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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Junge Talente

    Seit einigen Jahren entstehen vermehrt patriotische Jugendbewegungen, die sich selbst als unabhängig bezeichnen: Sie treten als städtische Sittenwächter auf, die Videoclips von ihren Aktionen werden auf Youtube hunderttausendfach angeklickt. Kirill Rukow und Iwan Tschesnokow haben für „Yod“ einen Blick hinter die Kulissen geworfen. Was haben diese neuen Initiativen mit den ehemals so mächtigen „Unsrigen“ zu tun? Wie sind sie organisiert, wie werden sie finanziert?

    Die Bewegung Lew protiw, was auf Deutsch so viel heißt wie Der Löwe ist dagegen, ist wenig älter als ein Jahr. Von Anfang an werden der Gruppe Verbindungen zu den Aktivisten von StopCHAM (Stoppt ROWDYS), zu der kremlnahen Bewegung Naschi (Die Unsrigen) sowie eine heimlich, still und leise Aneignung von Haushaltsgeldern nachgesagt. Yod bringt ans Licht, warum an den Verdächtigungen manches dran ist und die letzte Naschi-Generation bis heute nichtöffentliche, aber intakte Strukturen bewahrt hat.

    Am Freitag, den 3. Juli [2015 – dek] traf eine junge Moskauerin mit dem Spitznamen Sister ihre Punk-Freunde auf dem Bolotnaja-Platz, sagte Hallo und schlenderte mit einer Flasche in der Hand weiter durch die Parkanlage. Gegen 19 Uhr gingen mehrere Aktivisten der Bewegung Lew protiw zu ihr hin. „Leider konsumieren Sie alkoholische Getränke an einem öffentlichen Platz. Wir fordern Sie hiermit auf, diese zu entsorgen“, sagten die Aktivisten, wobei sie die junge Frau mit einer Kamera filmten. Sister weigerte sich, doch die engagierten Bürger ließen nicht locker. Die leicht angetrunkene Moskauerin begann, zusammen mit ihren Freundinnen lautstark zu protestieren: „Kamera weg und die Aufnahme löschen, sofort!“, schrie sie und versuchte, das Gerät an sich zu nehmen. Es kam zu einem Handgemenge; vier junge Männer rangen die junge Frau zu Boden, schlugen auf sie ein, einer von ihnen schlug Sister mehrmals ins Gesicht. Jemand rief die Polizei. Die diensthabenden Polizisten nahmen die junge Frau und die Hälfte der Aktivisten fest, darunter auch den Lew protiw-Gründer Michail Lasutin. So berichteten zwei Augenzeugen: eine Freundin von Sister, die sich Shadow nennt, und jemand namens Alexander Lustenko. Nach dem Vorfall erhob sich in den sozialen Netzwerken eine regelrechte Welle der Empörung gegen Lew protiw. Die Menschen beschuldigten die Löwen, sie würden für Geld arbeiten, das Ganze sei ein PR-Projekt, sie seien genau solche wie die [Verkehrssünder-Jäger – dek] von StopCHAM; sie seien allesamt Naschisten.

    Diese Beschuldigungen sind durchaus nicht aus der Luft gegriffen – Lew protiw und StopCHAM verbindet dieselbe Führung, dieselbe Finanzierung über Präsidenten-Stipendien, die über ein Wettbewerbs- und Ausschreibungsverfahren vergeben werden. Hinter beiden Projekten verbergen sich eine Wohnung und vier Männer: Roman Schwyrjow, Alexander Smirnow, Denis Toloknow und Dimitri Alenin – ehemalige [sogenannte] Kommissare und Mitglieder der Naschi-Bewegung.

    Die Unsrigen – wie sie wuchsen

    Die Jugendbewegung Naschi wurde im Frühjahr 2005 von der Präsidialadministration ins Leben gerufen, um einer „russischen orangenen Revolution“ entgegenzuwirken. Geleitet wurde das Projekt von Wassili Jakemenko, der bis dahin an der Spitze der Bewegung Iduschtschije wmeste (Die zusammen Gehenden) gestanden und in der Präsidialadministration die Abteilung für die Beziehungen zu gesellschaftlichen Organisationen geleitet hatte; Wladislaw Surkow, damals stellvertretender Chef der Kremladministration, wirkte als Kurator. Naschi setzte sich zusammen aus gewöhnlichen Mitgliedern, Kommissaren und dem Föderalen Kommissariat, das formal die Führung der gesamten Organisation darstellte. Die ganze Bewegung war in einzelne Projekte zergliedert, von denen jedes über ein eigenes Logo, eine eigene Fahne und eine eigene Struktur verfügte, beispielsweise die Dwishenije Stal (Bewegung Stahl) oder die Partei Umnaja Rossija (Kluges Russland).

    Zu ihren Zielen erklärten Naschi den Kampf „gegen faschistische Organisationen und die mit ihnen sympathisierenden Liberalen, Bürokraten und Oligarchen“ sowie die Unterstützung des politischen Kurses von Wladimir Putin. Berühmtheit erlangte die Organisation, deren Mitglieder ein anonymer Beamter aus der Präsidialverwaltung einmal [Putins – dek] „Jubelbande“ genannt hatte, dann allerdings dadurch, dass sie Hetzjagden auf den britischen Botschafter Anthony Brenton und den Journalisten Alexander Podrabinek veranstalteten, dass sie auf Porträts von Bürgerrechtlern herumtrampelten und dem Politiker Michail Kassjanow eine Harke vor die Autoräder warfen, und durch das Aufsehen erregende Seliger-Forum, das von 2005 bis 2014 alljährlich im Gebiet Twer stattfand. Bis 2008 war das Camp die Trainingsbasis für die Schulung der späteren Kommissare. Ab dem darauffolgenden Sommer wurde das Forum für die gesamte Jugend geöffnet, die Zahl der Teilnehmer betrug bis zu 50.000. Wladimir Putin war mehrfach zu Besuch im Seliger-Camp.

    Nach Angaben der russischen Tageszeitung Vedomosti erhielt die eigentliche Naschi-Organisation in den Jahren 2007–2010 über Staatsaufträge und in Form von Fördergeldern mehr als 26 Millionen Rubel [390.000 EUR]. Organisationen, an deren Gründung ehemalige Naschi-Führer beteiligt waren, erhielten noch einmal 441 Millionen Rubel [6.615.000 EUR]. Außerdem bekamen Naschi 347 Millionen Rubel [5.205.000 EUR] über Staatsaufträge, die mit der staatlichen Jugendagentur Rosmolodjosh abgeschlossen wurden. Auch private Gelder flossen für die Jugendorganisation: 2010 stiftete der Geschäftsmann Michail Prochorow 45 Millionen Rubel [675.000 EUR] für das Seliger-Camp. Außerdem traten große westliche Firmen als Partner und Sponsoren des Forums auf, Mercedes-Benz etwa spendierte 2010 drei Fahrzeuge für Fahrten wichtiger Gäste, Intel stellte im gleichen Jahr die Computer-Ausstattung für die Seliger-Teilnehmer.

    2008 wurde Jakemenko Leiter der staatlichen Jugendagentur Rosmolodjosh. Seinen Platz bei Naschi nahm Nikita Borowikow ein. Das bedeutete für die Organisation eine grundlegende Umstrukturierung: Sie wurde in autonome Projekte aufgeteilt, Einfluss und Finanzierung wurden stark reduziert. 2012 verlor die Bewegung zwei ihrer wichtigsten Fürsprecher – Wassili Jakemenko verließ Rosmolodjosh und Wladislaw Surkow die Präsidialverwaltung. Im Folgejahr wurde Naschi offiziell für nicht mehr existent erklärt, und die verwaisten Aktivisten wechselten angeblich von der Politik ins Soziale.

    Tessak plus Baptist gleich Löwe

    Im August ist der Lew protiw-Gründer Michail Lasutin 20 Jahre alt geworden. Er sei ein phantasievolles Kind gewesen, habe gern Fußball gespielt, erzählt seine Mutter Natalja. „Mein Mischulja hatte schon immer einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und nie irgendwelche schlechten Angewohnheiten.“ Nach der Schule besuchte er die Moskauer Fachschule für Städtebau, Transport und Technik Nr. 41, die er im Juni dieses Jahres abschloss.

    Foto © Andrej Machonin. Streifzug von Lew protiw auf dem Bolotnaja-Platz
    Foto © Andrej Machonin. Streifzug von Lew protiw auf dem Bolotnaja-Platz

    Sein Anti-Raucher-Engagement habe vor etwas mehr als einem Jahr begonnen, erzählt Lasutin: Er habe an einer Haltestelle gestanden, neben ihm eine ältere Frau und ein Mann, der eine Zigarette rauchte. Da habe er spontan die Handykamera eingeschaltet und zu dem Mann gesagt, er dürfe in der Öffentlichkeit nicht rauchen. An jenem Tag fasste Lasutin den Entschluss, eine Bewegung gegen widerrechtliches Rauchen ins Leben zu rufen, und nannte sie Der Löwe ist dagegen. Gesellschaftlich engagiert war Michail Lasutin aber auch früher schon. Leicht findet man im Internet Videoclips des Projekts Lew protiw pedofilow, zu deutsch Der Löwe [ist] gegen Pädophile, in denen Lasutin auftritt wie der Occupy Pädophilie-Gründer Maxim Marzinkewitsch alias Tessak (das Beil). Angeblich ködert er dort Pädophile und macht dann Jagd auf sie. Er unterzieht seine Opfer drastischen Verhören, erniedrigt und demütigt sie, schlägt ihnen ins Gesicht, beschmiert das Gesicht mit Permanentmarker, und am Schluss des Videos hält er unbedingt den gekrümmten Daumen hoch: Tessaks Markenzeichen. Doch die Tatsache, dass Tessak-Marzinkewitsch derzeit bereits seine dritte Haftstrafe absitzt, hat Lasutin wohl veranlasst, sein Interesse von den Pädophilen auf die Raucher zu verlagern.

    Die zweite Schlüsselfigur in der Löwen-Mannschaft ist Leonid Lebed. Im Interview mit Yod bezeichnete er sich als „einen der markantesten Aktivisten des Projekts“. Leonid ist genauso alt wie Lasutin. Derzeit macht er eine Ausbildung zum Flugzeugtechniker. Wie ein Bekannter von ihm Yod berichtete, hatte Lebed seit dem Alter von acht Jahren die Mytischtschinski-Kirche der evangelischen Baptisten besucht, hatte jedoch aufgehört zu den Gottesdiensten zu gehen, als er 2014 bei Lew protiw eingestieg.

    Produktive Zusammenarbeit

    „Falls Ihnen das nicht klar sein sollte: Mischa [Michail Lasutin] war von Beginn an bei uns aktiv“, erzählt Dimitri Tschugunow, Gründer der Gruppe StopCHAM und Mitglied der Gesellschaftskammer der Russischen Föderation. Wann Lasutin zu ihnen stieß, kann Tschugunow nicht sagen, er sei nicht für die Organisation der Streifzüge zuständig, sondern gebe lediglich „ideologischen Input“, erklärt er.

    Die Streifzüge von Lew protiw und StopCHAM seien ganz ähnlich organisiert, erzählt Tschugunow. Lasutin habe das funktionierende Modell übernommen und für den Kampf gegen das Rauchen entsprechend angepasst; die StopCham-Aktivisten nähmen an den Aktionen von Lew protiw teil und umgekehrt; beide Projekte hätten ähnliche Videoclips. Wenn Lasutin oder seine Mitstreiter festgenommen werden, hilft Tschugunow, die Situation zu klären: „Wenn so etwas passiert und ich sehe, dass ich ein Video mit einer unrechtmäßigen Verhaftung vor mir habe, dann fahre ich dorthin und spreche als Mitglied der Gesellschaftskammer mit den Mitarbeitern der Polizei, ich finde heraus, auf welcher Grundlage sie den Betreffenden festgenommen haben und wie sie ihr Vorgehen begründen.“

    Tschugunow bestreitet nicht, dass StopCHAM präsidentielle Fördermittel erhält. „Das Geld wird für ein ganzes Jahr und für die gesamte Struktur vergeben. So können wir die Kosten für Verbrauchsmaterialien so gering wie möglich halten, das betrifft zum Beispiel die Postkarten (die wir in großer Stückzahl drucken) und die ständig kaputt gehenden Kameras, außerdem Fahrt-und Verpflegungskosten. Die Leute sollen nicht aus eigener Tasche draufzahlen, damit die sie sich nicht ausgenutzt fühlen oder so. Einen Teil des Geldes verteilen wir auch auf die Regionen“, erläutert Tschugunow. Ein Einkommen würde bei StopCHAM keiner bekommen, betont er, die Aktivisten schlössen sich der Bewegung der Idee und nicht des Geldes wegen an. Einnahmen erziele das Projekt außerdem durch die Monetarisierung von Youtube-Videos (in Videoclips mit einer hohen Zahl von Klicks wird Werbung geschaltet): „So können wir Profis beschäftigen oder zumindest zeitweise unter Vertrag nehmen, die qualitativ hochwertige Videoclips anfertigen. Es geht zum einen um die Montage, das ist klar, dann aber auch um SMM (Social Media Marketing) und die Verwaltung der Gruppen, von denen es irrsinnig viele gibt“, sagt er.

    Das mit der Youtube-Monetarisierung mache auch Lew protiw so, erzählt StopCHAM-Gründer Tschugunow. Doch die Einnahmen durch die Werbung seien gering, versichert er. Lebed pflichtet ihm ironisch bei: „[Unsere Werbeeinnahmen] sind höher als das Existenzminimum in Russland, aber niedriger als der Durchschnittslohn in Chile“ (wobei laut [dem Youtube-Statistik-Portal] Social Blade die monatlichen Einnahmen von Lew protiw bis zu 18.000 Dollar betragen könnten).

    Transparente Fördergelder

    Am 1. Juli 2015 erhielt eine gewisse autonome nichtkommerzielle Organisation namens Molodoj Talant (Junges Talent) für das Projekt Lew protiw präsidentielle Fördergelder in Höhe von 7.002.000 Rubel [105.030 EUR]. Gründer von Molodoj Talant sind laut Handelsregister: Dimitri Alenin, Alexander Smirnow, Denis Toloknow und Roman Schwyrjow. In offenen Quellen finden sich wenig Informationen zu ihrer Aktivistenvergangenheit, aber mit Sicherheit bekannt ist, dass alle vier Naschi-Kommissare waren.  

    Das Ausschreibungsverfahren für die Verteilung von Präsidenten-Grants existiert in dieser Form seit 2006. Bestimmt werden die Organisationen direkt durch einen Erlass des Präsidenten – die Undurchsichtigkeit dieser Auswahlphase fand sogar im letzten Bericht von Transparency International Erwähnung. Wie der Leiter des Russischen Jugendverbands (RSM) Pawel Krasnoruzki erklärt, müssen diejenigen, die sich um das „Präsidentengeld“ bewerben, zunächst bei einem konkreten Operator ihr Interesse anmelden, danach werden die Anträge innerhalb der Organisation etappenweise ausgesiebt: Im RSM wird die Einschätzung der Projekte durch einen Expertenrat vorgenommen. „Meist sind das habilitierte Wissenschaftler und Professoren aus den Bereichen, in denen ein bestimmter Wettbewerb stattfindet. Deren Identität geben wir nicht preis, wie Sie sicher verstehen, denn das würde sie enormem Druck aussetzen“, erläutert Krasnoruzki. „Zugänglich sind die Namen der Mitglieder der Wettbewerbskommission der nächste Etappe, die die endgültige Entscheidung trifft.“

    Die „Kommissarswohnung“

    Wie alle Firmen, die an irgendwelchen Ausschreibungen teilnehmen, müssen auch nichtkommerzielle Organisationen eine juristische Meldeadresse angeben. Für die autonome nichtkommerzielle Organisation Molodoj Talant (Junges Talent), die 2015 das Projekt Lew protiw vorgestellt hat, lautet diese Adresse: Ljuberzy, Oktjabrski prospekt 8, Korpus 3, Wohnung 48. Vor sieben Jahren, direkt nachdem Jakemenko zu Rosmolodjosh gewechselt war (es ist kein Geheimnis, dass er selbst aus Ljuberzy stammt), waren unter dieser Adresse innerhalb einer Woche noch drei weitere nichtkommerzielle Organisationen registriert worden, nämlich Mnogonazionalnaja strana (Multinationales Land), Sdorowoje pokolenije (Gesunde Generation) und Schag nawstretschu (Schritt aufeinander zu). Ihre Gründer sind eben jene Kommissare: Schwyrjow, Alenin, Tolokonow und Smirnow, wobei immer jeweils einer der vier den Posten des Direktors einnimmt. Über die Organisationen dieser Leute wurden also in der Folge mehrere Dutzend kremlnahe Projekte finanziert, die sich öffentlich für eigenständig erklärten.

    2010 war es noch Jakemenko, der für Rosmolodjosh die Finanzierung der „Kommissarsgemeinschaft“ regelte, doch die enormen Beträge riefen damals heftige Medienreaktionen hervor. Laut der Tageszeitung Vedomosti bekam die Organisation Gesunde Generation aus der Wohnung in Ljuberzy (diesmal trat Schwyrjow als Direktor auf) von Rosmolodjosh drei Staatsaufträge über einen Gesamtbetrag von 60,2 Millionen Rubel [903.000 EUR]. Die Tatsache, dass die Projekte der Naschisten mehr als die Hälfte aller Aufträge der staatlichen Jugendagentur erhielten, erklärte [die Rosmolodjosh- und frühere Naschi-Pressesprecherin Kristina] Potuptschik damals mit der „einzigartigen Kompetenz“ ihrer Mitglieder sowie der „Einzigartigkeit der Vorhaben“. Das Thema wurde schnell unter den Teppich gekehrt.

    Das Ljuberzyer Vierergespann und die unter ihrer Kontrolle stehenden nichtkommerziellen Organisationen haben in zweieinhalb Jahren 63,4 Millionen Rubel [905.000 EUR] erhalten. Das letzte Mal war es den Unterlagen zufolge Alenin, der im Februar 2015 in Erscheinung trat, als er in der entsprechenden Abteilung des Justizministeriums für das Moskauer Gebiet eine „Erklärung über die weitere Tätigkeit“ von Molodoj Talant unterzeichnete und damit bescheinigte, die Organisation erhalte keinerlei Gelder von ausländischen Organisationen. Wenn man aber Lebed und Tschugunow glaubt, denen zufolge das Molodoj Talant-Projekt Lew protiw durch die auf Youtube geschaltete Werbung tatsächlich Geld einnimmt, können die von ausländischen Werbekunden pro hunderttausend Views gezahlten Beträge formal auch bei Molodoj Talant gelandet sein.

    Zu der Adresse der „kommissarischen Viererbande“ in Ljuberzy gehört eine Telefonnummer, die in jedem Telefonbuch zu finden ist. „Was heißt junge Talente? Wir sind ganz normale Leute und wohnen hier“, sagt die Frau am anderen Ende der Leitung. Auf die Frage, ob sie von einer Organisation dieses Namens schon einmal gehört habe, erwidert die Frau: „Kann sein, ja. Ein Freund meines Sohnes wollte irgendwo unsere Nummer angeben.“ Ihr Nachname sei Toloknowa, Denis Toloknow sei ihr Sohn, und der sei mit Dima (Alenin) seit Kindertagen befreundet: „Früher hat der Dima ja auch hier im Haus gewohnt, aber jetzt nicht mehr, der ist weggezogen.“


    Lew protiw – Der Löwe ist dagegen
    nichtkommerzielle Organisation, föderales Projekt
    Lew protiw ist eine russlandweite Bewegung, die gegen das Rauchen und den Konsum von Alkohol an öffentlichen Plätzen eintritt. Die Aktivisten der Bewegung gehen auf Streifzüge, bei denen sie rauchende Personen auffordern, ihre Zigaretten auszumachen und sich in speziell für das Rauchen ausgewiesene Zonen zu begeben, Alkoholkonsumenten werden gebeten, den Alkohol wegzupacken. Wenn jemand sich weigert, das Rauchen einzustellen, löschen die Teilnehmer der Bewegung die Zigaretten mit Wasser aus einer Sprühflasche. Alle Streifzüge werden mit einer Videokamera festgehalten, anschließend werden die montierten Clips auf Youtube hochgeladen. Lew protiw hat Zweigstellen in verschiedenen Regionen (z. B. in St. Petersburg, Woronesh, Rostow am Don) sowie in der Ukraine und Belarus – insgesamt ca. fünfzig. Bei vKontakte [dem russischen facebook – dek] haben sie 250.000 Follower. Obwohl die Aktivisten angeben, das Projekt sei nicht mit Politik, Religion o. ä. verbunden, beginnt einer der neuesten Clips von Lew protiw mit einer Jesus-Christus-Ikone und den Worten: „Gott gab uns das Leben …“
    StopCHAM – Stoppt ROWDYS
    nichtkommerzielle Organisation
    StopCHAM ist eine nichtkommerzielle Organisation, die im Jahr 2010 als eines der föderalen Programme der Jugendbewegung Naschi unter der Leitung von Dimitri Tschugunow, eines Komissars der Bewegung, gegründet wurde. Die nichtkommerzielle Organisation positioniert sich als russlandweites Projekt, das gegen Rowdytum und Verstöße von Autofahrern gegen die geltende Verkehrsordnung eintritt. Zweigstellen der Bewegung finden sich in den russischen Regionen (die größten in St. Petersburg, Petrosawodsk, Nowosibirsk und Rostow am Don) sowie in anderen GUS-Staaten wie der Ukraine und Belarus – insgesamt mehr als vierzig.
    2013 erhielt das Projekt aus präsidentiellen Förderprogrammen 5 Mio Rubel [75.000 EUR], im Jahr 2014 dann 6 Mio Rubel  [90.000 EUR] und in diesem Jahr [2015] 8 Mio. [120.000 EUR] Die Organisation ist berühmt für laute Skandale.
    Die heftigste Resonanz erfuhr eine Aktion im Frühjahr 2012, als die Gattin des Vizechefs der tschetschenischen Vertretung beim Präsidenten der Russischen Föderation Tamerlan Mingajew am Einkaufszentrum Jewropejski (Europäisch) falsch parkte. Die Auseinandersetzung endete in einer Schlägerei, während der die Gattin des diplomatischen Vertreters Madina Mingajewa und ihr Sohn versuchten, die Kameramänner dazu zu bringen die Videoaufzeichnung zu löschen, und den Aktivisten mit Rache drohten. Im Endeffekt entließ der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow den Vertreter Tamerlan Mingajew aus dem Amt.
    Ein anderer heftiger Skandal betraf den organisierten Abriss von Garagen im Timirjasew Bezirk in Moskau im August 2014. Damals traten Tschugunow und andere StopCHAM-Aktivisten zum Schutz der Eigentümer der Garagen ein und wurden von Unbekannten zusammengeschlagen. Tschugunow kam ins Krankenhaus.
    Im Februar 2015 wurden auf einem der vielen Streifzüge in Petersburg Aktivisten von Unbekannten brutal zusammengeschlagen. Ein Strafverfahren wurde eingeleitet, die Schuldigen wurden bis heute nicht gefunden. Im Frühjahr desselben Jahres schlugen Polizisten aus Chabarowsk dortige StopCHAM- Aktivisten zusammen, weil sie einen Aufkleber auf ein Polizeiauto klebten.

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    „Der Kommissar ist ein sehr netter Mensch.“

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    Seit inzwischen vier Monaten stehen in Moskau vier Basejumper unter Hausarrest. Sie waren am 20. August [2014 – dekoder] auf einen der Türme des Hochhauses am Kotelnitscheskaja-Ufer geklettert und von dort mit ihren Gleitschirmen abgesprungen. Am gleichen Tag – jedoch auf einem anderen Turm des gleichen Gebäudes – hat jemand den weithin sichtbaren Sowjetstern auf der Spitze des Turmaufbaus in den Farben der Ukrainischen Landesflagge angestrichen: gelb und blau. Dies führte zu einem gehörigen Skandal.

     

    Kaum waren die Basejumper in der Nähe des Gebäudes gelandet, wurden sie umgehend festgenommen. Binnen kürzester Zeit jedoch stellte sich heraus, dass nicht sie für die provokative Stern-Aktion verantwortlich waren, sondern ein ganz anderer Extremsportler: Ein ukrainischer Hochhauskletterer mit dem Spitznamen „Mustang“. Er veröffentlichte auf seiner facebook-Seite Fotos von seinem Kletterausflug, komplett mit Bildern, die ihn mit Pinsel und Farbeimer in der Hand zeigen. Zugleich entlastete er ausdrücklich die vier russischen Basejumper, von deren Anwesenheit auf dem Nebendach er überhaupt nichts mitbekommen hatte. Auch keines der bei Gericht angefertigten Gutachten hat irgendwelche Anhaltspunkte für eine Beteiligung der Russen am Vorfall mit dem Stern liefern können. Dennoch wurde die Anklage gegen die Basejumper nicht fallengelassen. 
    Und so warten die vier jungen Leute – Anna Lepeschkina, Alexej Schirokoshuchov, Alexander Pogrebow und Jewgenija Korotkowa – weiterhin auf ihre Verhandlung. Aufgrund der vom Gericht verfügten Einschränkungen können sie mit niemand kommunizieren ausser mit ihren Anwälten und den engsten Familienmitgliedern. Sie dürfen weder Internet noch Telefon benutzen, sie haben keine Möglichkeit zu arbeiten, zu studieren oder Sport zu treiben. Wie lange der Arrest sich noch hinziehen wird, weiss niemand. Am 17. November 2014 ist er um zwei Monate verlängert worden. So hat sich aufgrund eines zufälligen Zusammentreffens in schwindelnder Höhe das Leben der vier Sportler und ihrer Familien von einem Moment auf den anderen vollkommen verändert. Darüber, wie es sich anfühlt, wenn ein Familienmitglied zum Beschuldigten in einem sehr öffentlichkeitswirksamen Verfahren wird, befragten wir den Vater des Basejumpers Alexej Schirokoshuchov.

    Fotos von Georgij Sultanow / Yod
    Fotos von Georgij Sultanow / Yod


     
    Haben Sie eine Erklärung dafür, weshalb ihr Sohn immer noch unter Hausarrest steht?


    Ich habe einige Bekannte im Polizei- und Justizsystem. Nach Alexejs Festnahme habe ich sie um ihren Rat gebeten. Sie haben mir zu verstehen gegeben, dass der Ausgang des Verfahrens „ganz oben“ entschieden wird. Vor einigen Jahren hätte man eine solche Sache noch mit Geld oder einer anderen Gefälligkeit lösen können … Aber heute, wenn es eine Anweisung von oben gibt, hilft weder Geld noch das Gesetz. Man bekommt einen Menschen aus diesem Räderwerk nicht so einfach wieder heraus. Selbst dann nicht, wenn er vollkommen unschuldig ist. Der Kommissar, der das Verfahren leitet, hat es genau so auch Alexej gesagt: „Ich weiss ja, dass nicht du es warst, der den Stern angestrichen hat. Aber ich kann nicht zulassen, dass das Verfahren eingestellt wird.“ 
    Der Kommissar ist auf unserer Seite, ein sehr netter und gutwilliger Mensch, aber er hat eine Aufgabe bekommen, und er führt sie aus. Genauer, er kann sie eben nicht ausführen, denn das Verfahren gegen die Jumper löst sich sowieso vor aller Augen in Luft auf, es gibt ja keinerlei Indizien gegen Alexej. Deshalb wird dem Kommissar, wie er hat durchblicken lassen, wohl auch bald nichts anderes übrig bleiben als zu kündigen, beziehungsweise ihm wird gekündigt werden. Die Anwälte, die sich um Alexej und die anderen kümmern, haben ihm neulich schon tröstend auf die Schulter geklopft und ihm gesagt, sie könnten ihm dann vielleicht einen neuen Job bei einer Bürgerrechts-Organisation vermitteln. Mir tut dieser Kommissar leid – er ist eigentlich ein guter Kerl. Aber er arbeitet eben für das System, und zugleich ist er selbst dessen Opfer. Meistens sind die Leute von der Polizei und den anderen Staatsorganen ganz sympathisch, wenn man von Mensch zu Mensch mit ihnen redet. Aber im Dienst verwandeln sie sich in Wölfe. Als sie unsere Kinder festgenommen haben, gab es gleich ein sehr starkes Pressing. Im Revier wurde ihnen die Oberbekleidung weggenommen, sie haben kein Wasser bekommen, ihnen wurde nicht erlaubt, die Eltern anzurufen. Statt dessen hieß es: „Wir organisieren jetzt erst einmal die nötigen Indizien für euch.“ Klar, was damit gemeint war. Die Vernehmungsbeamten haben auch versucht, unsere Kinder untereinander in Streit zu bringen, damit sie gegeneinander aussagen. Erst nachdem Mustang, der ukrainische Kletterer, öffentlich bestätigt hat, dass er unsere Kinder gar nicht kennt, haben sie mit dem Pressing aufgehört.


    Was haben Sie nach Alexejs Festnahme als erstes getan?


    Ich habe von der Verhaftung meines Sohnes überhaupt erst aus dem Radio erfahren. Und davon, dass es einen Gerichtsprozess geben soll, auch nur von einem Mitarbeiter des FSB, der zusammen mit Alexej Basejumping macht. Weil Hausarrest nur an der offiziellen Meldeadresse möglich ist, wohnt Alexej derzeit in unserer alten Wohnung, die wir schon längst an jemand anders vermietet hatten. Diese Mieter haben wir, gleich als wir von dem Verfahren erfahren haben, bitten müssen, unverzüglich auszuziehen. Ja, man kann schon sagen: Wir haben sie vor die Tür gesetzt. Das ist nicht schön, natürlich, aber in solch einer Lage denkst du nur an eins: Wie kannst du es schaffen, dass dein Sohn nicht im Gefängnis landet? Wir haben den Leuten als Ausweichmöglichkeit sogar unsere eigene Wohnung angeboten, aber sie sind dann doch zu Bekannten umgezogen. 
    Jetzt sitzt Alexej den lieben langen Tag allein in seinen vier Wänden. Er hat mit niemandem Kontakt ausser mit den engsten Familienmitgliedern, seinem Anwalt, dem Ermittlungsbeamten und den Mitarbeitern des Strafvollzugs. Ich muss sagen, ich war seelisch darauf vorbereitet, dass seine Basejumping-Leidenschaft schlecht ausgehen könnte. Wir leben ja schon lange in dauernder Angst um Alexej. Ich habe ihm oft gesagt: „Eines Tages wird dich nach einem Sprung noch der Leichenwagen einsammeln, oder du sitzt im Rollstuhl, oder es geschieht irgendetwas Drittes – ich weiss nicht, was, aber etwas Schlechtes.“ Und so ist es gekommen.



    Erzählen Sie doch einmal, wie Alexej unter den Bedingungen des Hausarrestes lebt.


    Ich haben meinem Sohn eine gute Nähmaschine gekauft. Alexej näht ganze Tage lang Fallschirme und Gleitschirme, danach übergebe ich diese Erzeugnisse unseres „Häftlings“ an seine Freunde in der Freiheit. Alexej freut sich, wenn er hört, dass sein Material im Einsatz war. Er beklagt sich eigentlich nie – er ist sowieso eher ein verschlossener und schweigsamer Mensch. Aber ich sehe: Es geht ihm schlecht. Für Bücher oder Filme hat er nie eine besondere Leidenschaft gehabt, aber ohne Basejumping und seine Freunde kann er nicht leben. Einmal ist er nach einem Sprung schlecht gelandet, er hatte an beiden Füßen offene Brüche. Man konnte da von aussen bis auf den Knochen sehen. Ich dachte, nach solch einem Unfall hört er auf zu springen. Aber kaum konnte er wieder einigermaßen laufen, hat er weitergemacht. Alexej ist schon immer so gewesen. Er braucht zum Leben das ständige Adrenalin. Wenn er sich nicht bewegt und nicht an der frischen Luft ist, bekommt er Depressionen. 
    Es gibt eigentlich nur ein Gutes an dieser Situation – unsere Familie ist sehr zusammengerückt. Mein Sohn und ich haben uns schon lange nicht so häufig gesehen und so viel miteinander unterhalten wie jetzt. Der Arrest hat unsere Familie zusammengeschweisst. Das letzte Mal waren wir so eng verbunden nach der Geburt unserer jüngsten Tochter. Neujahr werden wir mit der ganzen Familie in der Wohnung feiern, in der Alexej jetzt lebt.


    Seit der Festnahme ihres Sohnes haben Sie viel mit der Polizei, den Gerichten, dem Strafvollzug zu tun, und Sie waren bei den Gerichtsverfahren anwesend. Hat das Ihre Einstellung zum Staat in irgendeiner Weise verändert?


    Ich habe mich schon früher immer bemüht, mich so weit wie möglich von unseren Staatsstrukturen fernzuhalten. Ich habe mich politisch nie besonders engagiert. Berufsmäßig bin ich selbständig, ich bin viel herumgereist. Ich würde mich zur Mittelklasse zählen, wenn sie, natürlich, als solche bei uns existiert. Ich habe vier Kinder: Die beiden älteren Mädchen leben ständig in Europa. Bezüglich des russischen Rechtssystems und der Willkür bei den Gerichten habe ich mir niemals irgendwelche Illusionen gemacht. Meine Hoffnung war, dass nie jemand von uns mit unserer Polizei oder unseren Gerichten überhaupt etwas zu tun haben muss.


     
    Wieviel Geld haben sie ausgegeben, um ihrem Sohn zu helfen?


    Die Hauptausgaben waren die für den Anwalt. Er wurde uns vom Vorsitzenden der Bürgerrechtsorganisation „Agora“, Pawel Tschikow, vermittelt. Ich war schon vorher ihm über Twitter verlinkt. Den ersten Anwalt, den Tschikow uns vorgeschlagen hat, haben wir abgelehnt: Er hatte vorher eine bekannte Regimegegnerin verteidigt, und wir konnten keinen Anwalt gebrauchen, der überall schon gleich in die Schublade eines Oppositionellen gesteckt wird. Unsere Kinder sind keine Oppositionellen, sie sind Extremsportler. Sie mischen sich nicht in die Politik ein, sie leben für ihre eigenen Interessen, in einer kleinen Gruppe von Gleichgesinnten. Und sie haben ein sehr gutes Verhältnis untereinander: Die anderen Basejumper aus dem Freundeskreis von Alexej haben mir zum Beispiel geholfen, Geld für seinen Verteidiger zusammenzubringen. Für die Dienste des Anwalts haben wir ungefähr 300.000 Rubel [damals etwa 8000 Euro] ausgegeben. Das ist für uns nicht übermäßig viel Geld. Wir haben alle feste Arbeit, und Alexej selbst hat auch viel gearbeitet vor seiner Festnahme. Er ist Ingenieur in einer Baufirma, ein Spezialist für Bauwerksplanung. Sein Arbeitgeber hält große Stücke auf ihn. Deshalb entlässt er ihn jetzt auch nicht. Er hält die Stelle frei, bis Alexej wieder zur Arbeit zurückkehren kann. 
     

    Was werden Sie machen, wenn die Basejumper zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden?


    Nun, ich werde wohl keine Meetings und Mahnwachen zur Verteidigung meines Sohns organisieren. Dabei – auch mich haben die Wahlfälschungen bei der Dumawahl von 2011 empört und ich war von Anfang an der Meinung, dass die Mitglieder von Pussy Riot nicht im Gefängnis sitzen sollten. Aber der Großteil der russischen Bevölkerung steht eben auf der Seite von Putin. In ihren Augen sind die Mitglieder und Sympathisanten der Protestbewegung nichts als Vaterlandsverräter, die Fünfte Kolonne oder einfach Verrückte. Ich will nicht, dass landesweit Fernsehsendungen ausgestrahlt werden, die mich mit einem Protestplakat in der Hand zeigen. Sollte der Prozess tatsächlich nach dem schlimmsten Szenario ablaufen, werde ich versuchen, die Frage auf juristischer Ebene zu entscheiden und Briefe an die verschiedensten Instanzen schreiben. Putin habe ich früher schon einmal geschrieben.


    Wie kam es denn dazu?


    Vor einiger Zeit bekam ich ständig Anrufe von einer Bank mit der Forderung, einen Kredit abzubezahlen. Die Sache ist, dass ich diesen Kredit überhaupt niemals aufgenommen hatte. Es war eine Art Erpressung. Alle meine Beschwerden über die Bankmitarbeiter blieben wirkungslos, die Belästigungen gingen einfach weiter. Und da habe ich eine Beschwerde an Putin geschrieben. Nach einiger Zeit kam auch tatsächlich eine Antwort. Man schrieb mir zurück, dass meine Beschwerde an die Bezirksstaatsanwaltschaft weitergeleitet worden sei – und die Anrufe hörten auf. Ich vermute, dass, wenn ein Brief an Putin geschrieben wird, die Präsidialverwaltung verpflichtet ist, mit ihm auch irgendetwas zu tun – man muss ja einen Bericht vorlegen können über die durchgeführten Maßnahmen. Wenigstens lesen müssen sie ihn ja. Auf wen kann man denn sonst noch hoffen?

    Auf die Presse, die Blogger, die öffentliche Meinung?

    Die Journalisten haben sich zu Anfang aktiv für uns interessiert, als unsere Kinder gerade festgenommen worden waren. Vor unserem Haus stand rund um die Uhr ein Wagen des Fernsehsenders NTW. Ein Freund von mir, der bei NTW arbeitet, hat mich aber gleich gewarnt, dass man diesem Sender besser keine Interviews geben sollte. Das Interesse der Journalisten liess dann schlagartig nach, als klar wurde, dass unsere Kinder mit der Sache überhaupt nichts zu tun hatten. 


    Dass sie unschuldig ein halbes Jahr unter Arrest zubringen müssen, ist also nicht interessant?


    Nein, inzwischen hat der Journalismus uns vergessen, die ganze Angelegenheit ist aus den Medien verschwunden.


    Gib es etwas, woraus Sie derzeit so etwas wie moralische Unterstützung beziehen?


    Ein wenig beruhigt mich der Gedanke, dass der Staatsanwalt und der Richter eines Tages auf langsamem Feuer in der Hölle köcheln werden. Aber im Ernst: Dass sie unsere Jungs und Mädchen immer noch nicht freigelassen haben, ist ohne Zweifel eine Ungerechtigkeit. Aber das Leben in unserem Land ist überhaupt ungerecht, und nicht nur in unserem Land. Ich habe mich daran gewöhnt und mache mir keine unnötigen Hoffnungen. Dennoch lässt mir natürlich die Frage keine Ruhe, wie es mit Alexej und den anderen weiter gehen soll. Allen ist inzwischen klar, dass die Basejumper an dem Tag nur zufällig auf dem gleichen Gebäude waren, und auch die Gerichtsexperten haben ihre Schuld in keiner Weise bestätigt. Aber sie werden nicht freigelassen. Statt dessen wird der Hausarrest wieder und wieder verlängert. Alle unsere Vorschläge, den Arrest in einen Freigang zu verwandeln, dass Alexej und die anderen sich also per Unterschrift verpflichten, die Stadt nicht zu verlassen, sind abgelehnt worden. Das Gericht sagt, es bestehe die Vermutung, dass sie dann weiter „gesetzwidrigen Aktivitäten nachgehen“ werden. Dabei ist keiner von ihnen in irgendeiner Weise zuvor auffällig geworden oder gar vorbestraft. Sie arbeiten alle oder studieren. Sie waren einfach nur durch Zufall zur falschen Zeit am falschen Ort. Aber der Prozess geht weiter, und ein Ende ist derzeit absolut nicht abzusehen … 


    Am 10. September 2015 sind alle vier Basejumper vom Tagansker Bezirksgericht in Moskau freigesprochen worden, nachdem sie über ein Jahr unter Hausarrest zugebracht haben. Mediazona hat eine online-Reportage aus dem Gerichtssaal (auf Russisch). Die Anwälte der Angeklagten gehen allerdings davon aus, dass gegen den Freispruch von Seiten der Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt wird. [dek]

    update: Auf jetzt.de gibt es eine großartige Geschichte über hardcore-Skater, die mit den Basejumpern befreundet sind. Die Skater berichten dort auch vom Schicksal ihrer gleitschirmspringenden Freunde, wie es der Vater von Alexej in diesem Interview schildert.

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