дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Nawalny obenauf?

    Nawalny obenauf?

    38 Prozent aller Russen, so ermittelte das renommierte Lewada-Zentrum, befürworteten das Handeln derer, die Nawalnys Protestaufruf vom 26. März gefolgt waren.

    Vedomosti hat bekannte Sozialwissenschaftler dazu befragt: eine Zahl und ihre unterschiedlichen Interpretationen.

     


    Quelle: Lewada-Zentrum

    38 Prozent der Russen befürworten das Handeln der Menschen, die am 26. März zu Massenprotesten gegen Korruption in der Regierung auf die Straße gegangen sind, so die jüngste Umfrage des Lewada-Zentrums.

    Ebenfalls 38 Prozent denken, dass die wachsende Unzufriedenheit mit der Situation im Land die Bürger dazu gebracht hat zu protestieren. 36 Prozent erklären die Demonstrationen damit, dass die Menschen ihrer Empörung über Korruption Ausdruck geben wollten. Nur 24 Prozent glauben, die Demonstranten seien bezahlt worden.

     

     


    Quelle: Lewada-Zentrum

    Mehr als 60 Prozent der Befragten geben an, über die russlandweiten Proteste vom 26. März „gut Bescheid zu wissen“ oder zumindest „davon gehört“ zu haben. Die Umfrage belegt außerdem einen radikalen Einbruch der Zustimmungswerte des Premiers Dimitri Medwedew, der hauptsächlichen Zielscheibe der Proteste: Innerhalb eines Monats sind seine Zustimmungswerte um zehn Prozentpunkte gesunken, die Regierung verlor sechs Prozentpunkte.

    Das Interesse an den Demonstrationen sei wesentlich geringer als 2011/2012, obwohl die Motive der Teilnehmer in etwa dieselben seien, so der stellvertretende Leiter des Lewada-Zentrums Alexej Grashdankin. Damals hätte es außerdem mehr als doppelt so viele Befürworter gegeben, als Menschen, die sie ablehnten. Heute hielten sich Befürwortung und Ablehnung in etwa die Waage, sagt er und fügt hinzu: „In den Jahren 2014 und 2015 hingegen war die Ablehnung im Zweifel doppelt so hoch wie die Befürwortung.“

    Die Mobilisierung der Gesellschaft werde wieder abnehmen, aber das Vertrauen in die Regierung sei sowieso höher als 2013, so der Soziologe. „Ein Abwärtstrend bei den Zustimmungswerten der Regierung und der Machtorgane besteht seit 2015. Aktueller Auslöser für den Stimmungsumschwung ist das Video des Fonds für Korruptionsbekämpfung über Medwedew gewesen. Das Verhältnis zu Putin ist unverändert, aber Medwedews Zustimmungswerte sind just wegen des Videos um zehn Prozentpunkte gefallen.“

     

     
    Quelle: Lewada-Zentrum

    Grashdankin berichtet, dass Nawalnys Bekanntheitsgrad Höchstwerte erreicht habe. Gleiches gilt für die potenzielle Bereitschaft, bei der Präsidentschaftswahl für ihn zu stimmen: Kannten ihn im April 2011 nur sechs Prozent der Befragten und waren nur zwei Prozent bereit, ihn zu unterstützen, so kennen ihn jetzt 55 Prozent. Davon können sich rund zehn Prozent vorstellen, für ihn zu stimmen, zwei Prozent sind sich dessen sicher.

     

     
    Quelle: Lewada-Zentrum

    „Momentan können wir von einem Gleichgewicht zwischen den Befürwortern und den Gegnern der Proteste sprechen. Wenn die Regierung keine Gegenmaßnahmen ergreift, könnte die Zahl der Befürworter (der Protestaktionen – Vedomosti) wieder steigen. Um die Protestwelle zu brechen, hat man seinerzeit die (TV-Dokumentationsreihe – Vedomosti)  Anatomie des Protestes und Gerichtsprozesse auf Sendung gebracht; bisher ist die Propaganda-Artillerie noch nicht in Stellung gebracht, aber nichts würde dem entgegenstehen, es wieder zu tun“, so Grashdankin.

    Keine offizielle Stellungnahme der Regierung

    Die Regierung hat bislang auf offizielle Stellungnahmen zu den gesunkenen Zustimmungswerten des Premiers verzichtet. „Die Zustimmungswerte der Regierung und des Premiers fallen immer niedriger aus als die des Präsidenten, denn die Regierung fällt die unliebsamen wirtschaftlichen Entscheidungen. Deswegen sieht man schwankende Umfragewerte im Weißen Haus gelassen“, erklärte ein Mitarbeiter des Regierungsapparats gegenüber Vedomosti.

    Die Zahl der 38 Prozent Protest-Befürworter vom 26. März bedürfe einer Überprüfung, man könne noch nicht eindeutig sagen, ob sich eine neue Protestwelle entwickle, meint der Politologe Konstantin Kostin. „Betrachtet man die Dynamik von 2011/2012, stellt man fest: Je weniger Proteste es gab, desto mehr Menschen fanden es in Ordnung, dass jemand auf die Straße geht, um seine Rechte einzufordern. Noch nicht einmal der Maidan hat daran etwas geändert, nur während der Krim-Mobilisierung sank die Bereitschaft, an Protestaktionen teilzunehmen.“

    Aus den Ergebnissen des Lewada-Zentrums Schlüsse über die Präsidentschaftswahl zu ziehen, das sei erst recht schwierig, erklärt Kostin und fährt fort: „Bei den jetzigen Aktionen ist der Kern der Protestbewegung auf die Straße gegangen, dazu kamen Menschen, die Lösungen für bestimmte lokale Probleme forderten, außerdem gab es noch eine situative Reaktion der Jugend.“ Kostin bezweifelt, dass Nawalnys Bekanntheitsgrad 55 Prozent erreicht hat.

    Der Politologe Alexander Kynew findet die Zahl der 38 Prozent Protest-Befürworter überwältigend, mahnt jedoch zur Skepsis: In den Medien, aus denen der Großteil der Bevölkerung seine Informationen bezieht, sei die Darstellung der Proteste ausschließlich negativ.

    Der Protest werde vielen zugutekommen, nimmt der Politologe Abbas Galljamow an: „Vor allem ist er gut für die Systemopposition, denn im Gegensatz zu Nawalny wird sie auf den Stimmzetteln stehen. Sie muss jetzt nur noch ihre Protest-Rhetorik hochfahren und kann den Zustimmungsraten beim Wachsen zusehen.“

    Aber auch Nawalny habe Grund zum Optimismus: Wenn so viele Menschen in Erwägung ziehen, für ihn zu stimmen, dann bedeute es auch, dass die Zahl derer, die seinem Aufruf, auf die Straße zu gehen, folgen würden, in die Millionen gehen könnte, so Galljamow. „Wenn die Regierung weiterhin solche Fehler macht – indem beispielsweise der Premier am Tag der Proteste schreibt, er sei schön Skifahren gewesen, oder die Regierung die Rechtswidrigkeit der Proteste vom 26. März in den Vordergrund stellt, während sie selbst demonstrativ gegen das Gesetz verstößt, wenn sie Veranstaltungen organisiert – dann wird sich die Anzahl der protestbereiten Menschen noch vergrößern.“

    Wenn die Regierung weiterhin solche Fehler macht, dann wird sich die Anzahl der protestbereiten Menschen noch vergrößern

    Für Putin seien eine apolitische Einstellung und ein zügiger Verlauf der Präsidentschaftskampagne von Vorteil, davon ist Galljamow überzeugt: „Eine Politisierung schadet der Regierung. Jetzt, wo der Protest wieder in Mode kommt, gilt für die Regierenden: Je weniger Politik, desto besser.“ Bei den Regionalwahlen im September werde sich die Agenda des Protests nur verstärken, lautet seine Einschätzung. 

    Bis zur [Präsidentschafts-] Wahl sei es noch lange hin. Dass die Proteste so lange anhalten, sei natürlich möglich, aber unwahrscheinlich, meint der Politologe Michail Winogradow: „Die 38 Prozent beweisen, dass das Thema Korruption sowohl bei den Regimekritikern als auch bei den Regierungsanhängern Anklang findet. Das eröffnet der Opposition die Möglichkeit, um die Sympathie der Regierungsanhänger zu kämpfen. Offen bleibt nur die Frage, ob die Protestierenden es schaffen, das öffentliche Interesse aufrechtzuerhalten, und die Spaltung in der Gesellschaft.“

    Wenn sie das schaffen, würde es zu einer höheren Wahlbeteiligung und einer geringeren Machtdemonstration der bestehenden Regierung führen, fährt er fort. Wir würden dann wahrscheinlich dieselbe Taktik wie 2011 beobachten: Man stimmt für jede x-beliebige, nur nicht für die Regierungspartei.

    Davon könnten Politiker wie Jewgeni Roisman in Jekaterinburg profitieren. „Aber die Leute beachten nicht, was in anderen Regionen geschieht. Auch wenn ich die Wahlen in der Oblast Swerdlowsk allzu gern als ein Beispiel für Offenheit heranziehen würde, heißt das noch lange nicht, dass die Moskauer oder die Petersburger sich dafür überhaupt interessieren.“ 

    Weitere Themen

    Infografik: Wie beliebt ist Putin?

    „Patrioten gibt’s bei euch also keine?“

    Debattenschau № 49: Nawalny und die Macht der Straße

    Protest im Netz

    Kafkas Schloss und Medwedews Villen

    Wer geht da demonstrieren?

  • Das Fake-Engagement

    Das Fake-Engagement

    Ein gutes halbes Jahr ist das sogenannte Jarowaja-Paket nun in Kraft. Neben verstärkter Vorratsdatenspeicherung und Internetkontrolle beinhaltet das umstrittene Anti-Terror-Gesetz auch eine Anzeigepflicht für Bürger: Wer sogenannte „extremistische” Taten nicht anzeigt, dem droht bis zu einem Jahr Haft. Nicht nur, weil der Extremismus-Begriff in Russland schwammig definiert ist, befürchten Kritiker, das Gesetzespaket könne Denunziationen Tür und Tor öffnen. 

    Initiiert wurde das Gesetz von der Abgeordneten Irina Jarowaja. Sie hatte sich zuvor bereits als Ko-Autorin des sogenannten NGO-Agentengesetzes ihren Ruf als Hardlinerin erarbeitet.

    Im historischen Gedächtnis Russlands sind mit Denunziationen vor allem die Jahre des Großen Terrors verbunden. 80 Jahre danach blickt Wadim Wolkow in der unabhängigen Tageszeitung Vedomosti kurz zurück und fragt vor allem nach dem Wesen der Denunziation im Russland von heute: Worin unterscheidet sich eine Denunziation von einer ganz normalen Beschwerde? Wo fängt sie an? Und: Inwiefern wird hier ziviles Engagement einfach ad absurdum geführt?

    Genosse Stalin wird ohne Ende verflucht, und das natürlich nicht ohne Grund. Trotzdem möchte ich mal fragen, wer denn die vier Millionen Denunziationen geschrieben hat“, schrieb Sergej Dowlatow einst in seiner typisch ironischen Art. Die Frage ist zum größten Teil rhetorisch, wobei digitale Technik und Fortschritte in der Datenverarbeitung irgendwann eine durchaus konkrete Antwort hervorbringen dürften.

    Die Motivation eines Denunzianten kann unterschiedlich sein, ist aber hier nicht so wichtig. Denn Denunziation als soziales Phänomen lässt sich nur in Verbindung mit Interesse von Polizei und Justiz erklären: Eben diese schaffen einen Bedarf an denunzierenden Eingaben und filtern sie dann für ihre Zwecke. So ist die Denunziation eine sehr wirksame  Maßnahme, um den Rechtsapparat in Bewegung zu setzen, insbesondere in einem repressiven Staat. Denn für sich genommen ist Recht etwas Passives; darauf haben Soziologen schon seit Langem hingewiesen. Um es zur Anwendung zu bringen, bedarf es besonderer Anstrengungen, die gesetzlich festgelegten Regeln folgen.

    Denunziation unter dem Deckmantel der Beschwerde

    Ein Gericht wird eine Sache nur dann verhandeln, wenn jemand Klage erhebt; die Polizei wird einen Fall nur dann prüfen, wenn es einen Bericht oder eine Meldung zu einem Vorfall gibt. Eingereichte Klagen, Anrufe bei der Polizei, Beschwerden, Anzeigen und Denunziationen, Anträge der Staatsanwaltschaft – Millionen solcher Vorgänge mobilisieren ständig verschiedene Rechtsbereiche. Den handelnden Personen liefern sie somit eine Grundlage (oder bringen sie dazu), Gebrauch von ihren dienstlichen Befugnissen zu machen. Ohne diese Trigger setzt sich die Rechtsmaschine nicht in Bewegung.

    Die Rechtswissenschaftler schenken der Praxis der Rechts-Mobilisierung nur wenig Aufmerksamkeit, doch für die Anwender des Rechts ist das eine äußerst wichtige Fertigkeit: Wie kann man ein repressives Verfahren sachgerecht in die nötige Richtung lostreten, und dann auch noch so, dass das eigene Handeln diskret bleibt?

    Eine Denunziation unterscheidet sich von einer Beschwerde weniger dadurch, dass ihr eine Lüge oder etwas frei Erfundenes zu Grunde liegen, sondern dadurch, dass eine Denunziation für Rechtsanwender instrumentalisierbar ist. Selbst wenn sie nicht auf vorheriger Absprache beruht, so kalkuliert die Denunziation doch die aktuellen Interessen der Rechtsanwender mit ein und empfiehlt sich quasi selbst: Kommt, benutzt mich.

    Viele Denunziationen imitieren zwar Beschwerden, doch echte Beschwerden versuchen, das Problem des Beschwerdeführers zu lösen und nicht das Problem des Rechtsanwenders. Wenn zum Beispiel Datschenbesitzer an die für Umweltschutz zuständige Anklagebehörde eine Beschwerde wegen wilder Waldrodung schreiben, dann ist das eine Beschwerde. Wenn jedoch wachsame Bürger dieser Behörde etwas über die Umweltstiftung ISAR–Sibir melden, die Anklagebehörde, sprich die Staatsanwaltschaft, daraufhin eine Überprüfung durch das Justizministerium anstrengt und dieses dann in Umweltschutz-Wettbewerben der Stiftung Merkmale politischer Tätigkeit erkennt und die Stiftung in das Register ausländischer Agenten aufnimmt, dann ist das Denunziation.

    Denunziation als Antrieb für eine repressive Maschinerie

    Die Intensivierung des Denunziantentums in der UdSSR in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre ist hinlänglich bekannt. Das NKWD benötigte formale Anlässe für politische Repressionen, und die wachsamen Bürger ließen nicht lange auf sich warten. Die Masse an Denunziationen schuf zwar auch Raum für den Kampf gegen innere Feinde, vor allem aber ließ sie die repressive Maschinerie heißlaufen. Und die lief dann 1938 derart aus dem Ruder, dass die eifrigsten Kader des NKWD selbst repressiert werden mussten.

    Auch in heutiger Zeit sind Denunziationen verbreitet. Signale und Beschwerden wachsamer Bürger über Theaterinszenierungen, Ausstellungen, Forschungs- und Bildungseinrichtungen, Filme und NGOs – das sind die neuen, massenhaft zur Verfügung stehenden Instrumente zur Mobilisierung des Rechts. Zum Instrumentarium gehören in der Regel auch Beschwerden, die von Polizei und Justiz initiiert werden, eine Unterfütterung in Form eines Abgeordneten, der wirksamer eine Aktivierung der Aufsichtsbehörde (Staatsanwaltschaft) erreichen kann, außerdem eine Reihe von Überprüfungen durch andere Kontroll- und Aufsichtsbehörden, deren Ergebnis von vorneherein feststeht.

    Eine schnelle Durchsicht der Fälle, bei denen Organisationen als ausländische Agenten eingestuft wurden, zeigt, dass in den allermeisten Fällen alles mit einer Beschwerde begann. Als deren Urheber sind entweder einfache Bürger aufgetreten, die gewisse Anzeichen von Extremismus festgestellt haben wollten, oder auch Regionalregierungen (wie die Regierung der Region Altai im Falle des Umweltverbands Geblerowski) oder sogar ein Mitglied des Föderationsrates (Dimitri Sablin im Fall des Lewada-Zentrums).

    Denunziation als Gegenteil von offenem Dialog

    Neben dem Zweck, den Anlass für ein Verfahren zu liefern, hat die rechtsmobilisierende Denunziation eine weitere Funktion: Werden als Trigger Beschwerden wachsamer Bürger, Aktivisten oder Abgeordneter eingesetzt, wird dadurch Aktivität einer Zivilgesellschaft imitiert und die Anwendung des Rechts legitimiert. Wenn Polizei und Justiz Verschwörungen aufdecken, ist das eine Sache; dann könnte man Willkür vermuten. Wenn das Vorgehen als Reaktion auf Bedürfnisse und Fragen aus der Gesellschaft dargestellt wird, sieht die Sache ganz anders aus; das ist sehr viel schwieriger von aufrichtigem Bürgerengagement zu unterscheiden.

    Wahrscheinlich gibt es unter den aktiven und wachsamen Bürgern aufrichtig Überzeugte und Gläubige. Ich bezweifle jedoch, dass diese ihre Besorgnis sofort zur Polizei oder zur Staatsanwaltschaft tragen, dabei Amtssprache verwenden und derart genau das Ziel treffen. Wie dem auch sei, es bleibt eine bedenkliche Tatsache: Wachsamkeit und Aktivismus, die durch den Bedarf von Polizei und Justiz stimuliert werden, lassen sich immer schwerer von echter zivilgesellschaftlicher Aktivität unterscheiden.

    Hier kann es nur ein Kriterium geben und das liegt nicht im Bereich von Ideologie und Werten (seien diese nun ultrakonservativ oder liberal), sondern in den Mitteln, mit denen Ziele erreicht werden. Bürgerliches Handeln impliziert eine offene und rationale, einander zugewandte Diskussion, einen Dialog, der nicht davon ausgeht, dass jemand a priori Recht hat. Insofern sind all die moralischen Aufrufe und geäußerten Besorgnisse, die sich direkt oder indirekt an die Staatsanwaltschaft richten, vor allem eines: Fake.

    Weitere Themen

    Business-Krimi in drei Akten

    Presseschau № 30: RBC – Medium unter Druck

    Aus und vorbei für Paragraph 282?

    Irina Jarowaja

    Presseschau № 45: Fall Uljukajew

    Angstfreiheit als Kunst

  • „Und Sie glauben nicht, dass Sie benutzt werden?“

    Die Kritik kam schnell nach der Dumawahl im Herbst. Ella Pamfilowa, erst wenige Monate als neue Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission im Amt, solle zurücktreten. Oppositionelle Schwergewichtstimmen wie die von Alexej Nawalny forderten das. Der Grund: Es gab erneut massive Fälschungsvorwürfe. Pamfilowa war angetreten, gerade dem Einhalt zu gebieten. In ihrem ersten großen Interview seit der Wahl vom 18. September verteidigt sie ihre Arbeit nun vehement.

    In dem Gespräch mit der unabhängigen Tageszeitung Vedomosti spricht sie über den Umgang mit Beschwerden und Anfechtungen einzelner Ergebnisse in den Regionen, warum sie der Opposition eine Mitschuld an ihrer Lage gibt und über ihre eigene Rolle zwischen Anspruch und Wirklichkeit.

    „Ich bin nicht in der Lage, Kompromisse mit meinem Gewissen einzugehen und etwas zu tun, wofür man sich schämen müsste.“ - Foto © Anatoli Shdanow/Kommersant
    „Ich bin nicht in der Lage, Kompromisse mit meinem Gewissen einzugehen und etwas zu tun, wofür man sich schämen müsste.“ – Foto © Anatoli Shdanow/Kommersant

    Vedomosti: Was halten Sie für den größten Erfolg Ihres Teams bei den letzten Wahlen, und, andersrum was war der größte Reinfall, die größte Enttäuschung?

    Ella Pamfilowa: Über einen Reinfall werde ich gewiss nicht sprechen, denn es war keiner. Der größte Erfolg war, dass es uns in kurzer Zeit gelungen ist, nicht nur die wichtigsten Makel und Mängel des gegenwärtigen Wahlsystems an die Oberfläche zu zerren, sondern auch, einen erheblichen Teil davon bis zum Wahltag zu beheben.

    Wenn man die Situation ehrlich und nüchtern analysiert und sie, wie es üblich ist, mit der gesamten Datenlage von 2011 vergleicht, so hat es erheblich weniger Unregelmäßigkeiten gegeben, während die Zentrale Wahlkommission (ZIK) ihnen gleichzeitig erheblich mehr Aufmerksamkeit geschenkt hat als je zuvor. In mehr als 50 Regionen hat es praktisch keine Beanstandungen gegeben, in den übrigen in unterschiedlichem Maß: In rund 20 Regionen waren sie mittelschwer; in 10 bis 15 Regionen hat es allerdings eine Reihe schwerer Verstöße in den verschiedenen Stadien des Wahlprozesses gegeben.

    Ich bin aber zutiefst davon überzeugt und weiß anhand der Datenlage, dass die Zahl an festgestellten Unregelmäßigkeiten das Bild der Wahlen insgesamt in keiner Weise auslöschen konnten.

    Der Physiker Sergej Schpilkin hat zur Analyse der Wahlen die Gaußsche Kurve herangezogen, die die Normalverteilung von Wahrscheinlichkeiten beschreibt. Seinen Angaben zufolge waren 45 Prozent des Gesamtergebnisses von Einiges Russland gefälscht …

    Niemand hat das mit echten Fakten belegt – die gibt es einfach nicht.

    Was wissenschaftliche und alle möglichen anderen Schlussfolgerungen betrifft, so bleiben es unbewiesene Annahmen, die nicht aktentauglich sind; ein Strafverfahren lässt sich daraus nicht stricken. Das heißt jedoch nicht, dass die ZIK sie ignoriert. Die angeführten „Anomalien“ – auch die von Schpilkin – zwingen uns, die betroffenen Regionen schärfer unter die Lupe zu nehmen und die Arbeit der lokalen Wahlkommissionen auf allen Ebenen sachlich eingehender zu analysieren.

    Ich habe Schpilkin eingeladen, wir hatten im Vorfeld ein Treffen mit seinen Kollegen vereinbart. Seine Ergebnisse sollten jedoch besser erst dann diskutiert werden, sobald er zum Vergleich auch eine Analyse der gerade abgelaufenen Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten vornimmt.

    Was war denn die größte Enttäuschung?

    Dass nicht alle meine Kollegen in den Regionen die Botschaft gehört haben, dass anrufen kann, wer will, um zu versuchen, ihnen etwas vorzuschreiben und irgendwelche Prozentzahlen einzufordern, dass aber sie selbst die Verantwortung tragen. Leider haben nicht alle darauf gehört und dem administrativen Druck nachgegeben, so dass es zu Verstößen kam. Leider haben sie nicht in Richtung Zentraler Wahlkommission geschaut und darauf, was der Präsident und die Präsidialadministration erklärt haben: Dass Rechtmäßigkeit und Vertrauen zählen, nicht Prozentzahlen.

    Nun, für sie erwiesen sich nun einmal die Spitzen der Regional- und Lokalregierungen als die großen Chefs, die – ausgehend von Firmen-, Lokal- oder anderen Interessen – keinen Versuch ausließen, durch die Wahlen ein mächtiges Parallelsystem zu schaffen, und diese armen Frauen und Lehrerinnen zu zusätzlichem Wahlzetteleinwurf oder anderen Manipulationen zerrten.

    Ich spreche hier von den Fällen, die wir aufklären konnten (die meisten dank der Anstrengungen der Zentralen Wahlkommission, die unter anderem auf Kameraüberwachung bestanden hatte).

    Meinen Sie nicht, dass klarere Richtlinien der Staatsführung geholfen hätten, dass die Leute sich anders verhalten hätten, die per Anruf Anweisungen erteilten, darunter sogar Gouverneure?

    Die Richtlinien haben nur diejenigen nicht gehört, die sie nicht hören wollten. Ich beispielsweise wäre nicht zur ZIK gegangen, wenn ich Zweifel an dem gehabt hätte, was der Präsident öffentlich erklärt hat. Ich habe alle Leiter der regionalen Wahlkommissionen zusammengerufen, und sowohl der Erste stellvertretende Leiter der Präsidialadministration als auch ich haben mehrfach wiederholt: Parallele Anweisungen hinter dem Rücken wird es nicht geben. Aber leider gibt es bei Wahlen oft Interessenkonflikte zwischen dem föderalen Zentrum in Moskau und den Eliten vor Ort.

    „Wir haben unglaublichen Widerstand zu spüren bekommen, aufgrund der Kollision der Interessen von Zentrum und Provinzeliten.“

    Wie ist die Geschichte mit dem baschkirischen Wahllokal in der Nähe von Ufa ausgegangen? Dort waren Journalisten von Reuters präsent, die Wahlbeteiligung lag im Endeffekt bei 23 Prozent; Jabloko erzielte 8 Prozent und Einiges Russland 34 Prozent?

    Für Baschkortostan wurden sehr strikte Maßnahmen beschlossen, nachdem die eingegangenen Beschwerden geprüft waren. Wir haben uns alles vorgenommen: Medienberichte, Meldungen aus dem Internet und sämtliche Beschwerden von Bürgern. Vertreter der ZIK sind dort hingefahren, um alles auf den Tisch zu legen. Insbesondere wurde das untersucht, was Reuters geschrieben hatte.

    So wurde in dem Wahllokal Nr. 284 – auf dieses hatten die Journalisten der Nachrichtenagentur aufmerksam gemacht – der Vorsitzende der örtlichen Wahlkommission suspendiert, und zwar wegen Handlungen, durch die die Präsenz von Wahlbeobachtern im Wahllokal eingeschränkt wurde, und wegen Verzögerungen der Stimmauszählung. Das ist aber nur ein Einzelaspekt. Darüber hinaus wurden in Baschkortostan weitere sechs Vorsitzende von Wahlkommissionen entlassen und vier abgemahnt. Kein Verstoß bleibt ohne Reaktion von uns. In nächster Zeit wird ein weiterer Besuch des ZIK in Ufa vorbereitet.

    Die Vielzahl von Fällen, in denen Oppositionsparteien für die Regionalwahlen nicht zugelassen wurden, speziell da, wo sie Chancen auf eine beträchtliche Stimmanzahl gehabt hätten – lassen die sich allein mit technischen Gründen erklären?

    Ja, es hat bei den Wahlen zu den regionalen Gesetzgebungsorganen solche Fälle gegeben, aber Sie übertreiben eindeutig, wenn Sie hier von einer „Vielzahl“ reden. Wo es eine Grundlage gab, sind wir dagegen vorgegangen. Jabloko in Weliki Nowgorod, Parnas und die Kommunisten Russlands in St. Petersburg, Rodina im Leningrader Gebiet, die Rentnerpartei im Gebiet Murmansk und [der Sekretär des ZK der KPRF Sergej] Obuchow in der Region Krasnodar sind wieder zugelassen worden. Wegen der Ruzkoi-Liste hat die Zentrale Wahlkommission dem Sekretär der Wahlkommission des Gebietes Kursk offiziell das Vertrauen entzogen; die Unterlagen über die von ihm begangenen Gesetzesverstöße wurden der Generalstaatsanwaltschaft übergeben.

    Anders gelagert sind Fälle, in denen einige regionale Wahlkommissionen mit Hilfe lokaler Gerichte gegen uns vorgegangen sind, etwa im Leningrader Gebiet und in St. Petersburg. Wir haben einen unglaublichen Widerstand zu spüren bekommen, eben aufgrund jener Kollision der Interessen von Zentrum und Provinzeliten. Das ist ein schwerwiegendes politisches Problem, das die Möglichkeiten der Zentralen Wahlkommission bei weitem sprengt. Alles, was wir herausgefunden haben, wird jetzt systematisiert, damit sich so etwas in Zukunft nicht wiederholt.

    Wie lässt sich eine Wiederholung verhindern?

    Meine Aufgabe ist es, dem Präsidenten ein objektives Gesamtbild zu vermitteln, wie es sich uns dargestellt hat. An ihm ist es dann, Schlüsse zu ziehen und Entscheidungen zu treffen. Mir ist klar, dass nicht allein ich meine Analyse vorlege, sondern auch andere. Also wird es darauf ankommen, wer überzeugender ist.

    Hätten Sie sich gewünscht, dass mehr Parteien ins Parlament einziehen? Hatten Sie damit gerechnet?

    Eindeutig! Je breiter das politische Spektrum, desto besser. Die Zentrale Wahlkommission hat alles denkbar Mögliche unternommen, damit die Parteien maximal vertreten sind. Es ist schade, dass weder rechtsliberale, noch linkspatriotische Parteien in die neue Duma eingezogen sind, aber das heißt nicht, dass man die Hände in den Schoß legen und auf die nächsten Wahlen warten sollte. Auch für die Partei der Macht gibt es keinen Grund, sich zurückzulehnen; sie hat nur dank dem Präsidenten einen solch eindeutigen Sieg eingefahren.

    Andererseits kann und will ich das inhaltsleere Gejammer der Verlierer nicht ernst nehmen. Man kann seine Misserfolge ja ewig auf das böse Regime oder die Wahlkommission schieben.

    Es würde an ausgesprochene politische Infantilität grenzen, würde man von Pamfilowa unglaubliche Wunder erwarten: dass sich plötzlich all die potentiellen Manipulanten in Reih und Glied aufstellen, salutieren und in einem Anfall von Uneigennützigkeit faire Wahlen durchführen, und die Oppositionsparteien automatisch in die Duma gelangen. Wissen Sie, jeder trägt seinen Teil an Verantwortung. Und da stelle ich die Gegenfrage: Was haben wir nicht getan, was hat die Zentrale Wahlkommission nicht getan? Was hätte ich tun können und habe es nicht getan?

    Wir haben Unregelmäßigkeiten aufgedeckt, haben Wahlen annulliert, die Schuldigen bestraft, dreihundert Fälle den Justizbehörden übergeben und für maximale Transparenz des gesamten Wahlprozesses gesorgt. Wir haben die Presse, alle politischen Parteien, einschließlich der Opposition, und auch die Wahlbeobachter angemessen unterstützt; haben denjenigen, die missbräuchlich die Administrative Ressource eingesetzt haben, mit unvermeidlicher Strafe gedroht (Hoffnung hierauf besteht immer noch), die Bearbeitung der restlichen Beschwerden wird mit aller Sorgfalt fortgeführt …

    Man sollte nicht nur der Regierung Vorwürfe machen, sondern auch an den eigenen Fehlern arbeiten. Und da gibt es, ehrlich gesagt, noch einiges zu tun. Außerdem muss man lernen, aus einer Niederlage heraus die Grundlage für künftige Siege zu schaffen.

    „Ich kann und will das Gejammer der Verlierer nicht ernst nehmen. Man kann Misserfolge ewig auf das böse Regime oder die Wahlkommission schieben.“

    So hatte etwa Parnas in Petersburg keine schlechten Chancen, in die Gesetzgebende Versammlung einzuziehen, wenn die Partei insgesamt ihre Ressourcen nicht über die Regionen verstreut, sondern sich auf die Unterstützung ihrer Petersburger Parteigenossen konzentriert hätte.

    Und was ist das für eine Opposition, die nur im Gewächshaus gedeiht?

    Hatten Administrative RessourcenEinfluss? Das hatten sie. Ein Gouverneur schneidet bei einer Einweihung das Band durch – ist das indirekte Wahlwerbung? Ja – in derartigen Fällen ist die Vagheit der Rechtsvorschriften in vollem Maße ausgenutzt worden.

    Nichts ist einfacher, als alles auf die Administrative Ressource zu schieben. Stellen wir uns einmal vor, es gäbe sie nicht. Wären viele Parteien in der Lage, diesen Raum zu füllen? Und womit? Welche personelle Ressourcen hat denn eine Partei, wenn sie aus ihren Reihen nicht einmal genug Wahlbeobachter rekrutieren kann?

    Warum brauchte die Regierung eigentlich plötzlich ehrliche Wahlen?

    Seit März 2014, nach dem Anschluss der Krim, hat sich die Befindlichkeit der Bevölkerung, das gesellschaftliche Bewusstsein grundlegend verändert, die Beziehungen innerhalb des Landes sind jetzt andere. Als Antwort auf all die drängenden Probleme erlangte bei einem Großteil der Bevölkerung die Frage nach der Sicherheit des Landes größte Priorität; auch Russlands Beziehungen zum Ausland haben sich geändert. Da kam die Staatsführung zu der Überzeugung, dass man diese Wahlen auch ehrlich, ohne Manipulationen gewinnen könne. Außerdem hatte man Lehren aus 2011 gezogen – viele wollen keinen Massenaufruhr.

    Wäre denn eine Situation wie 2011 im Jahr 2016 überhaupt möglich gewesen? Bolotnaja, Krise – das wollen die Menschen nicht mehr.

    Aber darauf kann man nicht bauen. Wenn die Staatsführung klug ist, dann nutzt sie diese Stimmung nicht aus. Wenn die grundlegenden Interessen der Menschen und ihr gesamtes Problemspektrum, mit dem sie konfrontiert sind, nicht berücksichtigt werden, dann kann das traurig enden. Eine Ressource ist versiegt, und eine neue tut sich womöglich nicht auf, wenn man sich nicht darum kümmert.

    Eine neue könnte ein Bürgersinn sein, die Haltung, dass einem nicht alles egal ist. Die Einstellung von Bürgern, die nicht auswandern wollen, die hier leben und Selbstachtung empfinden wollen. Dazu braucht es normale Gerichte, Rechtsorgane, die die Menschen schützen; es braucht gesellschaftliche Institutionen, die sich entwickeln, Feedback und vertikale soziale Mobilität. Ich hoffe, dass es hierfür eine Einsicht, ein Bewusstsein gibt.

    Ist die niedrige Wahlbeteiligung ein Zeichen von Gleichgültigkeit?

    Ich würde gar nicht sagen, dass sie sehr niedrig war; es war einfach die niedrigste bei Wahlen dieser Tragweite, die es in unserer Geschichte gegeben hat. Und das sollte schon ein wenig beunruhigen. Natürlich wäre die Wahlbeteiligung bei einem Termin Ende September ein klein wenig höher gewesen. Aber war das der entscheidende Faktor?

    Wenn im September bei uns Präsidentschaftswahlen stattfinden würden, wäre die Beteiligung, da bin ich mir sicher, auf jeden Fall hoch. Der Wahltermin kann zwar einen Einfluss haben, doch das Entscheidende ist das Interesse für die Wahlen. Und worin besteht das? Es ist Sache der Politologen zu analysieren, ob der Wahlkampf interessant war oder nicht. Laut einigen Wissenschaftlern ist das Vertrauen in Wahlen eindeutig gestiegen. Aber hat es etwas gegeben, was den Nerv der Leute getroffen hat, was sie mitgerissen hat – haben die Leute gefühlt, dass der Ausgang dieser Wahlen ihr Leben bestimmen wird? Waren die Debatten der Parteien spannend? Keineswegs.

    Spekulationen über möglicherweise vorgezogene Präsidentschaftswahlen entstehen unter anderem, weil die Ausgaben für die Wahlen [2018 – dek] bereits im Haushalt 2017 berücksichtigt seien. Stimmt das?

    Ich wiederhole noch einmal, was ich bereits im September erklärt habe: Wenn die Gelder nicht im Haushalt 2017 veranschlagt worden wären, würden wir nicht schaffen, die Präsidentschaftswahlen zu organisieren; sie sollen ja am 11. März 2018 stattfinden.

    Kennen Sie das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen schon?

    Nein, ich weiß nicht einmal, wer kandidieren wird. Wissen Sie es?

    Alle kennen den Hauptkandidaten. Deshalb interessiert uns Ihre Meinung dazu. Alle sind überzeugt, dass Putin gewinnen wird.

    Wenn alle so überzeugt sind, warum fragen Sie dann? Mir persönlich hat Wladimir Wladimirowitsch Putin nicht gesagt, dass er kandidieren wird. Wenn aber alle überzeugt sind – umso besser! Mir persönlich hat niemand etwas gesagt. Merkwürdige Frage. Ich denke eher darüber nach, wie man das hier alles umorganisieren kann, wie man ein System schaffen kann, das in jedweder Situation funktioniert.

    „In Bezug auf Ungerechtigkeit und Rechtsverstöße verstehe ich mich stets als Oppositionelle und versuche, Menschen zu verteidigen.“

    In Ihrer politischen Karriere fanden Sie sich oft in Opposition zur Regierung wieder, ja sogar als Teil der Opposition. Wie fühlen Sie sich in der Rolle einer staatlichen Amtsträgerin? Warum haben Sie sich bereiterklärt, den Posten an der Spitze der Zentralen Wahlkommission zu übernehmen?

    In Bezug auf Ungerechtigkeit und Rechtsverstöße verstehe ich mich stets als Oppositionelle und versuche in jeder möglichen Eigenschaft, Menschen zu verteidigen. Deshalb bin ich immer in Opposition zu denjenigen, die Verstöße begehen. Wenn es seitens der Regierung zu Verstößen kommt, dann spreche ich das an. Das habe ich immer getan. Jetzt bin ich zum ersten Mal seit 1994 im Staatsdienst, seit ich damals zweieinhalb Jahre lang Ministerin war … Seither habe ich keine staatlichen Ämter innegehabt und keinerlei Gehälter vom Staat bezogen, bis 2014, als ich Menschenrechtsbeauftragte wurde.

    Warum ich in einen Wechsel in die Zentralen Wahlkommission eingewilligt habe? Weil der Wille des Präsidenten deutlich zum Ausdruck gekommen war, dass die Wahlen fair und transparent sein sollten. Das entsprach meinen Vorstellungen. Ich bin nicht in der Lage, Kompromisse mit meinem Gewissen einzugehen und etwas zu tun, wofür man sich schämen müsste. Deswegen tue ich aufrichtig das, was ich tun muss, wenn auch vielleicht mit Fehlern – ich bin ja auch nur ein Mensch. Ich spüre einen gewissen Optimismus, weil ich inzwischen besser informiert bin, besser die positiven und negativen Seiten des Systems verstehe; mir ist klargeworden, dass man mit ihnen fertig werden kann.

    Und Sie glauben nicht, dass man Sie benutzt hat?

    Und Sie glauben nicht, dass Sie benutzt werden? Etwa, um behaupten zu können, dass es im Land freie Medien gibt? Wenn man so argumentiert, läuft es darauf hinaus, dass in diesem System alle ohne Ausnahme ihre routinemäßige Rolle ausfüllen und alle, auch die Oppositionellsten aller Oppositionellen, ganz genauso benutzt werden. Wir können das Thema gern noch weiter diskutieren und die Situation ins Absurde treiben.

    Wir müssen von der Realität ausgehen und das tun, was zu tun ist. Wenn du glaubst, dass du deinen Beitrag dazu leisten kannst, dass sich die Leute als Bürger wahrnehmen, damit sie verstehen, dass auch von ihnen viel abhängt, dann sollte man das auch tun. Es geht dabei um Rechtsaufklärung und um Erziehung zu bürgerlicher Würde.

    Als ich vor vielen Jahren die Bewegung Zivilgesellschaft – für die Kinder Russlands begründet habe, da dachte man nicht an die Kinder und schaute auf uns wie auf Verrückte. Es sind nun viele Jahre vergangen, das System verändert sich langsam. Manchmal weißt du nicht einmal, wann das Korn aufgeht, das du einst gesät hast.

    Sie setzen sich weiterhin für Familien ein?

    Soweit das möglich ist. Seinerzeit hatte ich zwei Stipendiaten, Waisen aus der Provinz, die an der Schtschukin studierten. Vielen habe ich geholfen, auf ganz unterschiedliche Art … Einmal habe ich sogar einer kinderreichen Familie geholfen, eine Kuh zu kaufen.

    Es gab eine Zeit, da musste ich aufgrund meiner Tätigkeit allen helfen. Dann kam der Augenblick, wo ich jenen helfen konnte, denen ich helfen will, die nämlich versuchen, sich selbst zu helfen.

    Das Wichtigste ist, dass man von niemandem einen Dank erwartet – und wenn dann jemand doch einmal Danke sagt, darüber ungeheure Freude zu empfinden.


     

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

    Weitere Themen

    Staatsduma

    Sofa oder Wahlurne?

    Infografik: Dumawahl 2016

    Presseschau № 41: Dumawahl 2016

    Ist was faul an der Kurve?

    Sieg der Stille

    Drei Russlands

    Ella Pamfilowa

    Wahlfälschungen in Russland

  • „Der Point of no Return liegt hinter uns“

    „Der Point of no Return liegt hinter uns“

    Sergej Petrow ist Russlands größter Autoimporteur und war zuletzt neun Jahre lang Abgeordneter der Staatsduma. Nun will er nicht noch einmal zur Wahl antreten. Als Politiker wollte er etwas verändern, politischen Wettbewerb anregen – hat jedoch das Gefühl, nichts erreicht zu haben. Mittlerweile sieht er das Parlament als Institution im Niedergang begriffen.

    Noch sitzt der Milliardär für die Partei Gerechtes Russland in der Duma, die jetzt am Sonntag neu gewählt wird. Aus Teilen dieser Fraktion gab es in der Vergangenheit zeitweise aufmüpfige Töne – auch wenn das selten größere Wirkung hatte. Petrow selbst stimmte gegen das Dima-Jakowlew-Gesetz und das Jarowaja-Paket, bei der Angliederung der Krim enthielt er sich als einer von ganz wenigen Abgeordneten der Stimme. Petrow ist der Meinung, dass die Bürger gute Politik viel stärker einfordern müssten. Erst eine starke Krise, eine Erschütterung, wenn nicht gar ein Zusammenbruch des Systems könne einer liberalen oppositionellen Kraft dabei wirksame Unterstützung bringen.

    Im Interview mit dem liberalen Wirtschaftsblatt Vedomosti gibt der Geschäftsmann eine vielbeachtete Innenansicht aus dem russischen Parlament.

    Sergej Petrow saß neun Jahre lang in der Duma – nun wird er nicht mehr antreten /Foto © Sergej Kisselew/Kommersant
    Sergej Petrow saß neun Jahre lang in der Duma – nun wird er nicht mehr antreten /Foto © Sergej Kisselew/Kommersant

    Vedomosti: Sie haben früher oft in Interviews gesagt, dass Sie auf die große Krise im Land warten und nicht an die Möglichkeit einer schrittweisen Entwicklung glauben. Wann wird das Ihrer Meinung nach passieren?

    Sergej Petrow: Manchmal weiß man zwar, was passieren wird, kann aber nicht voraussagen, wann.

    Genau das ist jetzt der Fall. Ich weiß, dass wir einen Weg eingeschlagen haben, der höchstwahrscheinlich keinen evolutionären Ausweg mehr bietet, der Point of no Return liegt hinter uns, und das System wird voraussichtlich mit einem Riesenkrach in sich zusammenstürzen, wie alle festgefahrenen Strukturen.  

    Sie glauben also nach wie vor, dass sich in Russland eine Ineffizienz anhäuft, die letztlich zum Zusammenbruch führt?

    Missverhältnisse werden stärker, der Niedergang der Institutionen schreitet voran. Unter normal funktionierenden Institutionen verstehe ich zum Beispiel eine Polizei, die vor allem dem Gesetz folgt, und nicht den Anweisungen des Innenministers. Bei uns verstehen viele Leute unter Begriffen wie Konkurrenz und Institutionen das, womit sie aufgewachsen sind, also etwas ziemlich Exotisches.

    Glauben Sie, dass Reformen unmöglich sind?

    Wenn Sie historische Parallelen finden, wo ein System reformiert werden konnte, das ein solches Niveau des Niedergangs erreicht hat, ändere ich gern meine Meinung. Ich bin zwar kein Historiker, aber ich glaube nicht, dass es solche Beispiele gibt. Obwohl uns klar ist, dass es uns ohne Reformen langfristig schlechter geht, nehmen wir lieber die Katastrophe morgen in Kauf als den sanften Ausstieg heute. Hätten wir in der UdSSR in den 1970er Jahren mit Reformen begonnen, wäre sie 1991 vielleicht nicht zusammengebrochen.

    Duma-Diagnose

    Können Sie eine Diagnose zur Situation im Parlament stellen? Warum ist ein Gesetz wie das Jarowaja-Paket möglich, wo doch für jeden denkenden Menschen offensichtlich ist, welchen Schaden es anrichtet?

    Jede Struktur verkommt allmählich, wenn sie keine wirkliche Verantwortung trägt –  wenn der Glaube vorherrscht, die endgültige Verabschiedung eines Gesetzes hänge nicht von einem selbst ab, wenn man als Abgeordneter nicht den eigenen Namen unter das Jarowaja-Paket setzen muss und es auch nachher nicht gleich wieder selbst revidieren muss.

    Wenn die Dinge so stehen, schämt sich niemand für seine Unprofessionalität. Und schreibt dann solche Gesetzesentwürfe: „Ich möchte, dass alle in Frieden leben und gut zueinander sind.“ Wie das zu geschehen hat, ist Sache der Regierung. Im Gesetzestext folgen nur Verweise auf Rechtsnormen.

    Ein solches Niveau der Gesetzgebung wäre in einem normalen Parlament unmöglich – unserem erlaubt es, gut 500 Gesetze pro Jahr zu beschließen, ohne für ihre Qualität Verantwortung zu übernehmen. Klar ist es leichter, auf technische, aber für Wirtschaft und Bevölkerung notwendige Gesetze zu verzichten und lieber solche zu verabschieden, hinter denen die Fraktionen stehen.

    Die Kollegen in den Ausschüssen sehen sich dann an, wie gut das Gesetz durchgeht und wer es eingebracht hat. Der Präsident? Dann bloß nicht diskutieren. Die Regierung? Da kann man schon mal was sagen. Hör mal, heißt es dann, das ist doch dein Vorschlag, du profitierst sicher davon, komm, gib uns auch was ab. Bei uns gibt es kein Anti-Lobbyismus-Gesetz. Die Kollegen können nicht glauben, dass ein Gesetz zum Wohl eines ganzen Wirtschaftszweigs beschlossen werden soll, weil sie in einem Umfeld aufgewachsen sind, wo das nie jemand so gemacht hat. Du sagst ihnen: Die Amerikaner haben uns in den 1940er Jahren mit dem Lend-Lease-Act geholfen, und dann auch in den 1990ern, und sie sagen darauf: Was war das denn bitte für eine Hilfe, ihre alten Vorräte haben sie uns angedreht. Eine solche Wahrnehmung ist natürlich ein Riesenproblem in der Kommunikation.

    Wenn die Abgeordneten in schönster Eintracht dem Jarowaja-Gesetz zustimmen oder dem Gesetz zur Adoption russischer Waisenkinder durch Ausländer? Folgen sie damit ihren eigenen Interessen, oder wird Druck auf sie ausgeübt, gibt es da Abhängigkeiten?

    Die Debatten im Parlament sind eine Methode, Konflikte in einer reifen Gesellschaft zu lösen, und wir haben uns dafür als zu schwach erwiesen. Bevor man in Rechte und Linke einteilt, muss man zuerst einmal eine ausreichende Menge an Menschen mit einer eigenen Meinung haben.

    Bei uns ist alles in den Händen von denen, die noch den byzantinischen Stil verkörpern und nicht verstehen, wozu eine Opposition gut sein soll

    Sogar unter den Anhängern von Jedinaja Rossija haben einige gegen das Dima-Jakowlew-Gesetz gestimmt, ohne auf den Fraktionszwang zu achten. Tatsache ist, dass solche Alleingänge zu keiner besonderen Entrüstung im Kreml führen, sie ärgern vielmehr die Kollegen [die Mehrheit, die dafür stimmt]: „Wollen die uns als Halunken hinstellen?“

    Als erstes müssen unsere Abgeordneten lernen, unabhängig zu sein. Das wird nur funktionieren, wenn die politischen Kräfte ausgewogen sind und die Unabhängigen sich auf jemanden stützen können. Bisher ist jeder einzeln unterwegs und denkt, jede Minderheit mit anderer Meinung sei die Opposition. 

    Sie waren einer von sieben, die gegen das Adoptionsverbot durch Ausländer gestimmt haben. Wie haben Ihre Kollegen reagiert?

    Die Kollegen haben geflüstert: „Was machst du denn da? Die werden dich und uns auffressen.“ Das ist diese Geschichte mit der doppelten Moral: Als Kind bringt dir deine Mutter bei, die Wahrheit zu sagen, aber spätestens in der zweiten Klasse weißt du, dass du in der Schule etwas anderes sagen musst als zu Hause in der Küche.

    Wovor haben die Abgeordneten Angst – ihren Sitz zu verlieren, ihre Privilegien?

    In den neun Jahren, die ich im Parlament verbracht habe, habe ich gesehen, wie sich binnen kürzester Zeit sogar Leute, die ihre Meinung äußern konnten, daran gewöhnten, dass es einfacher ist, das zu tun, worum man gebeten wird. Ihr genetisches Gedächtnis sagte ihnen, dass man sich lieber nicht zu weit aus dem Fenster lehnt, wenn jemand Entscheidungen trifft und, wie Gaidar schreibt1, zu uneingeschränkter Gewalt bereit ist. Das ist eben jenes historische Gedächtnis: dass ganze Dörfer niedergebrannt wurden, weil ihr euch aufgelehnt habt – und niemand konnte euch schützen. Politische Gegengewichte wurden in Russland nicht geduldet, dafür gibt es Tausende Beispiele.

    Meinen Sie, dass bei den Abgeordneten sogar im Falle absolut ehrlicher Parlamentswahlen mit der Zeit ein moralischer Niedergang einsetzt – aufgrund der durch die Vorgeschichte bedingten Mentalität?

    Die Mentalität kann sich ändern. In Russland ist eine soziale Schicht entstanden – Umfragen zufolge ungefähr 14 Prozent der Bevölkerung – die ein westliches, differenzierteres Verständnis des Parlamentarismus fordert, eines, in dem Minderheiten geschützt werden. Derzeit gilt ja bei uns das einfachste Muster: Wir sind die Mehrheit, wir entscheiden. Ihr seid gegen die Mehrheit? Dann seid ihr gegen die Heimat!  

    Die Abgeordneten sehen für sich keinerlei Vorteil darin, unabhängig zu sein. Nicht mit Unabhängigkeit machen sie sich bei den Wählern beliebt, sondern damit, dass sie zum Beispiel für ihren Wahlkreis ein Stück mehr Territorium ergattern, aus einem anderen Wahlkreis – das ist eine Leistung. Der Sinn des Satzes „Widerspruch ist die höchste Form des Patriotismus“ ist für die Gesellschaft vorläufig nicht greifbar.

    ABSCHIED VOM PARLAMENT

    Wann haben Sie beschlossen, die Duma zu verlassen?

    Bereits im Herbst 2015. Für einen Unternehmer bringt der Abgeordnetenstatus sehr viele Einschränkungen mit sich: Man darf keine Konten im Ausland haben, keinen ausländischen Pass, man darf nicht Mitglied eines Verwaltungsrats sein. Man darf dies nicht, man darf jenes nicht. Das ist alles sehr belastend für eine Geschäftsleitung, für ein Unternehmen. Gleichzeitig konnte ich das, was ich in der Duma wollte, nicht erreichen: den politischen Wettbewerb anzuregen, wenigstens die Unabhängigkeit der Gerichte zu garantieren, für den Aufbau von Institutionen zu sorgen. Es gibt sehr viel Gegenwind.

    Gibt es denn etwas, das Sie erreicht haben?

    Ich sehe es so, dass sich die Situation kontinuierlich verschlechtert hat und ein einzelner Abgeordneter nicht viel ausrichten konnte. Das Einzige, was ich tun konnte, war: den anderen ein Beispiel für Unabhängigkeit sein. Aber die sagten: „Er hat irgendwelche Beziehungen zur Präsidialadministration, deswegen kann er sich das erlauben.“ Die Mehrheit nimmt die Botschaft, die sie aussenden, also sowieso nicht wahr, aber vielleicht folgt ja in der Zukunft jemand ihrem Beispiel.

    Aber das muss man alles vor dem Hintergrund der Ausgangssituation betrachten. Seit dem Beginn meiner Tätigkeit in der Duma ist alles viel schlechter geworden, wir haben nichts erreicht. Aber seit 1991 haben wir viel erreicht: Wir leben nicht mehr im Sozialismus und höchstwahrscheinlich führt kein Weg mehr zurück in die Planwirtschaft. Mittlerweile sind 14 Prozent der Bevölkerung oppositionell eingestellt – das sind nicht mehr die paar hundert Dissidenten, die wir in den 1970er Jahren hatten, die Hälfte davon in der Klappse und die andere Hälfte im Gefängnis. Dieser Zuwachs ist ein großartiges Ergebnis. Also von wo aus wollen wir die Situation betrachten?

    Sie hatten doch einen Plan, mit dem Sie in der Duma begonnen haben. Konnten Sie den umsetzen?

    Ich wollte, dass eine Fraktion entsteht, egal welche, die eine Konkurrenz zur Mehrheit bildet. Politische Konkurrenz ist das Wichtigste, denn dann muss im Parlament verhandelt werden. Meinetwegen auch mit den Kommunisten. Es ist schwer, ein Gleichgewicht zu erreichen, solange die Gesellschaft nicht sukzessive in eine neue Entwicklungsphase eintritt. Wir haben nach 1991 zu viel erreicht, sind über das eigentliche Niveau unserer politischen Bildung hinausgeschossen. Und nun rutschen wir Stück für Stück wieder ab und auf die nächste Krise zu. Die, wie ich hoffe, der Opposition als konkurrierender politischer Kraft eine Unterstützung von 30 bis 35 Prozent verschaffen wird.

    WAS DIE WÄHLER TUN KÖNNEN

    Michail Prochorow bekam bei den Präsidentschaftswahlen sieben Prozent. In absoluten Zahlen sind das sehr viele Menschen. Warum hat ihm das nicht geholfen? Ihn nicht geschützt?

    Sieben Prozent sind viel zu wenig für ein Kräftegleichgewicht. Selbst 49 Prozent würden nicht reichen, wenn die Opposition nicht weiß, wie sie die Energie der Proteste in Taten überführen soll, die eine Veränderung der politischen Landschaft bewirken. Es gibt in Russland keine Spaltung zwischen Konservativen und Labourpartei, oder Menschen, die höhere Steuern oder Sozialleistungen wollen. Bei uns ist alles in den Händen von denen, die noch den byzantinischen Stil verkörpern und überhaupt nicht verstehen, wozu eine Opposition gut sein soll. Sie hindert doch nur daran, die Amerikaner bei irgendetwas zu übertrumpfen oder jemandem ein Stück Land zu entreißen. Stellt unnötige Fragen. Die Idee des Fair Play ist uns Russen völlig fremd.

    Hypothetisch sind erst einmal alle Menschen, die an der Macht sind, aus Putins Umfeld. Der Radius ist mal größer mal kleiner

    Es ist sehr schlecht, dass man uns in den letzten zehn Jahren des politischen Lernzyklus beraubt hat, bei dem die Wähler zwar Fehler machen, einen Populisten oder Kommunisten wählen, dabei aber trotzdem vor allem eine ehrliche Stimmauszählung fordern. Bei dem sich die Opposition zusammentut und sagt: Bevor wir darüber reden, wer hier was möchte, nehmt erstmal die Filter aus dem System, die unfairen medialen Möglichkeiten und überhaupt die Möglichkeit, einfach so irgendetwas „abzuschaffen“. Wie [Alexander] Korshakow seinerzeit vorschlug: Lasst uns die Wahlen abschaffen! Woraufhin es hieß: Aber das Verfassungsgericht wird das anfechten. Und er wiederum sagte: Dann schaffen wir das Verfassungsgericht ab …

    Was sollen die von Ihnen genannten 14 Prozent Protestwähler tun, um ihre Position kundzutun?

    Ich würde ihnen natürlich raten, wählen zu gehen, wenn sie eine Entwicklung wollen. Wir alle sind berufstätige Menschen und wollen kein Chaos auf den Straßen, davon hat keiner etwas.

    Ich würde zu allen genehmigten Demonstrationen gehen, denn das war das Einzige, worauf die Regierung reagiert hat. Ich würde ihnen raten, selbst als Beobachter zu den Wahlen zu gehen, anstatt zu Hause zu sitzen und davon auszugehen, dass ein anderer alles für sie überprüft. Sie sollten sich vor Augen halten, dass jeder bis zum nächsten Wahlgang ein Dutzend Freunde und Bekannte rekrutieren kann.

    Glauben Sie denn, dass die Wirtschaftskrise den Liberalen mehr Anhänger bringen wird?
    Menschen, die plötzlich ohne Arbeit oder mit einem verringerten Lohn dastehen, stellen mehr Fragen. Solange alles gut ist, sind alle der Meinung, dass wir den Präsidenten und das Establishment grundlos [mit unserer Kritik – Anm. d. Red. Vedomosti] belästigen. Unter den Wählern gibt es natürlich auch die 30 Prozent, die nichts dagegen hätten, gleich morgen Kiew einzunehmen. Aber 45 Prozent sind ein Sumpf, der brodeln würde, sobald die Probleme größer werden. Dann würden sie höchstwahrscheinlich hinhören, was die Liberalen zu sagen haben. Wenn wir bis dahin allerdings keine Partei oder faire Auszählungen haben und als Konkurrenz Kriminelle und Nationalisten losgelassen werden, sind die gesellschaftlichen Spannungen nicht zu lösen. 

    Die Duma spielt ganz offensichtlich keine eigenständige politische Rolle, sondern setzt die Entscheidungen von Administration und Regierung technisch um. Gleichzeitig sehen wir, wie hinter den Kulissen Menschen aus Putins Umfeld zunehmend an Bedeutung gewinnen. Wie kommt das?

    Weil davon so wenig an die Öffentlichkeit dringt, tendieren wir dazu, deren Rolle manchmal überzubewerten … Aber hypothetisch sind erst einmal alle Menschen, die an der Macht sind, aus Putins Umfeld. Der Radius ist mal größer mal kleiner.

    Zudem wirkt sich die außenpolitische Situation auf die Lage im Inneren aus, genauso wie tausend andere Dinge. Glauben Sie mir, den Einfluss einer einzigen Gruppe gibt es nicht. Es findet vielmehr eine Art Maklergeschäft statt, bei dem die führenden Kräfte schauen und entscheiden – dem Stärksten muss man helfen und Entscheidungen zugunsten einer einflussreichen Gruppe treffen. Manchmal  bringen irgendwelche Gruppen auch Initiativen ein, ohne das Zentrum in Kenntnis gesetzt zu haben – einfach, um die Reaktionen zu sehen: Der eine bekommt eins auf den Deckel, der andere steht plötzlich in der Gunst. Und sie bekommen die Mehrheit, weil die Gesellschaft keine anderen Forderungen stellt. Das Szenario, dass in einer dieser Gruppen unser Lee Kuan Yew heranwächst, ist sogar in der Fantasy-Welt zu gewagt.

    PROGNOSE

    Was denken Sie über die Losung „Faire Wahlen“ und Ella Pamfilowa in der Zentralen Wahlkommission? Ist das alles nur zum Schein oder steckt dahinter tatsächlich der Wunsch, fair zu spielen?

    Das ist Stühlerücken auf der Titanic. Aber immerhin besser als Wahlbetrug.

    Glauben Sie, dass die Präsidialadministration bereit ist, ein saubereres Verfahren zuzulassen?

    Es sind ja nicht die Leute aus der Präsidialadministration, die die Wahlen fälschen. Das macht irgendeine Person vor Ort. Die regionalen Regierungen kennen sich damit aus.

    Was haben sie dann zu befürchten? Sogar wenn man saubere Wahlen zuließe, bestünde doch keine Gefahr für sie, weil das politische Feld geschützt ist.

    Im Augenblick schon. Aber wenn man saubere Wahlen zulässt, dann kann schnell eine Gefahr entstehen. Diese Leute lösen immerzu taktische Aufgaben und sind lausige Strategen. Sie arbeiten daran, das Land möglichst lange in einem durch sie lenkbaren Zustand zu halten, weil sie davon ausgehen, dass niemand besser regiert als sie. Ich kann sie verstehen, sie folgen ihrer eigenen Logik, aber mir passt diese Logik nicht. Deswegen muss man einfach schauen, wie viele Anhänger sie haben, wie viele wir, und das Verhältnis langsam zu unseren Gunsten verändern. Unsere 14 Prozent sind in der Regel selbstgenügsame Leute, die Arbeitsplätze schaffen und die Wirtschaft ankurbeln. Ihr Einfluss wird sich jetzt vergrößern, weil die Wirtschaft langsam zum Erliegen kommt.

    Das heißt also, Sie halten die Selbstorganisation für eine Aufgabe der Wählerschaft und nicht der Politiker?

    Diese Aufgabe wird niemals von Politikern übernommen. Mir sagt folgende Aussage am ehesten zu: Je weniger Bedeutung wir der Rolle einzelner Persönlichkeiten in der Geschichte beimessen, desto näher kommen wir der Wahrheit. Politiker orientieren sich an den Forderungen der Wähler.

    Wer wird also in die Duma kommen? Menschen, die in noch größeren Abhängigkeiten stehen? Kann es noch schlimmer werden?

    Das kann es immer. Solange eine Gesellschaft ihre Minderheit und deren Standpunkt nicht schützt, wird sich das Parlament mit großer Wahrscheinlichkeit verschlechtern. Es braucht eine starke ökonomische oder irgendeine andere Erschütterung. Etwas muss passieren, damit die Menschen beginnen sich zu fragen: Wir verlassen uns doch immer auf die Regierung, warum ziehen wir dann immer den Kürzeren?


    1.Jegor Gaidar in Der Untergang eines Imperiums, 2006: „Die Überzeugung der Staatsmacht und der Gesellschaft davon, dass der Staat fähig ist, in uneingeschränktem Ausmaß Gewalt anzuwenden, um die Äußerung von Unzufriedenheit zu unterbinden, war absolut.“ – Anm. Vedomosti


    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

    Weitere Themen

    „Die Rhetorik derzeit ist komplett putinozentrisch“

    Duma: Masse statt Klasse?

    Oden an die Hunde von Schuwalow

    Wahlen, na und?!

    „ … sonst bleibt nur der Revolver“

    Das Labyrinth der Pandora

  • Duma: Masse statt Klasse?

    Duma: Masse statt Klasse?

    Die kritische Internet-Community nennt sie oft den „durchgedrehten Drucker“, der massenhaft Gesetze ausspuckt: die russische Staatsduma. Die Volkskammer der sechsten Legislaturperiode (seit der Verfassungsreform von 1993, mit der das Parlament eingeführt wurde) hat Ende Juni ihre Arbeit beendet. Nach der parlamentarischen Sommerpause stehen im September 2016 Neuwahlen an.

    Nach heftigen Wahl-Protesten hatte die sechste Staatsduma im Dezember 2011 ihre Arbeit aufgenommen und in der Zeit bis Ende Juni 2016 mehr Gesetze beschlossen, als in jeder Legislaturperiode zuvor. Der Paukenschlag kam vor der letzten Sitzung: Das umstrittene Anti-Terrorpaket mit womöglich verheerenden Auswirkungen auf die Meinungs- und Informationsfreiheit, nach der initiierenden Abgeordneten auch JarowajaGesetz genannt, wurde durchgewunken.

    Es ist nicht der einzige umstrittene Gesetzesentwurf der vergangenen Legislaturperiode: Das Dima-Jakowlew-Gesetz, das unter anderem US-Amerikanern die Adoption russischer Kinder verbietet, ein weiteres Gesetz, das homosexuelle „Propaganda“ unter Strafe stellt, das NGO-Agentengesetz, wonach NGOs nicht mit ausländischen Geldern finanziert werden dürfen, sowie die rechtlichen Grundlagen für die Angliederung der Krim 2014 – das sind nur einige der Neuerungen, die zwischen 2011 und 2016 verabschiedet wurden.

    Zur finalen Sitzung fand Präsident Wladimir Putin lobende Worte und dankte den Abgeordneten unter anderem für ihre „konsolidierende Unterstützung“ zum Wohle Russlands.

    Doch welch politisches Klima bleibt nach so viel Gesetzesnovellen und -änderungen? Wie sehr kann die Duma parlamentarischen Kompetenzen nachgehen? Die renommierte Politologin Ekaterina Schulmann zieht auf Vedomosti kritische Bilanz.

    Präsident Wladimir Putin dankt den Duma-Abgeordneten für ihre „konsolidierende Unterstützung“ zum Wohle Russlands – Foto © kremlin.ru
    Präsident Wladimir Putin dankt den Duma-Abgeordneten für ihre „konsolidierende Unterstützung“ zum Wohle Russlands – Foto © kremlin.ru

    Russlands sechste Staatsduma hat ihre Arbeit für die laufende Legislaturperiode abgeschlossen. Fünf Jahre und neun Sitzungsperioden liegen hinter uns, mit über 6000 zur Prüfung vorgelegten Gesetzesentwürfen und 1816 neuen Gesetzen, 383 davon allein in der letzten Sitzungsperiode.

    Pro Sitzungsperiode hat die Staatsduma in der sechsten Legislaturperiode  zwischen 150 und 380 Gesetze verabschiedet. Zum Vergleich: Der Kongress der Vereinigten Staaten hat seit Januar 2015 183 Gesetze beschlossen; in der zweijährigen Legislaturperiode werden in den USA zwischen 175 und 279 neue Gesetze verabschiedet.

    „Je verdorbener der Staat, desto mehr Gesetze hat er“

    Was macht den Gesetzgebungsprozess derart schnell? Und warum bringen gerade semiautokratische Regime so viele Gesetze hervor? Dafür gibt es dreierlei Gründe – zwei schlechte und einen eher guten.

    Der erste Grund für die ungesunde gesetzgeberische Produktivität ist allgemeiner Natur und betrifft nicht nur das gegenwärtige politische System Russlands: Eine instabile Rechtslage ist per se gut für den Staat und schlecht für den Bürger. Es ist der Staat, der jedes neue Gesetz implementiert, und unabhängig von dessen Inhalt ist ein Teil des Verwaltungsapparats jeweils damit beschäftigt, es umzusetzen und Verstöße zu ahnden. Jedes neue Gesetz bedeutet neue Befugnisse und neue Möglichkeiten. Den Bürger seinerseits schützt bekanntlich Unwissenheit vor Strafe nicht – und die fortwährende Änderung der Regeln, nach denen er lebt, macht ihn in jedem Moment zum potentiellen Gesetzesbrecher. „Corruptissima re publica plurimae leges“, heißt es bei Tacitus: Je verdorbener der Staat, desto mehr Gesetze hat er.

    Jedes Gesetz der Beginn eines Feuerwerks von Überraschungen

    Zweitens funktioniert der Entscheidungsprozess in einem System, das sich von der Außenwelt abschottet und nur einem immer enger werdenden Kreis von Akteuren und Einflussgruppen zugänglich ist, nach zwei Prinzipien: Schnelligkeit und Geheimhaltung – eine Entscheidung muss plötzlich und unerwartet fallen. Dementsprechend werden bei solchen Entscheidungen, auch den gesetzgeberischen, weder unabhängige Expertenmeinungen noch die öffentliche Meinung zugelassen.

    Einmal in der Welt, entspricht die Entscheidung dann oft nicht den Erwartungen ihrer Initiatoren; ihre Umsetzung bewirkt ein nicht endenwollendes Feuerwerk von Überraschungen – umgehend werden Nachbesserungen erforderlich: Bis zu 85 Prozent der Gesetzesinitiativen, die die Duma prüft, sind keine im eigentlichen Sinne neuen, sondern Abänderungen schon bestehender Gesetze. Die Verabschiedung eines Gesetzes ist im russischen System nicht das Ende, sondern der Anfang der Diskussion über die „Regelung“ einer Branche oder Sphäre.

    Viele Gesetze – besser als viele Dekrete

    Und damit kommen wir zum dritten Grund, in dem man mit einigem guten Willen die positive Seite der parlamentarischen Stoßarbeit sehen kann: In vielen (lateinamerikanischen, nahöstlichen) Autokratien, die Russland typologisch ähneln, werden sämtliche aktuellen Fragen des politischen Lebens durch Dekrete oder Erlasse des Staatsoberhaupts gelöst. Das Parlament hat rein dekorative Funktion – nicht in dem Sinn, dass es „nichts mitzureden hat“, wie man in Russland sagt, sondern dass es gar nichts mitzureden gibt: Es gibt keinen Bedarf an neuen Gesetzen.

    In Russland ist dieses „Dekretrecht“ relativ schwach ausgebildet; die Zahl und das Gewicht der Fragen, die qua Erlass des Präsidenten entschieden wurden, sind nach der Regierungszeit Boris Jelzins unter Wladimir Putin gesunken (siehe z. B. Thomas Remington: Presidential Decrees in Russia: A Comparative Perspective, New York 2014).

    Das heißt, statt eines rein formalen Parlaments mit einem ersten Mann an der Spitze, der die Strahlen seiner Gnade via Ukas aussendet, haben wir ein Parlament, das eine große Zahl von Gesetzen beschließt – die ihrerseits eine noch größere Zahl von gesetzlichen Bestimmungen nach sich ziehen.

    Doch auch unter den gegenwärtigen Bedingungen werden Gesetze offener formuliert und diskutiert als Präsidentenerlasse. Und selbst eine noch so streng reglementierte und zentralisierte Duma ist allemal transparenter als jedes Ministerium – von der Präsidialadministration ganz zu schweigen.

    Kaum ein gutes Wort

    Über die nun zu Ende gegangene sechste Legislaturperiode wird kaum jemand ein gutes Wort verlieren. Der Präsident rechnete ihr in seiner Abschlussrede eine Reihe legislativer Maßnahmen als Verdienst an, mit denen sie nur sehr am Rande zu tun hatte, insbesondere die sogenannte rechtliche Integration der Krim.

    Aus einem anderen Blickwinkel kann man das scheidende Parlament dafür loben, dass es das Interesse der Bürger und der Medien für den Gesetzgebungsprozess verstärkt hat, ja, dass es die Bürger des Landes zu ersten Аnsätzen von Rechtsbewusstsein gezwungen hat. Und sei es nur in Form der permanenten Sorge, es könnte schon wieder die nächste Scheußlichkeit beschlossen worden sein. Die früher nur von einschlägigen Spezialisten und Duma-Mitarbeitern frequentierte Parlaments-Internetseite ASOZD gehört mittlerweile zu den populärsten im Runet.

    Russland und der Welt vorgeführt, wie man Gesetze eben nicht diskutiert

    Abgesehen davon war der sechsten Staatsduma nichts zu schade, um Russland und der Welt vorzuführen, wie man Gesetze eben nicht diskutiert und verabschiedet und wie es in einem funktionierenden Parlament nicht zugehen sollte: Gesetzesprüfungen im Eilverfahren durchpeitschen, parlamentarische Verfahrensweisen missachten und zentrale Debatten unter Ausschluss der Öffentlichkeit führen, Kompetenzen an die Exekutive abgeben, die damit verbundene Rechenschaftspflicht aber behalten, Abgeordnete der Fraktions- und Parteiführung unterwerfen und Elemente eines imperativen Mandats einführen – das sind Sünden gegen den Parlamentarismus.

    Die Verabschiedung einer ganzen Reihe von repressiven, expropriatorischen, rückwärtsgewandten und im Wortsinn volksfeindlichen Gesetzen war erst deren Folge.

    Drei Gruppen schädlicher Gesetze

    Rekapitulieren wir, welche Art von Schaden die scheidende Duma Russlands Rechtssystem im einzelnen zugefügt hat. Das Massiv der verabschiedeten Gesetze lässt sich nach Quantität und Schädlichkeit in drei Gruppen unterteilen:

    Die erste Gruppe, das sind überaus medienwirksame neue Gesetze, die am meisten Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Es geht dabei um konkrete Verbote, also Rechtsnormen, die bestimmte Handlungen untersagen: die Teilnahme an Demonstrationen, das Verunglimpfen der Staatsführung im Internet, den Besitz von Medienunternehmen (für Ausländer), die Entgegennahme von Spenden aus dem Ausland (für NGOs).

    Zu dieser Gruppe gehören auch diverse Verschärfungen im Straf- und im Strafvollzugsrecht: die Einführung von neuen Straftatbeständen und neuem Strafmaß im Strafgesetzbuch, die Verlagerung von bestimmten Tatbeständen aus dem Verwaltungs- ins Strafrecht.

    Den konkreten Verboten schließen sich konkrete Geldabgaben an: diverse neu eingeführte Steuern und Abzüge, die Erhöhung von Verbrauchssteuern und Gebühren, das Einfrieren vermögensbildender Rentenanteile, die Umverteilung von Staatseinnahmen weg von den Bürgern hin zum Verwaltungsapparat.

    So verheerend die Verbote und Geldabgaben für diejenigen sind, die sie zu spüren bekommen: Was die Gesundheit des Rechtssystems und ihre Auswirkungen angeht, sind sie eher punktuell und wieder gutzumachen. Rechtsnormen dieser Art lassen sich leicht aufheben, und der Schaden, den sie anrichten, ist reparabel.

    Nicht die Härte der Gesetze ist das Problem – sondern ihre Vagheit

    Doch diese Kategorie eher stumpfer gesetzgeberischer Werkzeuge wird erweitert durch Gesetze, die auf subtilere Weise Schaden anrichten: das sind Rechtsnormen, die Kompetenzen und Vollmachten in die unteren Etagen der Verwaltungspyramide verlagern.

    Der zentrale Hebel der Repression in Russlands Regierungspraxis ist nicht die Härte der Gesetze, sondern deren Vagheit.

    An der Mehrzahl der neuen strafrechtlichen Normen – dem Extremismusgesetz, dem Betrugsparagraphen, den Bestimmungen des NGO-Gesetzes über ausländische Agenten – lässt sich das gut ablesen. Was ist Extremismus, worin unterscheiden sich unternehmerische von betrügerischen Aktivitäten, wann liegt eine politische Tätigkeit vor, was hat man unter Propaganda nichttraditioneller Familienwerte zu verstehen?

    Die betreffenden Gesetze sind entweder so allgemein formuliert, dass sie sich auf alles mögliche anwenden lassen, oder so nebulös, dass man überhaupt nicht versteht, was gemeint ist. In der Praxis bedeutet das, dass die Ausdeutung der jeweiligen Rechtsnorm delegiert wird – an den Abschnittsbevollmächtigten, den Ermittler, den Gerichtsgutachter, den Mitarbeiter des Justizministeriums.

    Am Ende profitiert die Exekutive

    Die Duma, die sich den Ruf des größten Gendarms und Schutzherrn unserer Zeit erworben hat, stattet auf diese Weise also keineswegs sich selbst mit immer größeren Befugnissen aus, sondern die Mitarbeiter der Exekutive und des Justizvollzugs.

    Dasselbe gilt für die Gesetze zur verschärften Kontrolle von Internet, Telekommunikation, Handelsketten oder Mobilfunkanbietern – überall profitiert am Ende die Struktur der Exekutive, deren Verordnung oder Dienstanweisung den jeweiligen Bereich reguliert, während das Gesetz nur auf die nachgeordnete Vorschrift verweist.

    Nachdem die Duma die Hoheit über Sanktionen wie Finanzen also der Exekutive überlassen hat, was bleibt ihr noch?

    Die gegenwärtige Lage konservieren

    Die dritte Kategorie gesetzgeberischer Neuerungen ist die Gruppe der konservativen Gesetze – konservativ nicht im Sinn des Schutzes „traditioneller Werte“, worin auch immer diese bestehen, sondern ganz wörtlich: Rechtsnormen, die darauf abzielen, die gegenwärtige Lage zu konservieren. Dazu gehören sämtliche Änderungen des Wahlgesetzes, Neuregelungen der Teilnahme an der Wahl, des Wahlkampfs, der Finanzierung, der Debatten, des Status des Abgeordneten und sogar, seltsamerweise, der Möglichkeit des Mandatsentzugs.

    So komplex und chaotisch diese Novellierungen auch waren (allein die 2014 verabschiedete neue Fassung des Gesetzes „Über die Wahlen der Abgeordneten der Staatsduma“ wurde schon achtmal geändert), so schlicht ist doch das Ziel, dem all diese Filter, Barrieren und Verbote dienen: Sie sollen denen, die im System sind, maximale Privilegien sichern, und gleichzeitig allen neuen, Systemfremden, als „Outsider” wahrgenommenen Elementen den Zugang dazu erschweren.

    Schweres Erbe

    So hat die Duma ihrer sechsten Legislaturperiode mithin die politische und wirtschaftliche Freiheit der Bürger eingeschränkt, sie hat die Exekutive mittels vage formulierter neuer Gesetze mit neuen Befugnissen ausgestattet und zum eigenen Vorteil die Zeit angehalten: Das ist, kurz gesagt, ihr gesamtes gesetzgeberisches Erbe.

    Von dem Stigma zweifelhafter Legitimität, das ihr von Anfang an anhaftete, suchte sie sich zu befreien, indem sie sich einer außenpolitischen Agenda anschloss, die sie nicht selbst formuliert hatte und auf die sie keinerlei Einfluss hatte.

    Dem Brauch der permanenten Korrektur folgend wird das nächste Parlament die Novellen der sechsten Staatsduma wiederum überarbeiten. Wie eine Sisyphusarbeit mutet dies umso mehr deshalb an, weil diejenigen, die die Gesetze beschlossen haben, weitgehend identisch sind mit denen, die sie aufheben.

    Noch die einfachste Aufgabe für die Zukunft dürfte sein, zuvor verschärfte oder detaillierter ausformulierte Rechtsnormen wenn nötig wieder „abzumildern“ oder zu „entbürokratisieren“ – eine neue Regierung oder politische Führung kann sich auf diese Weise leicht den Ruf von „Reformern“ erwerben (selbst wenn sie aus denselben Personen besteht wie zuvor).

    Schwerer wird es – falls überhaupt irgendjemand darin eine Notwendigkeit sieht –, das Ungleichgewicht zwischen den Gewalten zu korrigieren und einem verantwortungsvollen Parlament zumindest einen Teil seiner Kompetenzen zurückzugeben; noch schwerer bis unmöglich: seinen Ruf halbwegs wiederherzustellen.

    In dieser Hinsicht droht uns das Erbe der sechsten Legislaturperiode noch lange erhalten zu bleiben.

    Weitere Themen

    Wie Russland lernte, die Bombe zu lieben

    Wie Boris Nemzow ermordet wurde

    Putin und das Offshore-Kettensägenmassaker

    Die kurze Geschichte der Demokratischen Koalition

    Aus und vorbei für Paragraph 282?

    Gouverneurswahlen 2015: Themen, Methoden, Trends

    Wer lebt glücklich in Russland?

  • Das überschätzte Internet

    Das überschätzte Internet

    Das staatliche Fernsehen ist die wichtigste Nachrichtenquelle in Russland. Wie der Soziologe Denis Wolkow in seinem Beitrag auf Vedomosti schreibt, informiert sich gerade bei außenpolitisch wichtigen Ereignissen wie in der Ukraine oder in Syrien etwa die Hälfte der Bevölkerung ausschließlich über staatliche Kanäle. Das Staatsfernsehen ist über Infrastruktur aus Sowjetzeiten überall gut zu erreichen. Unabhängige Online-Medien dagegen haben eine weitaus geringere Reichweite. Auch deswegen hängen die meisten Russen der offiziellen Darstellung aktueller Ereignisse an. Wäre das anders, wenn sich mehr Menschen über unabhängige Medien informieren würden? Denis Wolkow, der am renommierten Lewada-Zentrum forscht, kommt zu einem überraschenden Schluss.

    Das Wie, die Art und Weise der Berichterstattung, wird in Russland in den letzten Jahren immer wesentlicher von den staatlichen Fernsehsendern gestaltet. Und das trotz der stetig wachsenden Bedeutung des Internets als Informationsquelle. Heute informiert sich ungefähr jeder fünfte Bewohner Russlands über verschiedene Websites und die sozialen Netze. Vor sieben Jahren waren es noch weniger als zehn Prozent. All das geschah auf Kosten von Radio und Presse – deren Reichweite sank erheblich.

    Mit dem Beginn des Ukraine-Konflikts hat sich der Propaganda-Ton in Sendungen heftig verschärft. Dann haben die Fernsehsender fast zwei Jahre lang in einem Ausnahmemodus gearbeitet, ähnlich dem während des Georgienkrieges 2008.

    DAS INTERNET NICHT ZU HOCH BEWERTEN

    Die Bedeutung des Internets als Raum frei zugänglicher Informationen sollte nicht zu hoch bewertet werden. Wenn auch fast 70 Prozent der Bevölkerung heute regelmäßig das Internet nutzen, beziehen je nach befragter Quelle nur 20 bis 25 Prozent der Russen Nachrichten aus dem Internet. Wobei der Hälfte von ihnen als Haupt-Informationsquelle Medien dienen, die Nachrichten aggregieren und nur selektive, bruchstückhafte Informationen bieten, ohne Kontext und Analyse.

    Unterteilt man das Segment der Nachrichten-Websites mit Hintergrundinformationen grob in regierungstreue und unabhängige, so ist die Leserschaft der unabhängigen Medien online sogar in etwa so groß wie die der regierungstreuen. Das ist nicht nur dem interessanten Content zu verdanken, den letztere produzieren, sondern liegt auch daran, dass die Redaktionspolitik erfolgreicher Online-Medien stark gesteuert wird.

    Lenta.ru beispielsweise, eines der beliebtesten Online-Nachrichtenportale Russlands (seine Leserschaft betrug in Moskau ungefähr ein Fünftel der Bevölkerung, was mit der Publikumsgröße eines mittleren Fernsehsenders vergleichbar ist) verlor im Frühjahr 2014 seine Chefredakteurin [Galina Timtschenko – dek] samt Redaktion – infolge eines Konflikts mit dem Besitzer über die Berichterstattung zu den Ereignissen in der Ukraine. Das neue Onlineportal Meduza, das von einem Teil der einstigen Redaktionsmitglieder gegründet wurde, wird bisher von weniger als einem Prozent der Bevölkerung regelmäßig genutzt.

    QUALITÄTSJOURNALISMUS IST NUR IN INFORMATIONSGHETTOS MÖGLICH

    Mit anderen Worten: Erfreut sich ein russisches unabhängiges Medium zunehmender Beliebtheit, riskiert es den Verlust seiner Unabhängigkeit. Qualitätsjournalismus ist in Russland nur in kleinen, vom Staat sorgfältig überwachten Informationsghettos möglich. Wobei ein großer Teil der russischen Bevölkerung außerhalb der Reichweite der unabhängigen Medien liegt.

    Insgesamt lässt sich das Publikum aller unabhängigen russischen Medien – also die Zahl jener Menschen, die Beiträge von wenigstens einem unabhängigen Medium lesen, hören oder sehen – mit 30 Prozent der Bevölkerung beziffern, in Moskau mit ungefähr 60 Prozent. Denn in der Hauptstadt, der größten russischen Metropole, ist die Medienlandschaft am vielseitigsten.

    Der Zugang zu Informationsalternativen bedeutet allerdings noch nicht, dass man ihre Meinung übernimmt. Und die Ansichten der oben genannten Bevölkerungsgruppe zur Situation im Land und zur Regierungspolitik unterscheiden sich praktisch nicht von den Meinungen der Gesamtbevölkerung.

    AUCH DIE INFORMATIONSELITE BEFÜRWORTET DIE KRIM-ANNEXION

    Merklich andere Meinungen finden sich nur bei den Mediennutzern, die die Entwicklungen der Ereignisse über verschiedene unabhängige Kanäle gleichzeitig verfolgen und dafür drei oder mehr unabhängige Informationsquellen nutzen. Aber das sind nur rund 10 Prozent der Bevölkerung, unter den Moskauern ungefähr 30 Prozent. Diese besonders gut informierten Bürger kann man als Informationselite Russlands bezeichnen, und gerade bei ihr ist die Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik bedeutend größer als in der Gesamtbevölkerung.

    Auch diese elitäre Gruppe unterstützt jedoch in großen Teilen das russische Regime (wenn auch die Werte niedriger liegen als im Bevölkerungsdurchschnitt). Die Mehrheit von Lesern unabhängiger Medien befürwortet die Krim-Annexion, misst der Geschichte um den Tod der Pskower Fallschirmjäger keine große Bedeutung bei und freut sich, wenn von einem Schiff im Kaspischen Meer aus russische Raketen auf syrische Ziele geschossen werden.

    Diese Mediennutzer sollten besser als alle anderen Bescheid wissen, deshalb lassen sich ihre Ansichten nicht etwa damit erklären, dass sie zu wenig informiert seien, der offiziellen Propaganda blind vertrauten oder Geschichten über „gekreuzigte Jungen“ und „missbrauchte Mädchen“ glauben würden. Hier braucht es eine andere Erklärung.

    Untersuchungen zur Einstellung der Bevölkerung hinsichtlich der Vorkommnisse in der Ukraine oder in Syrien zeigen, dass die Zustimmung zur russischen Ukraine-Politik maßgeblich mit einer besonderen Sicht auf das Geschehen zusammenhängt.

    RUSSLAND IST DAS GUTE, SEINE GEGNER SIND DAS BÖSE

    Die russische Propaganda zeichnet ein ziemlich primitives Bild, wonach Russland ausschließlich auf der Seite des Guten, des Friedens und der Ordnung steht, alle seine Gegner dagegen das Böse, Chaos und Gewalt verkörpern. Eine solche Auffassung des Geschehens gibt dem russischen Durchschnittsbürger ein Gefühl des Auserwähltseins. Gleichzeitig erscheint die Konfrontation zwischen Russland und dem Westen als Beweis der wiedererwachenden Größe des eigenen Landes.

    Wie Teilnehmer aus den Fokusgruppen bei Diskussionen in soziologischen Untersuchungen meinen, „zeigt Russland die Zähne“, „zwingt es andere dazu, die Rechnung nicht ohne Russland zu machen“ und „ihm den nötigen Respekt zu erweisen“ und bringt anderen bei, wie man den internationalen Terrorismus bekämpft. Das erzeugt Befriedigung und vermittelt das Gefühl, bedeutend zu sein. Das Gefühl, am Wirken der Großmacht beteiligt zu sein, ist dem aufgeklärten russischen Publikum also genau so lieb und teuer wie dem russischen Durchschnittsbürger.

    Demgegenüber ist das Russlandbild, das unabhängige Medien zeichnen, weit weniger attraktiv: Hier wird Russland als Aggressor, Erpresser, Bremsklotz dargestellt. Weder Ruhm noch Respekt kann man hier ernten. Da ist es viel angenehmer, gegenüber all diesen unangenehmen Dingen die Augen zu verschließen und einfach die offizielle Version des Geschehens zu übernehmen.

    Nach wie vor ist für die Russen also das staatliche Fernsehen die wichtigste Nachrichtenquelle. Seine Bedeutung hat in den vergangenen Jahren sogar noch zugenommen, obwohl die Zahl der Internetnutzer im Verhältnis gestiegen ist. Unabhängige Qualitätsmedien sind nicht einmal im Internet die wichtigsten Nachrichtenvermittler. Die Frage, wie groß das Vertrauen der Russen ins Fernsehen ist, ist gar nicht entscheidend – das Bild, das es dem Großteil der Bevölkerung vermittelt, bleibt alternativlos.

    Aber sogar die bestinformierten Bürger, die in erster Linie unabhängige Medien nutzen und Zugang zu höchst detaillierten und objektiven Informationen haben, hängen mehrheitlich der offiziellen Darstellung an.

    Sogar bei den aufgeklärtesten Bürgern wird eine kritische Rezeption der Wirklichkeit durch Großmachtsambitionen blockiert. Es ist einfach zu betrügen – sowohl den, der keine Ahnung hat, als auch den, der sich selbst betrügen will.

     


    Weitere Themen

    Fernseher gegen Kühlschrank

    Die Silikonfrau

    Russische Parallelwelten

    „Propaganda wirkt, wenn sie auf vorbereiteten Boden fällt“

    Die Propagandamacher (Teil 1)

    Die Propagandamacher (Teil 2)

    Die Vertikale der Gewalten

  • Bestrafter Protest

    Bestrafter Protest

    Seit Juli 2014 ist in Russland ein Gesetz in Kraft, nach dem Ordnungsverstöße gegen das Demonstrationsrecht als Straftat geahndet werden können. Nun ist das neue Gesetz zum ersten Mal angewendet worden: Für vier Protestaktionen im Laufe des vergangenen Jahres muss der Aktivist Ildar Dadin für drei Jahre ins Lager. Damit fällt die Strafe sogar höher aus, als vom Staatsanwalt gefordert. Beobachter sehen darin eine Warnung davor, sich im politischen Protest zu engagieren.

    Der politische Aktivist Ildar Dadin ist vom Basmanny-Gericht in Moskau wegen wiederholten Verstoßes gegen das Demonstrationsrecht zu drei Jahren Lagerhaft im allgemeinen Vollzug verurteilt worden. Er ist damit die erste Person in Russland, deren Verurteilung mit dem neuen Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs begründet wurde. Dieser Artikel stellt den wiederholten Ordnungsverstoß bei der Ausrichtung bzw. Durchführung von Versammlungen, Demonstrationen, Aufmärschen oder Mahnwachen unter Strafe. Der Staatsanwalt hatte nur zwei Jahre Lagerhaft im allgemeinen Vollzug beantragt – also ein weniger strenges Strafmaß, als es Richterin Natalja Dudar letztlich verhängte. Dadin lehnte es ab, sich schuldig zu bekennen.

    Ildar Dadin wurde die Teilnahme an vier Aktionen im Jahr 2014 angelastet, wobei nach Auskunft seiner Anwältin Xenija Kostromina für drei dieser Fälle bereits rechtskräftige Gerichtsentscheidungen erfolgt waren; im vierten Fall war das Verwaltungsverfahren im Hinblick auf  die Eröffnung eines Strafverfahrens eingestellt worden. Dem Aktivisten wird die Beteiligung an Protestaktionen am 6. und 23. August, am 13. September sowie am 5. Dezember 2014 angelastet. Bei der letzten Aktion hatten acht Aktivisten mit einem Transparent „Gestern Kiew – morgen Moskau“ die Straße blockiert, Fackeln angezündet und sich in Richtung Lubjanka bewegt. Dadin war am 15. Januar auf dem Manegenplatz festgenommen worden. Er erhielt 15 Tage Arrest. Am 30. Januar wurde er im Gerichtstermin dem Ermittlungsrichter überstellt, wo die ihm vorgeworfene Ordnungswidrigkeit verhandelt wurde. Am 3. Februar wurde Dadin unter Hausarrest gestellt. Der Ermittlungsrichter hatte Untersuchungshaft gefordert, mit dem Hinweis darauf, dass Dadin am Kiewer Maidan beteiligt gewesen sei. Zuvor waren Verfahren nach Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs auch gegen die Aktivisten Wladimir Ionow, Mark Galperin und Irina Kalmykowa eröffnet worden. Sie alle hatten sich an anderen oppositionellen Aktionen beteiligt.

    Die Verschärfung des Demonstrationsrechts nahm nach den Ereignissen auf dem Bolotnaja-Platz am 6. Mai 2012 ihren Anfang. Einen Monat später wurde ein Gesetz verabschiedet, das die Strafen für Ordnungverstöße bei der Durchführung von Demonstrationen drastisch erhöhte. Im Juli 2014 traten dann die Änderungen im Strafgesetzbuch in Kraft. Vorgeschlagen hatten diese Gesetzesänderungen die Staatsduma-Abgeordneten Igor Sotow (von der Partei Gerechtes Russland) sowie Andrej Krassow und Alexander Sidjakin (beide von der Partei Einiges Russland). Sidjakin sagte, die Änderungen seien notwendig, um zu verhindern, dass sich die ukrainischen Ereignisse in Russland wiederholen. Artikel 212.1 des Strafgesetzbuches sieht bis zu fünf Jahre Freiheitsentzug vor. Bestraft wird der wiederholte Ordnungsverstoß bei der Ausrichtung bzw. Durchführung von Versammlungen, Demonstrationen, Aufmärschen oder Mahnwachen. Dazu müssen innerhalb von 180 Tagen mehr als zwei Ordnungswidrigkeiten nach Artikel 20.2 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten erfolgt sein.

    Zu dem Urteil erklärt Sidjakin: „Es widerspricht meiner Überzeugung als Jurist, das Urteil zu kommentieren, ohne alle Seiten des Verfahrens zu kennen. Das Strafmaß hat vier Funktionen: Schutz, Wiedergutmachung, Prävention und Bestrafung. Die Verteidigung wird wohl Berufung einlegen, und das Gericht wird alle ihre Argumente prüfen“, erklärt Sidjakin. Der Präsident habe in seiner letzten Ansprache gesagt, dass für kleinere Vergehen trotz allem administrative und keine strafrechtlichen Sanktionen in Betracht kommen müssten, bemerkt der Abgeordnete Rafael Mardanschin (Einiges Russland), Mitglied des Strafrechts-Ausschusses der Duma. „Aber die Ansprache liegt noch nicht lange zurück und die Anstrengungen zur Humanisierung haben gerade erst begonnen“.

    Der Menschenrechtsaktivist Pawel Tschikow sagt, dass dies das erste Urteil nach dem neuen politischen Artikel des Strafgesetzbuches sei und dass es kurz vor Beginn des Wahljahres Angst verbreiten solle: „Ein Urteil, das nicht mit Freiheitsentzug verbunden ist, hätte eine Amnestie bedeutet. Und auch bei der Verurteilung zu einem Jahr Gefängnis wäre er freigekommen, weil er sich schon fast ein Jahr unter Hausarrest befindet. Ein solches Urteil signalisiert, dass von den Richtern in Bezug auf diesen und andere Artikel keinerlei Erbarmen und Nachsicht zu erwarten sind.“ Laut Tschikow wird bereits am Dienstag bekanntgegeben, welches Strafmaß der Staatsanwalt für Ionow beantragt: „Ionow könnte wegen seines fortgeschrittenen Alters verschont bleiben. Kalmykowa hat sich bereits schuldig bekannt. Aber Galperin muss sich leider auf eine echte Haftstrafe gefasst machen.“

    Es werden Präzedenzfälle geschaffen, um ein Signal an alle zu senden, die bereit sind, sich in der Protestbewegung zu engagieren – so der Politologe Konstantin Kalatschew. „Vor dem Hintergrund der sozialen Krise wird der politische Protest zu einer gefährlichen Sache.“ Der Politologe hält solche Methoden jedoch für sinnlos, weil „man den Menschen den politischen Protest nicht aberziehen kann. Sie wissen, worauf sie sich einlassen und sind bereit, das Risiko einzugehen.“

    Weitere Themen

    Der russische Frühling

    Nach dem Bruderkuss

    Leviathan gegen Leviathan

    Kaliningrader Bundesflagge

    Angstfreiheit als Kunst

    „Der Kommissar ist ein sehr netter Mensch.“

  • Vorbild Feind

    Vorbild Feind

    Ob im Kino, in der Wirtschaft, beim Urlaub oder in der Wissenschaft: Fast überall gelten westliche Standards wie selbstverständlich als das anzustrebende Vorbild. Andererseits scheint Russland vor Patriotismus und neugefundenem Selbstwertgefühl zu strotzen, und eben jener Westen ist für den Großteil der Menschen Gegner, ja Feind. Der Politologe Dimitri Trawin sieht in diesem Widerspruch eine Begleiterscheinung aufholender Modernisierung.

    Angenommen, wir würden beschließen, etwas Merkwürdiges zu tun: Wir lassen die russische Bevölkerung abstimmen, welchen Devisenkurs sie möchte. Mit ziemlicher Sicherheit gäbe es ein Votum für eine Stärkung des Rubels, wobei sich gebildete und erfolgreiche Bürger genauso verhalten würden wie die große Masse. Wir bekommen unsere Löhne ja alle in der nationalen Währung ausgezahlt. Doch sobald Gebildete und Erfolgreiche reales Geld in der Tasche spüren, kaufen viele von ihnen Dollar, da sie genau wissen, wie unsicher Rubel-Ersparnisse sind.

    Haben wir es hier mit Doppelmoral zu tun? Keineswegs. Der Mensch verhält sich absolut aufrichtig, sowohl, wenn er sich für ein Wachstum des Rubels ausspricht, als auch dann, wenn er dessen Stabilität durch seinen Gang zur Wechselstube untergräbt.

    Dieses nicht ganz ernste Beispiel hilft, die Logik der Russen zu verstehen, denen man heute oft eine uneuropäische Mentalität vorwirft, eine mangelnde Bereitschaft zu Reformen und die Neigung, parasitisch vom Petrodollar zu leben. Wenn man sich die großen Umfragen ansieht, zeigen sich überall Patriotismus, Identifikation mit den Machthabern und ein beinahe einmütiges Jasagen. In gewisser Hinsicht ähneln solche Ergebnisse in der Meinungsforschung aber jenen in unserer hypothetischen Umfrage zum Rubel: Sie sagt nichts über das wirkliche Leben der Gesellschaft, sondern eher über das Streben nach einem Ideal.

    Die wahren Haltungen eines Menschen sind mit Umfragen schwer zu ermitteln. Wenn man dann gewisse Aspekte unseres Lebens genau unter die Lupe nimmt, entdeckt man plötzlich Dinge, die nicht in das übliche Bild passen.

    Professoren beklagen sich oft, dass ihre Publikationen in russischen Fachzeitschriften bei der Bewertung ihrer Arbeit immer seltener Beachtung finden. Dafür bekommt der, der einen Artikel in einer amerikanischen Zeitschrift unterbringt, eine große Prämie. Ist das Kriecherei vor dem Westen, herkunftsvergessener Kosmopolitismus? Ganz bestimmt nicht. Es ist gewöhnlicher Pragmatismus, der Wunsch, Teil jener Wissenschaft zu sein, die heute als maßgeblich gilt. Wobei derselbe Rektor, der die Prämienanweisung unterschreibt, in öffentlichen Reden seine für die staatlichen Unterstützungsgelder so notwendige Liebe zur Krim, zu China, zur Importsubstitution und zur Partei Einiges Russland kundtut.

    Und nun ein Beispiel aus einem ganz anderen Bereich – dem Immobilienmarkt. In St. Petersburg werden potenzielle Käufer überschüttet mit Reklame für schwedische Wohnungen, finnische Häuser, 2- und 3-Zimmer-Studioapartments nach europäischem Standard und sogar ganze, nach westlichen Hauptstädten benannte Häuserblöcke. In diesem pragmatisch durchkonzipierten Business weiß man genau, wo die wirklichen Prioritäten zahlungskräftiger Menschen liegen, welchen Lebensstil sie attraktiv finden. Niemand versucht, einem erfolgreichen Menschen, der über ein paar Millionen für den Kauf einer Immobilie verfügt, Wohnanlagen namens Shanghai, Dubai oder Mumbai schmackhaft zu machen.

    Schauen wir vom Immobilienmarkt hinüber zum Sport. Hier herrscht, so will man meinen, unverhohlener Patriotismus. Hier jubelt man den eigenen Leuten zu und hasst aufrichtig sämtliche Gegner. Nur dass der Begriff „eigene Leute“ in letzter Zeit äußerst vage geworden ist. Wir unterstützen aufrichtig eine Fußballmannschaft, die beinahe gänzlich aus Legionären besteht, während sich unter den Gegnern massenhaft Landsleute finden. Und der Klub braucht nur die Legionäre auszuwechseln – und schon sympathisieren die Fans mit Spielern, die sie eben noch auspfiffen, als sie in der gegnerischen Mannschaft spielten.

    Das markanteste Beispiel für die Relativität unseres Patriotismus ist aber das Kino. Der Antiamerikanismus geht überraschenderweise mit einer großen Beliebtheit Hollywoods einher. In Umfragen verurteilen unsere Landsleute das amerikanische Militär voller Zorn, aber sobald sich der Befragte zum Zuschauer wandelt, bezahlt er Geld dafür, sich mit einem amerikanischen Marineinfanteristen oder Polizisten identifizieren zu dürfen. Aber auch hier geht es nicht um Doppelmoral. In einem professionell produzierten russischen Actionfilm steht derselbe Zuschauer ebenso gern auf der Seite des vaterländischen Fallschirmjägers oder Polizisten. Doch Hollywood ist stärker, reicher und in der Produktion solcher Spektakel erfahrener. Und ins Kino kommen wir wegen des Spektakels und nicht, um patriotische Gefühle an den Tag zu legen. Wir geben Geld aus für das, was wir brauchen, selbst wenn es das Produkt eines wahrscheinlichen Kriegsgegners ist.

    Ähnlich sieht es im Fernsehen aus. Patriotische „informativ-analytische“ Propaganda wechselt sich ab mit Serien und Shows, die auf Originalen aus Übersee basieren. Millionen von Bürgern werden ständig amerikanisiert, selbst wenn sie sich nie im Kino Hollywoodfilme ansehen. Wie die Erfahrung mit dem Fernsehen zeigt, weinen und lachen wir ungefähr gleich wie die Menschen im Westen. Unsere psychologischen Reaktionen sind ihren sehr nahe. Man kann uns mit ähnlichen Plots fesseln. Wir reagieren auf dieselben Reizfaktoren und ereifern uns, und wir entspannen uns, wenn wir eine Melodie hören, die einem Bewohner Bostons oder Kopenhagens genauso gut gefällt.

    Man könnte noch viele ähnliche Beispiele aufzählen. Ließe ein Soziologieprofessor ein paar aufgeweckte Doktoranden in den Details des wirklichen Lebens der Russen herumwühlen, würden wir wohl mehr Informationen erhalten, als uns die Massenumfragen liefern. Denn bei denen geben die Menschen nicht ihr Alltagsleben wider, sondern ihre mentalen Konstrukte, die sich aus ihren Ängsten, Wünschen und Phobien ergeben, beeinflusst durch das System der Gehirnwäsche.

    Aber man darf die Fragebögen nicht einfach schlechtreden. Sie tun etwas Wichtiges, sie zeigen die Welt der Passionen, in der die Menschen leben. Man sollte bloß nicht glauben, dass es darin um das wirkliche Leben geht.

    Der Mensch einer sich modernisierenden Gesellschaft wird gewöhnlich von Widersprüchen gequält. Im wirklichen Leben orientiert er sich am Lebensstil der erfolgreichen Länder – er will konsumieren wie die dort, Urlaub machen wie die dort, sich vergnügen wie die dort. Doch da dies für die große Masse der Bevölkerung eines rückständigen Landes nicht möglich ist, herrscht in einer sich modernisierenden Gesellschaft Frustration. Und um sich davor zu schützen, baut der Mensch sich einen eigenartigen mentalen Schutzschild: In Wirklichkeit sind wir gar nicht rückständig, in Wirklichkeit sind wir besser, ehrlicher, richtiger.

    Sowohl der Konsum nach westlichen Standards als auch die mentale Ablehnung des Westens sind gleichermaßen ein Ergebnis der aufholenden Modernisierung. Ungefähr genau so, unter Widersprüchen leidend, versuchten seinerzeit die Deutschen, den Westen einzuholen. Und holten ihn schließlich ein, auch wenn die Modernisierung ihnen in der Mitte des 20. Jahrhunderts übel mitspielte.

    Weitere Themen

    Der russische Frühling

    Wer lebt glücklich in Russland?

    Jenseits der Fotos

    Die Kirschhölle

    Symbolischer Wohlstand

    Liebe ist …

  • Die verlorene Halbinsel

    Die verlorene Halbinsel

    Seit einigen Wochen wird die Versorgung der Krim über die ukrainische Festlandverbindung mehr und mehr erschwert. Zunächst waren offenbar allein informelle Gruppen für die Blockadebestrebungen verantwortlich, nun hat sich auch die ukrainische Regierung eingeschaltet. Auf wessen Konto die Sprengungen der Hochspannungsleitungen am 20. und 21. November gingen, scheint weiter unklar – doch sie werden die Einwohner der Krim nur noch mehr von Kiew entfremden, kommentiert Andrej W. Kolesnikow.

    Die Krim ist selbst ein Symbol – ein Symbol des Triumphs und des Stolzes, so 52 % der vom Lewada-Zentrum befragten Russen – und sie produziert ausschließlich Symbole. Denn ihre materielle Bedeutung ist nicht besonders groß. Wenn man ehrlich ist, wurde das Gebiet im Stich gelassen. Von Russland im Stich gelassen: Nach Krymnasch die Sintflut.

    Deutlich wurde dies nach der Sprengung der Hochspannungsmasten und dem Blackout der Halbinsel, die sich nun wirklich langsam in Aksjonows Die Insel Krim verwandelt hat. Das Interesse an der Krim und Ukraine erlischt in Russland und der Welt mehr und mehr. Möglicherweise wären auch die Bewohner der zur Insel gewordenen Halbinsel zu der nüchternen Erkenntnis gelangt, dass dieses Gebiet den Großen Bruder gar nicht in Bezug auf Hilfe und Investitionen interessiert, sondern nur als Flagge und Reliquie. Denkbar wäre das gewesen, wäre es nicht zur Unterbrechung der Stromversorgung gekommen und zur dadurch doppelt so gravierenden Entscheidung Petro Poroschenkos, die Transportwege auf die Halbinsel zu blockieren.

    Mit einem Mal erinnern sich alle wieder an die Ukraine, und der hybride Krieg im Donbass verwandelt  sich in einen Handels- und Informations- (und in diesem Sinne auch einen hybriden) Krieg um die Krim. Keine einzige Forderung der Krimtataren, die die ukrainische Seite übermittelt, wird erfüllt, stattdessen wird die Ablehnung gegenüber der Ukraine stärker, sowohl vonseiten der Krimbewohner als auch vonseiten der Kontinentalrussen.

    Wladimir Putin bekommt gleich mehrere Trümpfe auf die Hand. Er wird auch hier wieder in der Rolle Batmans auftreten, des Beschützers von über einer Million Menschen, denen Licht und Wärme genommen wurde. Und der Welt wird wieder die animalische Fratze der ukrainischen Fascho-Juden präsentiert. Auch die leicht abgenutzte Bedrohung durch die ukrainische Regierung kann man völlig überteuert wiederverkaufen. Es ist sowieso merkwürdig, dass die russische Propaganda die Blockade der Krim bislang noch nicht mit der Blockade Leningrads verglichen hat.

    Die ukrainische Regierung und die informellen Widersacher Putins haben, wie es oft geschieht, politisches Regime und einfache Menschen verwechselt. Sie wollten sich am Regime rächen, trafen aber die einfache Bevölkerung. Das Regime wird dadurch natürlich nur stärker, die belagerte Festung wird noch belagerter und somit zu einem sakralen Objekt, und die Werktätigen scharen sich noch enger um ihren Batman, der mit seinen Bomben Syrien den Frieden bringt.

    Genau den gleichen Effekt – die Ausbildung des Stockholm-Syndroms gegenüber ihrem Präsidenten – hatten die westlichen Sanktionen bei den Russen. Hier allerdings erfolgte die „Bombardierung von Woronesh“ vor allem durch die russische Führung selbst, die ihren Mitbürgern mittels Gegensanktionen einen Teil der Lebensmittel verwehrte, deren Qualität verschlechterte und die Preise eigenhändig in die Höhe trieb. Die Sanktionen aber hatten hauptsächlich die Eliten und Unternehmen getroffen. Im Falle der Krim nun sind es nicht die eigenen Leute, die den Betroffenen die Lebensgrundlage nehmen, sondern die ehemalig eigenen Leute, die zu Fremden werden. Es wird ja auch nicht gegen irgendwelche feststehenden Gangster aus der Führungsriege ausgekeilt, sondern gegen alle Bewohner der Halbinsel.

    Selbstverständlich wird die Krim für den Westen unter keinen Umständen zu einer Tauschwährung oder zum Verhandlungsgegenstand. Doch wird es bei den westlichen Führern wohl kaum auf viel Gegenliebe stoßen, dass die ukrainischen Eliten so effektive Unterstützung geleistet haben, um das positive Image des russischen Präsidenten in den Augen der russischen Bürger zu fördern. Solche Turbulenzen haben ihnen gerade noch gefehlt.

    Putins Russland wollte die Ukraine zu sich hinüberziehen, hat sie aber auf lange Sicht verloren. Die ukrainische Führung hat durch die Bestrafung der Krimbewohner die Krim verloren. Und Putin eine Steilvorlage geliefert.

    Weitere Themen

    Ein neues Jalta auf den Trümmern Syriens?

    „Beide Seiten konstruieren in Syrien ihre Realität“

    Stalins Follower

    Zerfall eines Konzerns: ein Szenario

    „Die Ukraine hat uns betrogen“

    Löst Syrien die Ukraine-Krise?

  • Symbolischer Wohlstand

    Symbolischer Wohlstand

    Der ungeschriebene russische Gesellschaftsvertrag scheint sich zu wandeln: Statt materieller Sicherheit bietet der Staat seinen Bürgern nun zunehmend eine Art seelischen oder moralischen Bonus. Eine durchaus zweischneidige Art der Kapitalanlage, meint Maxim Trudoljubow von den Vedomosti.

    Wenn das Geld ausgeht, müssen die Herrschenden, wer auch immer es sei, von einer großzügigen Sozialpolitik übergehen zu einem reichen spirituellen Leben. Statt Brot zu verteilen, nährt man selbstlosen Patriotismus. Statt Freiheiten zu gewähren, zieht man die Zügel straff.

    Die Grundlage des ungeschriebenen Vertrags mit dem Kreml war lange Zeit eine ganz und gar materielle: Der Anstieg des Realeinkommens gewährleistete das Einverständnis mit der generellen Linie der Chefetage. Aber in irgendeinem Moment – möglicherweise wegen des Maidans, möglicherweise wegen des Abfalls des Ölpreises – hörte diese Grundlage auf, materiell zu sein. Zwischen den Bewertungen der Wirtschaftslage des Landes und den Popularitätsratings des Kreml besteht insofern kein Zusammenhang.

    Plötzlich war der Wohlstand, der stets das zentrale Thema der Verhandlungen mit der Staatsmacht war, nicht länger materiell sondern symbolisch. Und sogar der wichtigste russische Indikator, den man längst in den Medien anstelle von Börsenindizes und Wechselkursen veröffentlichen müsste – das Beliebtheits-Rating des Präsidenten – spiegelt heute nicht mehr den Sättigungsgrad des Konsumhungers wider, sondern die Verbesserung des symbolischen oder moralischen Selbstgefühls eines bedeutenden Teils der Bevölkerung.

    Es muss viele geben, die zum Glauben ans Symbolische bekehrt wurden – über die gewaltige Zahl sprechen all jene, die Stimmen auszählen und in der Gesellschaft Meinungen zu dem ein oder anderen Thema erfragen (ob man das, was die Menschen im heutigen Russland auf die Fragen in Interviews antworten, als frei geäußerte Meinungen ansehen kann, soll bitte jeder selbst entscheiden).

    Der neue Wohlstand hat wohl kaum direkt etwas zu tun mit der subjektiven Befriedigung im Leben – mit dem, was der Einfachheit halber in verschiedenen internationalen Indizes Glück genannt wird. Das ist ein modischer Kennwert, der seinerzeit sogar das Bruttosozialprodukt ersetzen oder ergänzen sollte. Das Glücksniveau in der Russischen Föderation ist in den Putin-Jahren gestiegen, bleibt aber niedrig. Der Index Happy Planet beispielsweise versucht  zu messen, in welchem Maße ein Staat dazu in der Lage ist, seinen Bürgern ein langes, stabiles und gesundes (auch in ökologischer Hinsicht) Leben zu ermöglichen. Russland steht in diesem Index auf Platz 122 von 151. Im World Happiness Report, der die subjektiv empfundene Lebensqualität erfasst, belegt Russland Platz 64 von 158. Und wenn man den ganz und gar [staats-]loyalen Sozialen Optimismus betrachtet, der von dem russischen Meinungsforschungzentrum WZIOM erhoben wird, so zeigt sich, dass dieser sinkt: Im August 2014 betrug der Index der Lebenszufriedenheit der Russen 77 Punkte, im August 2015 lag er bei 56 Punkten.

    Im Grunde handelt es sich hierbei weder um Zufriedenheit mit dem Leben, noch um Freude über seine hohe Qualität, Dauer oder seine allgemeinen Annehmlichkeiten. Vermutlich ähnelt der russische symbolische Wohlstand einem moralischen Wohlbefinden, das üblicherweise darin besteht, dass man bei einem Streit auf Seiten der Guten ist oder in einem Kampf mit dem Bösen und der Dunkelheit auf Seiten des Guten und des Lichts. Ein tiefes Gefühl der eigenen Richtigkeit, vor dem Hintergrund der Unrichtigkeit aller anderen; die Freude, Teil von etwas Großem und Starkem zu sein; die Befriedigung, es „dem Westen gezeigt zu haben“. Möglicherweise gesellt sich hier auch ein Gefühl von Geborgenheit hinzu – ein Leben hinter Festungsmauern. Dieses Gefühl von Geborgenheit findet übrigens keine faktische Entsprechung, da jeder durch Zufall den Spezialkräften im Namen eben jener Sicherheit zum Opfer fallen kann, doch darum geht es jetzt nicht. Es geht darum, dass die Menschen umgesiedelt sind: aus Russland in eine magische Welt der Symbole.

    Und noch etwas. Es mag eine Festung sein, aber es ist kein Zufluchtsort. Flüchtende aufzunehmen oder solche, die ein besseres Leben suchen, will und kann Russland nicht. Menschen aus anderen Ländern, einschließlich der Syrer oder Ukrainer (an deren Wunsch, ihr Land zu verlassen, Russland heute unmittelbaren Anteil hat), die aufrichtig in Russland leben und arbeiten wollen, haben es extrem schwer, hier unterzukommen. Das Verhältnis zu Migranten in der russischen Festung ist offen feindselig, aber auch das ist offensichtlich Teil des moralischen Wohlbefindens und des symbolischen Wohlstands, der für die Gesellschaft so unabdingbar ist.

    Weitere Themen

    Der russische Frühling

    Russland als globaler Dissident

    Welche Veränderungen hat 2014 gebracht?

    Wer lebt glücklich in Russland?

    Zerfall eines Konzerns: ein Szenario

    Das wahre und das vermeintliche Vaterland

    Banja, Jagd und Angeln …

    Kaliningrader Bundesflagge