist eine schmutzige Sache, bei der jeder lügt. Lügen ist mir ein Gräuel.

    Warum haben Sie sich dann auf die Politik eingelassen?

    Aus demselben Grund, warum ich auf die Krim gefahren bin und später nach Slawjansk. Ich habe schon lange keinen Gefallen mehr am Krieg. Wie schon Napoleon sagte: Für den Krieg braucht man ein bestimmtes Alter. Ein Mann über vierzig, erst recht wenn er den Krieg kennt, will nicht mehr kämpfen. Er hat viel gesehen und weiß genau, dass es daran nichts Romantisches gibt. Das Erlebte lastet auf einem, und das Risiko reizt einen auch nicht mehr – im Krieg jedoch ist das Risiko unvermeidbar.

    Aber ich habe meine Pflicht erfüllt. Für die Krim habe ich nichts bekommen, noch nicht einmal ein Dankeschön. Dasselbe habe ich in Slawjansk getan. Wenn man mich nicht buchstäblich dazu gezwungen hätte, die Maske abzunehmen (wie und warum ist eine andere Geschichte), würdet ihr immer noch glauben, dass der Oberst Strelkow ein cooler Hauptmann des GRU mit superbreiten Schultern ist, der mit links Flugzeuge von Himmel holt und mit einem Schuss ganze Panzerkolonnen abfackelt.

    Mich reizt die Macht nicht, erst recht nicht in Zeiten des Friedens. Aber gerade sehe ich eine Krisensituation im Land und kann mich da nicht raushalten

    Mich reizt die Macht nicht, erst recht nicht in Zeiten des Friedens. In Kriegszeiten kann ich sie ergreifen – das ist überhaupt kein Problem. Ich habe kein Interesse an diesen ganzen Spielchen mit Wahlen, Umfragewerten und der Notwendigkeit, sich bei der Bevölkerung beliebt zu machen und dafür zu lügen.

    Aber gerade sehe ich eine Krisensituation im Land und kann mich da nicht raushalten. Weil es das Schicksal nun mal so wollte, dass ich eine gewisse Popularität, eine gewisse Bekanntheit erlangt habe, habe ich kein Recht, sie nicht zu nutzen, quasi mein Pfund zu vergraben wie in dem berühmten Gleichnis.

    Sie wollen also friedlich um die Macht kämpfen?

    Wir werden nicht auf friedliche Weise um die Macht kämpfen, im Augenblick werden wir überhaupt nicht um die Macht kämpfen.

    Und was haben Sie dann vor?

    Wir haben schon lange gesagt, dass das jetzige Regime todgeweiht ist, es verschlingt sich selbst. Vor unseren Augen passiert die Selbstzerstörung eines Regimes, das sich nicht verändern will. Es zerfällt auf der Ebene der Wirtschaft, der Politik, sogar auf der Ebene der Machtvertikale, weil diese zersplittert.

    Uns geht es nicht um Widerstand gegen das jetzige Regime, sondern um die Rettung des Landes vor einer Katastrophe

    Unsere Aufgabe ist es nicht, dieses Regime zu stürzen. Allein deswegen nicht, weil man am Beispiel der Ukraine sieht, wozu so ein Umsturz führt. Unsere Aufgabe ist es, in dem Moment, in dem das Regime zu bröckeln beginnt, die nötige Kraft aufzubringen, um das Land zu erhalten.

    Uns geht es nicht um Widerstand gegen das jetzige Regime, sondern um die Rettung des Landes vor einer Katastrophe und die Errichtung einer neuen politischen Zukunft.

    Also darum, in der Krisensituation die Macht zu übernehmen?

    Ja, in gewisser Weise schon. Eine andere Möglichkeit an die Macht zu kommen, gibt es derzeit einfach nicht. Jeder Mensch, der in unserem Land lebt und kein pathologischer Heuchler oder Pateimitglied von Einiges Russland ist, begreift, dass die Wahlen einfach nur Fiktion und Betrug sind, und das seit Anfang der 90er.

    Sie wissen doch, dass man in unserem Land Nationalisten für gewöhnlich einfach wegsperrt. Haben Sie keine Angst, dass Sie und Ihre Mitstreiter sich plötzlich im Gefängnis wiederfinden?

    Habe ich nicht. Nicht weil ich glaube, dass man mich nicht einbuchten könnte, sondern weil ich einfach keine Angst davor habe, das ist alles. Wissen Sie, das ist der Unterschied zwischen mir und einem Nawalny: Nawalny war sein Leben lang Politiker, hat Geld verdient, für ihn hat der persönliche Komfort sehr großen Wert. Ich mag Komfort auch gern. Ich bin kein Eremit oder Mönch, ich trinke gern ein ordentliches Glas Bier, hab nichts gegen ein gutes Essen und reise gern. Aber ich war in meinem Leben auch in solchen Situationen, die Alexej Nawalny nicht mal vom Hörensagen kennt.

    Ich kann mir vorstellen, was mit mir passieren könnte, wenn ich ins Gefängnis oder in U-Haft komme. Glauben Sie mir, ich kenne schlimmere Situationen.
    Vielleicht wirkte es nach außen anders, aber als ich in Slawjansk war, wurde mir klar: Das Hauptquartier ist mein Leben. Wobei die Chancen zu überleben wesentlich schlechter stehen, als die Chancen zu siegen. Ich bin kein derart zurückgebliebener Abenteurer, um unerschütterlich an den Sieg zu glauben. Mir war klar, dass die Chancen nicht sehr hoch sind und dass wir im Großen und Ganzen ins Ungewisse steuern, dass man uns vielleicht helfen würde, vielleicht aber auch nicht. Im Endeffekt hat man uns halb geholfen.

    Ich habe keine Angst, dass man mich einbuchtet. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass man mich einfach aus dem Weg räumt – irgendein Autounfall oder so etwas in der Art. Als Geheimdienstler halte ich das für die praktikablere Variante

    Mir war auch klar, dass die Chancen da lebend rauszukommen für mich persönlich etwa eins zu zehn standen. Ich bin nicht wegen des Ruhms dahin gegangen. Mir ist die Öffentlichkeit bis heute unangenehm, ich mag es nicht, wenn man mich auf der Straße wiedererkennt und ein Autogramm von mir will…

    Geben Sie dann ein Autogramm?

    Inzwischen hat man mich ein bisschen vergessen, und ich kann endlich wieder mit der Metro fahren. Manch einer schaut mich jetzt genauer an und versucht das Gesicht zuzuordnen, aber von den Fernsehbildschirmen bin ich verschwunden. An den Namen Strelkow erinnert man sich vielleicht noch, aber nicht mehr an das Aussehen.

    Aber, um wieder zu ihrer Frage zurückzukommen: Ich habe keine Angst, dass man mich einbuchtet. Außerdem denke ich nicht, dass man mich einbuchten würde, ich halte es für wahrscheinlicher, dass man mich einfach aus dem Weg räumt – irgendein Autounfall oder so etwas in der Art. Als Geheimdienstler halte ich das für die praktikablere Variante.

    Früher haben Sie gesagt, dass Sie Wladimir Putin unterstützen. Hat sich Ihr Verhältnis zu ihm geändert?

    Sehen Sie den Schrank da in der Ecke? Hinter dem steht ein Porträt von Wladimir Putin, verstaubt. Früher hing es mal an der Wand. Es hing da bis zum Beginn des Syrien-Abenteuers.

    Putin verhält sich wie ein defätistischer Kapitulant

    Aber es hing da nicht, weil ich ein großer Putin-Anhänger bin und ihn für den besten Anführer im Land halte, sondern weil während des Kriegs die Hoffnung bestand, dass er sich wie ein Oberbefehlshaber verhalten würde, und nicht wie ein defätistischer Kapitulant. Ich war bereit, ihn als Oberbefehlshaber anzuerkennen. Aber jetzt bewegt sich Putin eins zu eins auf dem Weg von Milošević. Wenn er diesen Weg wieder verlässt, wenn wir wieder den Putin von 2014 vor uns haben und ein paar Bedingungen erfüllt sind, dann kann es gut sein, dass ich ihn wieder unterstütze.

    Welche Bedingungen?

    Als Putin 2014 den innen- und außenpolitischen Kurs scharf gewechselt hat, hätte er gleichzeitig die Kader austauschen müssen. Jegor Proswirnin kritisiert mich furchtbar dafür, aber das ist ein Zitat von Stalin, das einfach jedem im Gedächtnis ist: „Die Kader entscheiden alles!“ Wenn man die wichtigste und nützlichste Sache einem Halunken und Gauner anvertraut, wird er sicher etwas klauen, verschusseln, verkaufen.

    Putins Truppe ist immer die gleiche. Ein Teil wurde aus Jelzin-Zeiten übernommen, den anderen hat er selbst aus seinem Umfeld zusammengestellt, aus Judo- und Hinterhof-Kumpels. Diese Truppe kann nur klauen, sonst nichts.

    Putins Truppe ist immer die gleiche. Ein Teil wurde aus Jelzin-Zeiten übernommen, den anderen hat er selbst aus Judo- und Hinterhof-Kumpels zusammengestellt. Diese Truppe kann nur klauen, sonst nichts.

    Ich war fest davon überzeugt, dass ein Prozess der Kadererneuerung einsetzen würde, dass er mit Blick auf die neuen Aufgaben eine handlungsfähige Truppe zusammenstellen würde. Denn es ist doch unmöglich dem Westen auch nur im Politischen Paroli zu bieten, wenn die Kinder des Außenministers in Großbritannien studieren, wenn die eigenen Kinder in den Niederlanden leben, wenn Exfrau und Kinder vom Hauptzuständigen für die Ukraine in London leben. Man kann den Feind nicht bekämpfen, wenn man unter den ausführenden Kräften potentielle Spione hat. Wobei ich glaube, dass ein paar davon nicht nur potentiell sind.

    Aber das ist nicht geschehen. Später, als wir in die Konfrontation mit dem Westen getreten sind, hätten wir ein Gleichgewicht zwischen Politik und Wirtschaft schaffen müssen. Wenn man außenpolitische Souveränität will, braucht man wirtschaftliche Souveränität. Eine Pipeline kann nicht unabhängig sein. Man hätte entweder eine Umgestaltung der Wirtschaft beginnen müssen oder zu einer Politik zurückkehren müssen, die mit der Wirtschaft übereinstimmt.

    Denn bei uns laufen ja Politik und Wirtschaft in verschiedene Richtungen, deswegen laufen wir im Endeffekt nirgendwo hin, sondern treten auf der Stelle und verlieren auf beiden Linien.

    Aber man spricht doch von Importsubstitution?

    Die können sagen, was sie wollen. Aber dass beispielsweise Kudrin zur Ausarbeitung einer Wirtschaftspolitik zurückgeholt wurde, ist ein Anzeichen dafür, dass sie nicht vorhaben, etwas zu verändern. Kudrin ist die Ökonomie der Pipeline.

    Ich habe letztens eine Vorlesung an der RANCHiGS gehalten und eine Pipeline an die Tafel gemalt, über die Erdöl von Russland in den Westen fließt. Dort wird es dann verkauft und ein Teil des Geldes fließt wieder zurück – um dann sofort wieder in den Westen zurückzugelangen. Aber die Pipeline verfügt über eine gewisse Durchlässigkeit. Sagen wir, es werden 100 % Ressourcen gewonnen, aber nicht alles davon erreicht den Westen, denn eine Pipeline trägt eine gewisse Bürde. Das sind Atomwaffen, Armee, Flotte, Wissenschaft, Kultur, Sozialleistungen, Rentner und der Staatsapparat. Diese Bürde verschlingt etwa 50 % von dem, was in den Westen gelangen könnte.

    Dass Kudrin zur Ausarbeitung einer Wirtschaftspolitik zurückgeholt wurde, ist ein Anzeichen dafür, dass sie nicht vorhaben, etwas zu verändern. Kudrin ist die Ökonomie der Pipeline

    Deswegen hat der Westen ein Interesse daran, dass sich diese Bürde verringert, und auch Kudrin ist dafür, diese Bürde zu beseitigen. Nur sind das Sie und ich, das ist unsere Souveränität, unsere Unabhängigkeit, unsere Armee, das gehört uns. Derjenige, der seine eigene Armee nicht ernähren will, ernährt die fremde.

    Haben Sie mal in Betracht gezogen, der Gesamtrussischen Nationalen Front beizutreten, um Putin bei der Durchführung von Reformen zu unterstützen?

    Wenn Sie in einen Misthaufen kriechen, dann ist Ihnen doch klar, dass Sie sich schmutzig machen werden, oder? Das geht gar nicht anders. Mich widert das an, ich sehe diese ganzen Leute und mir ist klar, dass man ihnen jede beliebige Angelegenheit aufdrücken könnte. Gestern waren sie noch Kommunisten, bis 1991, dann wurden sie alle Liberale und Demokraten, später treue Staatsanhänger und Patrioten.

    Wenn morgen Poroschenko auf einem Panzer einrollen würde, dann hätten sie alle einen ukrainischen Großvater oder die Großmutter wäre Jüdin. Aber ich bin nicht so wie die

    Aber ich bin kein Fähnchen im Wind und möchte mit solchen Leuten auch nicht in einem Boot sitzen. Sie können nichts außer klauen und sich den Machthabern anpassen. Wenn morgen bei uns Hitler an die Macht käme, wären sie sofort alle in der NSDAP, wenn morgen die Amerikaner bei uns landen würden, würden sie die mit Freudentränen empfangen. Wenn morgen Poroschenko auf einem Panzer einrollen würde, dann hätten sie alle einen ukrainischen Großvater oder die Großmutter wäre Jüdin. Aber ich bin nicht so wie die.

    Ich versuche mit aller Kraft [meine Ansichten] zu vermitteln. Ich habe eine Vorlesung an der RANCHiGS gehalten, danach hat man mich überall verboten. Sogar in der Provinz. Überall gehen Anrufe meiner ehemaligen Kollegen ein und es heißt „geht nicht“. Dafür reicht die mit Feigheit und Loyalität durchtränkte Machtvertikale noch. Eine mächtige Blockade wurde um mich errichtet, selbst Erwähnungen sind verboten.

    Sogar als Herr Posner über die „Deklaration der Faschisten“ sprach, hat er nur Proswirin und Krylow erwähnt, aber nicht Strelkow. Man solle den berümten Mann vergessen, danach kann man dann irgendwas mit ihm anstellen. Nur fehlt ihnen die Zeit dafür, sie haben Zeitnot [orig. Dt.– dek]. Sie bräuchten etwa fünf Jahre.

    Und die haben sie nicht?

    Nein. Sie haben maximal zwei. Sie betreiben gerade eine Politik à la Trischkas Kaftan: Ist ein Teil löchrig geworden, schneiden sie woanders etwas weg und flicken es damit. Aber der Rock wird immer knapper, überall nur Löcher. Zwei Kriege, in denen wir zur Hälfte drin, zur Hälfte draußen sind.

    Den einen hätten wir im Handumdrehen gewinnen können, haben aber Schiss bekommen. In den zweiten sind wir eingestiegen und haben bald kapiert, dass wir den nicht gewinnen können, aber ein Bein hängt immer noch in der Falle. Unser Kontingent wächst beständig, die gesamte syrische Armee von Assad wird von uns versorgt. Es gibt keine strukturellen Reformen oder wenigstens die Einsicht, dass sie vonnöten wären. Nun hat man Kudrin aus dem Ärmel gezogen – vielleicht kann der ja Wunder bewirken? Aber das ist unmöglich.

    Lassen Sie uns nochmal zum Anfang unseres Gesprächs zurückkehren. Angenommen, Sie schaffen es, die Macht zu übernehmen, wenn das Land zu bröckeln beginnt. Was machen Sie dann mit ihren politischen Gegnern? Beispielsweise mit den Liberalen?

    Sie hätten wohl gern, dass ich Ihnen Balsam auf die Seele gieße? Sie werden natürlich alle an der Kremlmauer hängen – die Kommunisten, die Liberalen, die Jedinaja-Rossija-Parteigänger. Kleiner Scherz. Ich muss Sie enttäuschen. Das wird es aus einem einfachen Grund nicht geben: Ich bin nicht Nationalist, weil ich alle anderen Nationen vernichten möchte, sondern weil ich Mitleid mit unserer, mit der russischen Nation habe.

    Ich bin nicht Nationalist, weil ich alle anderen Nationen vernichten möchte, sondern weil ich Mitleid mit unserer, mit der russischen Nation habe

    Ich habe zu allen Nationen ein gutes Verhältnis, nur liebe ich die eigene am meisten. Wir müssen die Chance auf eine Zukunft haben, nicht zu humanistischen Gleichmachern  werden – ich bin grundsätzlich gegen Gleichmacherei. Ich denke, dass es ohne Unterschiede keine Entwicklung geben kann. Ich bin für die Entwicklung jeder einzelnen nationalen Kultur, aber dabei für die Einheit von Russland. Ich möchte darauf hinaus, dass das russische Volk sehr geschwächt ist, und jeder Mensch ist wertvoll.

    Natürlich ist beispielsweise Anatoli Borissowitsch Tschubais für mich nicht wertvoll, und andere Menschen von seiner Art sind für mich auch nicht wertvoll. Aber gegenüber den gewöhnlichen liberalen Weißbändchenträgern habe ich keine feindlichen Gefühle. Ich denke, wenn wir es schaffen, einen normalen Staat zu errichten, werden sie ihren Platz darin finden. Dann mögen sie in Gottes Namen glücklich und reich werden und viele Kinder kriegen.

    Lassen Sie uns zum Abschluss noch einmal über den Donbass sprechen. Vor dem Hintergrund der letzten Erklärung von Lawrow zum Verbleiben des Donbass in der Ukraine und unserer Nichtanerkennung des Donbass – bereuen Sie überhaupt nicht, was Sie getan haben?

    Nein, das tue ich nicht. Erstens ist es dumm, etwas zu bereuen, was schon getan ist. Man kann begangene Sünden bereuen als Christ, aber etwas zu bereuen, das ich aus Aufrichtigkeit getan habe, ist sinnlos.

    Ich bin davon überzeugt, dass der Krieg, den das Volk von Donbass-Noworossija führt, richtig ist. Wenn ich ihn zu Ende führen könnte, würde ich es gern tun

    Ich bin nicht für Geld, Reichtum oder Ruhm dahin gegangen. Ich bin dahin gegangen, um der ansässigen russischen Bevölkerung zu helfen und habe das nach meinen Kräften und Möglichkeiten getan. Vielleicht habe ich nicht genug geholfen, vielleicht hätte ich mehr tun können. Aber im Großen und Ganzen bin ich davon überzeugt, dass der Krieg, den das Volk von Donbass-Noworossija führt, richtig ist. Wenn ich ihn zu Ende führen könnte, würde ich es gern tun.

    Ich bin davon überzeugt, dass Kiew eine russische Stadt ist, und dass Russland ohne Kiew nicht Russland ist, sondern die Russische Föderation. Und die Russische Föderation ist nicht Russland, leider.

     

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