Menschenrechtler vergleichen das Strafvollzugssystem in Russland häufig mit dem sowjetischen Gulag. Anlass dazu bieten Folterskandale und Ideen des FSIN (Föderaler Strafvollzugsdienst), Häftlinge in Bauprojekten auszubeuten.
Das russische Onlinemedium Verstka erläutert, was FSIN und Gulag verbindet: Wie in der Sowjetunion einst Zwangsarbeitslager entstanden und inwieweit der Vergleich des damaligen Gulag mit heutigen Strafkolonien passt.
Eine Einführung in unseren neuen Themenschwerpunkt: Archipel Gulag-FSIN
Das heutige russische Haftsystem des Föderalen Strafvollzugsdiensts FSIN ist gewissermaßen der Nachfolger des sowjetischen Gulag. Die Zahl der Inhaftierten war jedoch in den sowjetischen Gefängnissen deutlich höher als heute.
Laut Historikern sind insgesamt etwa 20 bis 25 Millionen Menschen seinerzeit durch den Gulag gegangen, zwei Millionen davon im Lager gestorben. Berechnungen des Instituts für Demografie der Higher School of Economics ergeben, dass im Gulag jeder 15. Häftling ums Leben gekommen ist.
Der Gulag war ein Netz aus rund 500 Lagerverwaltungen, dem jeweils Hunderte Zweigstellen und Zentren untergeordnet waren – insgesamt über 30.000. Am höchsten war die Zahl der Lagerhäftlinge im Jahr 1953 mit bis zu 2,6 Millionen.
Das heutige russische Strafvollzugssystem umfasst dagegen etwa 550 Strafkolonien (Stand 1. Januar 2023). Im Oktober 2023 verkündete Russlands Vize-Justizminister Wsewolod Wukolow, die Insassenzahlen in russischen Gefängnissen seien so gering wie nie zuvor. In den russischen Strafkolonien hätten sich zu dem Zeitpunkt 266.000 Personen befunden. Zehn Jahre früher seien es noch rund 700.000 gewesen.
Zwangsarbeit auf Großbaustellen
2021 stand erneut die Frage zur Diskussion, ob Gefängnisinsassen zu Bauarbeiten an der Baikal-Amur-Magistrale (BAM) herangezogen werden sollten. Damals bekundete der FSIN die Bereitschaft, in der Nähe großer Baustellen, auf denen Arbeitskräfte gebraucht werden, Arbeitslager zu errichten. Abgesehen von der BAM waren auch der Autonome Kreis der Nenzen, die Tajmyr-Insel (im Norden des Gebietes Krasnojarsk – dek), die Oblast Magadan und Norilsk als potenzielle Standorte für solche Lager im Gespräch.
Die Arbeitskraft von Gefangenen russischer Strafkolonien wird heute ohnehin genutzt, meist in der Leichtindustrie, etwa in der Herstellung von Berufskleidung. In manchen Kolonien nähen die Insassen auch Uniformen oder knüpfen Tarnnetze für das russische Militär in der Ukraine.
Olga Romanowa, Vorsitzende der Stiftung Rus sidjaschtschaja, nennt einige Faktoren, die das moderne Strafvollzugssystem vom Gulag „übernommen“ hat: die marode Infrastruktur in den Haftanstalten, das geringe Ausbildungsniveau des Personals, Intransparenz, vorsintflutliche Auffassungen vom Sinn einer Strafe sowie das Fehlen von Resozialisierungsprogrammen.
Heute jedoch hätten der administrative Druck auf die Verurteilten und die flächendeckende Missachtung ihrer Rechte nicht mehr nur das Ziel, sie im allgemeinen Interesse – zur Industrialisierung des Landes beispielsweise – einen Belomorkanal oder eine BAM bauen zu lassen. „Das ganze System ist so konstruiert, dass es die privaten, kommerziellen Interessen einer Personengruppe erfüllt, die ihre Gehälter aus dem Staatshaushalt beziehen“, erklärt Romanowa.
Zunehmende Repressionen
In modernen russischen Strafkolonien werden – genau wie früher in stalinistischen Lagern – Opfer politischer Repressionen gefangengehalten. Memorial zufolge waren in der UdSSR elf bis 11,5 Millionen Menschen von politischen Repressionen betroffen.
Das Menschenrechtszentrum setzt seine Zählung fort: Derzeit gelten 769 Personen als politische Gefangene (weitere 605 Personen werden verfolgt, sind aber nicht in Haft).
Als Wladimir Putin 1999 an die Macht kam, gab es in Russland nur einen einzigen politischen Gefangenen. Während Putins Amtszeit zählten Menschenrechtsaktivisten insgesamt 1500 politische Häftlinge. Die meisten politisch motivierten Verhaftungen gab es in Russland 2019. Seit Beginn des vollumfänglichen russischen Kriegs gegen die Ukraine 2022 nimmt der Frauenanteil unter den politischen Gefangenen deutlich zu, nämlich auf 27 Prozent.
Die Liste der Personen, die in Russland aus politischen Gründen verfolgt werden, sei allerdings nicht vollständig, so Memorial, weil die Einstufung als politischer Gefangener nach bestimmten Kriterien erfolge und eine gewisse Zeit in Anspruch nehme, weswegen viele noch „unsichtbar“ blieben.
„Wir bemühen uns, es jedes Mal überzeugend zu begründen und maximal objektiv nachvollziehbar zu machen, wenn wir jemanden als politischen Häftling anerkennen“, heißt es von Memorial. Die Untersuchung jedes Freiheitsentzugs, bei dem ein politisches Motiv vermutet wird, erfordere die Vorlage von Dokumenten und ausreichend Zeit. „Allein das Zusammentragen des Materials dauert oft schon ziemlich lange, vor allem, wenn die Ermittlungen und Verhandlungen geheim sind.“
Was FSIN und Gulag auf jeden Fall gemeinsam haben, seien Folterpraktiken in den Strafkolonien: Die Gefangenen würden physisch misshandelt und zu übermäßiger Arbeit gezwungen, ohne freien Tag und angemessene Vergütung.
Wie die UdSSR das Gulag entwickelte
Die Abkürzung Gulag steht für Glawnoje uprawlenije lagerej (dt. Hauptverwaltung der Lager) – eine Organisation dieses Namens wurde 1934 geschaffen, doch die Abkürzung ist in Dokumenten bereits ab 1930 zu finden. Die Entwicklung eines solchen Systems begann gar bereits viel früher, nämlich ab 1919.
Ab 1934 kontrollierte der Gulag – geleitet von Genrich Jagoda – praktisch alle Haftanstalten der Sowjetunion und war unmittelbar dem Volkskommissariat für innere Angelegenheiten unterstellt.
Bereits 1918 begannen die Revolutionsanführer Wladimir Lenin und Leo Trotzki, damals tatsächlich noch „Konzentrationslager“ genannte Gefangenenlager zu planen, in denen man die Arbeitskraft der „Klassenfeinde“ nutzen wollte. Am 15. April 1919 wurde der Beschluss zur Schaffung von Zwangsarbeitslagern gefasst, und bereits im darauffolgenden Jahr entstand am Weißen Meer das erste Lager des zukünftigen Gulag.
1929 wurde die bisherige Unterteilung in Lager für politische und kriminelle Häftlinge aufgehoben, sie wurden in einem gemeinsamen System vereint. Im Zuge der Kollektivierung und Industrialisierung wuchs dieses Lagernetz : Allein in den ersten Monaten der Kollektivierung der Landwirtschaft wurden rund 60.000 „Kulaken“ inhaftiert.
Zusätzliche Lager wurden nach Möglichkeit dort errichtet, wo Arbeitskräfte gebraucht wurden: in den Goldminen am Fluss Kolyma, am Bau des Belomorkanals zwischen dem Weißen und dem Baltischen Meer und am Bau der Baikal-Amur-Magistrale. An dieser Eisenbahnstrecke entstand 1932 das BAMlag, dessen Insassen 190 Kilometer Schienen verlegten, die die BAM mit der Transsibirischen Magistrale verbanden.
In Moskau bekommen Vertragssoldaten fast zwei Millionen Rubel (etwa 18.300 Euro), wenn sie einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterschreiben. Seit dem Sommer stehen im Butyrski-Rayon der Hauptstadt Männer im Alter von 18 bis 65 Schlange. Sie kommen aus ganz Russland, um sich zum Krieg zu melden. Frauen sind auch dabei.
Olessja Gerassimenko hat mit Mitarbeitern der Rekrutierungsstelle gesprochen und mit Dutzenden Männern und Frauen, die in den Krieg ziehen wollen. Wer sind diese Leute? Welche Motive haben sie? Und was könnte sie umstimmen? Ihre Eindrücke schildert sie in einer Reportage für das Portal Verstka.
Von der Metro-Station Timirjasewskaja sind es zehn Minuten Fußweg bis zu dem fünfstöckigen Gebäude in der Jablotschkow-Straße. Bei gutem Wetter kommt man unterwegs an einem Dutzend Ständen, Bannern, Litfaßsäulen und Autos mit Plakaten vorbei, die über den Dienst in der Armee informieren und kostenlose Ausrüstung versprechen. An jeder Kreuzung verteilen Promoter in Armeeuniform Flyer und werben für eine neue Arbeit: Krieg führen. Es gehen massenweise Studenten der Moskauer Staatlichen Juristischen Universität an ihnen vorbei. Die künftigen Juristen in farbenfrohen Blazern haben Pause zwischen den Vorlesungen. Den Plakaten mit der Zahl 5.200.000 schenken sie keine Beachtung (Diese Summe – umgerechnet etwa 47.600 Euro – wird jedem für das erste Jahr in der Armee versprochen, die einmalige Prämie von 1,9 Millionen bei Vertragsabschluss eingerechnet – dek). Vor dem Gebäude, in dem die Verträge mit dem Verteidigungsministerium abgeschlossen werden, vermischen sich Studenten und ältere Männer in khakifarbener Kleidung, Polizisten in Schutzwesten, Frauen und Kinder, die ihre Väter in den Krieg verabschieden. Die Studenten gehen an einem Polizei-Jeep vorbei und beachten die Menschenansammlung vor dem Gebäude gar nicht.
Vor der Türe stehen zwei Polizisten mit Maschinenpistolen. In zwei Glaskästen stehen Schaufensterpuppen in Militäruniform und ohne Gesichter. Ab neun Uhr morgens baut sich die Schlange auf: Als Erste kommen Leute aus entlegenen Regionen zur Rekrutierungsstelle, die mit dem Nachtzug nach Moskau gekommen sind. Drinnen sieht es hier aus wie in einem gewöhnlichen Moskauer Servicezentrum für Bürgerangelegenheiten. Wartenummern werden elektronisch aufgerufen. In den Tagen, als die Reporterin mit Wartenden sprach, waren bereits Nummern kurz vor hundert an der Reihe, dabei war es noch nicht einmal Mittag. Jedes Mal, wenn sie mit Bewerbern sprach, war der Saal voll.
Die langen Schlangen vor der Rekrutierungsstelle haben sich nach dem 6. August gebildet, als ukrainische Truppen auf das Territorium der Oblast Kursk vorstießen. „Jetzt haben wir 500 Leute am Tag, wir kommen kaum hinterher“, berichtete ein Psychologe der Rekrutierungsstelle im August. „Normalerweise waren die Kollegen im Chill-Modus, gingen abends um sechs nach Hause und hingen tagsüber entspannt im Park ab. Dann passierte Kursk, und jetzt kommen sie, der Zustrom reißt gar nicht mehr ab. Wir arbeiten jetzt bis zehn Uhr abends.“
Dieser Ansturm wurde nicht allein durch einen Überschwang patriotischer Gefühle verursacht. Am 23. Juli – gleichsam in Vorahnung des ukrainischen Vorstoßes über die russische Grenze – hatte der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin einen Erlass unterzeichnet, der jedem Vertragssoldaten, der an der städtischen Rekrutierungsstelle zum Kriegsdienst angenommen wird, 1,9 Millionen Rubel [etwa 17.500 Euro] in Aussicht stellt. Der Bürgermeister rechnete vor, dass unter Berücksichtigung des Solds sowie der Zuschläge aus Moskau und von föderaler Ebene die Summe der Zahlungen an einen Vertragssoldaten „im ersten Dienstjahr über 5,2 Millionen Rubel [etwa 47.800 Euro] betragen wird.“
Seitdem strömen Männer aus allen Regionen Russlands nach Moskau. „Wir haben den Eindruck, dass ein Viertel Moskauer sind, alle anderen sind Auswärtige. Wenn du in Ufa lebst, kannst du natürlich auch dort einen Vertrag schließen. Aber da zahlt dir die Stadt nur 400.000 als Anwerbegeld. Du kannst dir aber auch ein Ticket kaufen, fliegst nach Moskau, holst dir zwei Mille ab und ziehst von hier aus in den Krieg.“
„Wenn sie mich töten, sei’s drum“
Solche Summen würde die überwiegende Mehrheit der Bewerber normalerweise nie auf ihrem Konto zu sehen bekommen. Im Zusammenspiel mit der Entscheidung Putins, dass erstmals Leute bis zum Alter von 65 Jahren einen Vertrag abschließen können, führte das dazu, dass neben jungen Berufsschülern und Männern in Tarnuniform mit dem Aufnäher „Z“ und Medaillen für die Einnahme von Bachmut nun auch Hunderte Familienväter im Vorrenten- und Rentenalter in der Schlange stehen. Deren Kalkül liegt auf der Hand: „Ich habe mein Leben gelebt, jetzt kaufen wir eine Wohnung für unseren Sohn; wenn sie mich töten, sei’s drum.“ In den Schützengräben hocken jetzt immer mehr Männer über 50, erzählt ein Offizier der Luftlandetruppen, der bei Cherson an der Front kämpft, im Gespräch mit Verstka. Er bezeichnet die Lage hinsichtlich der neuen Vertragssoldaten als „traurig“. „Jetzt stehen wir hier zusammen mit Mobiks [Mobilisierten – dek], und rund 40 Prozent sind älter als 50. Bei den Neuen sind sogar drei Viertel alt. Das ist bedauerlich, aber man muss mit dem arbeiten, was man hat.“
Die Freiwilligen fortgeschrittenen Alters kommen in der Regel mit ihren Familien zur Rekrutierungsstelle, begleitet von ihren Frauen und Kindern. Einem der Männer fiel während des Gesprächs mit Verstka ein fünfjähriges Kind auf, das mit einer Uniformmütze auf dem Kopf durch den Saal lief, die ihm einer der Wartenden gegeben hatte. Ein Nachbar zwinkerte dem Mann mit Rangabzeichen am Ärmel zu: „Da wächst unsere Ablösung heran.“
In der Eingangshalle der Rekrutierungsstelle steht ein Automat für Kaffee, Chips und Brause. An den Wänden hängen Plakate: „Je ausgedehnter die Grenzen, desto weiter weg der Feind“ und: „Der Sieg ist nur eine Frage der Zeit! Zögere nicht!“ In der Ecke liegen frische Zeitungen aus. Einer der Gesprächspartner schickte uns das Foto einer Ausgabe von Wetschernjaja Moskwa. Dort war ein Plakat von 1942 abgedruckt, mit einer Leiche unter den Füßen eines sowjetischen Soldaten und der Aufschrift „Das russische Volk wird niemals auf Knien stehen.“
Im gleichen Saal steht ein Fernseher mit Playstation; man kann dort Atomic Heart spielen, ein Egoshooter des russischen Studios Mundfish. Manche Bewerber würden sich hier die Wartezeit vor dem Bildschirm verkürzen, berichtet unser Gesprächspartner.
Wer an der Reihe ist, geht nacheinander zum Arzt, zum Psychologen, zum Juristen, zu Vertretern des Militärs, zum Notar und zu Bankangestellten. Alle, die einen Vertrag unterschreiben wollen, werden pro forma bei Mosgas, Moslift oder einer anderen Einrichtung der kommunalen Wohnungswirtschaft angestellt. Der Redaktion liegen einige dieser Verträge vor. Sie werden abgeschlossen, damit die Vertragssoldaten die zusätzlichen „Moskauer“ Gelder bekommen. Das sind monatlich 50.000 Rubel zusätzlich zum Sold. Ein weiterer Grund für diese Verträge ist die Auszahlung der fast zwei Millionen Rubel von der Moskauer Stadtverwaltung. Diese Zahlungen würden zusammen mit dem Gehalt von Mosgas oder Moslift auf Konten bei der Sberbank, der VTB oder anderen russischen Banken überwiesen, erklärt einer der Mitarbeiter der Rekrutierungsstelle.
„Was die Kinder und deren Zukunft betrifft – für die wird alles gut“
Den Aussagen angehender Vertragssoldaten nach zu schließen, gehen Patriotismus und Geldnot Hand in Hand. Und die Beamten sind bereit, diese Not auszunutzen. Während diese Reportage in Arbeit war, übertrumpfte der Gouverneur der Oblast Belgorod, Wjatscheslaw Gladkow, die Moskauer Anwerbegelder noch einmal: Er versprach jedem Bürger drei Millionen Rubel, wenn er bis zum 31. Dezember 2024 in einem der Belgoroder Wehrersatzämter einen Vertrag unterschreibt.
„Die meisten, die hierherkommen, verdienen wenig“, räumt einer der Mitarbeiter der Rekrutierungsstelle ein. „Aber wenn du sie nach ihren Motiven fragst, reden fast alle von patriotischen Gefühlen. Einige erwähnen Schulden. Natürlich sind alle überzeugt, dass sie überleben werden. Aber ganz und gar nicht an den Tod denken, das können sie auch nicht. Und natürlich sind sie nicht bereit, für 30.000 Rubel zu sterben. Die allermeisten haben Kinder, und ihnen ist klar, was das bedeutet. Wenn sie aus patriotischen Motiven den Tod in Kauf nehmen, dann wissen sie, dass damit wenigstens ihre Kinder ‚etwas davon haben‘“.
Nahezu alle Frauen wüssten das; sie ließen ihre Männer aus diesem Grund bewusst in den Krieg ziehen, ist ein Mitarbeiter überzeugt. „Nun, für die Frauen ist das doch super. Sie sind der Ansicht, dass das für ihre Kinder und für deren Zukunft gut ist. Welche Perspektiven hättest du denn, wenn du in einem Möbelunternehmen für 30.000 (etwa 285 Euro – dek) arbeitest?“
Ein weiteres Motiv sind die kostenlosen AGs in der Schule, zusätzliche Bildungsangebote, Kita- und Studienplätze, die der Staat Kindern von Kriegsteilnehmern verspricht.
„Diese Männer denken zum Beispiel viel an eine Hochschulbildung für ihre Kinder. Es gibt immer weniger kostenlose Studienplätze. Und sie wissen, dass sie niemals drei Kindern ein Studium finanzieren können.
„Und die Männer selbst haben meist keine Hochschulbildung?“
„Die meisten nicht. Mein Eindruck ist, dass 80 Prozent eine Fachoberschule absolviert haben, 15 Prozent nur die neunte Klasse und fünf Prozent eine Hochschule. Einige davon kommen mit gleich drei Abschlüssen daher. Philosophie, Geschichte. Man kann sie schon an der Kleidung erkennen: Einige kommen in Tarnmontur, Funktionstextilien, bequeme Kleidung… Andere kommen im Blazer. Und du fragst die dann: ‚Was meinen Sie, wie viele Leute kommen im Anzug hierher?‘“
„Jahrelang habe ich am Computer gezockt. Und hier fragen sie dich: Willst du ein neues Spiel spielen?“
In den Gesprächen mit denen, die kämpfen wollen, wird ein weiterer Grund für diese Entscheidung genannt: Die Hoffnung, wenigstens einmal im Leben etwas zu erreichen. „Ein großer Teil der Motive hängt damit zusammen, dass sie keinen Erfolg hatten“, sagt einer der Sozialarbeiter des Zentrums. „Die Kriegserfahrung ist für sie eines der wenigen Ziele im Leben, die sie wirklich erreichen können. Sie sagen das auch offen: Ich bin 35, ein vollkommener Loser, das ist meine letzte Chance.“
Der 30-jährige Dimitri hat ein privates Gymnasium besucht, aber sein Studium an der Technischen Universität lief nicht besonders. Drei Jahre hat er durchgehalten, dann ging er zur Armee. Nachdem er 2019 demobilisiert wurde, arbeitete er auf dem Bau, bei der Feuerwehr, als Kellner, Packer. „Man hatte mir früher schon vorgeschlagen, zur Armee zu gehen, aber ich wollte es lieber im zivilen Bereich versuchen. Dort hat es nicht geklappt. Es gab keine Stabilität. Es hat nicht funktioniert.“
Ein Schuster Namens Iwan sagt, dass er der Heimat etwas zurückgeben will, dass Verwandte von ihm in Kursk leben, dass ihm aber auch das Geld nicht ungelegen kommt. „Gestern war der Abschied. Ich trinke nicht. Ich will Auszeichnungen. Damit mein Sohn sieht, dass ich mich nicht nur im Zivilleben abstrample… Ich will mich verwirklichen.“
Der Bauarbeiter Gennadi hat wegen Diebstahls gesessen, dann fand er eine Freundin. „Wir bekamen ein Kind, aber es hat nicht funktioniert. Wir waren aber nicht verheiratet. Und weiter? Ich habe gesoffen und gearbeitet, habe nicht gesoffen und gearbeitet. Ich musste gehen und den Vertrag unterschreiben, damit ich ein besseres Leben beginnen kann. Mein Leben wird in Ordnung kommen. Ich hatte nie einen Wehrpass, konnte nie eine normale Arbeit finden.“
Nikolai war Polier, Schweißer, Bauarbeiter im Hohen Norden: „Es hat mich umhergetrieben. Nirgendwo hat‘s richtig geklappt. Vielleicht kann ich mich hier verwirklichen.“ Der 20-jährige Denis hat „im Zivilleben alles ausprobiert, nichts klappt, vielleicht kommt bei der ‚Spezialoperation‘ was raus.“
Psychologen bezeichnen dieses Problem als „soziales Losertum“, als „Sehnsucht nach irgendeinem Erfolg, die ihnen von einer patriarchalen Gesellschaft auferlegt wird“, als „Streben nach Selbstverwirklichung, wenn sämtliche anderen Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg verschlossen sind“. „Für Leute, die in den sozialen Netzwerken leben, gibt es einen Leistungskult, und es scheint, dass der verdammt erfolgreich ist. Aber die harte Lebenswirklichkeit in Russland, ja in der Welt, sieht so aus, dass alles am Arsch ist. Und das ist irgendwie normal“, sinniert einer der Mitarbeiter. „Man kann alles in den Sand setzen, sich wegsaufen, hängenlassen, abkacken; Beziehung kaputt, keine Familie, Jahrelang auf der Couch verbracht, nur am PC gezockt. Und dann bieten sie dir ein neues Spiel an! Es gibt natürlich die Möglichkeit, dass das nicht gut ausgeht. Aber es winken Geld, Ausbildung, Status, Respekt und Aufmerksamkeit durch die Gesellschaft. Dann leuchten die Augen.“
„Frauen sind lebensfroher, positiver“
Auch Frauen kommen, um im Krieg Karriere zu machen. „Die sind alle lebensfroher, positiver, über ihnen hängt nicht diese patriarchale Verpflichtung, was zu erreichen, ‚ein Kerl zu sein‘; es gibt keine Enttäuschung von der eigenen Rolle“, sagt einer der Sozialarbeiter. Frauen können einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium abschließen, wenn sie jünger als 45 sind. Pro Woche kommen 15 bis 20 Frauen zur Rekrutierungsstelle. Es seien nicht nur Medizinerinnen und Köchinnen, sondern auch Scharfschützinnen dabei, berichten Mitarbeiter der Rekrutierungsstelle. „Eine Frau hat genauso das Recht, einen solchen Vertrag zu schließen, wie jeder Mann. Aber als was sie mit diesem Vertrag losgeschickt werden, ist Sache der Kommandeure. Als Köchin, Krankenschwester oder mit der Option, mit einem MG in den Wald zu ziehen.“
Eine von ihnen, unverheiratet, jung, schön, sagt: „Dort werde ich jemanden für mich finden.“ Eine andere erzählte, dass ihr Mann im Krieg sei; Kinder hätten sie keine: „Ich will nicht zu Hause sitzen und auf ihn warten; mir geht’s schlecht, ich gehe auch hin.“ Eine dritte ist Sängerin und Tänzerin in einem Ensemble. Nachdem sie zu Auftritten nach Syrien und in die besetzten Gebiete gereist ist, hat sie beschlossen, lieber mit einem militärischen Rang patriotische Lieder zu singen, als in Zivil. Auch eine Mutter mit zwei kleinen Kindern hat sich in der Rekrutierungsstelle gemeldet, eines war drei, das andere war ein Jahr alt. Einer der Informanten, mit denen Verstka sprechen konnte, fragte sie: „Und die Kinder?“ „Denen geht’s gut“, entgegnete die Frau, „die bleiben bei ihrer Oma und bei ihrem Vater.“
„In den Krieg zu ziehen heißt, das Richtige zu tun“
Die Mitarbeiter der Rekrutierungsstelle in der Timirjasewskaja–Straße berichten, dass fast jeder zweite Bewerber schon einmal in einer Strafkolonie gesessen hat, und zwar wegen der unterschiedlichsten Delikte: von Raub in den 1990er Jahren bis Drogenhandel in den 2020ern. Für viele von ihnen ist der Dienst und ein Rang in der Armee ein Weg, „Jugendsünden“ wieder gut zu machen. „Das Brandmal eines Straffälligen loszuwerden, ist ein sehr starkes Motiv“, sagt einer der Juristen in der Rekrutierungsstelle. „Sie sagen das ganz offen: ‚Ich will nicht, dass meine Haftzeit ein Problem für meine Kinder wird. Eine abgesessene Strafe wäre für sie scheiße, eine Löschung der Vorstrafe ist für sie super. Was wäre, wenn sie zur Polizei wollen?‘ Sie betrachten ihre frühere Tat als Fehler und wollen, dass ab jetzt alles richtig läuft. Und das Richtige ist dann, in den Krieg zu ziehen.“
Im August kamen auch Leute, gegen die ein Ermittlungsverfahren lief, die noch nicht vor Gericht standen, für die es aber die Möglichkeit gab, in den Krieg zu ziehen, um nicht auf ein Urteil warten zu müssen. Eine davon war eine junge Frau, die erzählte, dass Polizisten sie mit einem Kilo Hasch festgenommen hätten. Ein Strafverfahren wurde eröffnet: „Ich wurde erwischt und musste verschwinden. Und ich habe Kredite laufen… Also bin ich gefahren.“ Trotz des laufenden Strafverfahrens wurden ihr alle Papiere ausgestellt und sie wurde in die Ukraine geschickt.
Offiziell möglich wurde ein solcher Weg im September 2024: Die Staatsduma verabschiedete zwei Gesetze über die Befreiung von strafrechtlicher Verantwortung von Straffälligen, wenn sie einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium abschließen und kämpfen. Jetzt können Beschuldigte in jeder Phase des Strafverfahrens an die Front gehen: direkt nach der Verhaftung, während der U-Haft, während der Gerichtsverhandlungen, und wenn jemand schon in der Strafkolonie ist. Es reicht ein Schuldeingeständnis. Schöner Nebeneffekt für die Polizei: Das steigert die Aufklärungsquote. Letztere ist bis heute das wichtigste Kriterium für die Arbeit von Strafverfolgern und Justiz.
„Sollen sie mich doch töten – was soll’s?“
Michail war Schweißer. Vor drei Jahren hat er sich scheiden lassen, trotzdem hat er seine Entscheidung, in den Krieg zu ziehen, mit seiner Exfrau besprochen. „Was sie gesagt hat? Ehrlich? Dass ich ein Scheißkerl bin. Aber mein Sohn ist jetzt eingezogen worden, sie wollten ihn gerade nach Belgorod schicken. Aber dann haben sie ihn aus gesundheitlichen Gründen zurückgestellt. Er muss operiert werden: Kiefernhöhlenentzündung. Seine Einheit ist schon los nach Belgorod. Ich will ihn schützen. Damit nicht die Wehrpflichtigen am Krieg teilnehmen müssen. Sonst… da passieren ja schlimme Sachen. Irgendeinen Beitrag werde ich schon leisten können. Schon drei meiner Kameraden sind gefallen, was soll ich da sagen… Ob der Krieg gerecht ist? Wie soll man überhaupt verstehen, ob ein Krieg gerecht sein kann? Seine Grenzen zu verteidigen, das ist natürlich… Aber warum wir über eine fremde Grenze rüber sind, ist auch nicht ganz…“
Viktor ist Veteran des zweiten Tschetschenienkriegs. „Ich mach’s nicht wegen dem Geld. Meine Frau heult, weil ich denke, dass ich da hin muss. Nicht die Jungen sollen kämpfen. Es muss sein, und was soll ich zuhause sitzen, als älterer Mann. Wenn dort die Jungen kämpfen, von denen einige noch keine Frau gesehen haben…“ Drei Fragen später stellt sich heraus, dass Viktors Sohn sieben Monate im Krieg war, zurückkam und sich umgebracht hat. Er hat sich vor der Stadt erhängt und vorher noch seiner Frau die Koordinaten geschickt. Die blieb mit zwei Kindern zurück. Eines ist zehn Monate alt, das andere geht in die dritte Klasse. „Nun, ich hab‘ ihn beerdigt, einen Grabstein aufgestellt. Und jetzt geh‘ ich.“
Jeder, der an die Front will, muss zehn Standardfragen beantworten: Welchen Bildungsstand er hat, wann er das letzte Mal getrunken hat, ob er Drogen nimmt, ob er mal beim Psychiater war, welche Tattoos er hat, was er über den Krieg denkt, warum er den Vertrag abschließen will. Das machen Mitarbeiter des Moskauer sozialpsychologischen Dienstes. Dort wurde 2024 stark gekürzt. Jetzt haben die Mitarbeiter, die früher Moskauern in Notlagen kostenlos geholfen haben, die Aufgabe, künftige Soldaten zu mustern. Einige der Vertragssoldaten haben Verstka erzählt, was sie geantwortet haben.
Sergej ist Maurer und neun Jahre zur Schule gegangen. „Warum ich den Vertrag schließe? Viele meiner Bekannten sind gegangen, und ich geh jetzt mit ihnen. Ob ich patriotische Gefühle habe? Nö, einfach viele Bekannte, und ich gehe mit, um ihnen Gesellschaft zu leisten. Alkohol habe ich zuletzt gestern getrunken. Mir sind die Risiken bewusst, das ist mir alles bewusst. Ich lese buchstäblich jeden Tag über die Verluste. Was ich mache, wenn ich zurückkomme? Ich weiß ja nicht, ob ich zurückkomme oder nicht… nun, ich habe Kinder, Familie… Meine Frau hat nichts dagegen…“
Wladimir ist 18. Wenn er den Vertrag erfüllt hat, will er Psychologe werden. „Meine Eltern sind seit meiner Kindheit, wie soll ich sagen, verantwortungslos. Sie haben uns ständig geschlagen. Um meine drei jüngeren Brüder habe ich mich gekümmert. Dann wurde ich meinen Eltern weggenommen und in ein Heim gesteckt, weil sie mich geschlagen haben. …Ich musste, wie soll ich sagen?, schneller erwachsen werden, nun, Verantwortung lernen. Nach der neunten Klasse habe ich ständig gearbeitet. In der Kantine, als Kurier, als Trainer in einer Paintball-Anlage… Ich will hinterher die 10. und 11. Klasse nachholen und an der Hochschule Psychologie studieren. Und weiter, nun, dann in dem Bereich weiterarbeiten. Damit ich was verändere, was besser mache. Ich weiß, dass ich getötet werden kann. Wenn ich falle, heißt das, also… Dann soll’s so sein, dass mein Weg dort zu Ende geht. Überhaupt habe ich, also, es gibt Pläne. Eine Bekannte aus dem Außenministerium hat gesagt, dass die Männer dort nicht hingehen, um zu sterben, sondern um zu siegen.“
Wadim ist Geselle in einer Fabrik, verdient 50.000 Rubel im Monat (etwa 475 Euro – dek). „Ich gehe, damit ich finanziell über die Runden komme, nicht um Leute umzubringen. Ich hoffe, dass wir das in ein bis anderthalb Jahren hinkriegen und zurückkommen.“
Nikolai hat drei Kinder, zwei, drei und fünf Jahre alt. „Mich hält hier nichts mehr“, sagt der dreifache Vater. „Ich muss da unbedingt hin. Mir ist völlig klar, dass ich dort sterben kann. Ein Freund ist schon da. Mich motiviert, dass es jetzt schon in Russland Kampfhandlungen gibt. Ich will, dass das schnell aufhört.“
Alexander ist Oberstleutnant der Reserve. Er hat 30 Jahre Militärdienst hinter sich, vom Fernen Osten bis nach Jaroslawl. „Ich will den Vertrag wegen der Kinder. Einer wird vier, die älteste ist 17. Meine Frau hat zuerst geschimpft, doch dann hab‘ ich mich durchgesetzt. Sie hat verstanden, dass es mir um die Kinder geht. Ob man den Krieg hätte vermeiden können? Natürlich. Wenn der Westen sich nicht eingemischt hätte, wenn sie unser Land nicht betrogen hätten, wenn sie unsere Kinder und unsere Nation nicht erniedrigt hätten, dann hätte man den Krieg natürlich vermeiden können. Ich denke, es ist richtig, dass wir für uns und unsere Kinder einstehen; das ist das Wichtigste. Der Krieg endet mit unserem Sieg. Ich denke, Odessa muss erobert werden, dann sehen wir weiter, wenn der liebe Gott uns beisteht.“ Wer genau auf welche Weise russische Kinder erniedrigt hat, erklärt der Oberstleutnant nicht.
Waleri hat 2016 schon einmal einen Vertrag als Soldat abgeschlossen. Danach arbeitete er auf dem Bau, dann fuhr er Taxi, dann war er wieder auf dem Bau. „Es gab einen Durchbruch in die Oblast Kursk, und ich beschloss hinzugehen. Ob ich wohl erfahren bin und mir das ganze Risiko wirklich bewusst ist? Ich bezweifle es. Wenn ich mir das gut überlegt hätte, wäre ich wohl nicht hier.
Aber mein größtes Problem ist ein finanzielles. Das mag einem vielleicht komisch vorkommen, aber ich liebe meine Heimat sehr. Ob ich meine, dass der Krieg gerecht ist? Na, ich weiß nicht, jetzt hat er schon begonnen… Meine Meinung ist, dass man den hätte vermeiden können, aber davon verstehen andere mehr als ich… Aber wenn es nun schon passiert ist, muss man bis zum Ende gehen, und das ist nicht abzusehen… Hauptsache zurückkommen.“
Dmitri, der wegen drei verschiedenen Straftatbeständen verurteilt wurde, unter anderem wegen Flucht aus dem Arrest, ist mit seiner Frau nach Moskau gekommen. Die letzten fünf Jahre ist er für Yandex Taxi gefahren. „Warum ich so traurig bin? Ich bin alle. Bin lange nicht mehr in der großen Stadt gewesen. Und die Arbeit jeden Morgen, um vier aufstehen, bis drei oder fünf hinterm Steuer sitzen. Ich sag‘ meiner Frau immer, wie sehr ich das alles satt habe… Ich will wenigstens ein bisschen Veränderung. Wir haben uns hingesetzt und beschlossen, dass ich kämpfen gehe. Ich will den Mist wieder gut machen, den ich mit meinem Bruder gebaut habe. Der ist wegen einer Dummheit gestorben, sein Enkel ist für mich wie mein eigener. Von außen betrachtet, denke ich, dass der Enkel wenigstens stolz sein wird, dass sein Opa in den Krieg gezogen ist und sich verdient macht. Er ist für mich der einzige. Dem Enkel wird es besser gehen, wenn ich unsere ganze Vergangenheit wegwische. Mein Enkel macht Gott sei Dank Sport, der wollte hier auch an der Konsole zocken…“
Sein eigenes Kind ist schon erwachsen, aber Dimitri hat keinen Kontakt zu ihm.
Andrej ist Militärangehöriger und erneuert seinen Vertrag, der in diesem Jahr auslief: Seine Brigade geht nach Syrien, aber er wartete auf einen Platz in der Einheit bei der „Spezialoperation“. „Ein Soldat lebt zu Friedenszeiten quasi ‚auf Pump‘. Und jetzt ist die Zeit, seine Pflicht dem Staat gegenüber zu erfüllen. Ist nicht alles so einfach – eine Hypothek aufnehmen und dann ein paar leichte Übungen mitmachen. Im Krieg entfalten sich die Menschen. Wenn sie versteckt schlechte Menschen waren, dann wird das dort sofort sichtbar. Das Alltagsleben verändert stärker als der Beschuss und das eigentliche Kriegsgeschehen. Erdunterstände, Schlamm, keine Gelegenheit, sich zu waschen. Am Kriegshandwerk gefällt mir das Kollektive, zusammen eine Sache und ein Ziel zu haben, das allen klar ist. Und nach dem Krieg gehe ich in Rente. Ich hab‘ immer davon geträumt, mir einen Brummi zu kaufen und Fernfahrer zu sein.“
Wladimir ist Schweißer auf dem Bau und offensichtlich nicht mehr nüchtern. Er sagt aber, er habe nur Bier getrunken, und das gestern. Er sei gekommen den Vertrag zu unterschreiben, vor allem, um seinem Sohn ein Beispiel zu sein: „Er wird dieses Jahr 17; er soll wissen, dass man sich vor nichts zu fürchten braucht.“ Er ist sich der Risiken für Leib und Leben bewusst. Dass der Vertrag bis zum Ende der Spezialoperation gilt, weiß er. Suizidgedanken hat er keine.
„Warum ich in den Krieg ziehe? Waren Sie schon mal in Belgorod? Dann können Sie das nicht verstehen. Ich will nicht, dass sie zu mir kommen. Ich will, dass der Krieg so schnell wie möglich zu Ende ist. Warum er begonnen hat? Einerseits: Wenn nicht wir, dann wären die hierhergekommen. Obwohl, ich weiß nicht, ob sie gekommen wären?…“
Pawel hat 25 Jahre gedient, zuletzt in der Nationalgarde. Seit 2017 ist er in Rente. Er habe sich mit allen gestritten, weil er den „Verfall und den Schweinkram“ gesehen habe. „Alle meine Freunde sind jetzt bei der Spezialoperation. Sie rufen an, wenn sie Heimaturlaub haben, erzählen… Ich habe beschlossen, zu ihnen zu fahren. Was soll ich hier noch? Meine Frau schimpft, was ich da will… Aber meine Kumpel sind alle dort, was soll ich da hier rumsitzen?“
Alexander ist Direktor eines holzverarbeitenden Unternehmens. Bei seinem Vater wurde Darmkrebs entdeckt und er will ihm helfen: „Uns fehlt das Geld für die Operation. In der neuen Krebsklinik sagen sie, das kostet zusammen mit der Reha 35 Millionen Rubel [etwa 320.000 Euro – dek]. Wir haben bereits eine Hypothek auf dem Haus. Also bin ich sofort hierhergefahren. Die Lage ist natürlich so la la. Ich habe eine Vollmacht geschrieben, damit werden sie klarkommen. Einen Kredit bekomme ich nicht mehr, weder privat noch für die Firma. Meine Eltern arbeiten in einer Chemiefabrik, ständig sind sie dort Strahlung ausgesetzt. Wahrscheinlich hat das den Krebs ausgelöst. Jetzt stellte sich heraus, dass die Fabrik sie einfach so entlassen kann. Leute wie sie behält man dort nicht. Sie leben in Samara, dort verdient man im Schnitt fünfzigtausend [etwa 465 Euro – dek]. So ist eben unser Russland.“
Ilja ist 53. Er sagt, dass man „für die Heimat“ in den Krieg ziehen müsse. „Ich bin Patriot und versuche, meine Tochter im gleichen Geist zu erziehen. Seit 2014 beobachte ich die Lage, sehe fern, meine Frau schimpft, dass ich den Kasten tagelang nicht ausschalte. Odessa, Transnistrien, das alles holen wir uns.“
Der Traktorfahrer Arkadi unterschreibt den Vertrag, weil er „eine bessere Wohnung und die Kinder absichern“ will. „Die Risiken? Nun, wenn sie mich töten – was soll’s? Stimmt es denn, dass der Vertrag bis zum Ende der Spezialoperation gilt? Nicht nur für ein Jahr? Na, dann bleibe ich eben bis zum Ende. Umentscheiden werde ich mich nicht. Wenn ich gehe, dann geh‘ ich!“
Iwan ist Monteur. Er macht keinen Hehl daraus, dass es ihm ums Geld geht. „Was ich über den Krieg denke? Da habe ich noch gar nicht drüber nachgedacht. Das ist eine politische Entscheidung, das geht mich nichts an. Kann sein, dass er gerecht ist, vielleicht ist er ungerecht. Aber die geringen Löhne in Russland… Du bist gut ausgebildet, du bist belesen, du arbeitest fleißig, aber Geld hast du keines. Wenn ich im zivilen Leben ein Gehalt von 200.000 hätte [etwa 1.865.- Euro – dek], würde ich um nichts in der Welt in den Krieg ziehen. Aber bei uns im Land sind nicht wir diejenigen, die über das Geld entscheiden. Es gibt Leute, die für uns die Entscheidungen treffen, das hängt nicht von uns ab. Ob ich zur Wahl gegangen bin? Ein paar Mal war ich da. Das letzte Mal habe ich für Putin gestimmt.“
Der Bauarbeiter Sergej will den Vertrag unterschreiben, um „seinen Leuten zu helfen“. „Ich habe lange gedacht: zwei Jahre. Selbst wenn ich in einem zivilen Job 200.000 verdienen würde, würde ich trotzdem gehen. Stimmt es wirklich, dass der Vertrag bis zum Ende der Spezialoperation gilt? Eigentlich war doch die Rede von einem Jahr … Nun gut, verstehe. Meine Jungs sind ja sowieso da. Hauptsache, der Krieg ist bald zu Ende.“
Der Maurer Dimitri hat gestern ein alkoholfreies Bier und eine Flasche Wodka getrunken. Sein Bruder dient schon im Krieg, er hat keine Wohnung und mit seiner Schwester hat er sich zerstritten. „Rausgeschmissen hat sie mich, ich habe nichts, wo ich wohnen kann.“
„Morde sind OK, Raub ist OK“
Die Rekrutierungsstelle kann Bewerber ablehnen, wenn sie wegen sexualisierter Gewalt oder Extremismus in Haft sind oder ein entsprechendes Verfahren gegen sie läuft. „Drogen sind OK, solche Delikte sind ja weit verbreitet“, erklärt einer der Sozialarbeiter. „Mord oder Raub ebenfalls. Da kommt es darauf an, was die Leute so erzählen. Es gibt ja keine eigene Kompanie für solche Leute: Alle sitzen zusammen im Schützengraben, da kann man keine Konflikte zwischen den Soldaten brauchen“.
Ein weiterer Grund für eine Absage ist eine starke Drogenabhängigkeit, die beim Bewerbungsgespräch auffällt, oder eine Krankengeschichte beim Psychiater. Die Mitarbeiter schauen sich auch die Tätowierungen der Bewerber an. Leute mit aufwändigem Körperschmuck kommen selten in die Rekrutierungsstelle. Die meisten Anwärter haben ein, zwei Tattoos, die sie sich in der Armee oder in der Haft stechen ließen. Einen Stern, eine Rose… „Die ganze Welt liegt mir zu Füßen“ auf Latein, „Nur Gott ist mein Richter“… Während sich unsere Reporterin mit Bewerbern unterhielt, kam ein Mann in die Rekrutierungsstelle, der hatte auf dem Bein ein Hakenkreuz tätowiert. Ein andere hatte die Ziffern „14/88“ auf der Schulter. „Wir haben überlegt, ob wir denen absagen“, räumt einer der Mitarbeiter ein. „Aber sie waren beide schon bei der Spezialoperation, beide haben bei Wagner gedient. Sie hatten Medaillen für die Einnahme von Bachmut dabei und haben Fotos gezeigt.“
„Ok, ich habe so ein Tattoo. Aber wer will mir was vorwerfen, wenn wir gegen die da kämpfen?“, rechtfertigt sich einer der beiden Wagner-Kämpfer, der nicht mehr bei privaten Militärunternehmen dienen wollte. „Ich will einen militärischen Rang und Sozialleistungen.“ „Der Grund dafür, dass wir Leute mit Hakenkreuz nicht haben wollen, ist nicht, dass wir persönlich etwas gegen Hakenkreuze hätten“, erklärt man uns die Kriterien der Rekrutierungsstelle. „Aber in einer Einheit dienen die unterschiedlichsten Leute. Sie waschen sich auch zusammen. Wenn jemand dieses Symbol sieht, könnte es zu einer Situation kommen, die wir vermeiden wollen.“
Die Mitarbeiter sagen selbst, dass es ihre Aufgabe sei, alle in den Krieg zu schicken. „Ich hab‘ noch niemandem abgesagt, sagen wir mal so. Warum? Nun, weil das schräg wäre: Da will jemand für Putin sterben, und ich soll ihn aufhalten? Im Gegenteil! Wenn da einer kommt, der sein Leben aufs Spiel setzen will, wäre es doch merkwürdig, wenn ich ihm sagte: Geh‘ beim Wachdienst arbeiten!“
„Wenn ich aber merke, dass jemand Zweifel hat, dann helfe ich ihm zweifeln“, sagt der Mitarbeiter weiter. „Ich weiß nicht, ob ich der Einzige hier bin, der so ist. Wir haben keine Teamsitzungen, wo sie uns eine Linie vorgeben. Aber die Frage, ob jemand die Risiken für Leben und Gesundheit versteht, muss immer gestellt werden. Ich sage ihnen das auch offen: Sie können ums Leben kommen. Sie können sterben, du könntest ohne Beine zurückkommen. Das weckt manchmal Zweifel.“
„Habe ich Sie richtig verstanden – ich kann nicht nach einem Jahr zurück?“
Die Information, bei der einigen Bewerbern die Gesichtszüge entgleiten, ist der Umstand, dass der Vertrag keineswegs nur über ein Jahr läuft, sondern unbefristet. Ein typisches Gespräch hierzu sieht so aus:
„Das der Vertrag automatisch verlängert wird, wissen Sie?“
„Nein, davon wurde nichts gesagt. Ich gehe für ein Jahr.“
„Nein, Sie gehen nicht für ein Jahr.“
„Aber ich höre das jetzt zum ersten Mal. Und wozu habe ich dann für ein Jahr unterschrieben?! Da steht’s doch.“
„Ihr erster Vertrag gilt ein Jahr. Aber sofort nach Ablauf wird er automatisch verlängert. Der Grund dafür ist ein Erlass von Wladimir Putin vom September 2022. Demnach gelten alle Verträge mit der Armee unbefristet bis die Spezialoperation beendet ist. Das wurde so geregelt, damit die Soldaten, die über die Mobilmachung zwangsweise eingezogen wurden, sich nicht ärgern, weil sie dort schon das dritte Jahr hocken, während die Vertragssoldaten kommen und gehen. Also gilt der Vertrag bis zum Ende der Spezialoperation.“
„Und könnte die in einem Jahr beendet sein? Ich hab‘ doch nur für ein Jahr unterschrieben…“
„Ein Erlass des Präsidenten ist juristisch stärker als ein Vertrag mit dem Verteidigungsministerium. Deswegen werden Sie bis zum Ende des Krieges bleiben. Könnte das Ihre Entscheidung ändern?“
„Nein doch… da kann man wohl nichts machen… Aber ich werde doch mal gehen können… Auf Fronturlaub, auf Dienstreise nach Hause…?“
„Einige ‚Frischlinge‘ wissen nichts von der automatischen Verlängerung“, bestätigt einer der Juristen. „Die glauben, dass sie einen Vertrag über ein Jahr unterschreiben, dort die Ausbildung absitzen und reich zurückkommen.“
Sergej ist keine dreißig, er nuschelt und zittert. „Warum der Vertrag? Ich hab‘ keine Wahl. Die Schulden, die Wetten. Eigentlich war das Mamas Entscheidung. Sie hat mich gezwungen. Ich bin ein Stück Scheiße. Ich hab‘ alle enttäuscht…“ Der Mann bricht in Tränen aus. Später stellt sich heraus, dass er spielsüchtig ist: Millionen Schulden, Verbraucherkredite, das Geld seiner Eltern und seiner Partnerin hat er verspielt, sein Lohn geht für neue Einsätze drauf. Nachdem er die Kontaktdaten einiger Suchtberatungsstellen erhielt, beschloss Sergej, nicht zu unterschreiben.
Bei der Rekrutierungsstelle kann man sich nur so lange noch umentscheiden, bis der Anwärter und der Kommandeur den Vertrag unterschrieben haben. Sobald die Dokumente unterschrieben sind, besprechen die frischangeworbenen Soldaten mit den Offizieren, wo sie die nächsten Tage verbringen werden. Sie können nicht sofort zu ihrer Einheit, es gibt zwei, drei Puffertage. Man könnte nach Hause fahren, doch das macht kaum jemand. Deshalb setzen sich die meisten in die Busse zum Lager Avangard im Patriot-Park in Odinzowo. „Dort wohnen sie in Kasernen, werden verpflegt, es entsteht wohl ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl. Dann geht’s zurück zu uns, und sie werden mit dem Bus zu ihren Einheiten gebracht.“
Jeden Tag werden Listen mit Personen, die es sich anders überlegt haben, an das Militär geschickt. Jede Absage wird dokumentiert, in die Listen werden die Gründe eingetragen, in welcher Phase sich jemand umentschieden hat, und mit welcher Begründung. Die Daten werden dann analysiert, „weil es für die Militärs wichtig ist, dass möglichst wenigen abgesagt wird und möglichst wenige sich weigern.“ Jeden Tag gibt es etwa hundert, mit denen aus medizinischen Gründen kein Vertrag zustande kommt. Von vierhundert, die übrig bleiben, wird nochmal etwa ein Dutzend nachträglich ausgemustert. Zum Beispiel weil sie schwer alkoholabhängig sind oder in der Vergangenheit Gewalttaten gegen Kinder verübt haben.
Niemand kann einfach so die Rekrutierungsstelle verlassen. Man muss sich in Zimmer 306 melden. Dort sitzt neben dem Notar ein Angestellter, der Passierscheine für den Ausgang ausstellt. Man muss dann erklären, warum man hergekommen ist, wenn man schon keinen Vertrag schließen wollte. Die Passdaten werden aufgeschrieben und man wird unter Begleitung zum anderen Ende des Gebäudes geführt, dann über den Busparkplatz zum Tor.
Die anderen fahren von hier in den Krieg.
In schneeweißen Pavillons, die mit künstlichen Blumen geschmückt sind, warten die Soldaten und ihre Familien. Wenn die Männer den Befehl bekommen, steigen sie in den Bus und fahren zu ihrem Stützpunkt.
Als wir mit einem der Anwärter sprechen, spielen nebenan Musikerinnen Akkordeon und Zither. Sie sind in reich verzierte Kaftane gekleidet und tragen Kokoschniks mit künstlichen Perlen auf den Köpfen. Es ist eine der Kulturbrigaden von Moskonzert, die „sich an der Unterstützung der Streitkräfte Russlands und des Staates beteiligt“.
Wenn keine Musiker da sind, kommt die Musik draußen aus Lautsprechern. Während eines der Interviews ist im Hintergrund die Stimme von Viktor Zoi zu hören: „Wünsch mir Glück im Kampf, wünsch mir, dass ich nicht ins Gras beiße.“ Jeden Tag ist im Hinterhof ein Priester anwesend. Vor der Abfahrt zum Stützpunkt können die neuen Rekruten dort beichten, mit dem Priester sprechen und gemeinsam beten. Es gibt auch eine Feldküche, wo kostenlos Buchweizengrütze und Büchsenfleisch ausgegeben werden. „Wir ziehen guter Dinge los“, sagt einer der Beteiligten zu Verstka.
Aus Dokumenten, die Verstka vorliegen, geht hervor, dass seit August mehr als 14.000 Personen von dieser Rekrutierungsstelle aus an die Front geschickt wurden. Berechnungen der BBC und Mediazona zufolge hatte von den mehr als 70.000 Soldaten, die seit Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges gegen die Ukraine getötet wurden, jeder Fünfte nach Kriegsbeginn einen Vertrag mit der Armee geschlossen. 2024 waren unter den Militärangehörigen aus Russland, deren Tod aufgrund offen zugänglicher Quellen bestätigt ist, immer häufiger Soldaten, die älter als 40, 50 oder gar 60 ware, und dabei weder Kampferfahrung noch eine spezielle Ausbildung hatten.
Wenn russische Soldaten im Krieg gegen die Ukraine getötet werden, steht ihren Familien eine Entschädigung von umgerechnet 150.000 Euro zu. Und den Kommandeuren ihrer Einheit – neuer Truppennachschub. Der russische Staat aber will solche Zahlungen, Soldatenersatz und besonders verräterisch negative Statistiken vermeiden. Also kursiert innerhalb der russischen Armee eine inoffizielle Order, besonders schwer Verwundete und Getötete lieber auf dem Schlachtfeld liegen zu lassen. Dann kann der Tod nicht bewiesen werden und ein Verschollener ist kein Gefallener – und am Ende billiger.
Werden Ersatzansprüche geltend gemacht, muss ein Gericht entscheiden, ob – ohne Leiche – ausreichend Hinweise auf den Tod eines Soldaten vorliegen. Das russische Onlinemedium Verstka hat sich angeschaut, wie viele solche Anträge auf Anerkennung getöteter Militärangehöriger bei russischen Gerichten eingehen: seit dem russischen Überfall auf die Ukraine fast 3.000, zwei Drittel davon 2024. Die Gerichtsunterlagen zeigen auch, dass in der Hälfte der Fälle nicht die Familien den Antrag stellten, sondern die Kommandeure der Militäreinheiten – damit jene „toten Seelen“ auf dem Papier durch neue Kämpfer ersetzt werden können.
Verstka hat dafür aus 21.600 Fällen an russischen Bezirks- und Garnisonsgerichten, in denen Russen als tot oder verschollen anerkannt wurden, diejenigen Fälle seit Ende Februar 2022 herausgesucht, in denen eine militärische Einheit, das Verteidigungsministerium oder ein Militärstaatsanwalt beteiligt war. Von diesen 2.847 Fällen konnte die Redaktion die Urteile im Wortlaut zu fast 200 Fällen recherchieren. Dieser Datensatz verrät auch, welche Einheiten am häufigsten in diesen Verfahren figurieren – und offenbar die größten Verluste haben.
Seit März 2022 sind bei den Bezirks- und Garnisionsgerichten (Militärgerichte der ersten Instanz – dek) in Russland und der annektierten Krym mindestens 2.847 Klagen eingegangen, die das Ziel haben, Militärangehörige, deren sterbliche Überreste noch auf dem Schlachtfeld liegen, für tot oder verschollen zu erklären. Während 2022 nur vereinzelt solche Anträge eingingen, waren es ab Sommer 2023 monatlich bereits mehrere Dutzend.
2024 ging es, statistisch gesehen, schon bei jedem vierten Antrag auf amtliche Anerkennung als tot oder verschollen um Militärangehörige. Zwischen Juni und August 2024 registrierten die russischen Gerichte bereits über 1.300 Eingänge. Davon allein im August die bislang höchste Anzahl – mindestens 554. Rund drei Viertel der in diesem Sommer gestellten Anträge befinden sich noch in Bearbeitung, in 196 Fällen wurde der Klage bereits stattgegeben.
Spitzenreiter unter den Truppeneinheiten, aus denen solche Anträge eingehen, ist die Einheit Nr. 22179 in Nowotscherkassk (Oblast Rostow) mit insgesamt 221 Fällen. Hier ist eine Schtorm-Z–Einheit angesiedelt.
Andere Stützpunkte, die besonders häufig in den Verfahren zu gefallenen oder vermissten Militärangehörigen auftauchen, sind die Einheit Nr. 12721 in Klinzy (Oblast Brjansk) mit 119 Anträgen, Nr. 61899 in Moskau (mit 99), Nr. 06705 aus der Region Transbaikalien (mit 96) und eine weitere in Klinzy (Nr. 91704).
Wieso muss man für tote Soldaten vor Gericht ziehen?
Die russische Armee schafft es nicht, alle gefallenen Soldaten vom Schlachtfeld zu bergen. Das bringt sowohl für die Angehörigen wie für die Einheiten Probleme mit sich: Ohne Leichnam stellen die russischen Behörden keine Sterbeurkunde aus, und ohne juristisch bestätigten Tod gibt es keine Entschädigung. Zudem kann der Armeeangehörige nicht aus der Personalliste gestrichen werden.
Gibt es keinen Leichnam, kann ein Gericht einen Militärangehörigen erst für tot erklären, wenn es mindestens sechs Monate lang keine Nachricht von ihm gab. Verstka konnte allerdings keinen einzigen Fall finden, bei dem ein Soldat allein auf dieser Grundlage für tot erklärt wurde. In der Regel müssen Angehörige oder Vertreter der Einheiten für das Gerichtsverfahren Zeugenaussagen von Kameraden einholen, die den Tod des Betreffenden mitangesehen haben.
In den von Verstka recherchierten Fällen haben die Gerichte, wenn es keine Zeugen gab, die betreffenden Armeeangehörigen als verschollen [anstatt als tot – dek] eingestuft. Bei diesem Status kann man kaum mit einem „Sarggeld“ rechnen. Es kann aber beispielsweise Halbwaisenrente für die Kinder beantragt werden. In den zweieinhalb Jahren Krieg wird das Recht, einen gefallenen Armeeangehörigen als tot oder verschollen anerkennen zu lassen, sowohl von deren Familien wie auch von Kommandeuren aktiv genutzt.
„Wenn man die Leichen holen will, kommen sofort Granaten geflogen“
Einen Teil der Gefallenen lässt die russische Armee nicht bergen, wenn das betreffende Kampfgebiet von den ukrainischen Streitkräften beschossen wird. So erklärte im Mai 2024 ein Kämpfer der ehemaligen Gruppe Wagner, der vor einem Gericht in Saransk als Zeuge zum Tod eines Kameraden vernommen wurde: „Wenn man die Leichen holen will, kommen sofort Granaten geflogen, und dann sterben die Nächsten.“ Oder aus der schriftlichen Erklärung eines Feldwebels der Einheit Nr. 09332 vom Februar 2024 beim Bezirksgericht Adler: „Aufgrund des schwierigen Geländes und des dichten Feuers der überlegenen Kräfte des Feindes, erschien eine Bergung des Leichnams nicht möglich.“ Er habe gesehen, wie ein Gefreiter aus seiner Einheit „tot umfiel“, nachdem er am Kopf getroffen wurde.
In anderen Fällen gibt es nichts zu bergen, weil der Leichnam verbrannt ist oder vollständig vernichtet wurde. So stellte im Frühjahr 2024 ein Gericht in Stawropol zum Tod eines Schtorm-Z-Kämpfers fest: „Im Zuge der Kampfhandlungen verbrannte der Körper des Sohnes der Antragstellerin restlos unter direkter Einwirkung eines Explosivgeschosses, das von den Streitkräften der Ukraine abgefeuert wurde.“
Es kommt auch vor, dass jemand einfach verschwindet und unklar ist, ob er gefallen ist oder nicht. So war es z. B. mit Major Lenar Karimow, der zehn Jahre in der Armeeeinheit Nr. 09332 im nordkaukasischen Adygeja gedient hatte und dann Kommandeur einer Funk- und Radarbatterie der Besatzungstruppen war. Im Zuge der Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte in der Oblast Cherson im Herbst 2022 musste Karimow mit seiner Einheit fliehen und ist seitdem spurlos verschwunden. Die Suche der Kameraden nach seinem Leichnam blieb vergebens. Niemand hat gesehen, was mit ihm geschah, seit anderthalb Jahren gibt es keinerlei Lebenszeichen. Der Kommandeur der Einheit zog vor Gericht, um Karimow für verschollen erklären zu lassen und ihn daraufhin aus der Personalliste streichen zu können.
Die drastische Zunahme der Anträge, um Militärangehörige als gefallen oder verschollen anerkennen zu lassen, geht nicht nur auf den Wunsch von Angehörigen zurück, sondern oft auch auf das aktive Vorgehen der Einheiten.
Für die Kommandeure ist es wichtig, dass bei ihnen keine „toten Seelen“ gelistet sind. Sie können einen gefallenen Soldaten, der nicht geborgen wurde, nicht einfach streichen. Und solange jemand auf der Personalliste steht, kann er nicht „entlassen“, also aus dem Soldverzeichnis gestrichen und durch einen anderen ersetzt werden.
So erklärten im August 2024 Vertreter der Einheit Nr. 57367 vor dem Bezirksgericht Ussurijsk, dass sie den Unterfeldwebel mit Rufnamen „Deimos“, dessen Leichnam nicht geborgen werden konnte, aus der Liste streichen wollen, weil „die Einsatzfähigkeit der Einheiten in erster Linie von einer vollen Mannschaftsstärke abhängt“. Der Feldwebel war bereits im Oktober 2022 bei den Kämpfen um das Dorf Wolodymyriwka (Oblast Donezk) getötet worden. Seither, so die Annahme der Armee, liegt sein Leichnam auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet. Ein Kamerad des Feldwebels sagt vor Gericht aus, er habe einen Schrei gehört: „Deimos 200!“, und zwar wenige Minuten, nachdem die ukrainischen Streitkräfte das Feuer auf ihre Stellungen eröffnet hatten. Der Kommandeur der Kompanie habe den Befehl gegeben, den Toten zurückzulassen und sich zurückzuziehen.
Unseren Berechnungen zufolge wurden zwischen Januar und August 2024 insgesamt mindestens 2.303 Anträge gestellt, Militärangehörige als gefallen oder vermisst einzustufen. Die eine Hälfte wurde von Truppenstützpunkten gestellt, die andere von den Familien der Getöteten, entweder selbständig oder mit Unterstützung der Militärstaatsanwaltschaft.
„Wenn ein Drittel der Leute tot oder schwer verletzt ist, kann man Aufstockung beantragen“
Allein 70 Anträge sind 2024 von der Einheit Nr. 29297 eingegangen. Im September 2023 hatte der Telegram-Kanal Mobilisazija eine Videobotschaft veröffentlicht, die angeblich von Soldaten des 1008. Regiments jener Einheit aufgenommen wurde. Die uniformierten Männer berichteten von Regelverstößen und „kolossalen Verlusten“. Trotz allem habe die Einheit als einsatzfähig gegolten.
„Damit unsere Personallücken aufgefüllt werden können, muss aus den Unterlagen die Notwendigkeit dafür hervorgehen“, erklärt ein Vertragssoldat eines Bergungstrupps gegenüber Verstka; seine Leute sind für Suche und Abtransport von Verletzten und Getöteten zuständig. „Wenn etwa ein Drittel der Leute tot oder schwer verletzt ist, kann man eine Aufstockung beantragen. Bei Tschassiw Jar haben wir bis zu 60 Prozent verloren, aber die Leichname fehlen, wir können sie einfach nicht bergen. Wir versuchen, wenigstens die Dienstmarken zu holen, aber auch das ist nicht realistisch. Daher gibt es so viele Vermisste. Keiner mag es, so viele Vermisste nach oben zu melden, dafür kommen dann alle dran. Deswegen haben wir dort einen Monat lang unterbesetzt in der Luft gehangen. Dann brachten sie uns die Strafversetzten und die Häftlinge. Mit denen werden die Lücken gestopft.“
Viele „Sturmtruppen“ bleiben auf dem Schlachtfeld
Der Stützpunkt Nr. 06705, der seinen Standort in der Stadt Borsja (Region Transbaikalien) hat, stellte im Mai und Juni 87 Anträge, Militärangehörige für gefallen oder verschollen zu erklären. Dabei wird bei sämtlichen Anträgen vom Juni eine andere Garnison als „interessierte Partei“ genannt: Nr. 22179. Auf deren Grundlage wurde eine Schtorm-Z–Einheit gebildet, die aus ehemaligen Häftlingen und strafversetzten Soldaten besteht. „Da sind nur lahme Kämpfer, Alkis, Junkies, Deserteure. Wenn der Kommandeur was gegen dich hat, kann der dich einfach da reinstecken. Wenn du nicht gehorchst oder widersprichst – zack, bist du weg. Im Grunde ist das ein Strafbataillon, nichts als Fleischwolf“, erklärte der Offizier Andrej (Name geändert) im Frühjahr 2024 gegenüber Verstka. Dass bei der Antragstellung zwei verschiedene Stützpunkte genannt werden, erklärt sich dadurch, dass die Kämpfer von Schtorm Z aus unterschiedlichen Einheiten kamen, um befestigte Stellungen des Feindes zu stürmen.
Die Beschlüsse zu den Anträgen von 2024 sind zwar noch nicht veröffentlicht, aber Verstka konnte 15 frühere Fälle ausfindig machen, die jene Einheit Nr. 22179 betrafen. Daraus geht hervor, dass Soldaten dieser Garnison an diversen Sturmangriffen beteiligt waren und zu unterschiedlichen Zeitpunkten an unterschiedlichen Orten starben: zum Beispiel in Kämpfen bei Kyryliwka (Oblast Saporishshja), Awdijiwka, Oleksandriwka, Marjinka, Swjatohirsk, Dubowo-Wassyliwka (Oblast Donezk) und Bilohoriwka (Oblast Luhansk).
So wurde ein Gefreiter der 63. Schtorm-Z-Kompanie aus der Region Krasnojarsk seiner Mutter zufolge im April 2023 für den Armeedienst angeworben, als er auf Arbeitssuche war, und landete in der Einheit Nr. 22179. Er sollte einen Sold von monatlich 51.900 Rubel [ca. 500 Euro – dek] bekommen. Bereits im Mai 2023 stürmte er ukrainische Stellungen. Seit einem dieser Sturmangriffe ist er verschollen. Ein Kamerad erzählte dann den Angehörigen, er sei „in einem Sumpfgebiet gefallen“. Das Bezirksgericht Suchobusimskoje (Region Krasnojarsk) kam 2024 zu dem Schluss, dass er „bei der Erfüllung seiner Aufgaben im Zuge der militärischen Spezialoperation“ ums Leben gekommen war.
Familien, die ihre Angehörigen nicht beerdigen konnten, die die Hoffnung verloren haben, dass sie vielleicht doch noch am Leben sind, und die das „Sarggeld“ beantragen wollen, können sich zusammentun und gemeinsam vor Gericht ziehen. Im Sommer 2024 haben Verwandte von Angehörigen der Einheit Nr. 95383 gleich 54 Anträge eingereicht, um ihre Söhne als tot oder verschollen anerkennen zu lassen. Die Soldaten waren mutmaßlich während der Kämpfe um das Dorf Klischtschijiwka bei Bachmut ums Leben gekommen.
Im Frühjahr 2024 hatten die Familien dieser Soldaten eine Petition ins Leben gerufen, die bis dato von fast 300 Personen unterzeichnet wurde. Der Text besagt, die Familien hätten seit Juli 2023 nichts mehr von ihren Söhnen gehört. Damals hatten ukrainische Truppen russische Stellungen bei Klischtschijiwka angegriffen. Zuvor waren Einzelheiten zu den Kampfhandlungen bekanntgeworden: In einer Videobotschaft an den Präsidenten behaupten Angehörige der Soldaten, der Kommandeur habe diese „unter Todesdrohungen gezwungen, zu den Stellungen zurückzukehren, die mittlerweile vom Gegner eingenommen waren. Sie konnten nirgendwo in Deckung gehen und bekamen keinerlei Artillerieunterstützung.“
Prozess für einen „Helden“
Vor Gericht muss man selbst dann ziehen, wenn der Betreffende selbst Kommandeur war und nach Ansicht der russischen Armee Heldentaten vollbracht hat. So ging beispielsweise 2024 die Frau von Major Pawel Saran vor Gericht, der in der Einheit Nr. 21634 gedient hatte.
Der Major hatte das Kommando über ein Panzerregiment eines Sturmbataillons und fiel mutmaßlich am 5. Juni 2023 bei Kämpfen in der Nähe von Lewadne (Oblast Saporischschja). Nach offizieller Version hatte Saran seiner Einheit befohlen, die Verteidigungslinie zu halten, wofür er posthum mit dem Titel eines „Helden Russlands“ und der Medaille Solotaja Swesda (dt. Goldener Stern) ausgezeichnet wurde. Im Gerichtsbeschluss heißt es, der Major und neun weitere Militärangehörige hätten sich in einem Unterstand befunden, der von ukrainischen Panzereinheiten beschossen wurde. Durch den direkten Einschlag einer Granate kam es in dem Unterstand zur Explosion, wodurch alle zehn ums Leben kamen. Ihre Leichen konnten nicht geborgen werden.
Sarans Ehefrau, vertreten durch die Militärstaatsanwaltschaft, stellte daraufhin einen Antrag an das Bezirksgericht Ussurijsk, wo die Einheit ihres Mannes stationiert ist. Aufgrund von Zeugenaussagen kam das Gericht zu dem Schluss, dass Pawel Saran in der Nähe von Lewadne „in Ausübung seiner militärischen Dienstpflichten gefallen“ sei.
Familien gewinnen die Prozesse nicht immer beim ersten Versuch.
Es gelingt den Familien jedoch nicht immer beim ersten Versuch, das Gerichtsverfahren zu gewinnen. Viktoria Dikarjowa aus Polessk in der Oblast Kaliningrad erzählte Verstka bereits im Sommer 2023, ihr Mann, der als Freiwilliger in einer Reservisten-Einheit gedient hatte, sei vermutlich im August 2022 beim Sturm des Dorfes Wolodymyriwka (Oblast Donezk) gefallen. Wjatscheslaw Dikarjow hatte Frau und Tochter zurückgelassen, um – so Viktoria – im Krieg „ein paar Groschen zu verdienen“ und im Haus einen Gasanschluss legen zu können. Er war nur eine Woche an der Front. Von Kameraden hatte Viktoria gehört, dass ihrem Mann bei einem Angriff die Beine abgerissen wurden. Er konnte nicht gerettet und sein Leichnam wegen des starken Beschusses nicht geborgen werden.
Doch Viktoria verlor das Gerichtsverfahren, in dem ihr Mann für tot erklärt werden sollte. Der Kommandeur der Einheit Nr. 22179 (derselben, aus der sich auch eine berüchtigte Schtorm-Z–Einheit rekrutierte) teilte dem Bezirksgericht Polessk mit, er könne keine Informationen zum Schicksal von Dikarjow geben – jener sei nicht in den Personallisten seiner Garnison, sondern bei einer Freiwilligeneinheit registriert gewesen. Letztlich entschied die Richterin, dass es zu wenig Beweise für den Tod Dikarjows gebe.
„Die Entschädigungen und die Rente habe ich ihnen mit Klauen und Zähnen abgerungen.“
Also klagte Viktoria ein zweites Mal, diesmal für den Verschollenen-Status. Und diesmal mit Erfolg. Ohne diese Entscheidung, sagte sie, hätte sie nicht einmal Waisenrente für ihre Tochter beantragen können. Mitte August 2024, zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes, will Viktoria aber doch noch einen zweiten Versuch unternehmen, ihn amtlich für tot erklären zu lassen. „Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie das Gericht entscheiden wird“, sagt sie. „Seit zwei Jahren kämpfe ich nun dafür. Die Entschädigungen und die Rente habe ich ihnen mit Klauen und Zähnen abgerungen. Sein Körper wurde immer noch nicht heimgeholt, wer weiß, ob das überhaupt je geschehen wird. Obwohl doch das Gebiet, in dem er gefallen ist, längst zu Russland gehört, sucht niemand nach ihm. Was kann ich jetzt noch tun? Ich kann jetzt nur noch auf dem Papier seinen Tod feststellen lassen und alle Zahlungen beantragen, die meiner Familie zustehen.“
Die Bilder gingen um die Welt: Plötzlich standen in ganz Russland tausende Menschen Schlange und gaben ihre Unterschrift für die Präsidentschaftskandidatur von Boris Nadeshdin. In einer immer repressiveren Umgebung, in der Protest gegen den Krieg de facto verboten ist, hatten darin viele eine Chance gesehen, um ihrem Unmut auf legalem Wege Ausdruck zu verleihen.
Doch wie weit ist es von den „Schlangen für Nadeshdin“ bis zu einem echten Wandel in Russland? Wollen die Menschen einen solchen überhaupt? Darüber schreibt der Soziologe Grigori Judin in einem Gastbeitrag für Verstka.
[Aktualisierung vom 8. Februar 2024: Die Zentrale Wahlkomission hat Boris Nadeshdin nicht zur Wahl zugelassen. Dies wurde offiziell damit begründet, dass angeblich mehr als fünf Prozent der eingerichten Unterschriften ungültig seien.]
Die Russen witterten eine messbare Chance auf Veränderungen – und sind sofort aktiv geworden. Zwar beträgt diese Chance gerade mal ein paar Millionstel Prozent, aber sie ist konkret. Läge sie etwas höher, würden noch mehr Menschen reagieren. Und wäre sie wirklich groß, dann wäre es ein gesellschaftlicher Durchbruch. Es ist eingetreten, was ich schon lange sage: Kollektives Handeln beginnt nicht da, wo den Menschen die Geduld ausgeht, sondern da, wo die Aussicht besteht, dass ihr gemeinsames Handeln zu einem realen, konkreten und messbaren Ergebnis führen kann. Im Fall Nadeshdin ist das seine Zulassung zu den Präsidentschatfswahlen.
Kontrollierte Herausforderung
Wofür braucht der Kreml Nadeshdin? Und wieso darf er ins Fernsehen? Seit seinen kriegsgegnerischen Äußerungen rufen mich immer wieder Journalisten aus dem Ausland an und fragen: „Wie kann das sein? Wir dachten, in Russland herrscht Zensur und keiner erfährt die Wahrheit! Dabei tritt da einer im Fernsehen auf und sagt einfach die ganze Wahrheit! Vielleicht sind die Russen eben allen Ernstes für Putin und seinen Krieg?“
Das ist die Strategie der Präsidialadministration. Nadeshdin muss seine 1,5 Prozent bekommen und damit genau das zeigen, was wir vom Lewada-Zentrum die ganze Zeit hören: In Russland leben 140 Millionen Vampire und ein paar Zehntausend normale Menschen. Nach dem Motto, gebt endlich Ruhe, das Land steht hinter Putin und dem Krieg.
Aber man darf nicht aus dem Blick verlieren, dass dieses Ergebnis für den Kreml nur ein angenehmer Bonus ist und er mit dieser Volksbefragung eigentlich viel wichtigere Aufgaben erfüllt. Er kann es sich nicht leisten, dass für das Sahnehäubchen auf dieser Torte alles aus dem Ruder läuft.
Deswegen verfügt der Kreml für den Fall, dass sich in den Umfragen ein zu großer Wahlerfolg für Nadeshdin abzeichnet, über ein ganzes Arsenal von Instrumenten, um seine Popularität zu verringern. Wir wissen zum Beispiel, dass Nadeshdin eng mit den Liberalen der Neunziger verbandelt war – es wäre ausreichend, wenn er plötzlich öffentlich Elemente aus ihrer Rhetorik bemühen würde. Das Ergebnis wäre wundervoll: Der allseits beliebte Antikriegs-Kandidat sagt antirussische Sachen, die sich hervorragend dafür eignen, die Kriegsgegner auf ganzer Linie zu diskreditieren.
Oder man „kauft“ ihn mit dem Versprechen eines hohen Amtes. Schon mehrmals hat Nadeshdin bewiesen, dass er bereit ist zum Pakt mit dem Teufel – mal kandidierte er für Gerechtes Russland, mal nahm er an den Vorwahlen von Einiges Russland teil. Ob er wohl dieses Mal darauf verzichtet? Oder man erklärt ihn vielleicht ein paar Wochen vor der Wahl zum Terroristen und Extremisten und schüchtert damit seine potentiellen Wähler ein. Na, oder ganz schlicht und ergreifend: Wenn etwas nicht „nach Plan 1,5 Prozent“ läuft, dann kann man Nadeshdin einfach zu jedem beliebigen Zeitpunkt stumpf von der Liste kicken.
In Belarus begann 2020 ebenfalls alles mit Schlangen von Menschen
Der innenpolitische Kurator im Kreml, Sergej Kirijenko, hat von dem Aufstand in Belarus nach den Präsidentschaftswahlen 2020 bestimmt etwas gelernt. Dort begann ebenfalls alles mit Schlangen von Menschen, die für Sergej Tichanowski, Viktor Babariko und Waleri Zepkalo unterschrieben. Danach unterlief Lukaschenko ein schwerer Fehler: Er ließ Tichanowskis Frau Swetlana antreten. Was dazu führte, dass Leute, die noch einen Monat zuvor in ihrer Masse kaum an so etwas wie Proteste gedacht hatten, plötzlich an die Möglichkeit eines Wandels durch einen „Erdrutschsieg“ bei den Wahlen und Straßenproteste zu dessen Verteidigung glaubten. Dafür gingen sie buchstäblich in den Tod – tausende Demonstrierende gingen weiterhin auf die Straße, obwohl die Silowiki dort Menschen töteten. Sie trennten sich erst, als die Hoffnung versiegt war, dass die Handlungen jedes Einzelnen zu einem konkreten Ergebnis führen.
Eine ähnliche Mobilisierung haben wir auch schon in Russland gesehen. Nämlich 2021, als Alexej Nawalny zurückkehrte und sofort verhaftet wurde. In jenem Jahr war unser Land hinsichtlich der Gesamtzahl der Protestierenden unter den weltweit Ersten. Das war eine Massenbewegung, die das ganze Land erfasste. Obwohl die Chance, Nawalny freizukriegen, genauso gering war wie die Chance auf einen Regimewechsel.
Seit Beginn des Kriegs hatte die russische Gesellschaft nicht die leiseste Hoffnung auf Veränderungen. Auch Jewgeni Prigoshin konnte mit seinen Aktionen und dem Aufstand keine Zuversicht wecken. Ja, er vertrat in Bezug auf die Situation im Land einen Standpunkt, der alternativ zum offiziellen und trotzdem legal war. Er konnte aber keine Menschen mobilisieren, obwohl ich überzeugt bin: Hätte er den Leuten eine Zukunft ausgemalt, die ihnen blüht, wenn sie seine Bewegung unterstützen, dann wären viele schon allein deswegen aufgestanden, weil sie etwas Neues wollen.
Wenn die Leute sehen, dass sie etwas verändern können, dann sind sie bereit, sehr große Risiken einzugehen
Die Formel für den Beginn kollektiven Handelns ist simpel. Ausschlaggebend ist das Gefühl, dass die eigene persönliche Beteiligung die Situation beeinflussen und zu einem nachweislichen, messbaren und sichtbaren Ergebnis führen kann. Natürlich schätzt man auch noch das Risiko ab, das man eingeht, aber dieser Faktor ist nicht so hoch, wie oft angenommen wird. Klar will niemand ins Gefängnis oder verprügelt werden. Und keiner macht das einfach so ins Blaue. Aber wenn die Leute sehen, dass sie etwas verändern können, dann sind sie bereit, sehr große Risiken einzugehen.
Ein legaler Wahlkampf ist natürlich ein minimales Risiko. Man braucht nur zu unterschreiben, und wenn der Kandidat aufgestellt wird, zu agitieren und dann zu wählen. Das ist alles grundsätzlich nicht verboten, daher ist die Hemmschwelle zum Mitmachen gering. Man braucht dafür nicht unbedingt in einen Panzer zu steigen wie in Prigoshins Fall. Super! Aber es ist auch nicht so, dass sich durch Repressionen jedes kollektive Handeln verhindern ließe. Sonst bräuchte man gar keine Politik und es gäbe überhaupt nirgendwo Massenbewegungen. Die Geschichte hat gezeigt, dass die Menschen für hohe gemeinsame Ziele bereit sind, ihr Leben zu riskieren.
Was fehlt: eine positive Zukunftsvision
In Russland gibt es keine militarisierte Mehrheit, die man durchbrechen muss. Die Mehrheit duldet den Krieg als etwas vermeintlich Unausweichliches, das man lieber verdrängt. Angeführt wird das Ganze von kleinen Gruppen, die demonstrativ verrohen und darauf ihre Karrieren aufbauen. Der Überdruss, den dieser Krieg und die alte Führungsriege in der russischen Gesellschaft erzeugt, ist riesig. Aus dieser Situation heraus ließe sich leicht eine starke Mehrheit von Kriegsgegnern versammeln.
Insofern lautet die richtige Antwort auf die Frage, wie lange die Leute noch mitmachen werden: „Beliebig lange.“ Denn sie gehen nicht dann vom Erdulden zum kollektiven Handeln über, wenn sie es nicht mehr aushalten – man kann sich ja immer noch tiefer eingraben, noch stärker anpassen –, sondern wenn sich eine Alternative anbietet. Aber genau die fehlt heute. „Nein zum Krieg!“ ist eine schöne Parole, aber sie sagt nichts darüber aus, wie es danach weitergehen soll. Noch hat niemand eine Zukunftsvision ausformuliert, die Russlands nationale Interessen berücksichtigt, die dem Land einen Platz in der Welt aufzeigt, den die Bürgerinnen und Bürgern als würdig empfinden, und die zugleich ein deutliches Bild davon zeichnet, wie das Leben dort aussehen wird.
Es gibt einen Putin – zu dem hat keiner mehr eine Frage: Unter seiner Regierung leben wir beschissen, aber wir wissen, woran wir sind – wir kennen die Regeln. Sobald einer kommt und eine knackige Alternative dazu anbietet, vorzugsweise im Rahmen der russischen Gesetzgebung, klafft ein Spalt auf, in den das ganze riesige Protestpotential hineinstürzt, das sich in der Gesellschaft angestaut hat. Anlass dafür kann alles sein – vom banalen Alltagskonflikt bis hin zu einer einzigen unglücklichen Entscheidung der Behörden. Die Beobachter werden es nicht fassen können: Wie gibt’s das, die Leute haben das doch immer geschluckt, wieso auf einmal nicht mehr? Aber an diesem Punkt wird der Wandel schon angefangen haben.
Wladimir Putin setzt auf die junge Generation. Seine Strategen haben bereits Mitte der 2000er Jahre die Jugendbewegung Naschi (dt. Die Unsrigen) ins Leben gerufen. Als deren Funktionäre älter wurden, wurden sie ersetzt durch Iduschtschije Wmeste (dt. Wir gehen gemeinsam). Es folgte Set, „Das Netz“ für die Generation Social Media und natürlich die militaristisch-patriotische Junarmija, die unter der Aufsicht des Verteidigungsministeriums Wehrsport betreibt.
Das neueste Projekt heißt Bewegung der Ersten, was nicht von Ungefähr an die Pioniere erinnert. Das Portal Verstkahat recherchiert, mit welchen Versprechen Schülerinnen und Schüler zu den Aktionen der Ersten gelockt werden und was sich der Staat die Formung der jungen Generation im Geiste von Patriotismus und Putinismus kosten lässt.
Bald soll eine neue Jugendorganisation an allen Schulen in Russland ihre Tätigkeit aufnehmen. Was steckt hinter der Bewegung der Ersten, und wie ist sie aufgebaut?
Seit zwei Jahren existiert in Russland eine landesweite Organisation für Kinder und Jugendliche – die Bewegung der Ersten (Dwishenije perwych). Aktuell gibt es 30.000 Standorte im ganzen Land und in den besetzten Gebieten der Ukraine. Bis Anfang Herbst waren mehr als eine Million Menschen der Organisation beigetreten, und im laufenden Jahr ist geplant, zusätzlich sieben Millionen Schüler und Studenten als Mitglieder zu gewinnen. Die Organisation hat sich zum Ziel gesetzt, „jedes Kind zu erreichen“, deshalb sollen Ableger an allen Schulen, in den meisten Universitäten, Colleges, weiterführenden Bildungseinrichtungen und sogar in Unternehmen entstehen. Verstka hat recherchiert, wie die Bewegung Kindern die Staatsideologie einpflanzt und allmählich allgegenwärtig wird.
„Das sind Pioniere, oder?“
„Wir haben diese Organisation ins Leben gerufen, um Russland eine große Zukunft zu sichern. Um allen Generationen ein würdiges und glückliches Leben zu ermöglichen. Um die Welt zum Besseren zu verändern. Wir sehen uns als Pioniere unseres Vaterlandes.“ Neun Schüler einer Schule in Lipezk tragen auf der Bühne der mit Luftballons in den Farben der Trikolore geschmückten Aula das „feierliche Gelöbnis“ der Aktivisten der Bewegung der Ersten vor. „Unsere Mission ist es, für Russland zu sein, Menschen zu sein, zusammen zu sein, in Bewegung zu sein, die Ersten zu sein.“
Der offiziellen Legende nach geht die Gründung einer russischen Kinder- und Jugendbewegung (RDDM), der Bewegung der Ersten auf Diana Krassowskaja zurück – eine Schülerin aus Sewastopol, die 2014 von Luhansk auf die Krim gezogen ist. Wladimir Putin „unterstützte“ die Idee. Im Juli 2022 unterschrieb der russische Präsident einen entsprechenden Erlass und übernahm persönlich den Vorsitz im Aufsichtsrat der Bewegung. Laut dem Erlass können sich der Bewegung Mitglieder zwischen 6 und 18 Jahren anschließen sowie Erwachsene (einschließlich volljährige Studenten), die als Mentoren fungieren und Veranstaltungen organisieren können.
Der Name Bewegung der Ersten wurde auf der ersten Vollversammlung der Organisation im Dezember 2022 gewählt – allerdings erst im dritten Anlauf. Die anderen Vorschläge waren: Pioniere, Gagarin-Bewegung, Neue Generation und Großer Wandel. Nachdem die Wahl gefallen war, soll Putin gefragt haben: „Die Ersten – was soll das heißen? Das sind Pioniere, oder?“ Woraufhin die Vize-Premierministerin Tatjana Golikowa sagte: „Ja. Früher hießen die so.“ Und obwohl der Präsident vorschlug, den Namen noch einmal zu „überdenken“, blieb es dabei.
Vorstandsvorsitzender der russischen Kinder- und Jugendbewegung (RDDM) wurde Grigori Gurow, der seit 2017 in der föderalen Agentur für Jugendangelegenheiten gearbeitet hatte und seit 2021 stellvertretender Minister für Wissenschaft und Hochschulbildung war.
Der neuen Bewegung wurden die Russische Schülerbewegung (Rossiiskoje dwishenije Schkolnikow RDSch) und andere große Kinderverbände angegliedert. Dazu gehören die Junarmija (dt. Junge Armee), der Wettbewerb Großer Wandel, die Nowosibirsker Union der Pioniere und die Pioniere von Baschkortostan, die alle zu Mitbegründern der RDDM wurden.
Die Bewegung der Ersten entstand also nicht aus dem Nichts. Die Russische Schülerbewegung gab es in Russland bereits seit 2015. Sie wurde auf eine Initiative von Wladimir Putin hin gegründet und widmete sich der „Erziehung und Lebensgestaltung“ von Schülern auf Basis des „Wertesystems der russischen Gesellschaft“. Finanziert wurde die Bewegung von der Föderalen Agentur für Jugendangelegenheiten Rosmolodjosh. Mit der Gründung der Bewegung der Ersten wurde das alte Format aufgelöst.
Die militaristisch-patriotische Bewegung Junarmija untersteht formell nun auch der neuen Organisation. Um in die Bewegung der Ersten einzutreten, müssen sich die Mitglieder jedoch gesondert registrieren. In vielen Regionen sind die Standorte der Junarmija weiterhin autonom, auch wenn sie anlässlich militaristisch-patriotischer Veranstaltungen mit der neuen Bewegung zusammenarbeiten.
Sie pflanzen Bäume und sehen eine Videobotschaft von Putin
Lisa ist 15. Seit der zweiten Klasse ist sie Mitglied einer Jugendbewegung im Gebiet Krasnojarsk. Sie führt biologische Untersuchungen durch und tritt bei Konferenzen auf. 2022 erzählte ihr der wissenschaftliche Leiter von dem Forum Ökosystem, das auf der Halbinsel Kamtschatka stattfand. Dort konnten Mitglieder der Bewegung der Ersten teilnehmen, die das Auswahlverfahren erfolgreich durchlaufen hatten. Die Schülerin bewarb sich und wurde eingeladen. Im Auswahlgespräch gab sie an, dass sie sich seit ihrer Kindheit für Biologie und Ökologie interessiert.
Bei der Eröffnung wurde eine Ansprache von Wladimir Putin übertragen, als Redner waren der [Erste stellvertretende – dek] Leiter der Präsidialverwaltung Sergej Kirijenko und andere Staatsbeamte eingeladen. Die Vorträge handelten jedoch nicht nur von Ökologie. „Die Redner kamen, um mit uns über die Welt zu sprechen, über das, was jetzt im Land passiert. Sie drückten ihre Unterstützung für unsere Bewegung aus und motivierten uns, weiterzumachen“, erinnert sich Lisa im Gespräch mit Verstka. „Sie sagten, dass jetzt nicht die günstigste Zeit für das Land sei, und dass man auf der Hut sein müsse und aufpassen, was man sagt: Man weiß ja nie, wer vor einem steht. Sie sagten auch, dass im Internet alle möglichen Leute unterwegs wären und man nicht auf jeden hören sollte, weil viele Falschinformationen verbreitet würden.“
Inhaltlich umfasst die Bewegung der Ersten insgesamt zwölf Bereiche: Bildung und Wissen; Wissenschaft und Technik; Arbeit, Beruf und Wirtschaft; gesunde Lebensführung; Kultur und Kunst; Freiwilligenarbeit und ehrenamtliches Engagement; Sport; Medien und Kommunikation; Diplomatie und internationale Beziehungen; Tourismus und Reisen; Ökologie und Umweltschutz; Patriotismus und historisches Gedächtnis. Zu jedem Bereich initiieren die Aktivisten landesweite, regionale und schulische Projekte, Festivals, Konzerte, Wettbewerbe und Contests – im Programm der Bewegung füllen die möglichen Formate zwei ganze Seiten.
Auch wenn nicht alle Bereiche in direktem Zusammenhang mit Patriotismus und Wehrerziehung stehen, definiert das Programm der Bewegung als Ziele ihrer Bildungsarbeit „Formulierung und Verteidigung der Interessen des Vaterlandes, Selbstverwirklichung und zivile Bildung von Kindern und Jugendlichen im Kontext der russischen Identität“. So lief beispielsweise den ganzen Sommer über die Kampagne Ein Buch für einen Freund: Schüler sammelten ihre Lieblingskinderbücher und schickten sie zu Beginn des Schuljahres an Schulen in den [okkupierten] Regionen Cherson und Saporishshja und in die sogenannten Volksrepubliken DNR und LNR.
„Das Ziel der Bewegung der Ersten ist Patriotismus“, erklärt ein Gesprächspartner von Verstka freiheraus, der als Erziehungsberater für 17 Schulen im Föderationskreis Nordwest verantwortlich ist. „Indem man die Wissenschaft voranbringt, verbessert man den Status seines Landes. Alles ist miteinander verknüpft. Es gibt keine Erziehung ohne Bildung und keine Bildung ohne Erziehung.“
Die Bewegung der Ersten verfolgt jedoch auch offen militaristische Projekte. Zum Beispiel die militärischen Ausbildungscamps Der Verteidiger als Mentor, in denen junge Teilnehmer der Militärischen Spezialoperation Kinder unterrichten. Oder Sarniza 2.0 – eine moderne Version des seit Sowjetzeiten bekannten militärisch-patriotischen Rollenspiels. Nach Angabe von Grigori Gurow lernen die Teilnehmer, wie man Drohnen steuert, mit Funkgeräten umgeht und Fakes entlarvt.
Die am weitesten verbreitete und einfachste Form der Arbeit der Bewegung der Ersten sind jedoch Aktionen, die anlässlich staatlicher Feiertage durchgeführt werden. Am Tag des Vaterlandsverteidigers wurden Schulkinder beispielsweise aufgefordert, Briefe an russische Armeeangehörige zu schreiben, und am Tag der russischen Flagge sollten sie die Trikolore zeichnen. Bei einer anderen Aktion mit dem Namen Wir sind Bürger Russlands erhalten Jugendliche, die ihr 14. Lebensjahr vollendet haben, ihre Pässe an einem besonderen Datum (zum Beispiel am Tag Russlands am 12. Juni oder zum Tag des Wissens am 1. September) und in einer feierlichen Atmosphäre: mit gehisster Flagge und zur russischen Hymne.
Daniil Ken, der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft Aljans utschitelei, ist der Meinung, dass auch der Sinn scheinbar neutraler Aktionen und Projekte letztlich auf Ideologiearbeit mit den Schülern hinausläuft. „Manche durchschauen das vielleicht nicht“, sagt er zu Verstka, „manche lassen sich vielleicht davon täuschen, dass ziemlich viele der Aktivitäten quasi unpolitisch sind. Sie spielen ja auch Volleyball, gehen ins Museum, pflanzen Bäume. Aber wie funktioniert das: Zuerst gibt es ein Event zu einem ganz neutralen Thema, und dann streuen sie eine Videobotschaft von Putin mit Glückwünschen zum Jubiläum ein. Alles, was mit dem Staat oder der Geschichte zu tun hat, zielt auf Loyalität“.
Die Illusion eines sozialen Aufstiegs
Wassilissa aus der Oblast Orenburg geht in die zehnte Klasse. Bei der Bewegung der Ersten ist sie seit einem halben Jahr. Es sei ihr sehr wichtig gewesen, Mitglieder aus anderen Regionen kennenzulernen, erzählt sie Verstka. Wassilissa hat im Wettbewerb Universitärer Nachwuchs (Universitetskije smeny) gewonnen und bekam eine Reise nach Moskau bezahlt, wo sie nicht nur andere Schüler und Schülerinnen, sondern auch Prominente traf.
Wassilissa möchte Journalistin werden und bat die Organisatoren des Projekts, am Moskauer Kulturinstitut Marketing-Team für Social Media mithelfen zu dürfen. „Ich habe bei den meisten der Veranstaltungen die Beleuchtung gemacht“, erzählt sie stolz. „Jetzt bin ich im Block für Öffentlichkeitsarbeit und würde gern in den sozialen Medien mithelfen, wenn ich darf. Ich habe große Pläne, möchte mehr über die Entstehung der Bewegung erfahren und meine Kenntnisse vertiefen.“
Um der Bewegung der Ersten beizutreten genügt es, sich auf deren Website zu registrieren, als Teilnehmer oder als Mentor (diese Option steht Erwachsenen offen – Pädagogen, Eltern, volljährigen Studierenden), dort einen Fragebogen auszufüllen und einen Aufnahmeantrag hochzuladen. Laut Tatjana Kossatschjowa, der Vorsitzenden der Zweigstelle Rjasan, wird in der Regel jedes Kind aufgenommen.
Ihr zufolge liegt die Motivation der Kinder darin, Neues zu lernen, sich weiterzubilden, kostenlos in andere Regionen zu reisen und dort die allrussischen Kinderzentren zu besuchen. Wer an Freiwilligenprojekten teilnimmt, bekommt ein Freiwilligenbuch, anhand dessen ihm an manchen Hochschulen Zusatzpunkte angerechnet werden (gleichwertig mit einem goldenen GTO-Abzeichen und einer guten Note für die Abschlussarbeit). Außerdem können die Sieger des Wettbewerbs Großer Wandel (Bolschaja peremena) auf Staatskosten an russischen Hochschulen studieren und bei der Aufnahmeprüfung Zusatzpunkte erhalten. Umgekehrt können Studierende, die Mitglieder der Bewegung sind, zusätzliche Bildungsangebote nutzen und dafür Bildungsnachweise nach staatlichem Muster erhalten.
Daniil Ken, der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft Aljans utschitelei merkt an, dass die Bewegung der Ersten „die Illusion eines sozialen Aufstiegs für die Jugend“ erzeuge. Wer sich ausprobieren möchte, bekomme hier die Gelegenheit. Die Kinder könnten an Medienprojekten teilnehmen, dem Schulkomitee beitreten und den Leiter der Bezirksverwaltung treffen. Eine Funktion in der Bewegung bekämen aber nur einige Wenige anvertraut, sagt der Experte.
„Welche Perspektiven haben Oberschüler in einer Kleinstadt? Sie wissen, wie niedrig die Gehälter sind, sie kennen den Zustand der Betriebe. Ihre Aussichten sind nicht allzu rosig. Und da kommt der Staat auf sie zu und sagt: ‚Alles gut, das wird schon. Ihr werdet Karriere machen, Anerkennung bekommen und Status. Mit uns gemeinsam wachsen. Wir sind stark, stell dich unter unsere Fahne, dann wird alles gut.‘ Auf diese Weise versuchen sie, mögliche Proteststimmungen bei Oberschülern oder Studierenden einzudämmen“, sagt Ken.
Wie viel lässt sich der Staat die Bewegung der Ersten kosten?
Die Bewegung hat eine föderale, eine regionale, eine lokale und eine Ebene in den Schulen und Hochschulen. Auf föderaler und regionaler Ebene gibt es Koordinationsräte. Auf föderaler Ebene hat Kirijenko den Vorsitz, auf regionaler jeweils das Oberhaupt der Region. Des Weiteren sitzen Vertreter regionaler Behörden aus den Bereichen Kultur, Sport, Wirtschaft, Medien, Bildung und Jugendpolitik in den Koordinationsräten.
Die allrussischen Projekte der Bewegung der Ersten sowie die Gehälter der Mitarbeiter des zentralen Apparats werden aus dem staatlichen Budget sowie mit Zuschüssen aus unterschiedlichen Haushaltsebenen finanziert. Grigori Gurow zufolge kostet die Bewegung vier Milliarden Rubel jährlich [etwa 41 Millionen Euro – dek]. Zudem werden den regionalen Zweigstellen im Wettbewerbsverfahren Subventionen zugesprochen, laut Gurow in Höhe von rund zehn Milliarden Rubel jährlich [mehr als 100 Millionen Euro – dek]. 6000 Menschen sind insgesamt in der Organisation beschäftigt, sagt er.
Schüler werben Schüler
Darja aus Omsk ist 15 Jahre alt. Vor drei Jahren ist sie der Bewegung der Schüler Russlands beigetreten und hat bereits am ersten Kongress der Bewegung der Ersten 2022 teilgenommen. Danach überzeugte sie sechs weitere Kinder aus ihrer Schule, Aktivisten der Bewegung zu werden. Sie baten ihre Schulleitung, an ihrer Schule eine Primärzelle zu registrieren, gründeten einen Sowjet perwych (dt. Rat der Ersten) und treffen sich seitdem alle paar Monate, um zukünftige Projekte zu planen. Derzeit entsteht an Darjas Schule zum Beispiel ein Naturfreunde-Verband.
In vielen Regionen wurden an den meisten Schulen und Colleges Vertretungen eröffnet. Jeder Pädagoge kann eine solche Zelle leiten. Meistens übernehmen diese Rolle jedoch die pädagogischen Berater, erfährt Verstka von einem Kurator des Föderationskreises Nordwestrussland. Das ist ein neues schulisches Amt, das 2023 russlandweit in allen Bildungsstätten eingerichtet wurde. Pädagogischer Berater kann werden, wer an der Ausschreibung Navigator der Kindheit (Nawigator detstwa) teilnimmt, von denen es bereits drei gab, und die jedes Jahr im Frühling neu ausgeschrieben wird. In der Stellenbeschreibung steht, dass man in dieser Funktion für das Zusammenspiel zwischen Schulen und gesellschaftlichen Organisationen zuständig ist.
Nicht nur an Schulen, auch an Hochschulen plant die Bewegung über hundert neue Zellen. Primärzellen entstehen an Colleges, technischen Lehranstalten und Weiterbildungsinstituten: an Sportschulen, in Kulturpalästen, Jugendzentren – und sogar in Unternehmen. Mitarbeiter all dieser Organisationen, aber auch Eltern von Studierenden melden sich als Mentoren. So führen etwa Kadetten der Militärakademien militärisch-patriotische Projekte an und Studierende der Medizin leiten ein Erste-Hilfe-Projekt. „Die Primärzellen bewegen sich über den Rahmen der Schulen hinaus, um jedes Kind zu erreichen“, sagt Tatjana Kossatschjowa, Vorsitzende der Zweigstelle Rjasan.
Grigori Gurow betonte mehrmals, dass die Teilnahme an der Bewegung der Ersten nicht erzwungen werden darf. Gemäß Artikel 34 des föderalen Bildungsgesetzes muss die Teilnahme an jeglichen gesellschaftlichen Vereinigungen im Rahmen der Tätigkeit von Bildungseinrichtungen freiwillig erfolgen. Formal entspricht die Tätigkeit der Bewegung an Schulen einem außerschulischen Angebot und ist nicht Teil des Lehrplans. Daniil Ken berichtet Verstka allerdings, dass bei der Lehrergewerkschaft bereits Beschwerden von Eltern eingetroffen seien, deren Kinder zu Veranstaltungen der Bewegung mitgenommen wurden, obwohl sie keine Mitglieder sind. „Manchmal macht die ganze Klasse oder Schulstufe irgendeine Aktivität, die unter der Schirmherrschaft der Bewegung und mit ihrer Symbolik stattfindet“, erzählt Ken. „Die Ressource Kind ist super-verfügbar. Man braucht nur ins Sekretariat zu gehen und zu sagen: ‚Morgen legen alle neunten Klassen am Grab des unbekannten Soldaten Blumen nieder oder kommen zum Schaman-Konzert in die Aula‘ – dann stehen alle bereit.“
Am 30. September 2022 verkündete Wladimir Putin die Angliederung von vier ukrainischen Gebieten in die Russische Föderation: Donezk, Luhansk, Saporishshja und Cherson. Obwohl Moskau zu keinem Zeitpunkt auch nur eines dieser Gebiete vollständig unter seiner Kontrolle hatte, wurden eilig Verwaltungsbehörden nach russischem Vorbild eingerichtet. Journalisten des russischen Portals Verstka haben recherchiert, wer in den Okkupationsorganen wichtige Ämter innehat und dazu die Biographien von 224 Verwaltungsbeamten des mittleren und höheren Dienstes analysiert.
Das Ergebnis: Etwa jeder zweite Leitungsposten in den regionalen Behörden ist von Beamten besetzt, die aus der Russischen Föderation kommen. Auf kommunaler Ebene überwiegen derweil Mitarbeiter, die vor der Besetzung bereits in den ukrainischen Behörden tätig waren. Ein beträchtlicher Teil der aus Russland zugezogenen Beamten wurde offenbar von der Aussicht angelockt, durch den Einsatz in den Besatzungsbehörden einer Strafverfolgung zu entkommen. Ukrainische Kollaborateure wurden dagegen mit Karriereversprechen geködert.
Anfang Februar 2021 platzierte Igor Telegin aus Cherson auf dem Jobportal work.ua seine Bewerbung, in der er sich bereit erklärte, für 30.000 Hrywnja pro Monat (seinerzeit umgerechnet 1100 US-Dollar) als Drehbuchautor und Regisseur zu arbeiten. Als eine seiner besten Arbeiten nannte Telegin einen 2017 auf YouTube veröffentlichten Clip zu einem Lied von Alexander Ponomarjow, einem Schlagersänger mit dem Rang eines „Volkskünstlers der Ukraine“. Die erste Zeile lautet: „Wir werden uns nie von unserer Muttersprache lossagen.“ Die Videosequenz zeigt Antiterrorübungen von Spezialeinheiten der ukrainischen Streitkräfte und Schüler, die eine riesige ukrainische Flagge entrollen. Auch sind Kinder zu sehen, die in ukrainischer Nationaltracht einen ukrainischen Volkstanz aufführen. Telegin bezeichnete sich auch als Autor des Drehbuchs für eine Staffel der populären ukrainischen Serie Weschtschdok (dt. Sachbeweis), die von einem faschistischen Kollaborateur und Spion erzählt, der von Kyjiwer Milizionären gefangen wurde.
Vor Kriegsbeginn war Telegin ein intensiver Facebook-Nutzer, wobei er dezent die Sowjetunion lobte und ironische Bemerkungen über russische wie auch ukrainische Politiker schrieb. So postete er nach einer der Militärparaden in Kyjiw, auf der sowjetische Kriegstechnik zu sehen war, eine Kollage mit Wladimir Putin und Dimitri Medwedew in T-Shirts in den ukrainischen Nationalfarben – und mit einem Aufdruck „Putin ist ein Schwanz!“. Telegin hat bis zum Abschluss dieser Recherche weder seine Bewerbung noch die Kollage gelöscht.
Nach Beginn des großangelegten russischen Angriffskrieges am 24. Februar 2022 wurde Telegin zu einer der markantesten Figuren der Besatzungsbehörden. Ende Mai letzten Jahres wurde er zum Chef der Abteilung für Innen- und Außenpolitik der Militär- und Zivilverwaltung des Gebietes Cherson ernannt. Im September wurde er Abgeordneter der „gesetzgebenden Versammlung“ der Region. An Clips mit heldenhaften Kämpfern der ukrainischen Streitkräfte und eine Zusammenarbeit mit einem Kanal des ukrainischen Oligarchen Viktor Pintschuk erinnert er sich nicht. Stattdessen erzählt er, die lokale Bevölkerung habe „auf ihre Befreiung gewartet“, hätte aber „Angst, darüber zu sprechen“, weil sie Repressionen durch das „ukrainische Regime“ fürchte.
Vor dem Krieg war Telegin kein Ziel strafrechtlicher Verfolgung durch die ukrainischen Behörden. Die örtlichen Medien nannten ihn respektvoll einen „Prominenten der Stadt“. Auf eine Anfrage von Verstka hat Telegin nicht reagiert.
Er ist längst nicht der einzige Einheimische, der einen leitenden Posten in der Besatzungsverwaltung der Gebiete Cherson und Saporishshja übernahm. Wolodymyr Saldo war Bürgermeister von Cherson und ehemaliger Abgeordneter der Werchowna Rada für die Region. Dann wurde er Chef der Besatzungsverwaltung von Cherson. Drei von fünf seiner wichtigsten Stellvertreter sind ebenfalls Einheimische.
Früher gratulierten sie den ukrainischen Streitkräften, jetzt feiern sie russische Propaganda
Einige von ihnen haben wohl, genauso wie Telegin, erst kürzlich gemerkt, dass sie das ukrainische Regime nicht mögen, dafür aber das russische. So erklärte der stellvertretende Ministerpräsident des Gebiets Witali Buljuk noch im April 2022 öffentlich: „Cherson gehört zur Ukraine“. Schon wenige Wochen später erhielt er einen Posten in der Besatzungsverwaltung von Saldo. Ukrainische Medien erklären dieses Umsatteln damit, dass Buljuk, der vor dem Krieg stellvertretender Vorsitzender der Gebietsrada war, einer der größten Unternehmer von Skadowsk ist, einer Stadt im Süden des Gebietes Cherson, die von russischen Truppen in den ersten Tagen der Invasion erobert wurde. In dieser Stadt gelangten ebenfalls Leute aus Buljuks Dunstkreis an die Macht. Stellvertretende Bürgermeisterin wurde beispielsweise Ljudmila Zelep-Koslowa, lokalen Medien zufolge eine Verwandte von Buljuk. Im Dezember 2021 hatte sie in den sozialen Medien noch Gratulationen zum Tag der ukrainischen Streitkräfte gepostet. Jetzt sind auf ihren Seiten Lieder des russischen Propaganda-Bаrden Jaroslaw Dronow (Schaman) zu finden.
Das markanteste Beispiel von Kollaboration zur Sicherung des eigenen Besitzes ist das Oberhaupt des benachbarten Gebietes Saporishshja, Jewhen Balyzkyj, ein ehemaliger Abgeordneter der Werchowna Rada der Ukraine für den Oppositionellen Block. Vor dem Krieg hatte seine Familie zu den größten Unternehmern in Melitopol gezählt. Die Stadt wurde bereits Anfang März 2022 eingenommen und zur „provisorischen Hauptstadt“ des Gebietes Saporishshja gemacht. Und dort gab es dann auch die erste hochrangige Kollaborateurin: Melitopols „Bürgermeisterin“ Galina Daniltschenko, die in den Unternehmen der Familie Balyzkyj für Finanzen und Buchhaltung zuständig war. Auch andere lokale Unternehmer widersetzten sich dem neuen Regime nicht. So erhielten Sergej Solotarjow aus Melitopol und Viktor Gretschka aus Berdjansk recht bald in ihrer Stadt jeweils einen Posten als Vizebürgermeister. Solotarjow ist inzwischen Vorsitzender des Stadtrates von Melitopol.
Unter den Führungskräften gibt es übrigens auch „unfreiwillige Kollaborateure“: Der Landwirtschaftsminister des Gebietes Cherson, Pjotr Sbarowski, hatte vor dem Krieg ein Unternehmen zur Produktion von Windkraftanlagen geleitet. Bevor er seine Zusammenarbeit mit den neuen Machthabern begann, hatte es Informationen gegeben, dass er angeblich zuerst gekidnappt und dann von russischen Sicherheitskräften wieder freigelassen worden sei.
Früher Animateur im Bärenkostüm, heute verantwortlich für Kultur
Für viele bedeutet eine Zusammenarbeit mit den Russen einen beträchtlichen Karrieresprung. So war Tatjana Kusmitsch, die Vizegouverneurin von Cherson, vor dem Krieg in der alles andere als beneidenswerten Stellung einer Lehrerin, die von den ukrainischen Sicherheitsbehörden des Landesverrats zu Gunsten Russlands beschuldigt wurde. Jelena Terskich, die Bürgermeisterin von Henitschesk, der „provisorischen Hauptstadt“ des Gebietes Cherson, war zuvor eine gewöhnliche Angestellte in der Stadtverwaltung. Und der Kulturminister des Gebietes, Alexander Kusmenko, war zuvor Direktor einer Musikschule in Cherson.
Die Beamten der „neuen Verwaltungen“, die aus der Gegend kommen, sprechen allerdings nicht von Karrieresprung. Und sie können sehr genau von den Vorteilen „durch die Ankunft Russlands“ erzählen: „In der Ukraine schert sich niemand um die jungen Leute. Es wurden zwar Haushaltsmittel für sie bereitgestellt, doch die Gelder kamen nicht bei den Menschen an. Deswegen war es öfter so, dass die Verwaltung oder ein Mäzen einen Laden oder einen Spielplatz baute, und der dann nach ein paar Tagen von lokalen Jugendlichen zerstört wurde. Einfach, weil die nichts zu tun haben“, erinnert sich Bogdan Kasnawezki im Gespräch mit Verstka. Er kommt aus Cherson und arbeitet in der Kulturverwaltung des Gebietes. Vor dem Krieg war er Statist und Animateur, trat bei Unternehmens- und Familienfeiern im Bärenkostüm auf.
Nach der Eroberung von Henitschesk durch russische Truppen wurde Kasnawezki zunächst erster Stellvertreter des Chefs der Militär- und Zivilverwaltung der Stadt. Dann merkte er aber, „dass ihm die Kultur näher liegt“. Und er begann, im Auftrag der Kulturverwaltung des Gebiets, Veranstaltungen zu organisieren. „Jetzt sind die Kinder aktiv, es gibt viele Organisationen, die sie in ihre Tätigkeit einbinden. Im Gebiet wurden 360 Veranstaltungen durchgeführt, im Jugendbereich! Und das bringt Ergebnisse: Bei den Feiern zum 9. Mai kamen viele junge Leute. Die hat niemand gezwungen, das war freiwillig“, erzählt er. Auf die Frage von Verstka, wie das zu dem Umstand passe, dass Umfragen zufolge 64 Prozent der Bewohner des Gebiets Cherson für Ukrainisch-Unterricht in den Schulen sind, meint Kasnawezki, es gebe „tatsächlich nicht wenige Shduns hier“, doch die „können nichts als einem in die Suppe spucken“.
Flucht vor Strafverfahren
Ende Dezember 2021 durchsuchte der FSB das Bürgermeisteramt in Krasnodar sowie die privaten Räume des gerade vor einem Monat ernannten Stadtoberhauptes Andrej Alexejenko. Der wurde wegen des Verdachts auf Bestechung festgenommen. Der mutmaßliche Bestechungslohn: eine handgefertigte extravagante Jagdflinte im Wert von 1,5 Millionen Rubel [damals etwa 18.000 Euro – dek]. Der Pressedienst der regionalen Verwaltung des Strafermittlungskomitees veröffentlichte sogar ein 18-sekündiges Video, in dem der Ermittler Alexejenko den Haftbefehl verliest. Bald wurde bekannt, dass Einiges Russland die Partei-Mitgliedschaft des Bürgermeisters ausgesetzt hat. Alles sah nach einer typischen regionalen Korruptionsgeschichte aus. Im weiteren Verlauf hätte – so das übliche Szenario – eine Untersuchungshaft oder ein Hausarrest und dann eine tätige Reue des Bürgermeisters erfolgen müssen und es wären eine Menge Details darüber in Umlauf gekommen, wie er und seine Untergebenen sich bereichert haben.
Doch Alexejenko widerfuhr nichts dergleichen. Im Gegenteil: Das Video von seiner Festnahme wurde von den Sicherheitsbehörden in den Netzwerken zwei Tage nach seiner Veröffentlichung wieder gelöscht. Der Bürgermeister verschwand zwar aus der Öffentlichkeit, trat aber nicht umgehend zurück. Quellen von Verstka meinen, der Bürgermeister sei von Gouverneur Weniamin Kondratjew gerettet worden, zu dessen Team Alexejenko in den letzten Jahren gehörte. „Kondratjew hat für Alexejenko buchstäblich so etwas wie eine zweite Chance erbeten und sich für ihn gegenüber den Behörden in Moskau verbürgt“, behauptet ein Gesprächspartner von Verstka in der Verwaltung von Krasnodar, ohne genauer zu sagen, um welche Behörden es ging.
Und in der Tat eröffnete sich ihm schon bald eine zweite Chance: Am 19. August schied er offiziell aus dem Amt des Bürgermeisters von Krasnodar aus; bereits am nächsten Tag wurde er zum ersten stellvertretenden Leiter der Militär- und Zivilverwaltung des Gebietes Charkiw ernannt. Zu jener Zeit traten Führungspersonen der Besatzungsverwaltung wie Wladimir Saldo und Jewgeni Balizki vorwiegend in repräsentativer Funktion in Erscheinung. Für die tatsächliche Zusammenarbeit mit den russischen Behörden und die Verwaltung des besetzten Gebietes waren deren erste Stellvertreter zuständig.
In Cherson war das zum Beispiel Sergej Jelissejew, ein ehemaliger FSBler und Vizegouverneur der Oblast Kaliningrad. Für Alexejenko hätte der Posten bedeutet, dass er alle Hebel in der Region Charkiw in die Hand bekommt. Die Streitkräfte der Ukraine eroberten jedoch schon einen Monat später das Gebiet nahezu vollständig zurück. Und Alexejenko blieb nichts, was er noch verwalten könnte.
Alexejenko ist nicht der einzige, der in den „neuen Territorien“ einer Strafverfolgung in Russland entkommt. Der Chef des Bauministeriums der „Volksrepublik Donezk“, Nikolaj Ziganow, ein Verwaltungsbeamter aus der Oblast Leningrad, war einer derjenigen, der von Sankt Petersburg aus den Wiederaufbau von Mariupol leitete. Im „großen Russland“ liefen bereits vor Wirtschaftsgerichten verschiedener Instanzen Bankrottverfahren gegen seine Unternehmen für Immobilienentwicklung namens Premjer-Holding, das nicht beglichene Schulden hat und betrogene Investoren hinterlässt.
Im Gebiet Saporishshja wird die Behörde für Inneres vom ehemaligen stellvertretenden Leiter der Fahndungsabteilung der Moskauer Polizei, Oleg Koltunow, geleitet. Ukrainische Medien berichten, dass seine Versetzung in die besetzten Gebiete darauf zurückzuführen ist, dass Koltunow in Moskau bei ausgiebiger Bestechung erwischt wurde.
Ehemalige und aktive Verwaltungsbeamte, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren, beneiden diese Leuten: „Als ich aus der Untersuchungshaft freikam, setzten sich sofort einige gute Bekannte mit mir in Verbindung die ‚hinter dem Streifen‘ [= „in der Ukraine“ – dek] arbeiten: ‘Komm her, mit deinem Profil kannst du hier arbeiten. Was den Lohn angeht – so einer ist mir in Russland noch nicht untergekommen. Und was die Stelle angeht – nach einer solchen kannst du hier [in Russland] ewig suchen. Ich hatte schon zugesagt, aber meine Familie hat mir abgeraten, schließlich fliegen dort Granaten und Autos gehen in die Luft“, klagt einer von ihnen gegenüber Verstka.
Eine Person aus dem Stab des Bevollmächtigten des Präsidenten im Zentralen Föderalbezirk bestätigte Verstka: „Ein Trip ‚hinter den Streifen‘ setzt deine gesamte Vergangenheit auf null. Sünden, Strafverfahren oder Fehlschläge in der Verwaltung sind dann mit einem Mal vergessen, aber deine Erfahrung behältst du. Das ist eine Chance, aus dem Nichts eine Karriere zu starten. Für einige kann es die einzige Möglichkeit sein, in der Spur zu bleiben oder dorthin zurückzukehren.“
Wie kam Putin zu der Entscheidung, die Ukraine zu überfallen? Welche Schlüsselmomente gab es, und wer hat ihn dabei beeinflusst? Ilja Sheguljow hat darüber mit aktiven und ehemaligen Beamten und Funktionären aus dem Staatsapparat in Russland und der Ukraine gesprochen. In einer aufwändigen und vielbeachteten Recherche auf Verstka rekonstruiert der Journalist, „wie sich das Denken des russischen Staatsoberhauptes entwickelt und in die Tragödie geführt hat“.
Nach den Gouverneurswahlen in der Oblast Moskau im September 2013 sagte einer der Kuratoren des riesigen Stabs von Polittechnologen händereibend: „Gut gemacht, Leute, und jetzt fahrt ihr zum Training in die Westukraine“, erinnert sich ein der russischen Präsidialverwaltung nahestehender Polittechnologe im Gespräch mit Verstka. Ihm zufolge habe vor zehn Jahren noch niemand über „schlechte Chochly [Ukrainer]“ gesprochen: Die russischen Polittechnologen arbeiteten problemlos sowohl mit Viktor Janukowytschs Team als auch mit seinen eher proeuropäisch orientierten Opponenten zusammen. Sie erhielten lukrative Aufträge von allen Seiten und verdienten Geld. „Und was es an Austausch gab zwischen den russischen und ukrainischen Fußballfans, da war echte Freundschaft. Auch die Nationalisten waren untereinander befreundet“, sagt der Gesprächspartner von Verstka.
Es scheint, als hätte der Kreml seine Einstellung zur Ukraine im Februar 2014 innerhalb weniger Tage geändert, kurz bevor Putin eigenmächtig entschied, die Krim zu annektieren. Doch ganz so war es nicht: Aus Augenzeugenberichten geht hervor, dass sich diese Haltung zum Nachbarland schon sehr viel früher im Kopf des russischen Präsidenten formierte.
1. Der erste Versuch, die Ukraine zu spalten: „Unser Hurensohn“
Als Leonid Kutschma [2004 – dek] nach zwei Legislaturperioden aus dem Präsidentenamt schied, bat er Moskau, seinen Nachfolger Viktor Janukowytsch zu unterstützen, was der Kreml mit Eifer tat.
Putin reiste eigens nach Kyjiw und trat im Pendant zum russischen Direkten Draht auf, mit dem einzigen Unterschied, dass ihm nun Ukrainer Fragen stellten (es gingen über 80.000 Fragen ein). Dort äußerte Putin sogar, dass Russland von der Ukraine lernen könne, da das ukrainische Wirtschaftswachstum unter Premierminister Janukowytsch das russische überholt habe.
Auf Moskauer Seite kuratierte die Wahlen Dimitri Medwedew, damals Vorsitzender der Präsidialverwaltung, und auf Kyjiwer Seite der Chef der ukrainischen Präsidialverwaltung Viktor Medwedtschuk. Im selben Jahr wurde Putin Taufpate für dessen Tochter Darja. Damals arbeitete die ukrainische Präsidialverwaltung eng mit Russland zusammen, wobei der russische Polittechnologe Gleb Pawlowski eine Schlüsselrolle in der Vermittlung zwischen den beiden Administrationen einnahm, wie er später zugab. Einer der ersten Schachzüge Moskaus im Vorwahlkampf war eine Karte über „die drei Sorten der Ukraine“, in die Viktor Juschtschenko das Land angeblich aufgeteilt hatte. An dritter und letzter Stelle standen der Süden und Osten der Ukraine.
Doch all das half nichts: Nach den Massenprotesten der Orangen Revolution und der anschließenden Wiederholungswahl wurde 2004 Viktor Juschtschenko Präsident der Ukraine.
Moskau setzte jedoch weiterhin auf die Entzweiung und schließlich Abspaltung der Regionen. Noch auf dem Höhepunkt der Orangen Revolution wurde der Versuch unternommen, den Süden und Osten vom Rest des Landes abzuspalten: In Sewerodonezk fand ein prorussischer Kongress von Deputierten aller Ebenen statt, an der auch Juri Lushkow teilnahm, der Moskauer Bürgermeister war und ein zur damaligen Zeit einflussreicher Politiker. Der damalige Vorsitzende des Donezker Regionalparlaments Borys Kolesnikow forderte ohne Umschweife die Abspaltung von der Ukraine: „Wir schlagen vor, allen hochrangigen Organen der Staatsmacht, die gegen das Gesetz verstoßen haben, unser Misstrauen auszusprechen und einen neuen südostukrainischen Staat in Form einer Föderalrepublik zu gründen. Hauptstadt dieser neuen Republik – und damit die erste wiederhergestellte Hauptstadt der unabhängigen Ukraine – soll Charkiw werden“, sagte Kolesnikow. Doch dazu kam es nicht: Russland entschied sich gegen eine militärische Einmischung in die Angelegenheiten eines souveränen Staates, und ohne Unterstützung wagte es niemand, die Abspaltung voranzutreiben. Auf eine Interview-Anfrage von Verstka antwortete Kolesnikow: „Danke, kein Interesse.“ (Kolesnikows Stiftung unterstützt aktiv die Ukrainische Armee, sein Facebook-Profil ziert eine große ukrainische Flagge).
Anfang 2010 hatte der prowestliche Präsident Juschtschenko einen großen Teil seiner Unterstützer verloren und Janukowytsch die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Diesmal stellten die Wähler das Wahlergebnis nicht massenhaft in Frage.
Gleich nach seinem Amtsantritt unternahm Janukowytsch Schritte, von denen Moskau selbst zu Zeiten des gemäßigten Politikers Kutschma nicht hätte träumen können: Er sprach sich gegen einen NATO-Beitritt der Ukraine aus, initiierte ein Gesetz zum Status der russischen Sprache als Regionalsprache und äußerte den Standpunkt, der Holodomor sei kein Genozid am ukrainischen Volk gewesen, sondern ein allgemeines Problem der sowjetischen Geschichte.
Das Land wurde von einem Präsidenten regiert, der faktisch für uns arbeitete
„Unsere Nachrichtendienste saßen in der ukrainischen Regierung, lenkten das Land und einzelne Unternehmen. Wieso eingreifen, wenn ohnehin alles uns gehörte?“, berichtet ein der russischen Präsidialverwaltung nahestehender Informant. Ihm zufolge war der Plan einfach: Annäherung mit der Ukraine nach dem Vorbild der Annäherung mit Belarus. „Das Land wurde von einem Präsidenten regiert, der faktisch für uns arbeitete“, erklärt der Informant. „So, wie die USA damals auf Kuba Präsident Fulgencio Batista hatten, hatten wir in der Ukraine Janukowytsch. Die Beziehungen waren die gleichen. Selbstverständlich haben wir ihm zugespielt und geholfen. Er war unser Hurensohn.“
Gleichzeitig arbeitete Russland an der diplomatischen Front daran, Europa von einem Anbändeln mit der Ukraine abzubringen. „Russische Diplomaten reisten nach Paris und erklärten, dass wir gegen ein Assoziierungsabkommen [der Ukraine] mit der EU sind, dass es dazu nicht kommen wird und sie damit aufhören sollen“, erzählt ein Informant aus dem engeren Umfeld von Wladislaw Surkow, der von 2013 bis 2019 unter anderem für die Ukraine-Angelegenheiten des Kreml zuständig war. „Sie erklärten, es wäre ein Schlag gegen die ukrainisch-russischen Beziehungen. Das war der Anfang, noch bevor überhaupt die Rede von einer Russki Mir war.“
Janukowytsch lehnte das Assoziierungsabkommen mit der EU ab und gab der Verführung des Kreml nach, einer Zollunion mit Russland beizutreten, was ihm den zweiten Maidan seines Lebens bescherte.
2. Wie Putin sich von Amerika gekränkt fühlte: „Er wurde ausfällig“
Putins Verhältnis zur Ukraine verschlechterte sich parallel zu seinem Verhältnis zum Westen. Schnell wurde der postsowjetische Raum – allen voran Georgien und die Ukraine – für den Kremlchef zum Raum des Machtkampfs.
Der erste Schlag für Putin war die Rosenrevolution in Georgien [2003], als nach Massenprotesten der prowestliche und für Putin unverständliche Kandidat Michail Saakaschwili der neue georgische Präsident wurde. Der zweite und schwerwiegendere Schlag war die Orange Revolution in der Ukraine. „Es ging nicht um das Verhältnis zur Ukraine. Es war ja nicht nur der Maidan, es war ein Bruch mit allen Spielregeln“, erklärt ein Informant, der Putin nahesteht, dessen Logik der Kränkung. Der Kreml nahm das Recht der Bürger, die Regierung ihres Landes durch Kundgebungen und Wahlen zu ändern, nicht ernst und sah solche Aktionen ausschließlich als Resultat einer äußeren Einflussnahme durch den Westen.
Aktionen wie die Orange Revolution sah der Kreml ausschließlich als Resultat westlicher Einflussnahme
Diese Ereignisse mündeten in Putins Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, die vom Westen kritisch aufgenommen wurde. „Er wurde ausfällig, sein Auftritt war politisch inkorrekt“, sagt ein kremlnaher Informant heute. „Der Westen sagte dazu, ja, wie unfreundlich von ihm, er flucht, soll zum Teufel gehen, grober, ungehobelter Mistkerl. Das war in etwa das Ergebnis dieser Rede.“
3. Welche Philosophen den russischen Präsidenten lehrten, gegen die Ukraine zu sein: Die neue Philosophie
Neben dem veränderten Verhältnis zum Westen wurde Putin auch von innenpolitischen Ereignissen beeinflusst. Mit den Protesten von 2012 fing Putin an, sich verstärkt mit der Literatur einer bestimmten Geisteshaltung zu beschäftigen. In kremlnahen Kreisen wurde gemunkelt, Putin würde immer mehr Zeit in Archiven verbringen. Etwa zur selben Zeit wurde eigens eine Arbeitsgruppe in der Präsidialverwaltung gebildet, die Bücher und ausgewählte Texte zu von Putin vorgegebenen Themen zusammenstellte, erzählt ein ehemaliger Polittechnologe des Kreml.
Noch vor den Ereignissen auf dem Bolotnaja-Platz hatte sich Putin für den weißgardistischen Philosophen Iwan Iljin interessiert. Nach den missglückten Protesten vertiefte sich der russische Präsident noch mehr in Texte von Autoren, die Iljins Ansichten teilten. Unter anderem fand er Gefallen an für Wassili Rosanow, einem Religionsphilosophen des frühen 20. Jahrhunderts.
Iljin hatte keinerlei Respekt vor der Ukraine als eigenständigem Staat. „Die Ukraine ist jener Teil Russlands, der am stärksten von Abspaltung und Eroberung bedroht ist“, schrieb der Philosoph 1938 in der Resolution eines Kongresses der Weißen Emigration. „Der ukrainische Separatismus ist eine künstliche Erscheinung, die realer Grundlagen entbehrt. Er entstand aus der Geltungssucht von Rädelsführern und einer internationalen Eroberungsintrige.“
Dort ist alles ganz simpel aufgebaut: Die Ukrainer werden mit List und Manipulation vom Westen herangezüchtet, um ein Anti-Russland zu schaffen
Zitate aus Reden von Iljin, Rosanow und anderen imperial ausgerichteten – auch zeitgenössischen – Autoren, tauchten schließlich auch in Putins öffentlichen Reden auf. „In diesem Pantheon der Götter ist alles ganz simpel aufgebaut“, erläutert ein ehemaliger Technologe aus dem Kremlumfeld das Prinzip: „Die Ukrainer werden mit List, Täuschung, Manipulation und Technologie von den westlichen Staaten herangezüchtet, um ein Anti-Russland zu schaffen. Für Russlands Feinde sind sie die idealen Russen. Der ukrainische Staat wurde innerhalb der UdSSR geschaffen, um der russischen Bevölkerung zu schaden.“
4. Wie Putin entschied, die Krim zu ergreifen: Gepfiffen auf die Folgen
Noch im Januar 2014 hatte Putin nicht vor, die Krim zu annektieren. Das berichten drei Quellen – eine in der Präsidialverwaltung, eine aus dem Umfeld der kremlnahen Polittechnologen und eine aus Putins engerem Kreis. Die Entscheidung fiel spontan im Februar, als der Kreml erkannte, dass die Protestierenden im Zentrum Kyjiws die Regierung Janukowytsch bezwingen würden. Moskau setzte zunächst wieder auf einen Kongress von Deputierten, der zu einer Abspaltung von Teilen der Ukraine führen könnte. Laut einer Quelle aus dem Umkreis von Wladislaw Surkow waren Polittechnologen aus Russland an der Vorbereitung beteiligt. Den Vorsitz des Kongresses der Abgeordneten aus der Südostukraine sollte Janukowytsch persönlich übernehmen. Er war per Hubschrauber überstürzt aus Kyjiw abgezogen und nach Charkiw geflogen.
Im letzten Moment weigerten sich jedoch die Regierenden der Stadt und der Oblast Charkiw, Hennadi Kernes und Mychailo Dobkin, dieses Spiel mitzuspielen. „Als ihnen klar wurde, dass Russland den Zerfall der Ukraine anstrebte, ergriffen sie vehement eine proukrainische Position und verweigerten Janukowytsch ihre Unterstützung“, berichtet ein Mitorganisator des Kongresses. Obwohl Janukowytsch am 22. Februar bereits in Charkiw war, ließ er sich auf der Versammlung nicht blicken – er hatte erkannt, dass der Plan gescheitert war. So waren dort keine Abspaltungsforderungen zu vernehmen; stattdessen riefen Kernes und Dobkin zu Frieden auf und versprachen, die Einheit der Ukraine zu wahren. Die russische Operation war gescheitert. Am selben Tag wurde Janukowytsch von der Werchowna Rada entmachtet.
Putin sagte: ‚Das ist unsere letzte Chance, ich übernehme die Verantwortung‘
In der Nacht vom 22. auf den 23. Februar, nachdem Janukowytsch nun auch aus Charkiw geflohen war, fiel Putins Entscheidung, die Krim zu annektieren. Das geht aus seinen eigenen Schilderungen hervor und wird von Quellen aus seinem Umfeld bestätigt. In Sotschi, wo gerade die Olympischen Winterspiele zu Ende gingen, besprach er sich bis sieben Uhr morgens mit seinen vier engsten Vertrauten aus den Sicherheitsorganen. Wie ein naher Bekannter von Putin berichtet, sollen sie zunächst versucht haben, ihn von seinem Plan abzubringen. „Aber Putin sagte: ‚Das ist unsere letzte Chance, eine weitere wird es nicht geben, ich übernehme die Verantwortung.‘“
Später äußerte ein anderer Vertrauter Putins im Gespräch mit ihm, die Krim-Annexion sei eine Katastrophe und werde schlimme Folgen nach sich ziehen. Putin soll erwidert haben, er pfeife darauf: „Russland hat einen großen Teil seines historischen Territoriums wiederbekommen, und das praktisch ohne Blutvergießen. So etwas hat es seit 1000 Jahren nicht gegeben. Was auch immer geschieht, die Krim wird russisch bleiben.“ Dass die Krim-Annexion in Russland auf solch breite Unterstützung stoßen würde, hatte Putin zunächst nicht erwartet.
Anfang März begannen russische Beamte, inkognito die Krim und die an Russland grenzenden Donbass-Regionen zu besuchen. „Fast aus jedem Ministerium wurde ein Stellvertreter entsandt, um das Terrain zu erkunden“, erinnert sich ein ehemaliger Angehöriger des Regierungsapparats. Die Beamten sollten in Putins Geheimauftrag die künftige „Eingliederung der ukrainischen Regionen in Russland“ vorbereiten. Nach Angaben des Ex-Mitarbeiters ging es in den Regierungsdokumenten nicht nur um die Krim; auch die Kosten eines „Beitritts der Oblaste Donezk, Luhansk und Charkiw“ seien analysiert worden. Doch diese Vorstellungen ließen sich damals nicht realisieren.
Man hatte gedacht, auch die Bevölkerung in Donezk genauso mobilisieren zu können, wie auf der Krim
Einen stringenten Plan zur Eroberung dieser Gebiete gab es nicht. Versuche, Rebellengruppen zu versammeln, gab es unter anderem auch in Odessa und Dnipro. Aber nur in Donezk und Luhansk ging der Plan halbwegs auf. „Das mit dem Donbass war ein Fehler. Man hatte gedacht, auch die Bevölkerung in Donezk genauso mobilisieren zu können wie auf der Krim“, berichtet ein Insider. „Aber der Versuch, das Volk aufzuwiegeln, war nicht besonders erfolgreich.“
Die Abspaltung des Donbass ging nicht auf Putins persönliche Initiative zurück. „Das war eine Aktion von FSB-Leuten, die die Situation ausnutzen wollten und die ganze Sache losgetreten haben“, berichtet ein anderer Informant aus Putins engerem Umfeld. Eine weitere Quelle aus der Präsidialverwaltung bestätigt das: „Die Krim war eine Spezialoperation, der Donbass nicht – es gab Akteure, die zu Putin sagten: Wir sollten eingreifen, eine Gegenkampagne starten. In der Ukraine gibt es prorussische Kräfte, wir dürfen die Leute nicht allein lassen.“ Dazu gehörten der FSB-nahe russisch-orthodoxe Unternehmer Konstantin Malofejew, [Putins Berater] Sergej Glasjew, der bereits seit über einem Jahr ein Netzwerk prorussischer Kräfte in der Ukraine aufbaute, sowie der Geschäftsmann Sergej Kurtschenko aus dem Umfeld von Viktor Janukowytsch. „Jeder spielte sein eigenes Spiel, es gab praktisch niemanden, der diese Aktivitäten koordiniert hätte“, so ein kremlnaher Informant.
Jeder spielte sein eigenes Spiel
Nachdem sich in Donezk und Luhansk separatistische Gruppierungen gebildet hatten, stellte Putin weitere Leute ab, die auf den Prozess einwirken sollten. So beispielsweise Wladislaw Surkow, der sich mit dem Aufbau eines Regierungssystems in den aufständischen Regionen um die politische Seite kümmerte.
Trotz der inoffiziellen Beteiligung russischer Truppen im August 2014 gab es damals weder Pläne noch die Bereitschaft zu einem groß angelegten Krieg. Der Kreml wollte die ukrainische Regierung überlisten. Das Minsker Abkommen kam Moskau dabei entgegen, wie ein ehemaliges Mitglied der Verhandlungsdelegation berichtet: „Putin war persönlich an der Abfassung des Textes beteiligt. Einige Punkte, die den Status und die politische Regulierung betreffen, hat er selbst formuliert.“
Wenn das Minsker Abkommen umgesetzt worden wäre, hätte man den Donbass instrumentalisiert, um die gesamte Ukraine nach seinem Muster umzubauen
Im Weiteren brauchte er dann nur noch zur Umsetzung des Abkommens aufzurufen. „Worin bestand diese Umsetzung? Die Ukraine sollte ein Gesetz zum Sonderstatus der DNR und der LNR erlassen und eine Verfassungsreform durchführen. Die Republiken sollten formell wieder der Ukraine unterstellt werden, samt den beiden Armeekorps und den unter russischer Herrschaft gewählten politischen Organen“, so die Quelle, die auf Seiten Russlands direkt an der Ausarbeitung beteiligt war. „Das alles sollte legalisiert werden. Damit würde es in der Ukraine zwei Fremdkörper geben, die sich Kiew nicht unterordnen. So war es im Minsker Abkommen vorgesehen. Wenn es umgesetzt worden wäre, hätte man den Donbass instrumentalisiert, um die gesamte Ukraine nach seinem Muster umzubauen. Das war der Plan.“
Aus Putins Sicht – so eine weitere Quelle aus seinem Umfeld – hatte er den damaligen ukrainischen Präsidenten Poroschenko schlicht übertölpelt: „Erst Wahlen, dann die Wiederherstellung der Kontrolle über die Grenzen, nicht umgekehrt. Damit war klar, wer bei diesen Wahlen gewinnen würde. Poroschenko kam es in diesem Chaos darauf an, den Krieg zu beenden, die Einzelheiten hat er nicht durchschaut.“ Der Kreml fror den Konflikt ein. Ende 2014 wurden die aggressivsten und militantesten Kräfte in den beiden separatistischen Donbass-Republiken ausgeschaltet oder ins Abseits gedrängt. Die Präsidialverwaltung stellte die Kriegsrhetorik für lange Zeit ein.
Bei Besprechungen sei oft der Satz gefallen: ,Putin will die ganze Ukraine.‘ Doch das habe niemand ernst genommen
„Niemand, der mit dem Kreml zusammenarbeitete, nahm das Wort ‚Krieg‘ in den Mund. Man hatte das Gefühl, der Krieg sei vorbei, die Regierung hatte ja auch den eigenen Bürgern erklärt, Russland wolle keinen Krieg“, erinnert sich ein Politologe, der damals für den Kreml tätig war. Zugleich, sagt er, sei bei Besprechungen oft der Satz gefallen: „Putin will die ganze Ukraine.“ Doch habe das niemand ernst genommen: „Wollen kann einer ja vieles.“ Einer anderen Quelle zufolge war der Konflikt um die selbsternannten Volksrepubliken im Donbass gerade deshalb von Nutzen, weil er auf niedriger Flamme köchelte: „Er schwelte vor sich hin und konnte nicht erlöschen, weil das in niemandes Interesse lag. Er ernährte alle und eröffnete ihnen politische Perspektiven.“
Der Konflikt im Donbass konnte nicht erlöschen, weil das in niemandes Interesse lag. Er ernährte alle und eröffnete ihnen politische Perspektiven
Dass Putin selbst keinesfalls vorhatte, das Thema Ukraine auf sich beruhen zu lassen, konnte man in den folgenden Jahren an den Politsendungen im russischen Staatsfernsehen ablesen: „Es gab einen Haufen Probleme, es war viel los in der Welt. Aber diese Idioten haben ständig über die Ukraine geredet“, erzählt eine Quelle aus Putins Umgebung. „Nicht über Syrien oder das missliebige Amerika, sondern über die Ukraine. Sie stand nicht auf der Tagesordnung, aber es war dauernd die Rede von ihr.“ Der Quelle zufolge könne das nicht eine fixe Idee des Fernsehkurators der Präsidialverwaltung gewesen sein, sondern war definitiv eine Anweisung von ganz oben.
Putin suchte weiter hartnäckig nach Verbindungen zwischen der Ukraine und den USA. „Er war überzeugt, dass die Ukraine faktisch durch die NATO und die USA kontrolliert wird“, sagt ein Informant aus seinem damaligen Umkreis.
5. Warum Putin sich von Selensky gekränkt fühlte: Der Friedensstifter des Krieges
2019 gewann überraschend Wolodymyr Selensky die Präsidentschaftswahl. Er hatte so vielfältige Beziehungen zu Russland wie wohl keiner seiner Vorgänger. Als einziger ukrainischer Präsident hatte er sogar eine Zeit lang in Moskau gelebt, als er in der russischen TV-Show KWN mitwirkte. Zum Jahreswechsel 2013/2014 hatte er gemeinsam mit dem russischen Komiker Maxim Galkin die Neujahrsshow des TV-Senders Rossija 1 moderiert.
Mit seiner Wahlkampfrhetorik, man müsse mit Putin eben eine Lösung finden, und dem Versprechen von Frieden in der Ukraine, erregte er höchstes Misstrauen bei entschiedenen Gegnern einer Annäherung an Russland und vorsichtigen Optimismus in Moskau. Beim ersten Telefonat mit Selensky gab sich Putin respektvoll. „Man merkte, dass er Berührungspunkte finden wollte“, erzählt der ehemalige Leiter des ukrainischen Präsidialamts, Andrij Bohdan.
Selensky schlug in dem Gespräch vor, seinen Assistenten Andrij Jermak zum neuen Unterhändler bei den Donbass-Verhandlungen zu machen. Diese Funktion hatte bisher Putins persönlicher Freund Viktor Medwedtschuk innegehabt. Einer Quelle aus dem Umkreis der russischen Präsidialverwaltung zufolge meinte Selensky, dass Medwedtschuk „einfach Geld scheffelt, seine Beziehungen nutzt, um Kohle zu machen.“
Putin ging davon aus, er könne den politischen Neuling Selensky leicht austricksen
Der Kreml gab damals nach und ließ Medwedtschuk ersetzen. „Er [Selensky] war offensichtlich begabt und lernfähig. Und er ging mit der recht naiven Vorstellung an die Sache heran, er werde jetzt mit Putin vernünftig über alles reden“, erzählt eine Quelle aus dem Umfeld der russischen Regierung. „Natürlich war er nicht proamerikanisch, er war proukrainisch. Und er wollte aufrichtig etwas Gutes bewirken.“ Wie drei Quellen übereinstimmend berichten, wollte Selensky die Beziehungen mit Moskau tatsächlich erneuern. Sein Team wandte sich an verschiedene Personen, um Rat einzuholen, wie das am besten anzugehen sei. So rief etwa Jermak Alexander Woloschin an, den ehemaligen Leiter der russischen Präsidialverwaltung. Auch Putin erwartete eine mögliche Einigung mit Selensky. Er ging davon aus, den politischen Neuling leicht austricksen und endlich die Umsetzung des Minsker Abkommens erreichen zu können, was für Russland einem großen Sieg gleichgekommen wäre.
Als Putin im Dezember 2019 nach Paris reiste, war er sicher, dass nun endlich Bewegung in die seit Jahren festgefahrene Angelegenheit kommen würde. Doch mit Selensky gestalteten sich die Verhandlungen noch schwieriger als mit seinem Vorgänger. Er verweigerte die Durchführung von Wahlen im Donbass vor der Wiederherstellung der Kontrolle über die Grenzen, und Mitglieder seiner Delegation versuchten sogar, den entscheidenden Absatz des Minsker Abkommens dahingehend zu revidieren, dass der Donbass-Region kein dauerhafter, sondern nur ein vorübergehender Sonderstatus zuerkannt werden sollte. Surkow, der an den Friedensverhandlungen teilnahm, drohte damit, sie ganz abzubrechen. Nach Angaben eines ukrainischen Ministers war er kurz davor, mit den Fäusten auf Andrij Jermak loszugehen, brüllte und stampfte mit den Füßen.
Putin war von seinen Höhen herabgestiegen, um die Kapitulation der Ukraine entgegenzunehmen, und fand sich nun faktisch in der Rolle der sitzengelassenen Braut wieder
Putin hatte mit einem warmen Empfang gerechnet und eine kalte Dusche bekommen. „Er war von seinen Höhen herabgestiegen, um die Kapitulation der Ukraine entgegenzunehmen, und fand sich nun faktisch in der Rolle der sitzengelassenen Braut wieder“, so die Einschätzung Olexander Charebins, der in Selenskys Wahlkampfteam an der Erarbeitung der außenpolitischen Strategie mitgewirkt hatte. „Selensky und seine Delegation waren besser vorbereitet als erwartet. Der große Zar der gesamten Rus stand auf einmal fast als Witzfigur da.“ Selensky trug seinen Teil dazu bei. Als Putin auf der Pressekonferenz sagte, es sei ein Dokument zur strikten Einhaltung des Minsker Abkommens angenommen worden, wiegte Selensky lächelnd den Kopf, und bei der Erwähnung des Sonderstatus zeigte er sich unverhohlen erheitert und hielt sogar die Hand vor den Mund, um nicht laut loszulachen. „Das kam für alle überraschend und zum ersten Mal so offenkundig“, so der ukrainische Berater Charebin. „Es war praktisch eine öffentliche Ohrfeige für Putin. Und diese Erfahrung war womöglich traumatisch für ihn.“ Am Gesichtsausdruck des russischen Präsidenten ließ sich ablesen, dass er die gemeinsame Pressekonferenz nur mit Mühe ertrug. Er würdigte Selensky keines Blickes und blätterte immer wieder in seinen Unterlagen. Selensky und Putin sind seither nie mehr zusammengetroffen, und Surkow wurde zwei Monate später als Beauftragter für die Ukraine und die Donbass-Region entlassen. Nach dem Pariser Desaster setzte der Kreml nun auf Soft Power – und sein wichtigster Gewährsmann wurde Viktor Medwedtschuk.
6.Wann die Kriegsentscheidung fiel: Das Fass läuft über
Mit Medwedtschuk, dem ehemaligen Leiter der Präsidialverwaltung unter Kutschma, war Putin auch nach dessen Abgang aus der Politik in Verbindung geblieben. 2012 kam Putin zu einem Treffen mit dem damaligen Präsidenten Janukowytsch vier Stunden zu spät und stattete Medwedtschuk danach demonstrativ einen Besuch zu Hause ab. Dieser führte ihm beim Abendessen seine Aqua-Disco vor – bunte Springbrunnen, deren farbige Beleuchtung im Rhythmus der Musik wechselte. „Dort wurden professionelle Aufnahmen gemacht, nicht von einem Paparazzo, sondern ganz offen von einem persönlichen Kameramann“, erinnert sich der Fernsehmoderator Jewgeni Kisseljow im Gespräch mit dem Autor. Die Bilder von Putin und Medwedtschuk wurden im ukrainischen Fernsehen gezeigt.
Nach 2014 war Medwedtschuk aufgrund seiner großen Nähe zu Moskau für die Organisation der Verhandlungen der Trilateralen Kontaktgruppe und für den Gefangenenaustausch zuständig gewesen. Gegen Ende von Poroschenkos Amtszeit erwarb Taras Kosak, ein Mitstreiter Medwedtschuks, drei TV-Nachrichtensender. Sie sollten später zum Anlass für einen Konflikt zwischen Medwedtschuk, der in der Ukraine als wahrer Eigentümer der Sender galt, und Selensky werden.
Die Sender verbreiteten die prorussischen Ansichten ihrer Eigentümer. Laut Medienexperte Otar Dowshenko behauptete die dort ausgestrahlte Propaganda, „es habe keinen Angriff auf die Ukraine gegeben, es herrsche ein Bürgerkrieg, an dem die Ukraine selbst schuld sei, sie müsse sich nur zur Freundschaft mit Russland entschließen, die Krim habe sich selbst abgespalten, weil sie nicht wertgeschätzt worden sei, auf dem Maidan habe ein bewaffneter Putsch stattgefunden“. Zugleich wurde auf diesen Sendern immer wieder Selenskys Politik kritisiert. Steigende Wohnkosten und soziale Probleme waren ein ständiges Thema. Selenskys Umfragewerte gingen zurück, dafür stieg die Beliebtheit von Medwedtschuks Partei Oppositionsplattform – Für das Leben. Im Oktober 2020 belegte sie bei den Regionalwahlen in sechs Regionen den ersten Platz und überholte Selenskys Partei Diener des Volkes. Selbst nach Beginn des umfassenden Krieges sollte Selensky auf diese Ereignisse zurückkommen. In seinem ersten Interview mit russischen Journalisten, das Ende März 2022 während der Kämpfe um Mariupol stattfand, sprach er lange darüber, wie Medwedtschuk in den Regionen gesiegt hatte.
Im Februar 2021 wurde eine Sonderoperation zur Ausschaltung Medwedtschuks unternommen. Sie richtete sich gegen die Sender 112 Ukraine, NewsOne und ZIK und ihren Eigentümer, Taras Kosak. Selensky erklärte, die Sender verbreiteten antiukrainische Propaganda und behinderten die Integration der Ukraine in die EU. Sie wurden mit einem Sendeverbot belegt, das auf einer kurzfristig anberaumten Sitzung des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates beschlossen wurde. Das Präsidialamt erklärte damals, die drei Sender würden als „Instrumente fremder, ausländischer Propaganda in der Ukraine“ eingesetzt. Mychailo Podoljak, der den Leiter des Präsidialamts berät, ergänzte, sie würden für die „Besatzer“ arbeiten. Zugleich hieß es, es gebe „Fragen“ zur Finanzierung der Sender. Selensky hatte bereits anderthalb Jahre zuvor erklärt, er wisse, aus welchem Land sie finanziert würden, und Iwan Bakanow, Chef des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU, hatte von einer „antiukrainischen Informationskampagne des Angriffsstaates“ gesprochen.
Auch gegen Medwedtschuk persönlich wurden Sanktionen verhängt. Der SBU setzte ihn und seine Frau auf seine Rechercheliste zur Finanzierung von Terrorismus. Am 11. März 2021 führten der SBU und die ukrainische Steuerbehörde einen Sondereinsatz in Objekten des Tankstellennetzes Glusco durch, das ebenfalls mit der Familie Medwedtschuks in Verbindung gebracht wird.
Als sie Medwedtschuk die Sender wegnahmen, hat das Putin richtig in Rage versetzt
Die Zerschlagung von Medwedtschuks Medien und die „Schikanen“ gegen ihn gaben den endgültigen Ausschlag für Putins Entscheidung zu einer Militäroperation, wie drei Quellen aus seinem Umkreis bestätigen. Der Kreml setzte nun nicht mehr auf Soft Power.
„Als sie Medwedtschuk die Sender wegnahmen und seiner Partei die Luft abdrückten, hat das Putin richtig in Rage versetzt“, so ein langjähriger Bekannter des russischen Präsidenten. „Er fühlte sich persönlich angegriffen. Medwedtschuk und seine Sender waren eine Art Brückenkopf, sie standen für die Hoffnung auf eine politische Lösung der Situation. Und da fängt die Ukraine an zu eskalieren. Ach, ihr wollt auf die Pauke hauen? Ihr wisst wohl nicht, mit wem ihr euch da anlegt!“
Medwedtschuk hat Märchen erzählt, das Geld eingesackt, das er für die Organisation des politischen Widerstands erhielt, und Putin blindlings in die Irre geführt
Zu Putins Entschluss trug auch bei, dass Medwedtschuk ihm immer wieder erzählt hatte, wie stark die Unterstützung für seine Person und die prorussische Stimmung in der Ukraine sei. „Er hat Märchen erzählt, das Geld eingesackt, das er für die Organisation des politischen Widerstands erhielt, und nicht gedacht, dass das jemals auf den Prüfstand gestellt werden würde“, erinnert sich eine Quelle aus dem Umkreis der Präsidialverwaltung. „Er hat erzählt, wie loyal die Territorien seien, und Putin blindlings in die Irre geführt.“
Im Kreml zweifelte man nicht an Medwedtschuks Darstellung. „Anstatt das nachzuprüfen und zu erkennen, dass sie hier ganz offensichtlich nicht erwünscht sind, haben sie sich von Kränkung und Zorn verblenden lassen“, sagt der ukrainische Politikberater Charebin. Allerdings, so eine Quelle aus Medwetschuks Bekanntenkreis, habe dieser nicht ahnen können, dass Putin aufgrund seiner Angaben beschließen würde, mit einer kleinen Spezialoperation schnell mal die Regierung in Kyjiw auszutauschen. Putin habe ernsthaft damit gerechnet, in der gesamten Ukraine Unterstützung zu finden, ganz wie sein Vertrauter es ihm erzählt hatte. „Für Medwedtschuk war Putins Entscheidung zum Krieg die denkbar katastrophalste Entwicklung“, sagt jemand aus dem Umfeld des russischen Präsidenten.
Putin hatte sich vor seiner Entscheidung nicht mit Medwedtschuk beraten – und auch mit niemandem sonst. Der einzige, mit dem er ständig Kontakt hielt , war sein Freund Juri Kowaltschuk. Wie zwei Quellen bestätigen, hatte Kowaltschuk einen bedeutenden Anteil an Putins Entschluss zur Spezialoperation. Während der Pandemie hielt er sich als Einziger ununterbrochen in der Residenz des Präsidenten auf, um nicht in Quarantäne zu müssen. Kowaltschuk hat nie ein Hehl aus seiner antiwestlichen Einstellung gemacht. Möglicherweise hat er Putin die Schriftsteller nähergebracht, die dieser ab den 2010er Jahren zu studieren begann. Laut einem Bericht der Zeitung The Wall Street Journal führten die beiden Männer ab März 2020 stundenlange Gespräche über den Konflikt mit dem Westen und Russlands Geschichte. Auch die von Verstka befragten Quellen bestätigen das: „Putin hatte damals nur wenig Umgang mit besonnenen Menschen. Er vermied nach Möglichkeit jede Begegnung, und wenn es doch dazu kam, waren die Leute nach der zweiwöchigen Quarantäne so abgestumpft, dass kein normales Gespräch möglich war. Außerdem lässt sich aus fünfzehn Metern Abstand keine vertrauliche Unterredung führen.“
Putin hatte damals nur wenig Umgang mit besonnenen Menschen
Laut einer kremlnahen Quelle war es Kowaltschuk, der Putin davon überzeugte, Europa sei von Widersprüchen zerrissen und der Zeitpunkt sei ideal für eine schnelle Operation.
Der Entschluss zur Vorbereitung der Operation fiel ein Jahr vor Beginn des Krieges, Ende Februar/Anfang März 2021. Schon im April fanden an den Grenzen der Ukraine die ersten Drohmanöver statt.
Die Vorbereitung unterlag strengster Geheimhaltung. Trotzdem war die Möglichkeit eines Krieges schon ab Sommer ein gängiges Thema im näheren Umkreis des Kreml. Am 12. Juni 2021 wurde auf der Kreml-Website Putins ArtikelÜber die historische Einheit der Russen und Ukrainer veröffentlicht. Nach den Informationen, die Verstka vorliegen, war der Artikel viele Male geändert worden. Eine Version enthielt eine offene Drohung mit einer möglichen Militärintervention, die jedoch nicht in die Endfassung einging.
Laut einem Bericht des britischen Forschungsinstituts RUSI (Royal United Services Institute for Defence and Security Studies) vom 29. März 2023 begann der FSB ab Juli 2021 mit den Vorbereitungen zur Besetzung der Ukraine. Zu diesem Zweck wandelte man das 9. Referat des Ressorts für operative Information in eine vollwertige Abteilung um und erweiterte den Stab von zwei Dutzend Beschäftigten auf über zweihundert. Sie wurden in Sektionen aufgeteilt, die sich um die einzelnen Regionen der Ukraine kümmern sollten. Eine thematische Sektion befasste sich mit dem Parlament der Ukraine, eine weitere mit ihrer kritischen Infrastruktur.
Drei Monate vor dem Krieg wurde bereits besprochen, wie die Ukraine unter den Großkonzernen aufzuteilen sei
Eine Quelle aus dem Umkreis der Präsidialverwaltung berichtet, auf der Tagung des Waldai-Klubs im Oktober 2021 habe ein dort anwesender Repräsentant der staatlichen Machtorgane in privaten Gesprächen bestätigt, dass die westlichen Befürchtungen, Russland plane einen Krieg, nicht unbegründet seien: „Es stimmt, wir wollen in der Ukraine einen Regimewechsel herbeiführen.“ Dabei sei explizit von militärischen Mitteln zur Erreichung dieses politischen Ziels die Rede gewesen. Einer weiteren Quelle zufolge wurde bereits drei Monate vor dem Krieg, im Dezember 2021, besprochen, wie die Ukraine unter den Großkonzernen aufzuteilen sei. In jeder Region der Ukraine sollte jeweils ein russisches Staatsunternehmen oder ein kremlnahes Privatunternehmen für die Entwicklung zuständig sein. Eine Woche vor Beginn der Invasion tagte der nichtöffentliche Expertenrat für Außen- und Verteidigungspolitik, ein einflussreiches Gremium, das dem Außenministerium nahesteht. Ein kremlnaher Politologe erklärte dort offen, im Laufe der kommenden Woche werde eine Spezialoperation starten, um einen Regimewechsel in Kyjiw herbeizuführen; sie werde nicht lange dauern.
Putin glaubte tatsächlich, dass sich ein Austausch der Kyjiwer Regierung schnell und schmerzlos bewerkstelligen lassen würde. Kowaltschuk hatte ihn von der Schwäche des Westens überzeugt, und Medwedtschuk hatte ihm eingeredet, die Ukraine sei schwach und werde sich loyal verhalten.
Putin glaubte tatsächlich, dass sich ein Austausch der Kyjiwer Regierung schnell und schmerzlos bewerkstelligen lassen würde
Eine einfache Rechnung genügt, um zu erkennen, dass kein langer Krieg vorbereitet wurde: „Man kann ein Land mit 44 Millionen Einwohnern doch nicht mit 160.000 Soldaten erobern“, staunt eine Quelle, die dem politischen Flügel der Präsidialverwaltung nahesteht. „Wer eine solche Operation mit so wenigen Streitkräften beginnt, zählt darauf, dass in der Ukraine massenhaft russlandtreue Kräfte kollaborieren. Und unter dieser Annahme wurde die Aktion in Angriff genommen, geplant und ausgearbeitet.“
Die Quellen berichten, dass viele Vertreter der Sicherheitsorgane – wie schon bei der Krim-Annexion – gegen die Invasion gewesen seien. Davon zeugen sowohl der Brief des Generalobersten und Vorsitzenden der Allrussischen Offiziersversammlung, Leonid Iwaschow, als auch Publikationen aus dem Umfeld des Verteidigungsministeriums.
Verteidigungsminister Schoigu hatte allerdings nichts gegen Putins Entscheidung einzuwenden und zeigte sich sogar erfreut. „Ihm war nicht klar, in welchem Zustand die Armee war, und er fand die Sache interessant. Er glaubte, Putin wisse mehr als er selbst, und dachte tatsächlich, es würde nicht viel schlimmer kommen als bei der Annexion der Krim“, berichtet ein alter Freund Putins. Die restlichen Eliten wurden am Tag des Einmarschs vor vollendete Tatsachen gestellt.
„Das ist ein merkwürdiger Krieg, praktisch die gesamte Elite ist dagegen. Ich spreche mit hochrangigen Leuten in Russland, in den obersten Machtetagen gibt es niemanden, der dafür wäre. Aber sie begreifen, dass sie im Team arbeiten müssen“, sagt ein ehemaliger Beamter des Kreml unter Berufung auf private Gespräche mit russischen Regierungsvertretern.
Denen, die das nicht begreifen wollen, wird klargemacht, dass sie es müssen. Nach Angaben einer Quelle suchte ein „hoher Beamter“ der Staatsduma im Frühling 2022 den Kreml-Beauftragten für die Innenpolitik, Sergej Kirijenko, auf und sagte, er könne nicht mehr und wolle aufhören. „Am nächsten Tag bekam seine Frau Besuch vom FSB, und bei seinem Sohn, der ein Unternehmen hat, tauchten Uniformierte auf. Nach einer Woche ging der Beamte wieder zu Kirijenko und sagte, er habe es sich anders überlegt.“ „Gut so“, habe Kirijenko lächelnd erwidert, um dann zur Besprechung des Tagesgeschäfts überzugehen.
Bei einem Propaganda-Konzert im Moskauer Lushniki-Stadion am 22. Februar 2023 erscheint ein 15-jähriges Mädchen auf der Bühne. Sie heißt Anja Naumenko und kommt aus dem ukrainischen Mariupol. Sie ringt sichtlich um Fassung und sagt schließlich in Richtung eines russischen Soldaten: „Danke an Onkel Juri, dass er mich und meine Schwester und hunderttausende Kinder aus Mariupol gerettet hat.“ Auf der Bühne steht auch ihre jüngere Schwester Karolina, die sich wegen des Stadionlärms die Ohren zuhält.
Durch die Sozialen Medien stürmte sogleich eine Welle der Entrüstung und Fassungslosigkeit, das alles sei eine absolut zynische Instrumentalisierung leidgeprägter, traumatisierter Kinder – schließlich hatte die russische Armee Mariupol im vergangenen Jahr durch wochenlangen Beschuss weitgehend zerstört und dabei tausende Zivilisten getötet. Darunter auch die Mutter von Anja und Karolina, wie iStories später in einer Recherche feststellte.
„[Sie haben gesagt:] ,Wer braucht euch denn in der Ukraine? Wir bringen euch ins Heim, dort werdet ihr schon alles verstehen‘“, berichtet ein Junge, den Russland nach Angaben der ukrainischen NGO Save Ukraine aus dem teilbesetzten Gebiet Cherson entführt hatte und der nun mit 16 weiteren deportierten ukrainischen Kindern in die Heimat zurückkehren konnte. Ukrainische Behörden sprechen von aktuell über 19.000 Kindern, die Russland verschleppt haben soll.
Das Thema erhielt aktuell neue Aufmerksamkeit durch den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, der sich nicht nur gegen Wladimir Putin richtet, sondern auch gegen Maria Lwowa-Belowa, die offizielle Beauftragte des Präsidenten für Kinderrechte in Russland. Der Strafgerichtshof sieht sie als mutmaßliche Kriegsverbrecherin, die für die Deportation ukrainischer Kinder verantwortlich ist. Zu den Kriterien für einen Genozid an einer Volksgruppe zählt die UN-Völkermordkonvention von 1948 unter anderem die „gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe“.
Anna Ryshkowa und Regina Gimalowa haben sich intensiv mit dem Werdegang von Lwowa-Belowa befasst. Auf Verstka (Wjorstka) zeichnen sie das ausführliche Porträt einer Frau, die unter Putin eine erstaunliche Karriere hingelegt hat und das Image einer liebevollen Fürsprecherin des Kindeswohls pflegt.
Am 27. Oktober 2021 traf sich Maria Lwowa-Belowa per Videocall mit Wladimir Putin. Am Vortag hatte sie ihr Amt als Beauftragte für die Rechte des Kindes angetreten, das zuvor ihre langjährige Freundin Anna Kusnezowa innehatte. Bei dem Treffen trug Lwowa-Belowa einen zartrosa Blazer mit einer Blumenbrosche – und begann ihre Rede mit der Bemerkung, dass sie sich bereits seit über 15 Jahren für die Rechte von Kindern einsetze. Da fragte Putin sie nach ihrem Privatleben:
„Wie viele Kinder haben Sie denn?“ „Neun, fünf leibliche und vier Pflegekinder, dazu noch die Vormundschaft für 13 Jugendliche mit Behinderung.“ „Wie schaffen Sie das nur alles? Ich meine, auch noch Ihr soziales Engagement.“ „So sind kinderreiche Mütter eben – Multitasking-Talente.“
Am 9. März fand ihr nächstes Gespräch statt. Da wütete bereits seit über zwei Wochen Krieg. Seit Beginn der Kämpfe kümmerte sich die neue Ombudsfrau um die Ausfuhr ukrainischer Kinder – sie wollte sie „vor den Beschüssen in Sicherheit bringen“ und „ihnen eine Zukunft geben“. Anfang März waren bereits über tausend Waisenkinder nach Russland verbracht worden. „Der Präsident hatte betont, dass jedes außer Landes gebrachte Kind die Chance haben muss, eine Familie zu finden“, schrieb Lwowa-Belowa damals auf Telegram.
Neun Monate nach Kriegsbeginn gibt sie zu, dass sie, kaum hatte sie ihr Amt angetreten, sofort „mittendrin“ war: „Die Spezialoperation begann, der Donbass, das alles … Ich schäme mich nicht für dieses Jahr, denn mein Team und ich haben nicht nur 100 Prozent, wir haben 150 Prozent gegeben.“
Zu diesem Zeitpunkt steht die Staatsbeamtin bereits auf sieben internationalen Sanktionslisten – wegen der Organisation illegaler Transporte von Minderjährigen aus besetzten ukrainischen Gebieten nach Russland.
1. Die Ernennung anstelle der Freundin
„Besserer Background, mehr Kinder“
Als Maria Lwowa-Belowa das Amt der Kinder-Ombudsfrau antrat, hatte sie es schon ins Präsidium des Generalrats von Einiges Russland geschafft, hatte bei den Wahlen für die Stadtduma von Pensa kandidiert und auf einem Senatorenposten gesessen. Ihre Biografie sah für jedes staatliche Amt ideal aus: verheiratet mit einem Priester, Wohltäterin, kinderreiche Mutter mit Erfahrung als Pflegemutter.
Lwowa-Belowas Biografie sah für jedes staatliche Amt ideal aus: verheiratet mit einem Priester, Wohltäterin, kinderreiche Mutter mit Erfahrung als Pflegemutter
„Als Anna Kusnezowa [im September 2021 in die Staatsduma] gewählt wurde, sollte sie eine Nachfolgerin vorschlagen“, sagt eine Quelle gegenüber Verstka. „Offenbar sollte es eine ganz ähnliche Person sein. Also nahmen sie Lwowa-Belowa.“
Ein weiterer Zeuge von Lwowa-Belowas Ernennung erzählt Verstka, dass ihre Kandidatur aktiv von der Russisch-Orthodoxen Kirche gefördert wurde – im Vergleich zu Anna Kusnezowa habe sie „einen besseren Background und mehr Kinder“.
2. Der Weg zur Macht: Musik, Kirche und Wohltätigkeit
„Es ist nicht richtig, sein Leben nur den eigenen Kindern zu widmen“
Geboren und aufgewachsen ist die zukünftige Beamtin in Pensa. Als ausgebildete Orchesterdirigentin für Unterhaltungsmusik unterrichtete sie an Musikschulen und an der Hochschule für Kultur und Kunst Gitarre.
Mit 19 Jahren heiratete Maria Pawel Kogelman, von Beruf Programmierer und außerdem Gemeindemitglied einer Kirche in Pensa. Er verliebte sich in seine zukünftige Ehefrau, als er sie im Chor singen sah. Pawel wünschte sich viele Kinder. Damit hatte er Lwowa-Belowas Herz sofort erobert. Denn wenn sie jemanden kennenlernte, der weniger als drei Kinder wollte, so ihre Worte, traf sie ihn kein zweites Mal.
Das erste Kind bekam das Paar 2005. Zwei Jahre später kam das zweite.
Ich glaube, es wäre nicht richtig, sein ganzes Leben nur den eigenen Kindern zu widmen
2008 erfuhr Maria von der Station für ungewollte Kinder im städtischen Kinderkrankenhaus. Damit begann ihre Karriere im NGO-Bereich. „Wir besuchten die Kleinen, badeten sie und lasen ihnen Märchen vor, stellten die eigenen Kinder hintan. Das klingt vielleicht hart, aber ich glaube, es wäre nicht richtig, sein ganzes Leben nur den eigenen Kindern zu widmen. Eine Frau braucht auch andere Aufgaben“, sagte die Staatsbeamtin in einem Interview.
Aus dieser Wohltätigkeitsinitiative heraus entstand Lwowa-Belowas erste gemeinnützige Organisation: Blagowest (dt.Glockenton). Maria Lwowa-Belowa und Anna Kusnezowa kümmerten sich fortan gemeinsam mit ihren Gatten um die Resozialisierung von Waisenkindern. Doch die beiden zukünftigen Staatsbeamtinnen zerstritten sich, Kusnezowa verließ das Projekt, und der Verein wurde bald nach seiner Gründung wieder aufgelöst. Laut Lwowa-Belowa war das Zerwürfnis allerdings rein beruflich – bei einem von Kusnezowas Kindern wurde sie sogar Taufpatin.
„Die beiden waren ganz normale Mädchen, nur ein wenig orthodox“, erinnert sich im Gespräch mit Verstka Oleg Scharipkow, Geschäftsführer des Fonds Grashdanski sojus (dt. Bürgervereinigung) in Pensa. „Nach diesem Streit scheint zwischen ihnen irgendeine dämliche Konkurrenz ausgebrochen – wer die meisten Kinder bekommt, wer die meisten Kerzen aufstellt, wer den Präsidenten am häufigsten trifft.“
Es scheint irgeneine dämliche Konkurrenz ausgebrochen – wer die meisten Kinder bekommt, wer die meisten Kerzen aufstellt, wer den Präsidenten am häufigsten trifft
2014 trat Kusnezowa der Allrussischen Volksfront bei und wurde bald Leiterin der Bewegung Materi Rossii (dt. die Mütter Russlands). Zur selben Zeit gründete Lwowa-Belowa in Pensa ihr erstes großes Projekt Kwartal Lui – ein Rehabilitationszentrum, in dem Menschen mit Behinderung, die im Kinderheim aufgewachsen sind, auf ein eigenständiges Leben vorbereitet werden und nicht in neuropsychiatrischen Internaten landen. Für dieses Projekt bekam Lwowa-Belowa 400.000 Rubel vom regionalen Arbeitsministerium.
2016 wurde Anna Kusnezowa zur Beauftragten für die Rechte von Kindern ernannt. Von da an ging Lwowa-Belowas Karriere genau wie die staatliche Finanzierung ihrer Projekte steil nach oben. Lwowa-Belowa eröffnete weitere Reha-Zentren – größere und teurere.
Ihr neues Projekt Dom Veroniki (dt. Veronikas Haus, ein Pensionat für junge Menschen mit schwerer Behinderung) wurde mit rund 27 Millionen Rubel gefördert – von der Regierung der Oblast Pensa, dem Fonds des bevollmächtigten Vertreters im Föderationskreis Wolga und der Stiftung des Präsidenten. In der Folge ließ Lwowa-Belowa ein ganzes Viertel für Kinder und Jugendliche mit Behinderung bauen – Art-Pomestje Nowyje berega (dt. Kreativ-Dorf Neue Ufer).
Ihre Bemühungen trugen auch für die Wohltäterin selbst reiche Früchte
Ihre Bemühungen trugen auch für die Wohltäterin selbst reiche Früchte. 2016 wurde sie von der Russisch-Orthodoxen Kirche mit dem Orden dritten Ranges des Heiligen Apostelgleichen Großfürsten Wladimir ausgezeichnet. 2017 wurde sie Mitglied der Gesellschaftskammer der Russischen Föderation. Und bei den Präsidentschaftswahlen 2018 war sie Vertrauensperson von Wladimir Putin.
Im November 2019 fand Lwowa-Belowa ihren Platz im Präsidium des Generalrats von Einiges Russland. Gleichzeitig beendete ihr Mann Pawel Kogelman seine Karriere als Programmierer und wurde Priester. Lwowa-Belowa befürchtete, sich nun einschränken zu müssen. Aber sie musste, wie sie sagt, nur „ein paar Miniröcke wegwerfen“. In weiterer Folge wurde Pawel Vorsteher der Kirche, die im Art-Pomestje Nowyje berega gebaut wurde.
Bald übernahm Lwowa-Belowa das Amt der Senatorin im Föderationsrat der Oblast Pensa und gleichzeitig die Vormundschaft für weitere acht Jugendliche mit intellektuell-kognitiver Beeinträchtigung.
3. Politik: Kompromisse
„Schweigen oder Zustimmen“
Lwowa-Belowa hatte wiederholt betont, dass sie die Waisenkinder vor einer Unterbringung in neuropsychiatrischen Internaten bewahren möchte. Die aktive Kampagne eines gemeinnützigen Vereins gegen den Bau geschlossener Anstalten unterstützte sie jedoch öffentlich nicht. Sie ignorierte auch einen Brief an Putin, den 115 Vertreter von NGOs unterzeichnet hatten, die Menschen mit Behinderung unterstützen.
Mascha hat immer eher geschwiegen – dieser Charakterzug trat bei ihr genau zu der Zeit hervor
„Je näher Mascha und Anja der Partei standen, desto mehr unterstützten sie die Agenda der Regierung oder hielten den Mund“, bemerkt Oleg Scharipkow, Geschäftsführer des Fonds Grashdanski sojus. „Mascha hat immer eher geschwiegen – dieser Charakterzug trat bei ihr genau zu der Zeit hervor.“
Im Juni 2021 machte die Wohltäterin ihren Abschluss für den Nachwuchskader des Präsidenten. Das Diplom überreichte ihr der stellvertretende Leiter der Präsidialverwaltung, Sergej Kirijenko. Im Oktober ernannte Putin sie zur Beauftragten für die Rechte des Kindes. Im selben Jahr übernahm die Staatsbeamtin die Vormundschaft für fünf weitere Heimkinder, die nach Ablauf der Jahre im Kinderheim nicht arbeitsfähig waren.
Lwowa-Belowa erzählt, sie habe als Kind keinen besonderen Berufswunsch gehabt, aber immer gewusst, dass sie Mutter werden will. Als sie eine Familie hatte, habe sie begriffen, dass es für Kinder besonders wichtig sei, die Wärme der Eltern zu spüren, und sie lieber „mit Umarmungen“ als „mit intensiven Gesprächen“ erzogen.
Mit Beginn des Kriegs in der Ukraine entwickelte Lwowa-Belowa den Ehrgeiz, nicht nur für russische, sondern auch für ukrainische Kinder Fürsorge zu übernehmen
Mit Beginn des Kriegs in der Ukraine entwickelte Lwowa-Belowa den Ehrgeiz, nicht nur für russische, sondern auch für ukrainische Kinder Fürsorge zu übernehmen. Am Ende ihres ersten Jahres als Ombudsfrau hat Lwowa-Belowa nach Schätzungen ihres Teams „über tausend Kinder“ umarmt.
4. Mit dem Krieg kommt der Karriereaufschwung
„Wir wollen die bürokratischen Hindernisse beseitigen, damit die Kinder eine normale Kindheit haben“
Schon in den ersten Kriegstagen wurden aus den okkupierten Regionen der Ukraine Hunderte von Kindern nach Russland „evakuiert“. Die meisten von ihnen wurden in Auffanglagern in Feriendörfern und Kinderheimen untergebracht. Am 11. März letzten Jahres gab Lwowa-Belowa erstmals zu verstehen, dass ukrainische Waisenkinder in russischen Familien untergebracht werden sollen. Sie erklärte, Putin unterstütze dieses Vorhaben bedingungslos und habe sie angewiesen, „im Interesse der Kinder zu handeln“.
Verstka hat festgestellt, dass die Russen im Jahr 2022 im Suchfeld von Yandex 30.824 mal „Kind aus Donbass aufnehmen“ eingegeben haben. Rund die Hälfte dieser Suchanfragen – über 13.000 – stammen aus dem März und April. Zum Vergleich: Im Februar interessierten sich die User nur 218 mal für dieses Thema, und im gesamten Jahr 2021 belief sich die Anzahl solcher Suchanfragen auf null.
Genau das ist doch Einheit, genau das ist Patriotismus, wenn es keine fremden Kinder gibt, sondern alle zu uns gehören?
Lwowa-Belowa zufolge gab es tatsächlich sehr viele Anfragen. Für alle, die ein Kind aus den besetzten Regionen aufnehmen wollten, erstellte Lwowa-Belowa eine spezielle Anleitung. „Genau das ist doch Einheit, genau das ist Patriotismus, wenn es keine fremden Kinder gibt, sondern alle zu uns gehören?“, lautete Lwowa-Belowas Reaktion auf das Interesse der Familien.
Die Ombudsfrau unterstützte öffentlich die Propaganda-These von der „Rettung der Kinder aus dem Donbass“. Während andere Beamte vor allem von der Bedrohung durch Nazis sprachen, erging sich Lwowa-Belowa vorwiegend im Lob der russischen Familien. Nach ihrer Interpretation befinden sich die unter den Beschüssen leidenden Kinder „an der Grenze zwischen Finsternis und Licht“, und die Russen können ihnen „Schutz“ bieten und sie „mit Fürsorge und Liebe wärmen“. Mehrfach hat Lwowa-Belowa festgestellt, dass sich die vom Krieg traumatisierten Kinder in den russischen Familien „zum Besseren“ verändern würden: „Das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Die Kinder werden sogar äußerlich ihren [Pflege-]Eltern ähnlich.“
Von den „evakuierten“ Kindern berichtet die Ombudsfrau in ihrem Telegram-Kanal. Zum Beispiel vom kleinen Wanja aus der Volksrepublik Donezk, der im Bildungszentrum Leader in der Oblast Woronesh untergebracht ist. Jetzt sei Wanja „genau wie die Einheimischen“ und antworte nach einem Monat in Russland auf die Frage, woher er sei: „Aus Bobrow.“ Ein anderes Beispiel ist Bogdan aus Donezk, der ebenfalls in die Oblast Woronesh „evakuiert“ wurde. Die Ombudsfrau unterstreicht: Jetzt ist Bogdan in Sicherheit, schleift auf der Werkbank seine Basteleien und verspricht, beim Aufbau seiner Heimatstadt zu helfen.
Offiziell können russische Familien erst seit Ende Mai 2022 ukrainische Pflegekinder aufnehmen, seit Putin einen Erlass über ein vereinfachtes Verfahren zum Erhalt der russischen Staatsbürgerschaft für Kinder „aus den Volksrepubliken Donezk und Luhansk und aus der Ukraine“ unterzeichnet hat. Doch Lwowa-Belowa war auch davor schon mit den „Volksrepubliken“ im Gespräch, um ukrainische Waisenkinder möglichst schnell in russische Familien zu bringen. Die ersten 27 Kinder kamen schon im April unter „vorübergehende Obsorge“ in die Oblast Moskau.
Lwowa-Belowa begleitete die Kinder oft persönlich. Manchmal übergab sie sie direkt ihren neuen Pflegeeltern – unter Tränen der Rührung und des Glücks
Bei der „Evakuierung“ aus den okkupierten Gebieten in die Russische Föderation begleitete Lwowa-Belowa die Kinder oft persönlich. Manchmal übergab sie sie direkt ihren neuen Pflegeeltern – unter Tränen der Rührung und des Glücks.
Bis Oktober 2022 waren allein offiziellen Angaben zufolge mehr als 380 Kinder aus Donezk und Luhansk in russische Familien vermittelt worden. Wie viele Kinder aus der Ukraine insgesamt in Kinderheimen auf neue Pflegeeltern warten, ist unbekannt, aber Journalisten stoßen immer wieder auf solche Fälle.
So erfuhr Verstka im Januar 2023 von mindestens 14 Kleinkindern aus Cherson, die sich im annektierten Simferopol im Kinderheim Jolotschka aufhielten. Diese Einrichtung machte 2020 wegen des grausamen Umgangs mit den Schützlingen als „Kinderkonzentrationslager“ Schlagzeilen. Im Februar gelangte der Fernsehsender Doshdin den Besitz einer Korrespondenz mit regionalen Vormundschaftsbehörden, aus der hervorging, dass im August des Vorjahres 400 Waisenkinder auf 24 Waisenhäuser verteilt worden waren. Nach Angaben der Journalisten wurden nur 36 von ihnen später in Familien untergebracht.
Lwowa-Belowa behauptet, ihre Mitarbeiter würden nicht nur daran arbeiten, ukrainische Kinder an Pflegefamilien zu vermitteln, sondern sie auch mit Angehörigen der eigenen Familie zusammenführen. Als Beispiel führt die Ombudsfrau allerdings immer nur denselben Fall an: Ein Vater, der bei der ukrainischen Armee gedient haben soll, habe nach der „Filtration“ seine Kinder aus Russland zurück nach Hause geholt.
„Wir sind sicher nicht daran interessiert, [die Kinder] ihren Eltern wegzunehmen und in irgendwelche russischen Familien zu stecken“, beteuerte die Politikerin.
Verschleppungen von Waisenkindern können als Beweis für den Völkermord herangezogen werden, für den die Ukraine Russland bereits verantwortlich macht
Menschenrechtsaktivisten haben Lwowa-Belowas Mitwirkung an der Ausfuhr von Kindern in das Gebiet des Aggressorstaates wiederholt als Verstoß gegen das Völkerrecht bezeichnet. Einem Bericht des in den USA ansässigen Newlines Institute for Strategy and Policy und des kanadischen Raoul Wallenberg Centre for Human Rights zufolge können Verschleppungen von Waisenkindern als Beweis für den Völkermord herangezogen werden, für den die Ukraine Russland bereits verantwortlich macht.
Lwowa-Belowa reagiert auf die Kritik der internationalen Gemeinschaft mit Ironie. Im Juni, als die Ombudsfrau erstmals auf einer britischen Sanktionsliste auftauchte, veröffentlichte sie auf ihrem Telegram-Kanal einen scherzhaften Post: „Wir Russen halten als Familien und in Organisationen zusammen – und jetzt eben auch auf Sanktionslisten.“
5. Familie: Adoptivsohn aus Mariupol
„Sie ist der wundervollste Mensch“
Im August erklärte Lwowa-Belowa, sie habe selbst ein ukrainisches Kind adoptiert – den 15-jährigen Filipp aus Mariupol. Der Teenager hatte sich seit Mai in Russland aufgehalten: Er war zusammen mit 30 weiteren Kindern aus Mariupol in das Sanatorium Poljana in Odinzowo [in der Nähe von Moskau] gebracht worden.
Im Herbst brachte der TV-Sender Zargrad eine Reportage über Filipp mit dem Titel Das ist mein Kind. Darin erzählt der Junge, er habe vor dem Krieg bei Pflegeeltern in Mariupol gelebt, aber die hätten ihn nach Ausbruch des Krieges zurückgelassen. Man habe ihn daraufhin nach Russland ins Sanatorium Poljana gebracht, wo er zunächst sehr traurig gewesen sei. Aber das habe sich schlagartig geändert, als Lwowa-Belowa das Sanatorium besuchte:
Noch nie hat mich jemand so doll geliebt wie sie
„Auf einmal kam Mascha [Koseform von Maria – dek] herein, das werde ich nie vergessen“, erinnert sich Filipp im Gespräch mit dem Reporter von Zargrad. „Sie ist der wundervollste Mensch, den ich je in meinem Leben getroffen habe. Noch nie hat mich jemand so doll geliebt wie sie.“
In einem der Videos von diesem Besuch in Poljana sieht man Lwowa-Belowa, wie sie zu einem jungen Mädchen ins Zimmer kommt, sich zu ihr aufs Bett setzt und sagt: „Ich bin für alle Kinder unseres Landes verantwortlich. Und solange ihr hier seid, bin ich auch für euch verantwortlich.“ Das Mädchen umklammert ihr angezogenes Bein mit den Armen, während Maria Lwowa-Belowa ihr die Hand auf das Knie legt.
Die Ombudsfrau geht bei ihren Treffen immer maximal nah an die Kinder heran. Sie setzt sich im Kleid mit untergeschlagenen Beinen auf Spielteppiche, nimmt Vorschulkinder auf den Arm, nimmt sie auf den Schoß, verteilt tröstende Umarmungen und Küsse. Bei Fernsehinterviews bittet sie die Journalisten, einfach Mascha zu sagen, während ihre Mitarbeiter sie „MA“ nennen – eine Abkürzung für Maria Alexejewna.Kurz vor dem Jahrestag der russischen Invasion, am 16. Februar 2023, traf sich Lwowa-Belowa mit Putin, um die Ergebnisse ihrer Arbeit zu besprechen. Sie sagte, sie wisse jetzt selbst, wie es sei, „Adoptivmutter eines Kindes aus dem Donbass zu sein“, weil sie den 15-jährigen Filipp aus Mariupol bei sich aufgenommen habe.
„Dank Ihnen“, fügte die Kinderbeauftragte hinzu.
6. Kinder der Ukraine: „Integration“
„Noch gestern waren wir unter Beschuss im Donbass, und heute am Meer, in der Sonne“
Im Juli 2022 besuchte Maria Lwowa-Belowa Kinder, die im zerstörten Mariupol geblieben waren und erzählte ihnen, dass auch bei ihr zu Hause jetzt ein „kleiner Teil“ dieser Stadt leben würde. Bei dem gemeinsamen Foto riefen die Kinder anstatt „Cheese“ laut „Mariupol – Stadt der Zukunft“ in die Kamera.
„Noch gestern waren wir unter Beschuss im Donbass, und heute am Meer, in der Sonne“, sagte Lwowa-Belowa bei der Eröffnung des Feriencamps Poslesawtra (dt. Übermorgen) mit Kindern aus den russisch besetzten Donbass-Gebieten
Nach ihrem Besuch beschloss die Staatsbeamtin, den Kindern aus dem Donbass „das Gefühl von einem friedlichen Leben“ zurückzugeben, und veranstaltete zu diesem Zweck zwischen Juni 2022 und März 2023 sechs Feriencamps im Süden Russlands und im Umland von Moskau. Lwowa-Belowa empfing die Kinder persönlich mit Karawai und einer Bühnenshow in russischen Trachten.
„Wir begrüßen euch so, weil ihr jetzt zu uns gehört“, sagte die Ombudsfrau zu den Jugendlichen.
In der Praxis kehren von diesen Lagern nicht alle Kinder nach Hause zurück
In diesen Feriencamps sollten die ukrainischen Jugendlichen im Rahmen eines Integrationsprogramms eine „psychologische Rehabilitation“ durchlaufen. Danach sollten sie nach Hause zurückkehren – in die, wie Lwowa-Belowa es nennt, „besonders stark beschossenen Gebiete“. Ihrer Ansicht nach würden die zwei Wochen im Lager nicht nur den Kindern, sondern auch den Eltern helfen: Die Kinder würden bei ihrer Rückkehr in die Heimatstadt ihren Familien eine „Ladung Zuversicht“ mitbringen, dass Russland sie „nicht im Stich lässt“. Allerdings kehren von diesen Lagern in der Praxis nicht alle Kinder nach Hause zurück.
Anfang März 2023 hielten sich im Süden Russlands und auf der Krim nach Lwowa-Belowas eigener Aussage noch 89 Kinder in den „verlängerten Ferien“ auf. Niemand würde gegen seinen Willen dort festgehalten, beteuerte die Politikerin. Das Problem sei die kritische Lage an der Front und der Umstand, dass die Eltern die Kinder nicht selbst abholen könnten, erklärte Lwowa-Belowa. Um welche Lager es sich konkret handelt, sagte die Ombudsfrau nicht.
Es ist ungewiss, ab wann die Kinder als von den Eltern zurückgelassen gelten und in einer Pflegefamilie oder sonstwo untergebracht werden
„Es sind Kinder aus den Oblasten Cherson und Saporishshja“, sagt ein Informant, der mit der Situation vertraut ist. „Sie können nur zurück, wenn die Eltern sie abholen. Natürlich besteht die Gefahr, dass die Männer durch die Filtrationsmaßnahmen gar nicht reingelassen werden oder nicht rauskommen. Es ist ungewiss, ab wann die Kinder als von den Eltern zurückgelassen gelten, der Fürsorge übergeben und in einer Pflegefamilie oder sonstwo untergebracht werden.“In die Feriencamps werden außerdem recht merkwürdige Gäste eingeladen, wie zum Beispiel die Fernsehmoderatorin Xenja Borodina, die den Kindern erzählt, „wie man zu einem Leader der öffentlichen Meinung zu aktuellen Themen wird“, oder die Bloggerin TatarkaFM, die sich auf ihrem YouTube-Kanal darüber auslässt, ob Selensky „high“ und die Ukraine souverän sei.
7. Kinder Russlands: Propaganda
„Ich konnte nicht glauben, dass es solche Menschen gibt“
Maria Lwowa-Belowa kümmert sich nicht nur um das Schicksal von ukrainischen Kindern, sondern auch um die Erziehung der russischen Schüler – vor allem um die „patriotische“. Im Mai lud die Politikerin Jugendliche aus 82 russischen Regionen nach Moskau ein, damit sie ihre Projekte zum Thema Mobbing, zur Beziehung der Schüler untereinander und über glückliche Kindheit vorstellen konnten.
Zu dem Forum waren, wie Verstka von den Teilnehmerinnen weiß, auch einige Jugendliche aus der sogenannten DNR (Donezker Volksrepublik) eingeladen – darunter die Zehntklässlerin Polina Tschitschkan aus Horliwka.
Lwowa-Belowa veröffentlichte ein Foto der jungen Frau auf ihrem Telegram-Kanal mit dem Kommentar, die russischen Schüler würden P. „von den schrecklichen Ereignissen ablenken“.
Maria Shidkowa und Alina Molodzowa, zwei Schülerinnen aus Tula, interpretierten den Aufruf auf ihre Weise und machten Polina zum Gesicht des Projekts Die Wahrheit der Kinder des Donbass. Sie veröffentlichten ein Video, in dem das Mädchen aus der „DNR“ vor der russischen und der Flagge der „DNR“ steht und gemeinsam mit anderen Schülern aus dem Donbass einen Text über das Leben unter Beschuss vorträgt.
Verstka fragte Maria Shidkowa nach ihrem Eindruck von Treffen mit Lwowa-Belowa. Sie antwortete, die offene Art der Staatsbeamtin und ihre Liebe zu den Kindern habe sie sehr beeindruckt, und sie bezeichnete sie als Vorbild für die Jugend.
„Ich konnte nicht glauben, dass es solche Menschen gibt“, sagte die Schülerin. „Maria Alexejewna hat mir gezeigt, dass man Menschen helfen kann und es nicht schwer ist, das zu tun.“ Auf die Frage nach dem Sinn der Kampfhandlungen und dem Schicksal der Kinder, die Opfer in diesem Krieg geworden sind, wusste die junge Frau keine Antwort und fügte hinzu, dass sie „politisch ungebildet“ sei.
Zum nächsten Schülertreffen – ein landesweites Forum der Kinder- und Jugendorganisation Bewegung der Ersten unter der Schirmherrschaft von [dem stellvertretenden Leiter der Präsidialverwaltung] Sergej Kirijenko – nahm Lwowa-Belowa ihren Adoptivsohn aus Mariupol mit. Der Teenager betrat die Bühne in einem mit Messern, Rosen, Adlern, Stacheldraht und Matrjoschka-Puppen bedruckten Kapuzenpulli.
Auch Polina Tschitschkan, die Schülerin aus Horliwka, nahm an diesem Forum teil. Gegenüber dem Fernsehsender Rossija-1 äußerte die junge Frau, sie würde ein „Zusammenwachsen der Nation und der neuen Gebiete“ beobachten. Wieder zurück in Horliwka nahm die Schülerin ein Video auf, in dem sie Gleichaltrigen von der Mission der „Bewegung“ erzählte: „Zu Russland halten“, „Mensch sein“, „Zusammen sein“, „in Bewegung sein“ und „Erster sein“.
Im Grunde ist das moralischer Missbrauch von Kindern
„Solche Organisationen erinnern sehr an die entsprechende Jugendbewegung im nationalsozialistischen Deutschland: Auch dort verbrachten die Kinder die meiste Zeit mit Sport, Musik und anderen unpolitischen Aktivitäten, aber in entscheidenden Momenten, unterstützten sie den Staat und die Armee“, erklärt Daniil Ken, Schulpsychologe und Leiter der Allianz der Lehrer, gegenüber Verstka. „Natürlich denkt Putin nicht so weit, die Erstklässler in ihren Feldmützen später mal zu seinen Soldaten zu machen. Aber im Grunde ist das moralischer Missbrauch von Kindern, bei dem ihre Eltern entscheiden müssen: Entweder sie wehren sich und setzen sich einer Gefahr aus, oder sie vereinbaren es irgendwie mit ihrem Gewissen und nehmen es in Kauf.“
Im März 2023 unterstützte Lwowa-Belowa das Adoptionsverbot von russischen Kindern durch Eltern aus „nicht freundschaftlich gesinnten“ Ländern.
„Die Politik von ‚Cancel Russia‘ macht es sehr wahrscheinlich, dass russische Kinder im Ausland schikaniert und aufgrund ihrer Nationalität gedemütigt werden“, sagte die Ombudsfrau.
Zur Stärkung der „internationalen Zusammenarbeit“ schlug die Staatsbeamtin vor, dieses Jahr Kindern in Afrika zu helfen. Und wie eine wahre Gläubige erbat sie dafür einen „Segen“ – allerdings nicht von einem Priester in der Kirche, sondern von Putin im Kreml.
Verstka hat seine Fragen an das Büro von Lwowa-Belowa gerichtet. Bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Materials lag der Redaktion keine Antwort vor.