35 Mal größer als Deutschland und nicht einmal die Hälfte an Bevölkerung – in Sibirien gibt es wohl viele Ecken, die noch nie jemand betreten hat.
Lange Zeit war die Region ein Ort der Verbannung und Zwangsarbeit. Damit rief sie bei nicht wenigen Menschen in Russland unangenehme Assoziationen hervor. Die Neu-Sibirjaken stellten allerdings bald fest, dass auch hier unsere Sonne scheint (nasche solnze swetit) und entwickelten mit der Zeit ein eigenes regionales Selbstverständnis, teils zurückgehend auf das der Ureinwohner, teils in Abgrenzung zu Moskau.
Doch was macht dieses Selbstverständnis konkret aus? Warum definierten sich beim Zensus von 2010 rund ein Viertel aller Menschen in Sibirien als Sibirjaken, obwohl es eine solche Nationalität in Russland gar nicht gibt? Diese Frage stellten die Soziologinnen Alla Anissimowa und Olga Jetschewskaja. Sie haben sich aufgemacht nach Irkutsk, Omsk und Nowosibirsk und dort mit den Menschen geredet, einfach „über das Leben“. Auf Zapovednik haben sie einige dieser Interviews und die Ergebnisse ihrer Studie veröffentlicht.
„Ich glaube, wir Sibirjaken haben einen stärkeren Willen … Wir können gut arbeiten, haben Ausdauer. Vielleicht härten uns die Umweltbedingungen ab, wir werden hier nicht gerade verwöhnt … Der Geist ist stärker, ausdauernder, moralisch und physisch.“ (N., 32, w, Omsk)
„Ein Sibirjake mummelt sich nicht ein, er lässt den Hals frei. Zieht sich nicht dick an, er ist die Kälte gewöhnt.“ (W., 45, m, Omsk)
In fast jedem Interview thematisieren die Einwohner Sibiriens ihre Beziehung zur Natur und deren Bedeutung für sie. Viele verbringen ihren Urlaub lieber in der hiesigen Region – „in heimischer Schönheit“ , als in warme Länder zu reisen.
„Ich finde es verrückt, in den Urlaub nach Thailand zu fliegen. Wieso fährt man in ein anderes Land, um sich zu erholen? An den Baikal oder mit dem Sohn auf die Datscha – das ist für mich Urlaub.“ (I., 32, w, Irkutsk)
„Die Sibirjaken haben einen ganzen Erklärungskomplex dafür, was den sibirischen Charakter abhärtet: das Zusammenspiel von Mensch und Natur, das Gefühl von Weite und Freiheit, das Überwinden von Hindernissen und Überleben unter schwierigen klimatischen Bedingungen“, heißt es in der Untersuchung der beiden Soziologinnen.
Die Sibirjaken stellen in den Interviews auch Vergleiche zu Ländern an, die komplett erforscht und erschlossen sind. Sie erzählen von der dunklen Taiga, die man bei den Flügen jenseits des Ural zweieinhalb Stunden lang aus dem Flugzeugfenster sieht, und von der unterschiedlichen Wahrnehmung von physischem Raum und realer Entfernung.
„Meine Schwester kam aus dem Gebiet Archangelsk hierher nach Nowosibirsk und sagte, das sei eine andere Welt. Aus dem westlichen Teil Russlands fährt hier überhaupt niemand her, sie war ganz alleine im Coupé. Erst ab Nowosibirsk wurde der Zug voller, von hier aus fahren die Menschen weiter in den Osten …“ (L., 60, w, Nowosibirsk)
„Sibirien unterscheidet sich in … es ist nicht mal so sehr die Entfernung, als vielmehr die Abgetrenntheit. Als ich zum ersten Mal nach Moskau geflogen bin … es war merkwürdig, dass man nach so vielen Flugstunden frühstücken geht und immer noch Russisch hört. Ich hatte bei der Entfernung gedacht, es müsste dort komplett anders sein … Irgendwie fühlt sich Sibirien wie ein ganz eigenes Land an.“ (T., 39, w, Nowosibirsk)
Die Abgetrenntheit von der Hauptstadt, die schlecht entwickelte Infrastruktur zwischen den großen und kleineren sibirischen Städten sowie die ungleichen Fortbewegungsmöglichkeiten der Bewohner Sibiriens und der Menschen „hinter dem Ural“ erzeugen bei den Sibirjaken offenbar ein Gefühl der Benachteiligung und Chancenungleichheit im Vergleich zu den Bewohnern Zentralrusslands.
„Die komplette Rohstoffbasis liegt hier in Sibirien, aber wir leben viel ärmer … Hier war schon immer alles teurer, deshalb waren wir schon immer sparsamer. Eine Reise in den Süden – für die ist das das eine, für uns ist es etwas ganz anderes, genug Geld zusammenzusparen.“ (G., 59, w, Omsk)
„Ich glaube die echten, guten Sibirjaken, gibt es nur in der Gegend um den Baikalsee. In Nowosibirsk, Krasnojarsk – das sind irgendwie keine richtigen Sibirjaken, die sind zu schwach. Der Baikal ist wie ein wildes Tier, da gibt es manchmal Wellen, dass man richtig Angst kriegt. Aber bei denen, da gibt’s so was nicht.“ (Je., 48, w, Irkutsk)
Die beiden Soziologinnen bezeichnen Sibirien als einen Schmelztiegel der Völker: Im Gegensatz zu traditionellen Clans seien sibirische Familien oft multiethnisch. „Unter den harten sibirischen Überlebensbedingungen und bei der Erschließung neuer Gebiete spielten ethnische und manchmal auch religiöse Prinzipien bei der Familiengründung keine entscheidende Rolle“, stellen sie fest.
„Muslime, Russen und Burjaten lebten in einem Dorf zusammen, es gab mehrsprachige Schulen und Koranschulen, die Kinder lernten verschiedene Sprachen, auch die arabische Schrift, man lebte friedlich zusammen. Alle Feste wurden mit dem ganzen Dorf gefeiert. Ostern und so weiter – alle zusammen, auch die Muslime.“ (Ch., 58, w, Irkutsk)
Weil Menschen verschiedener Religionen und Kulturen in Familien zusammenleben, hat sich in Sibirien eine besondere ethnische Toleranz entwickelt. Viele der Interviewpartner aus gemischten Familien tun sich schwer, ihre Nationalität und manchmal auch die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe oder Religion anzugeben. Der Begriff Sibirjake erlaubt es ihnen, Kultur und Herkunft aller Vorfahren zu vereinen, ohne eine der Seiten zu vernachlässigen.
Die Einwohner der Oblast Irkutsk schöpfen ihre sibirische Identität außerdem aus der Umweltbewegung der 1990er Jahre, die für den Schutz des Baikalsees kämpfte. „Der Baikal schweißt Menschen zusammen, die sich unter anderen Umständen nicht einmal Guten Tag sagen würden, wie es ein Historiker einmal ausdrückte. Der See gilt als heilige Stätte. Durch diesen regionalpolitischen Aktivismus werden die Menschen zu Sibirjaken“, sagt Alla Anissimowa.
„2006 gab es hier Massendemonstrationen für den Schutz des Baikalsees, viele sagen, das sei für sie der Wendepunkt gewesen … Das war eine großangelegte Kampagne, bei der es nicht nur um die Umweltprobleme, sondern auch um die Bürgerrechte der hiesigen Bevölkerung ging … Seither steht das Wort Sibirjake auch für Solidarität. Wir leben am Baikal, und deswegen sind wir Sibirjaken.“ (I.,32, w, Irkutsk)
Epilog
Sowohl in beruflicher als auch in kultureller Hinsicht und im Hinblick auf die Umweltbedingungen – die sibirische Identität ist so eng an das Überwinden von Schwierigkeiten geknüpft, dass die Forscherinnen zu dem Schluss gelangen, sie habe Handlungscharakter: Als Sibirjake wird man nicht geboren – man wird es.
Die sibirische Identität habe die Form einer politischen Äußerung, eines Protests. Aus den drei verschiedenen Städten berichten die Menschen von fehlenden Perspektiven, einer industriellen Krise und niedrigen Löhnen. „Wenn sie nach den Ursachen für diese Probleme gefragt werden, dann äußern viele, dass sie vor allem den asymmetrischen Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem föderalen Zentrum und der sibirischen Region sowie der Erobererhaltung des Zentrums gegenüber Sibirien geschuldet sind“, so die Forscherinnen. Der Wunsch nach einer sibirischen Identität habe insofern nichts mit einem Kampf um nationale Unabhängigkeit zu tun, sondern sei ein Appell der einfachen Menschen an das Zentrum, ihre Probleme endlich zu sehen und zu berücksichtigen.
Am nördlichen Ufer des Ochotskischen Meeres auf der Starizki-Halbinsel liegt der Tschirikow-Leuchtturm, 18 Kilometer entfernt von Magadan. Von Mai bis September ist er nur mit kleinen Booten erreichbar: Wegen der Felsen kann weder ein Lastschiff noch ein Kutter dort anlegen. Im Winter hat der Leuchtturm keine stabile Transportverbindung – die letzten acht Jahre war das Eis nicht tragfähig. Wer zum Leutturm will, der geht zu Fuß durch die Taiga. Die Menschen am Leuchtturm leben weitgehend autonom, Lebensmittel und Treibstoff liefert das Verteidigungsministerium einmal jährlich über den Seeweg. Über das Jahr leben die Leuchtturmwärter von getrockneten Lebensmittelvorräten, von Beeren, die sie auf der Halbinsel sammeln, und vom Fisch, den sie fangen. Zapovednikhat sie am Leuchtturm besucht.
Nikolaj Beljajew arbeitet seit 13 Jahren am Leuchtturm. Jeden Tag überwacht er den Dieselgenerator, der das Leuchtfeuer versorgt, und betreut die Lichtanlage. Nikolaj ist in Polen geboren, in der Familie eines sowjetischen Аrmeeangehörigen. 1976 kam er auf dem Weg zu seiner Schwester nach Tschukuta auch nach Magadan. Er dachte, er würde vorübergehend bleiben, blieb dann aber bis 1994, als er mit Frau und Kindern in den Krasnodarski Krai zog, wegen des angenehmeren Klimas. Nach Beginn des ersten Tschetschenien-Krieges wurde es dort unruhig, und die Familie ging zurück nach Magadan.
Nikolaj Viktorowitsch hat früher als Mechaniker in einem Bade- und Wäschereibetrieb und einer Fischverarbeitungsfabrik gearbeitet, dann bekam er den Posten als Mechaniker am Leuchtturm angeboten. Beljajew stieg schnell zum Leuchtturmvorsteher auf, denn es gibt nicht viele, die dort arbeiten wollen. Am Leuchtturm gibt es vier Arbeitsstellen, aber manchmal sind dort nur Beljajew und seine Frau tätig. „Ich vergleiche uns immer mit Kosmonauten: ein abgeschlossener Raum, jeden Tag dieselben Gesichter. Im Sommer ist es besser: Manchmal fährt ein Schiff vorbei, manchmal ein Boot – es ist lustiger, auch das Wetter. Im Winter ist es manchmal nicht auszuhalten“, erzählt Nikolaj.
Das Licht des Tschirikow-Leuchtturms hilft den Schiffen, die sich im Nebel des Ochotskischen Meeres verirrt haben.
Frisch gefangene Plattfische dörren in der Sonne. Das Leben am Leuchtturm läuft weitgehend autonom – einmal jährlich werden Lebensmittel über den Seeweg geliefertDer König der kleinen LeuchtturmwärterstadtDas Leuchtfeuer von Tschirikow blinkt – 6,5 Sekunden Dunkelheit, 1,5 Sekunden LichtDer Leuchtturmwärter prüft den Dieselgenerator – der speist das LeuchtfeuerVor seiner Schicht begeht der Leuchtturmwärter die Siedlung und den Leuchtturm. Die Ergebnisse notiert er im Funkraum in einem DienstbuchEine Runde Leuchtturm ein- und ausschalten, eine Runde Billard – der Bedienungsraum am LeuchtturmNikolaj posiert für ein Portrait im Zimmer des Wohnhauses der kleinen Leuchtturmstadt. 1958 wurde für das Personal ein Haus mit zwei Stockwerken und vier Dreizimmerwohnungen errichtetMit Hund Ryshaja auf dem Weg zum DieselgeneratorhäuschenAuf dem Vorplatz des Wohnhauses, die Veranda ist Nikolajs Lieblingsort – von hier aus sieht man alle vorbeifahrenden SchiffeNotizen bei Regen und bei Sonnenschein – Nikolajs Brillen und das DienstbuchKühlwasser für den DieselgeneratorNikolaj prüft die neue Glühbirne beim Dieselgenerator – da leuchtet der Leuchtturm gleich heller!Um Lasten vom Ufer hinaufzuziehen, gibt es Schienen, einen Miniwaggon und einen FlaschenzugPanorama der kleinen Leuchtturmstadt – oder auch Neu-LummerlandKrebsreusen – bald gibt’s lecker Meeresfrüchte„Ich vergleiche uns immer mit Kosmonauten. Ein abgeschlossener Raum, jeden Tag dieselben Gesichter“Stillleben mit Tee und ButterbrotNikolaj arbeitet seit 13 Jahren am LeuchtturmBlick auf den Leuchtturm vom höchsten Punkt der Tschirikow LandzungeAm Leuchtturm gibt es vier Arbeitsstellen, aber manchmal sind dort nur Beljajew und seine Frau tätig
Am 5. April 1977 rollte der erste Lada Niva vom Fließband. „Er war für die ländliche Bevölkerung der Sowjetunion entwickelt worden, doch der Niva-Kult breitete sich rasch weit über die Grenzen der UdSSR hinweg aus. Über eine halbe Million Autos wurden in alle Welt exportiert: nach Europa, Lateinamerika, Afrika und Australien. Das Auto hatte ein paar technische Vorteile, eine komfortable Ganzmetallkarosserie und eine Einzelradaufhängung an der Vorderachse – und im internationalen Vergleich war es nicht teuer“, schreibt Roman Koroljow auf Zapovednik.
Nach so viel Theorie hat es ihm der Lada Niva auch in der Praxis angetan: Kurz nach dem Niva-Geburtstag besuchte Koroljow im April eine Niva-Ralley nahe Moskau – bitte anschnallen, und ab geht’s durch Schlamm, Pfützen und Gestrüpp!
Mit dem Niva wurden Weltrekorde aufgestellt: Man fuhr damit auf den Mount Everest (auf eine Höhe von 5200 m) und ins tibetische Hochland im Himalaya (5726 m), man warf ihn mit einem Fallschirm über dem Nordpol ab, fuhr damit auf der sowjetischen Antarktis-Station Bellingshausen herum. Überall zeigte sich der sowjetische Offroader als absolut unkaputtbar. Heute gibt es Niva-Fanclubs in Japan, Kanada, Island und Russland.
Der Klub Leschi, der schon seit sechs Jahren Orientierungsrennen im Gelände veranstaltet, führte vergangenes Jahr Teilnahme-Beschränkungen ein: Zum Turnier sind jetzt nur noch heimische Autos zugelassen. In diesem Jahr, dem Jubiläumsjahr des Niva, ausschließlich Nivas.
Das Rennen findet zwei Kilometer vom Dorf Makarowo entfernt statt, nahe dem Flughafen Tschernogolowka. Der Ort wurde speziell für Leute ausgesucht, die meinen, russische Feldwege seien gut befahrbar und „easy“.
Der Barde Igor Rasterjajew besingt die Romantik des Mähdrescherfahrers
Auf Holzkohlegrills brutzeln Schaschliks, aus Lautsprechern dröhnen Lieder über richtige Männer. „Die haben keine teure Garnitur / machen sich nichts aus Emo-Kultur / hängen nicht rum auf VKontakte, online / die hauen auf ihren Mähdreschern rein“, besingt der Barde Igor Rasterjajew die Romantik des Mähdrescherfahrers.
Denis Basanow, ebenfalls Organisator des Wettbewerbs, gibt den Teilnehmern der Runde ein letztes Wort mit auf den Weg und warnt sie ausdrücklich davor, auf das Gelände des Flugplatzes Tschernogolowka zu geraten: „Wer auf die Startbahn hinauslenkt, muss das selber mit dem Sicherheitsdienst regeln!“
Am Start stehen zwanzig Nivas. Jeder mit einer Crew aus zwei Personen: dem Fahrer und dem Co-Pilot. Die erste Etappe sind Rundstreckenrennen. Bei jeder Runde kommen drei Teilnehmer dran, und Sieger ist, wer als Erster durch Sümpfe, Gestrüpp, Schlaglöcher und riesige Pfützen hindurch das Ziel erreicht.
In der Mitte des Kreises sind ein paar Hügel, von denen aus die Fans zusehen. Sobald einer der Organisatoren mit wehender Fahne das Signal zum Start gibt, rasen die Autos mit Geheule und unter den Rädern hervorspritzenden Matschklumpen los. Die Runden dauern ein paar Minuten, und bald fallen die ersten deutlich zurück. Ein Auto, aus dem dicker Rauch qualmt, wird mit einem Seil abgeschleppt.
Sieger ist, wer als Erster durch Sümpfe, Gestrüpp, Schlaglöcher und riesige Pfützen hindurch das Ziel erreicht
Im zweiten Teil des Wettbewerbs geht es um Orientierung. Die Organisatoren sind im Umkreis von fünf Kilometern den Wald abgefahren und haben an Bäumen, Baumstümpfen und sonstigen Wegemarken mit grüner Farbe die Zahlen 1 bis 31 aufgemalt und diese Stellen mit GPS-Koordinaten versehen. Wer es schafft, innerhalb der für diese Etappe vorgesehenen vier Stunden die meisten dieser Stationen abzufahren, hat gewonnen.
Der Niva ist das Günstigste, was man kaufen und ummodeln kann
In der zweiten Etappe ist es besonders wichtig, dass Fahrer und Beifahrer gut aufeinander eingespielt sind: Indem er mit dem GPS-Navigator die Punkte sucht, hat der Beifahrer die Rolle des Steuermanns.
„Wenn etwas kaputtgeht, kann ich es in der Garage austauschen und zum nächsten Wettkampf fahren.“
„Ich heiße Sergej, der Beifahrer ist Dimitri“, stellt sich mir ein junger Mann mit magerem Gesicht und weißem Helm vor, in einem eigentlich weißen, aber jetzt mit einer Dreckschicht überzogenen Wagen. „Bei mir hat dieser Sport damit angefangen, dass Freunde ein Auto gekauft und Denis Basanow kennengelernt haben. Sie sind gefahren und haben mich zum Zuschauen eingeladen. Ich habe mir das angeguckt und musste sofort auch so ein Auto haben, es präparieren, Offroadsport machen. Meine Finanzen gaben die Wahl des Autos vor: Der Niva ist das Günstigste, was man kaufen und ummodeln kann. Wenn etwas kaputtgeht, kann ich es in der Garage austauschen und zum nächsten Wettkampf fahren. Das Herrichten nimmt viel Zeit in Anspruch – den Motor auszutauschen hat den ganzen Winter gedauert. In einer Werkstatt geht es natürlich schneller.“
Das Gespräch wird vom Startsignal zur zweiten Etappe unterbrochen. Der Großteil der Autos ist bald nicht mehr zu sehen. Wer heute „ohne Pferd“ gekommen ist, hat zwei Möglichkeiten, sich die Zeit zu vertreiben: Die zu verspotten, die Pech hatten, oder ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Zwei Fahrzeuge bleiben schon nach wenigen hundert Metern im Morast stecken, die Reifen drehen durch.
Wer sein Auto schonen will, hat hier nichts verloren
„Der Sieg hängt von vielen Faktoren ab: vom Auto natürlich am meisten, und sonst – vom Piloten genauso wie vom Steuermann. Manchmal sind nach den Wettkämpfen nur Kleinigkeiten kaputt, manchmal muss man das Auto komplett neu zusammensetzen. Wer sein Auto schonen will, hat hier nichts verloren, zumindest keinen Preis zu gewinnen. Dann wieder sieht einer, dass es etwas zu holen gibt, und tritt das Gaspedal durch“, erzählt mir der Rennfahrer Denis, dessen Eisengaul jetzt zerlegt in der Garage steht, weswegen er nicht am Rennen teilnehmen kann.
Im Grunde kommen die Leute vor allem hierher, um sich auszutoben
„In der Stadt ist es langweilig. Im Grunde kommen die Leute vor allem hierher, um sich auszutoben, im Matsch zu wühlen, etwas zu erleben, um danach etwas zu erzählen zu haben”, so Denis weiter. „Geld kann man ohne Ende reinstecken: immer wieder Stoßstangen, Seilwinden, Luftbälge. Ein Auto ist wie eine Datscha, du kannst einfach damit leben oder reinbuttern und reinbuttern. Wenn es um die praktische Anwendung geht, sind das Ausflüge, Jagd und Angeln. Mit dem Niva kommst du überall hin.“
Wenn am 21. Juni 2016 nicht das Verbot von Fahrzeugtuning beschlossen worden wäre, würden zehnmal so viele Leute zu Rennen kommen, ist Denis überzeugt. Das Verbot hat alle eigenmächtigen, über die Erstausstattung hinausgehenden Modifizierungen von Fahrzeugen praktisch unzulässig gemacht – also die zentrale Leidenschaft, die die hier Versammelten miteinander verbindet.
Der Autobesitzer ist verpflichtet, die vorgenommenen Veränderungen abzumontieren oder in einem speziellen Zertifizierungszentrum zu legitimieren, doch solche Einrichtungen gibt es nur in Moskau und St. Petersburg, und für ihre Dienste zahlt man stattliche Summen.
Furchen voller Schlammsuppe
Der große, korpulente, rundgesichtige Oleg und sein Freund Anton, mit Brille und kurz geschorenem Haar, versorgen ein Team, das mit den Vorderrädern endgültig in einer Furche voller Schlammsuppe feststeckt, mit nützlichen Tipps. Der Fahrer heißt Alexej und ist 37, seine Frau Vera ist drei Jahre jünger und navigiert. Am Anfang stand sie dem Hobby ihres Mannes skeptisch gegenüber, aber vor einem Jahr fuhr sie zum ersten Mal mit auf einen Wettkampf und fing Feuer. Unter all den Männern in schmutzabweisender Tarnkleidung und Trainingsanzügen wirkt Vera in ihrem hell leuchtenden Kurzmantel im wahrsten Sinn des Wortes wie eine „weiße Krähe“. Ihr Mantel ist voller Dreckspritzer, aber das scheint sie nicht zu stören.
Die Rettung des Autos dauert eineinhalb Stunden
Anton sagt, bei Rennen hänge 40 Prozent des Erfolgs vom Intellekt ab, alles andere sei Können. Jetzt brauche es Intelligenz, um das Fahrzeug aus dem Sumpf zu ziehen. Bei den Wettkämpfen hilft jeder jedem und einer der Teilnehmer bindet ein Seil an die Stoßstange. Doch ob dieser Bemühungen versinkt der Niva von Vera und Alexej nur noch tiefer im Schlamm. „Na, der hat aber geholfen!“, sinniert Oleg laut. „Wenn der zu jedem hinfahren und ihm so unter die Arme greifen würde: siehst du, wieder ein Konkurrent weniger. Für so eine Hilfe sollte man dem eine reinhauen!“
„Mit dem Niva kommst du überall hin“
Alexej hebt schnaufend vor Anstrengung die Seiten des Niva abwechselnd mit einer Seilwinde hoch. Motorwinden sind beim Wettbewerb heute verboten – ein eingesunkenes Auto darf man nur mit eigener Muskelkraft herausziehen. Nach dem ebenfalls hier veranstalteten Motocross liegen überall auf den Hügeln Reifen verstreut: Alexej und Vera rollen welche zum Auto und legen sie unter die Räder. Der Niva sinkt trotzdem ein, und Alexej ist schon drauf und dran aufzugeben, doch Oleg macht ihm klar, dass noch nicht alles verloren ist. Wenn man ruckartig aufs Gas steigt, würden die Hinterräder auf die Reifen hüpfen und der Wagen aus dem Loch gehoben.
Man muss selbst von oben bis unten verdreckt sein – nur so kriegt man ein Gespür für die Philosophie dieses Sports
Das funktioniert plötzlich. Die Rettung des Autos hat eineinhalb Stunden gedauert, es hat gerade mal fünf Punkte gesammelt, bevor es steckengeblieben ist. Oleg redet auf die Crew ein, das Rennen nicht auf halbem Weg aufzugeben. Wenn man bedenkt, wie viele Teilnehmer wegen verspäteter Ankunft im Lager disqualifiziert werden, hat das Paar mit seinen fünf Punkten durchaus noch eine Chance auf den Sieg.
„Dreck“ ist eines der häufigsten Wörter im Vokabular der Offroad-Rennfahrer
„So ein Rennen muss man selbst erlebt haben“, sagt Anton zu mir. „Selber fahren, selber fiebern. Man muss selbst von oben bis unten verdreckt sein – nur so kriegt man ein Gespür für die Philosophie dieses Sports. Den Mantel können Sie halt dann in die Tonne werfen.“
„Dreck“ ist eines der häufigsten Wörter im Vokabular der Offroad-Rennfahrer. Noch öfter als vom Dreck sprechen sie nur von den Autos selbst.
Öfter als vom Dreck sprechen sie nur von den Autos selbst
Ich darf als Teil der Crew auf dem Rücksitz Platz nehmen. Alexej drückt das Gaspedal durch, und wir düsen durch den Wald, mit scharfen Kurven und hohen Sprüngen über Schlaglöcher. Zweige schlagen gegen das Autodach, Matschklumpen spritzen an die Seitenscheiben. Das Gespräch wird ständig unterbrochen, weil Alexej alle fünf Minuten Halt macht und aus dem Auto springt, damit Vera sein lachendes Gesicht an jeder nächsten erreichten Station knipsen kann.
Wie durch ein Wunder springt der Niva doch wieder an, und das Rennen geht weiter
Das Auto, mit dem wir jetzt fahren, hat drei Jahre herrenlos im Gebüsch gestanden und vor sich hin gerostet, alle Kabel waren durch. Seine Instandsetzung hat Alexej ein halbes Jahr gekostet. Während wir reden, stirbt der Motor nochmal ab, und erfolglose Startversuche nehmen etwa weitere zwanzig Minuten in Anspruch. Wie durch ein Wunder springt der Niva doch wieder an, und das Rennen geht weiter.
„Ich weiß gar nicht, woher ich diese Begeisterung habe. Aber schon als Kind hat mir genau das gefallen – querfeldein fahren, einfach so. Ich gehe nicht mal jagen oder angeln – nein, das reizt mich überhaupt nicht. Das Wichtigste für mich – lasst mich durch den Dreck ackern! Offroad-Rennen sind wirklich lustig. Wirklich lustig und wirklich teuer“, fasst Alexej Vor- und Nachteile seines Hobby zusammen.
Nach diesen Worten rammt das Hinterteil des Autos mit voller Wucht gegen einen auf der Erde liegenden Baumstamm. Schön langsam packt mich der sportliche Eifer, doch das Paar beschließt, mit seinen 15 gesammelten Punkten ins Lager zurückzukehren. Sie hinterlassen, wie die anderen Teilnehmer auch, geknicktes Gestrüpp und von tiefen Fahrspuren zerfurchte Felder.
Sie hinterlassen geknicktes Gestrüpp und von tiefen Fahrspuren zerfurchte Felder
Öko und Abgeschiedenheit, das gehört für sie zusammen, wobei meist auch eine Prise Esoterik dazukommt: Die ersten sogenannten Ökodörfer entstanden in Russland in den 1990er Jahren. Oftmals versuchten Menschen aus den Städten dort ein Leben abseits der offiziellen Strukturen.
Soziologen erklären den damaligen Boom damit, dass nach der Perestroika die alten Sicherheiten fehlten, gleichzeitig habe es vermehrt Nachrichten über Kommunen und alternative Lebensformen aus dem Ausland gegeben. Auch der Zugang zur einheimischen esoterischen Literatur sei nun viel einfacher gewesen. Eine zweite Welle gab es in den 2000er Jahren, inspiriert durch die esoterische Romanfigur Anastasia.
Russlands Ökodörfer bestehen bis heute – und es gibt auch Neugründungen. Olga Dimitrijewa hat für Zapovednikeinige besucht. Und traf dabei nicht nur auf Anastasianerund Eskapisten.
Die 1970er Jahre markieren in der UdSSR eine Zeit des Stillstands. Der 24-jährige Wladimir Pusakow, zukünftiger Begründer eines bekannten russischen Ökodorfs, siedelt in dieser Zeit aus der Ukrainischen Sowjetrepublik nach Nowosibirsk über. Er heiratet und heißt trotz späterer Scheidung von nun an Megre. 20 Jahre später verdient Megre sein Geld mit der Organisation von Flusskreuzfahrten auf dem Ob. Während einer seiner Reisen begegnet er in der Taiga der Einsiedlerin Anastasia. Sein erstes Buch über sie erscheint 1996.
Die Handlung ist schnell erzählt: Anastasia, eine Frau von unglaublicher Schönheit, besitzt okkulte und paranormale Fähigkeiten, lebt alleine in der sibirischen Taiga, kommt ohne Heim und Kleidung aus, lehnt alle zivilisatorischen Errungenschaften ab, ernährt sich von Wurzeln und Beeren, die Eichhörnchen für sie sammeln, ist per du mit Bären und Wölfen, und wenn sie nicht gerade mit der Natur kommuniziert, dann bringt sie den Datschniki den richtigen Umgang mit Pflanzen bei (indem sie ihre Ratschläge per Telepathie übermittelt).
Megres Gegner haben mehr als einmal versucht, Anastasia als eine fiktive Figur zu entlarven, auch der Autor selbst hat das thematisiert. Aber die Fans der Einsiedlerin schreckt das nicht. „Ich existiere für die, für die ich existiere“, so lautet der Slogan auf dem Umschlag des ersten Bandes der Anastasia-Serie Die klingenden Zedern. Die Geschichte der Taiga-Bewohnerin inspiriert die zweite Welle der Ökodorf-Bewegung in Russland Anfang der 2000er Jahre.
Das Ökodorf als „ein Versuch, das Leben anders zu organisieren“
Wie viele Ökodörfer es in Russland heute gibt, ist nicht bekannt. 2012 schätzte ZIRKON die Zahl auf circa 200, 60 Prozent davon zählen die Forscher zu den sogenannten Familienlandsitzender Anastasianer [Posselenija rodowych pomesti – PRP]. Vier Jahre später spricht die Stiftung Anastasia von 364 existierenden Familienlandsitzen unterschiedlicher Größe. Die Internetseite poselenia.ru zählt 449 Dörfer, die meisten davon ebenfalls Familienlandsitze, wobei diese Statistik auch Siedlungen im Ausland einschließt. Demnach lebten im vergangenen Jahr 5000 Menschen ständig, auch im Winter, in Ökodörfern.
Neben den Anastasianern nennt die ZIRKON-Studie ein ganzes Spektrum von alternativen Siedlungen, die sich als Ökodörfer ohne spezifische Glaubensausrichtung beschreiben lassen. Diese Siedlungen wurden zum einen gegründet, um einen ökologisch reinen Lebensraum zu schaffen, zum anderen sind sie Ideengemeinschaften (das heißt, Gemeinschaften, die bewusst auf ein enges Zusammenwirken ausgelegt sind).
Von der Stadt aufs Feld
Ziel des ZIRKON-Projekts ist es, alle bestehenden Formen von Ökodörfern zu beschreiben. Artemi Posanenko, Analytiker vom Projekt- und Lehrlabor der Stadtverwaltung an der Moskauer Higher School of Economics (HSE), hat sich dagegen vor allem mit den Familienlandsitzen beschäftigt. „Anfangs interessierte mich das Thema der räumlichen Isolation. Ich war schon immer von der Einöde fasziniert, habe mich immer gern in die entlegensten Winkel verdrückt.“
Artemi Posanenko und ich unterhalten uns mitten im Zentrum von Moskau, in der Wyschka [wie die Hochschule inoffiziell genannt wird – dek]. „Dann war ich plötzlich mit Selbstisolation konfrontiert. Und wollte Gemeinschaften, die unfreiwillig von der Außenwelt abgeschnitten wurden, mit solchen vergleichen, die die Isolation bewusst anstreben.“
Der Soziologe sagt, die Menschen, die er beobachtet, kämen aus der Stadt, seien verhältnismäßig jung (im Schnitt 35 bis 45), hätten studiert und nicht selten Erfahrung in der Unternehmensführung. Allerdings, so fügt er hinzu, hätten die Umsiedler meist keinen geisteswissenschaftlichen Hintergrund, sondern einen technischen oder naturwissenschaftlichen. Damit ließe sich auch ihre Neigung zu esoterischer Literatur erklären, die „Antworten auf alle Fragen bietet“. Bereits dieses grobe Porträt der neuen Dörfler lässt erahnen, dass sie an das Leben auf dem Land zunächst eher wenig angepasst sind.
Einer der Schlüsselgedanken in Megres Anastasia-Büchern ist die Idee der Selbstversorgung. „Auf dem Land angekommen, säen die Städter das Saatgut auf ihrem Grundstück so aus, wie Anastasia es in Megres Büchern lehrt: Sie behalten es zunächst eine Weile im Mund, setzen es in die ungepflügte Erde und kümmern sich nicht weiter um die Pflanzen“, heißt es im Bericht des ZIRKON. „Und dann stellen sie fest, dass die Saat nicht aufgeht.“
Sie säen das Saatgut so aus, wie Anastasia es in Megres Büchern lehrt. Und dann stellen sie fest, dass die Saat nicht aufgeht
Enttäuscht von Anastasias Ratschlägen, wenden sich die Umsiedler anderen alternativen Formen der Bewirtschaftung zu. Zum Beispiel der Permakultur, einem Landwirtschaftssystem, das auf den Wechselwirkungen der natürlichen Ökosysteme beruht.
„Es gibt sehr viele, die damit experimentieren, aber nennenswerte Ergebnisse erzielen sie nicht“, berichtet Posanenko. „Obwohl manche eine ganz anständige Ernte haben. Aber während sich in den ländlichen Gebieten die echten Dörfler, nicht die Zugezogenen, mehr oder weniger das ganze Jahr über mit ihren eigenen Garten-Erträgen versorgen können, sind in den neuen Dörfern meist alle Lebensmittel bis zum Jahresende aufgebraucht und müssen dann eingekauft werden.“
Zwischen Stadt und Land
Stepan lebt auf dem FamilienlandsitzShiwoi Rodnik [dt. Lebendiger Quell] im Bezirk Abinsk der Region Krasnodar. Die Geschichte seiner Umsiedlung ist recht typisch: junger Fachmann, Ingenieur, Veganer. Mit etwa 25 Jahren begannen seine Frau und er, sich Gedanken über Kinder und Gesundheit zu machen. Sie wollten aus der Stadt raus, aber „auf dem Land gibt’s ja auch solche und solche – die einen trinken, die anderen sonst was. Ob das die richtige Umgebung für Kinder ist …“ Schließlich fanden sie eine Siedlung, kauften ein Haus von einer Familie, die mit den Strapazen des Landlebens nicht zurechtkam, und zogen um.
Die Geschichte von Stepans Umsiedlung ist recht typisch: junger Fachmann, Ingenieur, Veganer
Jetzt hat Stepan zwei Kinder. Seine Frau und er kümmern sich um ihr Grundstück und führen ein kleines Unternehmen: „Honig und noch ein paar ökologisch produzierte Lebensmittel. Gewürze – einen Teil bauen wir selbst an, einen Teil kaufen wir ein. Manchmal stellen wir eigene Gewürzmischungen her, sowas wie Chmeli-Suneli oder Curry. Weil das Industrie-Zeug aus minderwertigem Müll gemacht wird. Das hat nicht das Aroma, das es haben sollte.“
Den Honig und die Gewürze vertreibt Stepan über eine Gruppe in VKontakte. Viele Kunden hat er nicht, aber dafür sind es Stammkunden, die große Chargen einkaufen. [ZIRKON-Forscherin] Darja Malzewa räumt ein, dass es bei Weitem nicht allen gelingt, ein lokales Business aufzubauen, oder aber es läuft nicht besonders erfolgreich.
Stepan lebt auf dem Familienlandsitz Shiwoi Rodnik in der Region Krasnodar
Artemi Posanenko erklärt, wovon die Bewohner der Familienlandsitze meistens leben: Es gibt Privatiers, die Wohnungen in der Stadt vermieten, Saisonarbeiter, ein paar Rentner. Unternehmer, die ein Geschäft unabhängig von der Siedlung haben. Lohnarbeiter, die in Nachbarorte pendeln. Manche leben von Erspartem, das sie vor der Umsiedlung aufs Land auf die Seite gelegt haben. „Die Privatiers und Unternehmer sind die größte Gruppe“, sagt Posanenko, „Solche, die es schaffen, dort Geld zu verdienen, wo sie leben, wenigstens ansatzweise, gibt es bisher nur wenige.“
Innerhalb der Siedlung haben die Menschen vielleicht ein kleines Sägewerk, eine Schmiede, stellen Bioprodukte her. Manche versuchen, den Ökotourismus für die Städter anzukurbeln.
Eine relativ weit verbreitete Art, Geld zu verdienen, sind Seminare auf dem Land – für manche Siedler besteht also die Haupteinnahmequelle darin, Vorträge darüber zu halten, wie man ein Ökodorf aufbaut. „Ist doch witzig – sie erzählen den Menschen: Ihr werdet dort damit Geld verdienen, dass ihr erzählt, wie ihr damit Geld verdient“, sagt Posanenko.
Haupteinnahmequelle mancher Siedler ist es, Vorträge darüber zu halten, wie man ein Ökodorf aufbaut. Sie erzählen den Menschen: Ihr werdet damit Geld verdienen, dass ihr erzählt, wie ihr damit Geld verdient
Dorfbewohner Stepan gibt zu, dass er sein Geld vor der Umsiedlung verdient habe – vom „Kohlescheffeln“ hat er die Nase voll.
„Wenn jemand aus der Stadt in eine Lehmhütte mitten auf freiem Feld zieht, dann macht das natürlich etwas mit seinem sozialen Status. Aber sie haben nicht das Gefühl, etwas zu verlieren, sondern etwas dazuzugewinnen“, sagt Darja Malzewa. „Doch man muss auch bedenken, dass die Menschen dazu neigen, ihre Entscheidungen zu rechtfertigen. Zum Beispiel hörte ich einmal von zwei Bewohnern, dass sie ein Geschäft hatten, und alles sei gut gewesen, aber irgendwann hätten sie einfach keine Lust mehr gehabt. Dann kam die Tochter zu Besuch und erzählte mir, das Geschäft sei nicht gut gelaufen, es ging bergab, und deshalb seien sie weggegangen.“
Partei der Abschotter
Eines der Merkmale, das die Ökodörfer von anderen Ortschaften in Russland unterscheidet, ist die geringe Einbindung in offizielle Strukturen. Ursprünglich waren die meisten Ökodörfer als ein Raum angelegt, der außerhalb der staatlichen Einflusssphären existiert. Als ZIRKON 2011 seine Studie zur Ökodorfbewegung plante, sahen die Wissenschaftler in dem Phänomen zunächst eine Form von Eskapismus. Doch tatsächlich können und wollen sich die neuen Dörfler gar nicht immer von der Gesellschaft abschotten.
Wir hatten angenommen, diese Menschen seien auf Isolation aus. Aber als wir dann zu forschen begannen, wurde deutlich, dass es einfach ein Versuch ist, das Leben anders zu organisieren
„Manche schließen sich nicht ans Stromnetz an, sondern stellen Solarbatterien auf. Schulen sollen aufgebaut werden, damit die Kinder nicht mit dem offiziellen Bildungssystem in Berührung kommen“, sagt Artemi Posanenko. Damit sind die örtlichen Behörden nicht immer einverstanden. Noch weniger gefällt ihnen die Zweckentfremdung der Flächen. Für die Siedlungen wird Boden erworben oder gepachtet, der eigentlich für die landwirtschaftliche Nutzung vorgesehen ist – er ist am günstigsten zu kaufen und am niedrigsten besteuert, und offiziell gilt er nicht als Bauland.
Doch der Kontakt mit staatlichen Strukturen geht nicht immer nur von den Behörden aus. So gründete eine Gruppe von Familienlandsitz-Bewohnern eine eigene politische Partei.
„Es sieht völlig anders aus als ein normales Dorf – überall seltsame Bauten“
„Die Rodnaja Partija ist eine beim Justizministerium eingetragene Partei“, sagt Posanenko. „Das sorgt für große Konflikte innerhalb der Siedlungen, denn sie bleiben nicht einfach nur im System (obwohl das für sie so ein Schimpfwort ist), sondern klinken sich auch noch aktiv ins politische System ein. Manche werben eifrig: Kommt, tretet ein, zahlt Beiträge. Die anderen finden das ganz schlimm.“
„Anfangs trug unsere Studie den Titel Ökodörfer als Form der Binnen-Emigration“, sagt Darja Malzewa. „Das heißt, wir hatten angenommen, diese Menschen seien auf Isolation aus. Aber als wir dann zu forschen begannen, wurde deutlich, dass das kein ‚Weggang‘, sondern ein ‚Übergang‘ hin zu einer anderen Daseinsform ist. Einfach ein Versuch, das Leben anders zu organisieren.“
Das neue Dorf
Das Ökodorf Kowtscheg [dt. Arche] wurde Anfang der 2000er Jahre auf Brachland erbaut. Dann brauchten sie sieben Jahre, um „sich ins System einzugliedern“, und 2009 erhielt Kowtscheg den offiziellen Status eines Dorfes. Aber, so Artemi Posanenko, ein gewöhnliches Dorf ist Kowtscheg trotzdem nicht geworden. Artemi zeigt mir Satellitenansichten der Siedlung: „Es sieht völlig anders aus als ein normales Dorf. Da, überall seltsame Bauten, verstreut in wuchernden Feldern. Ganz unverwechselbar.“
Sie haben ihre eigene Weltsicht, eine eigene Schule. Formal ist es ein Dorf, aber ansonsten hat es nichts mit einem gewöhnlichen Dorf zu tun
Posanenko betont, dass es nicht nur optische Unterschiede gibt: „Sie haben ihre eigene Weltsicht, eine eigene Schule, sie versuchen die Kinder zu Hause zu erziehen, unabhängig vom offiziellen Bildungssystem. Es gibt kollektive Veranstaltungen. Forstschutz. Tage der offenen Tür, Vorträge, Workshops, Feste. Sie unterscheiden sich im Lebensstil, im Denken, in der Bevölkerungszusammensetzung und demografischen Struktur grundlegend von anderen Dörfern. Formal ist es ein Dorf, aber ansonsten hat es nichts mit einem gewöhnlichen Dorf zu tun.“
Betrachtet man die Ökodörfer als eine neue Gemeindeform, so sehen die Forscher ihre Zukunft in Russland weniger optimistisch. Nach Darja Malzewas Ansicht hängt alles davon ab, inwieweit sie bereit sein werden, auch Technik einzusetzen. „Wenn sie auf dem Stand des Archaischen stehenbleiben, verlieren sie ihre Anhänger, gewinnen keine neuen hinzu und erfahren keine Verbreitung.“
Artemi Posanenko setzt, was die Zukunft der Ökodörfer angeht, den Akzent woanders: „Der Status, unter dem die landwirtschaftlichen Flächen bewohnt werden, ist ziemlich brüchig. Es kann jeden Moment passieren, dass sich jemand mit mehr Einfluss für dieses Land interessiert, und dann werden die Behörden Hebel finden, um die neuen Siedler zu vertreiben. Deshalb braucht es die Institutionalisierung.“
Es kann jeden Moment passieren, dass sich jemand mit mehr Einfluss für dieses Land interessiert, und dann werden die Behörden Hebel finden, um die neuen Siedler zu vertreiben
Die Alternativen: Entweder man strebt den Status einer Ortschaft an, wie im Fall von Kowtscheg, oder man erreicht die Verabschiedung eines Ökodorf-Gesetzes. Ein dritter Weg, den die Forscher in der Praxis bereits beobachtet haben – die Verwandlung des Ökodorfs in eine Datschensiedlung – bedeutet faktisch das Ende des Ökodorfs in seinem ursprünglichen Sinn.
Es gibt nicht sehr viele Möglichkeiten, außerhalb des Staates zu leben: „Wenn man sich in der Taiga ansiedelt, wo es kein Öl gibt, keine Durchfahrtsstraßen und so weiter, wird sich vermutlich niemand für dieses Land interessieren, und man kann dort in aller Ruhe sein Einsiedlerleben leben. Zum Beispiel eine Siedlung im Gebiet Tscheljabinsk, in der ich war – die einzige wirklich räumlich isolierte.“ Gleichzeitig schließen die Forscher nicht aus, dass es Dörfer gibt, die die Idee der Abschottung verwirklicht und sich nicht auf den einschlägigen Internetseiten registriert haben.
Ökodorf Shiwoi Rodnik – die Ideologie tritt oft zurück, sobald es darum geht, praktische Probleme zu lösen
„Wenn man sie lässt, ist das für manche ein Weg. Natürlich ist es sehr unwahrscheinlich, dass er zum Mainstream wird und sich eine neue Kultur daraus entwickelt“, resümiert Posanenko. „Aber ich glaube nicht, dass diese Dörfer verschwinden werden. Es gab eine Zeit, da verdoppelte sich die Zahl der Siedler laut offiziellen Angaben einmal in drei Jahren. Dieses Tempo wird zurückgehen. Aber ich glaube nicht, dass die Spitze schon erreicht ist. Ich denke, das Phänomen wird weiter wachsen und gesellschaftlich sichtbar werden. Man wird sagen: Ja, in Russland gibt es diese Form der ländlichen Siedlungen.“
Die Ideologie, die ursprünglich eine große Rolle im Leben der Ökodörfler eingenommen hatte, tritt oft zurück, sobald es darum geht, praktische Probleme zu lösen. Doch der Wunsch nach dem Landleben unter Gleichgesinnten bleibt: „Ich kann nicht sagen, dass ich ein Anastasianer bin oder so etwas“, sagt Stepan. „Die Zeit, als ich auf der Suche nach mir selbst war, ist eigentlich vorbei. Wir haben uns gefunden.“
Mitten im Nirgendwo: Viele Siedlungen in Russland liegen fernab der Hauptverkehrsadern, ohne Anbindung an die nächstgelegenen Städte. Artemi Posanenko arbeitet als Soziologe an der Moskauer Higher School of Economics und erzählt im Zapovednik über seinen aktuellen Forschungsgegenstand: Russlands „isolierte Communities“, abgeschiedene Dörfer. Ein Gespräch über grassierende Arbeitslosigkeit, lukrative Beerengeschäfte und das „Dorf der Teenager“.
Es gibt Städte wie Norilsk oder Narjan-Mar, die zwar vom Rest des Landes abgeschnitten, aber dennoch recht groß sind. Ich beschäftige mich jedoch eher mit solchen Orten, die überhaupt von allem abgeschnitten sind, von wo aus sogar die zugehörige Bezirkshauptstadt nur mit Mühe zu erreichen ist.
Nehmen wir beispielsweise einen Bezirk in der Region Archangelsk. Nach meinen Berechnungen leben 40 Prozent der Einwohner dort in räumlicher Isolation. Auch in der Region Kostroma gibt es eine Vielzahl solcher Communities – die übrigens gar nicht so weit von Moskau entfernt liegen. Betrachtet man die Bezirke Nerechtski und Krasnoselski in der Nähe von Kostroma, findet man dort wahrscheinlich keine isolierten Communities.
Wenn jemand vermisst wird, wird er gar nicht erst gesucht. Weil es nutzlos ist: über 100, ja sogar 200 Kilometer nur Taiga und sonst nichts
Aber östlich des Flusses Unsha, im Norden des Gebiets, gibt es dann zehn bis fünfzehn solcher Dörfer in einem Bezirk. Die Leute von dort sagen: Wenn jemand aus dem Nachbardorf, sagen wir aus Medwedewo, in unsere Gegend zum Wandern oder Jagen kommt und vermisst wird, dann wird er gar nicht erst gesucht. Weil es nutzlos ist: über 100, ja sogar 200 Kilometer nur Taiga und sonst nichts.
Müll? Nein. Eine selbstgebaute Vorrichtung zum Ebnen der Wege
Wie entstehen solche isolierten Communities?
In den 60er Jahren gab es eine Kampagne, bei der erklärt wurde, viele Dörfer hätten keine Perspektive. Kolchosen wurden zu Sowchosen zusammengeschlossen, die Menschen wurden nahezu gewaltsam umgesiedelt. Was heißt nahezu? Damals durfte man ja kein Schmarotzer sein, man musste unbedingt irgendwo arbeiten. Und die Arbeitsplätze waren alle staatlich.
Wenn diese in den perspektivlosen Dörfern auf Befehl von oben abgeschafft wurden, hatten die Leute oft keine andere Wahl, als von dort wegzuziehen, um sich nicht strafbar zu machen.
Immer mehr Dörfer verschwanden. Doch einige blieben. Das waren hauptsächlich ältere Siedlungen. Außerdem gibt es noch die Dörfer der Altgläubigen. Die sind absichtlich möglichst weit weg gezogen, damit sie keiner findet.
Zu Sowjetzeiten gab es keine wirklich isolierten, nur sehr abgelegene Dörfer
Darüber hinaus sind zur Sowjetzeit viele Waldsiedlungen entstanden. Gebaut wurden Behelfsunterkünfte, Baracken für die nächsten 20 bis 30 Jahre. Eine Weile funktionierte das.
Man gründete beispielsweise in den 50er Jahren eine Siedlung und löste sie in den 70er Jahren wieder auf, weil der Wald ringsum abgeholzt war. Doch irgendwann brach die Sowjetunion zusammen – und die Leute blieben im Wald, in ihren Behelfsunterkünften.
Heißt das, dass es zu Sowjetzeiten keine isolierten Dörfer gab?
Wirklich isolierte Dörfer gab es praktisch nicht. Die Dörfer waren vielleicht sehr abgelegen, aber dafür gab es dann eine Flugverbindung. Oder Boote, wenn das Dorf an einem Fluss lag.
Die Preise waren damals sehr niedrig: Für nur einen Rubel konnte man in die Bezirkshauptstadt fliegen – und das bei einem Monatslohn von vielleicht 300 Rubel. Aber das war einmal. Wenn es solche Hubschrauberverbindungen heute noch gibt, dann kosten sie meist ordentlich: Vielleicht 5000 Rubel, bei einem Monatslohn von 10.000 bis 15.000 Rubel – das kann sich keiner leisten. Heute leben die Leute dort eher für sich.
Fahrzeuge, die wie Schützenpanzer aussehen – hier im Gebiet Kostroma
Kann man bei den isolierten Siedlungen, die Sie erwähnten, von einer richtigen Dorfgemeinschaft sprechen?
Auf alle Fälle. In den nicht-isolierten ländlichen Gebieten gibt es alte Dörfer, die zwischen 300 und 500 Jahre alt sind, und sowjetische Siedlungen, die es erst seit 50 Jahren gibt. In den alten Dörfern gibt es ein mehr oder weniger einträchtiges und solidarisches Gemeinleben. Aber in den zusammengewürfelten sowjetischen Dörfern leben die Leute sehr separiert und distanziert voneinander.
Die Isolation schweißt enger zusammen als Blutsverwandtschaft oder uralte Nachbarschaft
In der Isolation gibt es das nicht: Der Faktor Isolation schweißt offenbar mehr zusammen als Blutsverwandtschaft oder uralte Nachbarschaft. Normalerweise herrscht dort eine einträchtige und solidarische Dorfgemeinschaft – man hilft einander dabei, zu überleben. Und was auffällig ist: Je größer die Isolation, desto langsamer der Bevölkerungsschwund.
Wie lässt sich das erklären?
Man kann verschiedene Stufen der Isolation unterscheiden. Geringfügig isoliert wäre beispielsweise ein Dorf, das nur wenige Kilometer von der Bezirkshauptstadt entfernt liegt – am anderen Flussufer, ohne Fähren und Brücken. Bei Eisgang oder beginnender Eisbildung sind die Menschen dort komplett abgeschnitten. Aber wenn der Fluss im Winter ganz zugefroren ist, können sie einfach über das Eis gehen.
Solche geringfügig isolierten Dörfer sind instabil: Der Bevölkerungsschwund ist höher, die Dörfer sterben schneller aus als solche, die gar nicht isoliert sind. Bei stark isolierten Dörfern ist es umgekehrt: Sie sterben langsamer aus. Warum? Weil die Schwierigkeiten von Anfang an klar sind: Die Dörfer sind schwer zu erreichen, die Versorgung ist problematisch, die Preise in den Läden sind hoch, und selbst Geschäfte zu machen lohnt sich kaum – besonders, wenn sie nicht schwarz laufen sollen.
Die Nachteile sind offensichtlich, und Vorteile gibt es in einer derartigen Isolation keine. Wer entlegen genug lebt, kann jedoch nach Belieben die Gaben der Natur nutzen.
Die Hauptfeinde der Dorfbewohner sind die Kontrollbehörden
Die Hauptfeinde der Dorfbewohner sind die Kontrollbehörden. Feuerwehr, Verbraucherschutz und Gesundheitsamt stellen einheitliche Vorschriften für ganz Russland auf, die man aber hier unmöglich einhalten kann.
In solchen Gegenden betreiben die Leute meist aktiv Fischfang, daher ist ihr größter Feind die Fischereiaufsicht. Formell gelten sie als Wilderer, obwohl sie das eigentlich gar nicht sind. Sie gehen ziemlich verantwortungsbewusst mit der Umwelt um, zumal die sie ernährt: Sie nehmen nicht mehr als sie brauchen.
Generell sind solche Kontrollaktionen ein großes Problem. Aber je weiter entfernt man lebt, desto weniger Kontrollinstanzen gibt es. An die entlegensten Orte kommt nur noch die Fischereiaufsicht.
Kennen Sie den Film Des Postboten Weiße Nächte? Darin geht es um ein mehr oder weniger isoliertes Dorf im Gebiet Archangelsk. Die Protagonistin ist eine Inspekteurin der Fischereiaufsicht. Erstens: Eine Frau als Inspekteurin – das habe ich noch nicht erlebt. Zweitens ist sie eine Ortsansässige. Das ist vollkommen unrealistisch – als Inspekteurin hätte man dort kein leichtes Leben: Entweder müsste sie auf die korrekte Ausübung ihrer Pflichten verzichten oder sie wäre bei den anderen unten durch.
In der Regel kommen die Inspekteure aus Nachbarbezirken, oft sogar aus ganz anderen Regionen. Im Gebiet Archangelsk, am Fluss Mesen, kommen die Inspekteure beispielsweise aus der Republik Komi. Und die Inspekteure aus dem Gebiet Archangelsk fahren einmal übers Weiße Meer nach Karelien, damit es daheim keine Interessenkonflikte gibt.
Erstens: Eine Frau als Inspekteurin – das habe ich noch nicht erlebt. Zweitens eine Ortsansässige. Das ist vollkommen unrealistisch
Im Gebiet Kostroma kommen die Kontrolleure aus der Bezirkshauptstadt – irgendwie sind die Leute von dort ja auch bereits Fremdlinge.
Es verirren sich auch kaum Touristen oder Jäger in die abgeschiedenen Gegenden, daher ist die Natur dort noch sehr reich. Wer irgendwie kann, sammelt Beeren und verkauft sie auswärts. Damit lässt sich sogar gutes Geld verdienen.
Auf dem Weg zum Fischen im Gebiet Kostroma. So gut wie alle fischen, viele jagen
Wie viel kann man da so verdienen?
Wenn Sie ein konkretes Beispiel wollen: Ich habe ein Rentnerehepaar kennengelernt, beide 70 Jahre alt. In einer Saison haben die mit ihren Beeren 200.000 Rubel [2700 Euro] verdient. Ich habe sogar davon gehört, dass jemand in einer Saison eine Million gemacht haben soll – aber das halte ich eher für ein Gerücht.
In einem Experiment habe ich mal ermittelt, wie viele Beeren man an einem Tag pflücken kann, und dann geschaut, wie viel man an den Annahmestellen dafür bekommt. Eine Million ist vielleicht möglich, wenn ein ganzer Clan, ein Kollektiv von morgens bis abends nur Beeren pflückt. Aber dann muss man die Million am Ende auch mit acht Leuten teilen und nicht nur zu zweit.
Ich habe sogar davon gehört, dass jemand in einer Saison mit Beeren eine Million gemacht haben soll – aber das halte ich eher für ein Gerücht
In der Soziologie ländlicher Räume gibt es den Begriff von den „Waffen der Schwachen“ – Waleri Winogradski hat darüber viel geschrieben. Es geht um eine Reihe von Verhaltenweisen, mit denen die Menschen auf dem Land in Krisenzeiten überleben.
Das heißt, wenn es keine offizielle Arbeit gibt, ziehen die Leute einfach aus allen möglichen Sachen einen kleinen Profit: Sie stellen Dinge selber her, halten ihr eigenes Vieh und vergrößern nach Möglichkeit ihren eigenen Obst- und Gemüseanbau. Nun sagt Winogradski, dass die Waffen der Schwachen schwach sind, weil sie zwar das Überleben garantieren, es einem jedoch nicht ermöglichen, sich weiterzuentwickeln.
Hier eine Kopeke, da eine Kopeke – aber zusammen wird daraus immer noch kein Rubel. Im Norden, insbesondere im Gebiet Kostroma, ist das anders. Wenn man hier jagt oder sammelt, anstatt sein eigenes Vieh zu halten oder Obst und Gemüse anzubauen, ist nicht nur der Arbeitsaufwand geringer, sondern auch der Ertrag deutlich größer. Deswegen sind die Leute hier wesentlich wohlhabender.
Fähre über den Fluss. Es kommt vor, dass ein Patient im Boot hinüber transportiert werden muss. Man darf nur nicht zu sehr schaukeln, sonst schafft es der Kranke gar nicht erst ans andere Ufer
Inwiefern können die isolierten Communities ihre Probleme selbstständig lösen?
Ihre allgemeinen Probleme lösen sie quasi alle gemeinschaftlich. Die Bürgermeister der Orte, zu denen die isolierten Communities gehören, sagen: „Was kann ich schon für die machen? Die sind so weit weg, wer soll das bezahlen? Es ist klar, dass ich für sie rein gar nichts tun kann. Sie verstehen das und nehmen es mir auch nicht übel. Sie machen alles selbst.“
In der Regel lässt der Staat die isolierten Communities in Ruhe. Man könnte daher sagen, dass hier eine Art Anarcho-Kommunismus herrscht
In der Regel lässt der Staat die isolierten Communities in Ruhe: Er hilft nicht, dafür stört er auch nicht mit ständigen Kontrollen. Man könnte daher sagen, dass hier eine Art Anarcho-Kommunismus herrscht. Die Leute leben dort wie in einer großen Familie und wissen diese Bindungen sehr zu schätzen. Darüber hinaus fühlen sie sich völlig frei, denn sie können über die Gaben der Natur nach Belieben verfügen, können leben, wie sie wollen, und pflegen untereinander enge Beziehungen, die sie unter keinen Umständen aufgeben wollen.
Wir waren in einem Dorf im Bezirk Kologriwski und haben beobachtet, wie die Einheimischen interagieren. Das hat mich beeindruckt. Wie dort die Leute miteinander kommunizierten, sogar die über 70-jährigen mit den jungen – das hat mich an meine eigene Jugend erinnert, wie ich damals mit Altersgenossen umgegangen bin.
Ich habe früher jeden Sommer auf dem Dorf verbracht, im Gebiet Kaluga. Und genauso, wie wir damals mit 14 miteinander redeten, unterhielten sich die Leute hier: „Na, kommst du mit raus?“ – „Gehen wir in die Banja?“ Oder: „Lass mal Fußball spielen!“ Das war wie ein Dorf voller Teenager. Mich hat das sehr gerührt. Ein gewöhnliches altes Dorf – aber ein isoliertes.
Jetzt bauen sie dort eine psychiatrische Klinik – vielleicht wurde sie auch schon eröffnet. Entsprechend wird es dann auch Arbeit geben, Leute aus der Bezirkshauptstadt werden kommen. Das Leben wird sich sicherlich verändern, wenn das Dorf plötzlich nicht mehr so isoliert ist.
An einer Stelle sind die Menschen völlig abhängig – bei den Schulen. Die Einwohner von Darawka sorgen selbst für die Erhaltung der leerstehenden Schule
Gibt es neben dem Transportproblem noch andere unlösbare Probleme?
An einer Stelle sind die Menschen völlig abhängig: bei den Schulen. Sie haben selber keinen Einfluss darauf, ob es eine Schule gibt oder nicht. Solche Entscheidungen werden auf Bezirks- oder Gebietsebene getroffen.
Wenn eine Schule geschlossen wird – und die Schulpflicht gilt bei uns bis zur 9. Klasse –, dann hat das Dorf keine Perspektive mehr. Heimunterricht machen sie nicht, da in der Regel niemand einen Hochschulabschluss hat. So sind Familien mit Kindern gezwungen, das Dorf zu verlassen.
Wie denken die Bewohner selber über ihre Isolation?
Sie sehen ihre Isolation als etwas Positives. Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus dem Gebiet Murmansk: Die Gouverneurin flog in eines der abgeschiedenen Dörfer und bot den Bewohnern an, auf Staatskosten eine Straße zu bauen. Auf der Dorfversammlung stimmten die Bewohner dagegen.
Sie haben sich an die Isolation gewöhnt, sie sehen darin ein Privileg, das sie erhalten möchten
Auch im Gebiet Kostroma gibt es solche Fälle. Ihnen hatte man zwar nichts angeboten, aber als ich sie fragte, ob sie eine Brücke mit Asphaltstraße wollten, meinten viele: „Nein, dann geht hier alles zugrunde.“ Sie haben sich an die Isolation gewöhnt, sie sehen darin ein Privileg, das sie erhalten möchten.
Artemi, können Sie uns noch genauer schildern, wie sich die Isolation auf das alltägliche Leben der Menschen auswirkt?
Die Abgeschiedenheit hat einen Einfluss auf die Ernährung der Menschen. So gut wie alle fischen, viele jagen. Daher ist ihr Verbrauch an Fleisch und Fisch höher als in anderen ländlichen Gebieten. Sie fahren andere Autos. Ein gewöhnlicher Kleinwagen bringt dort nicht viel – es muss schon mindestens ein Lada Niva, ein UAZik oder ein anderer Geländewagen sein.
In einem Dorf im Gebiet Murmansk fahren viele Leute Fahrzeuge, die wie Schützenpanzer aussehen. Hier das Haus, davor der Zaun und unter der Birke steht dann mit Plane bedeckt ein Schützenpanzer. Und alle haben sie Motorschlitten. Wenn das Dorf am Fluss liegt, kommt man um ein Boot nicht herum.
Übrigens haben die Leute keine Angst, ihre Boote unbeaufsichtigt zu lassen. Sie lassen auch die Bootsmotoren dran, die ja für Diebe oft wertvoller sind als das ganze Boot.
In einem Dorf im Gebiet Murmansk fahren viele Leute Fahrzeuge wie dieses. Und alle haben sie Motorschlitten
Gibt es dort keinen Diebstahl?
Nein, weil dort keine Diebe hinkommen. Und falls die Bewohner merken, dass du klaust, werden sie dir das Leben schwer machen – oder dich einfach im Wald abservieren. Sogar die Haustüren lassen sie offen.
Gibt es dort irgendeine Art von Polizei?
Nein. Wobei – formell gibt es schon einen Revierpolizisten. Der sitzt aber in der Regel in der Bezirkshauptstadt und verirrt sich nicht in die Dörfer.
Es kommt vielleicht vor, dass die Polizisten einmal im Jahr eine Razzia machen und irgendwelche Leute bestrafen, weil sie ihre Hunde nicht anleinen. Klar, wenn jemand ermordet wird, kommt natürlich auch die Polizei. Aber sonst bemerkt man ihre Anwesenheit nicht.
Und was geschieht bei gesundheitlichen Problemen?
Es gibt medizinische Hilfskräfte auf dem Land, aber ein Krankenwagen kommt meistens nicht. Aus dem einfachen Grund, dass so eine Fahrt recht teuer ist und die Bezirkskrankenhäuser mit knappem Budget wirtschaften. Einige Dörfer könnte der Krankenwagen selbst beim besten Willen nicht erreichen, insbesondere dann nicht, wenn das Fahrzeug ein GAZel und keineBuchankamit Allradantrieb ist.
Wenn man weiter weg wohnt, kommt der Notarzt halt erst, wenn der Patient bereits im Sterben liegt
Teilweise gibt es inoffizielle Regelungen, etwa dass der Krankenwagen das Bezirkszentrum und 15 Kilometer im Umkreis abdeckt. Wenn man weiter weg wohnt, muss der Patient entweder selbst gebracht werden, oder der Notarzt kommt halt erst, wenn der Patient bereits im Sterben liegt.
Es kommt auch vor, dass die Ärzte nur bis zum nächsten Flussufer fahren und der Patient im Boot hinüber transportiert werden muss. Man darf nur nicht zu sehr schaukeln, sonst schafft es der Kranke gar nicht erst ans andere Ufer. Wegen solcher Schwierigkeiten behandelt man sich meistens selbst.
Alle haben eine Trikolor-Satellitenschüssel auf dem Dach. Von den Nachrichten sind die Leute hier nicht abgeschnitten. Sie sind stets auf dem Laufenden über das, was gerade los ist. Fernsehen gibt es überall – Handyempfang dagegen nicht immer. Aber meistens gibt es im Dorf wenigstens ein paar Leute mit Festnetzanschluss oder zumindest einen Münzfernsprecher. Wer keinen Festnetzanschluss hat, telefoniert eben beim Nachbarn.
Artemi, wie verhalten sich die Leute Ihnen gegenüber, wenn Sie als fremder Forscher in solche Gemeinden kommen?
Die Leute sind sehr offen: Sie lassen einen einfach bei sich übernachten, verpflegen einen und erzählen einem alles. Ich bin nie in irgendwelche Schwierigkeiten geraten.
Ich hab nur ein Mal einen Betrunkenen im Gebiet Kostroma gesehen. Das war der Gehilfe der Postbotin, genauer gesagt: ihr Mann
In meiner gesamten Forschungszeit habe ich nur ein Mal einen Betrunkenen im Gebiet Kostroma gesehen. Das war der Gehilfe der Postbotin, genauer gesagt: ihr Mann.
Dreimal die Woche läuft die Postbotin je zwölf Kilometer hin und zurück, um auf der anderen Seite des Flusses die Post zu holen. Ihr Mann hilft ihr, die Taschen zu tragen und das Boot überzusetzen. Der Dorfladen hat keine Lizenz für den Verkauf von Alkohol, und es brennt auch keiner etwas selbst. Also ist der Postbotengehilfe dreimal die Woche betrunken.
Sie sagten, dass sich die Leute dort völlig frei fühlen – worin äußert sich das?
Angenommen im Dorf leben 50 arbeitsfähige Menschen. Von denen sind vielleicht insgesamt nur sieben auf dem offiziellen Arbeitsmarkt unterwegs. Wovon die anderen 43 leben, ist unklar. Der Staat weiß es nicht, in der Statistik tauchen sie nicht auf.
Olga Golodez sagte 2013 auf einer Konferenz, dass in Russland 86 Millionen Menschen im arbeitsfähigen Alter leben. Allerdings wisse man bei 38 Millionen davon überhaupt nicht, was sie eigentlich machten – darüber habe man keinerlei Daten.
Klar diktiert die Natur hier gewisse Bedingungen, aber abgesehen davon sind die Leute völlig frei und sich dessen auch bewusst
In den Gegenden, über die wir hier sprechen, ist der Anteil noch deutlich höher. Offiziell arbeiten die Leute hier nirgendwo, aber in den Arbeitslosenstatistiken sind sie auch nicht erfasst. Anderswo stehen die Menschen Schlange vor dem Arbeitsamt, um ihre kümmerlichen 800 oder 1000 Rubel Sozialhilfe zu erhalten. Aber hier lohnt sich das nicht: Zweimal im Monat müsste man in die Bezirkshauptstadt fahren, um sein Geld abzuholen – letztlich würde man mehr Geld für die Fahrten ausgeben, als man an Sozialhilfe ausgezahlt bekäme. Darum ist hier offiziell auch niemand arbeitslos.
In einigen Dörfern gibt es tatsächlich Arbeit, im Gebiet Murmansk zum Beispiel. Es gibt dann freie Stellen, die aber niemand annimmt. Das heißt, den Leuten wird Arbeit angeboten, die sie jedoch ablehnen. Warum? Weil sie vom Wald leben. Im Wald zu sein, ist für sie viel lohnender und angenehmer, als von früh bis spät auf der Arbeit zu sitzen.
Also zurück zum Beispiel oben: Von den 50 Menschen arbeiten offiziell vielleicht sieben – und alle anderen können frei über ihre Zeit verfügen. Das heißt, sie können machen, was sie wollen und wann sie es wollen. Klar diktiert die Natur hier gewisse Bedingungen, aber abgesehen davon sind die Leute völlig frei und sich dessen auch bewusst.