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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Putin – Geisel der 1990er Jahre?

    Putin – Geisel der 1990er Jahre?

    Winston Churchill wird ein Satz zugeschrieben, den im heutigen Russland wieder viele zitieren: Stalin, so der damalige britische Premierminister, habe das Land mit dem Pflug übernommen und mit der Atombombe hinterlassen. Als Wladimir Putin vor 20 Jahren an die Macht kam, war er ein weitgehend unbeschriebenes Blatt: Kaum jemand in Russland wusste etwas über den neuen Mann im Kreml. Vielerorts herrschte aber gleichzeitig Optimismus: Nach den katastrophalen 1990er Jahren, so der Tenor, könne es nur besser werden. 

    Obwohl der Präsident nach zwei Jahrzehnten weit davon entfernt scheint, von der Macht abzulassen, ziehen nun viele in Russland eine Bilanz seiner Politik. Was hat Putin von seinem Vorgänger Boris Jelzin übernommen? Und wie steht es um das heutige Russland?

    In einem Parforceritt durch die neueste Geschichte Russlands geht auch der Journalist Juri Saprykin diesen Fragen für Vedomosti nach. 

    Die dramatischen Ereignisse im Russland der späten 1990er Jahre – der Krieg zwischen Oligarchen und Regierung, der krisengebeutelte August 1998, das Wechselspiel um die Ministerpräsidenten, der Beginn des Zweiten Tschetschenienkriegs, Jelzins Rücktritt und die Wahl seines Nachfolgers – waren eingerahmt von der Veröffentlichung zweier Filme von Alexej Balabanow um ein und denselben Protagonisten. Der Zweiteiler Brat [dt. Der Bruder] hat, wie es heute scheint, den Nerv der gesellschaftlichen Erwartungen wie nichts anderes getroffen, er formulierte die Forderung an die zukünftige Regierung und sagte in vielem die Logik ihrer Entwicklung voraus. 

    „In der Wahrheit liegt die Kraft“

    Die nationale Idee, an deren Entwicklung in Jelzins Auftrag ganze Intellektuellenstäbe geschuftet hatten, wurde von Danil Bagrow in ein paar wenigen lakonischen Sätzen auf den Punkt gebracht. Brat-1 formulierte die Forderung nach einer Wiederherstellung der Gerechtigkeit in ihren grundlegendsten Formen: Die Schwachen müssen geschützt und die enthemmten Starken in die Schranken gewiesen werden. Brat-2 fing das Gefühl der nationalen Demütigung ein, die aus der Niederlage im Kalten Krieg und dem Auseinanderbrechen der gewohnten Lebensordnung folgte. Die mittlerweile abgegriffene Phrase „in der Wahrheit liegt die Kraft“ las sich 1999 nicht als Verweis auf eine geheimnisvolle russische Seele, sondern als Appell an einfache ethische Grundregeln, als Hoffnung auf ein Leben, in dem nicht alles von Geld oder roher Gewalt bestimmt wird, in dem es ein Oben und ein Unten gibt, Schwarz und Weiß. Die rasant wachsende Zustimmung für Putin Ende 1999 war die Hoffnung auf einen Leader, der zwischen Gut und Böse unterscheiden und das Böse abwehren kann. Wer die Wahrheit hat, hat die Kraft.

    Notwendiger Preis für die Erlösung aus dem Notstand 

    Das Publikum, dem Charme von Sergej Bodrow jr. gänzlich erlegen, verzeiht seinem Helden die unlauteren Methoden. Genau so verschloss die Gesellschaft Anfang der 2000er Jahre die Augen vor der Tatsache, dass die Wiederherstellung der Spielregeln in Wirtschaft und Medien mit einer gewaltsamen Einverleibung des Privateigentums einherging und die Spezialeinsätze gegen Terroristen mit exorbitanten zivilen Opferzahlen. Das wahllose Geballer im Film und die ausufernden Gewaltmethoden in der russischen Politik lassen sich auf die außergewöhnlichen Umstände schieben: Die Menschen sahen darin den notwendigen Preis für die erhoffte Erlösung aus dem Notstand und die Wiederherstellung der Normalität. 

    Der Staat unter Putins erster Amtszeit zwang niemandem seine Ideologie auf, mischte sich nicht ins Privatleben ein; er schuf die Bedingungen für Wirtschaftswachstum und neue Konsummöglichkeiten, und selbst die Serie von Katastrophen und Tragödien Anfang der 2000er Jahre (Kursk, Nord-Ost, Beslan) vermochte nicht das Vertrauen zu erschüttern, dass das Leben sich in die richtige Richtung bewegt. Wir fliegen nach Hause.

    Putin als Geisel der Weltsicht

    Allmählich entwickelte die Regierung ihren eigenen Stil, ihre eigenen Manieren – und dieser Verhaltenskodex war dem von Danila Bagrow verdächtig ähnlich. Was im Film als groteskes Detail daherkommt, ein Produkt der Ironie des Regisseurs, ließ sich am einfachsten umsetzen: der Antiamerikanismus, der Gossenslang, die Sowjetnostalgie, die vetternwirtschaftliche Solidarität – das alles ging in die Alltagspraxis der Staatsmacht über, während die Wiederherstellung der Gerechtigkeit und die endgültige Rückkehr zum normalen Leben in noch weitere Ferne rückten. Das politische Regime, das sich unter Putin formierte und seine Legitimität weitgehend aus dem Versprechen zog, es werde „keine Rückkehr in die wilden 1990er“ geben, wurde de facto zur Geisel der Weltsicht und der Methoden jener 90er Jahre, wo Wohlstand von der Nähe zum Thron abhing, Gesetze per Handsteuerung umgesetzt wurden und die Kraft letzten Endes immer in Geld bemessen wurde. 

    Der gegen Banditen kämpfende Danila schafft es nicht, sich im friedlichen Leben zurechtzufinden – und genauso beginnt auch die neue Staatsmacht, nachdem sie die Krisenzeiten der 2000er Jahre überlebt hat, die Krisen selbst zu generieren. Die Yukos-Affäre, Einschüchterungsaktionen durch kremltreue Halbstarke, der Druck auf die Presse, die Ermordung Anna Politkowskajas – das war sicher nicht das, was die Gesellschaft im Sinn hatte, als sie sich einen starken und gerechten Leader erhoffte, aber die Staatsmacht hatte bereits begonnen, nach ihrer eigenen Logik zu leben, in der sie die zunehmenden Spannungen mit sportlichen Siegeszügen und einer aggressiven außenpolitischen Rhetorik ausbügelt.

    Für die am Westen orientierte Schicht wurde der Staat ein Dienstleister

    Das Bedürfnis nach Stabilität in ihrer zutiefst kleinbürgerlichen Variante – der Regeneration des täglichen Lebens – wurde in den 2000er Jahren von unten erfüllt, durch einen Konsum-, Tourismus- und Gastronomieboom. Die Großstadtbevölkerung gewöhnte sich an den Gedanken, dass „man gut leben muss“, und begegnete auch der Regierung mit derselben Konsumentenhaltung: Für die am westlichsten orientierte Schicht wurde der Staat nur einer von vielen Dienstleistern, und er sollte effektiv arbeiten, zusätzliche Annehmlichkeiten schaffen und für die öffentliche Kontrolle transparent sein. 

    Die Modernisierungsrhetorik der Medwedew-Epoche stützte diese Erwartungen, während sie ihre Erfüllung weiter auf eine undefinierte Zukunft verschob. In der Praxis sahen sich die Bürger zunehmend mit korrumpierten Beamten, polizeilicher Willkür und Gerichten konfrontiert, die manuell gesteuert werden. Die per Handsteuerung entschiedene Machtfrage signalisiert deutlich, dass dieses Lebenskonstrukt unverändert bleiben und die in die Zukunft verschobene „Normalisierung“ endgültig von der Tagesordnung gestrichen wird. Über der unter Putin aufgewachsenen Mittelschicht liegt eine Wolke der Hoffnungslosigkeit, im russischen Facebook diskutiert man die Möglichkeiten der äußeren oder inneren Emigration. Der Anfall der kollektiven Depression entlud sich in den aufflammenden Protesten im Winter 2011/12, woraufhin Stabilität und Gerechtigkeit endgültig zu rhetorischen Figuren verkamen, die nur dazu da sind, beim Direkten Draht des Präsidenten mantraartig wiederholt zu werden.

    In den Protesten 2011/12 entlud sich eine kollektive Depression 

    Seit 2012 versucht der Staat nicht mehr, eine in der Luft umherflirrende nationale Idee einzufangen oder einer unausgesprochenen gesellschaftlichen Forderung nachzukommen. Er formuliert erstmals in seiner postsowjetischen Geschichte eine eigene offizielle Quasi-Ideologie, die das Fundament der nationalen Identität bilden soll. Russland sei ein besonderes Land. Seine Basis sei eine starke Führung, der Patriotismus, die Ehrfurcht vor der Religion und traditionellen Familienwerten. Es ist (und war schon immer) umzingelt von Feinden, die ihm seine Naturreichtümer und moralische Erhabenheit neiden. Außerdem habe Russland den Faschismus besiegt und würde das im Notfall wiederholen. Diese Ideologie wird durch eine Reihe von Propagandakampagnen untermauert, die die Gesellschaft gegen eine herbeikonstruierte äußere Gefahr mobilisieren, etwa Aktionskünstler und -künstlerinnen, die den orthodoxen Glauben verhöhnen, homosexuelle Propaganda, die an den Grundfesten der intakten Familie rüttelt, oder Ausländer, die russische Kinder außer Landes bringen

    Dieser Mobilisierungsimpuls kulminiert in einem neuen „Krieg gegen den Faschismus“, der 2014 auf den Fernsehbildschirmen entfacht wurde, wobei seine wichtigste territoriale Eroberung und die begleitende nationale Euphorie nicht das Ergebnis waren, sondern der Geschichte vorausgingen.

    Über den höheren Sinn der Notwendigkeit, mit Schlagstöcken auf Jugendliche einzudreschen

    Die neue Ideologie ist nicht nur eine Quasi-, sie ist eine Soft-Ideologie: Sie erfordert weder aufrichtigen Glauben noch Enthusiasmus, es genügen ritualartige Loyalitätsbekundungen. Auch ihr Anwendungsradius ist begrenzt: Sie kann einem Omon-Mitarbeiter erklären, worin der höhere Sinn der Notwendigkeit besteht, mit einem Schlagstock auf einen Jugendlichen einzudreschen, sie kann als Kompensationsmechanismus für die Bewohner von Mono-Siedlungen fungieren, die ohne jede Perspektive ihr Dasein fristen – und sich vor der Hoffnungslosigkeit in das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem großartigen Land retten. Aber diese Version der nationalen Identität beantwortet in keiner Weise das Bedürfnis, aus dem die heutige Staatsmacht einst geboren wurde – das Bedürfnis nach Gerechtigkeit, dem Einhalten ethischer Normen, nach verständlichen und allgemeingültigen Spielregeln. 

    Die nationale Idee findet sich heute in populären YouTube-Serien

    Die Konfrontation zwischen gesellschaftlichen Kräften einerseits – die von der Staatsmacht fordern, sie solle sich ändern (oder veränderbar werden) – und der Staatsmacht andererseits – die weder das eine noch das andere zu tun gedenkt – könnte sich noch lange hinziehen und selbst zu einer nationalen Besonderheit Russlands werden. Es ist jedoch interessanter, sich etwas anderes anzuschauen: nämlich jene Formen von Patriotismus und nationaler Identität, die heute von unten entstehen, unabhängig vom Staat, und die die Gesellschaft in Zukunft einen könnten.

    Die Neuformulierung der nationalen Idee, die sich in den 1990ern in Brat konzentrierte, findet sich heute verstreut in populären YouTube-Serien und -Shows, in den Aufnahmen der neuen Generation von Hip-Hop-Musikern und in den Arbeiten von Street Art-Künstlern. Da ist ein lokaler Patriotismus – ein Gefühl der Zugehörigkeit nicht zu einer staatlichen Abstraktion, sondern zu einem konkreten Ort, den man mit Sorgfalt, Respekt und Aufmerksamkeit behandeln muss. Das macht sich im Erstarken der Heimatkunde und der Neubewertung des regionalen historischen Erbes bemerkbar, aber auch im boomenden Inlandstourismus, dem Trend zur Landwirtschaft und regionalen Produkten und so weiter.

    Das Leben in Russland rockt

    Da ist die Ästhetisierung des Alltags in der russischen Provinz, eine Aufwertung ihrer noch so unansehnlichen Erscheinungsformen, seien es Plattenbauten oder Trainingsanzüge als die Uniform der Außenbezirke. Da ist eine völlig andere Sicht auf die 1990er Jahre – nicht als das „wilde“ Jahrzehnt oder die „Zeit der Freiheit“, sondern als die tragische und heldenhafte Epoche, der wir alle entstammen. Da ist die allmählich erworbene Fähigkeit zur Zusammenarbeit, zum gemeinsamen gesellschaftsrelevanten Handeln, dem Zusammenschluss mit Nachbarn, Arbeitskollegen und Gleichgesinnten für ein gemeinsames Ziel, sei es, um gegen die Abholzung des Parks vor der Haustür zu kämpfen oder um einem Waisenhaus in der Nachbarschaft oder einem unschuldig verhafteten Kommilitonen zu helfen. Da ist der neue Umgang mit den Tragödien der Vergangenheit, eine neue Art der Erinnerungskultur, in der nicht nur Kriegshelden der kollektiven Erinnerung und Ehre würdig sind, sondern auch die Opfer eines verbrecherischen Regimes oder einfache Bürger, die dessen Inkompetenz mit ihrem Leben bezahlen mussten. Da ist nicht zuletzt die Überwindung des nationalen Minderwertigkeitskomplexes, der der älteren Generationen eigen ist, hin zu einem nüchtern-gelassenen Gefühl, dass die „Russen schon okay“ sind (wie es im Videoprojekt von Jelisaweta Ossetinskaja heißt) und das Leben in Russland trotz allem „rockt“ (wie es [Juri] Dud auf seinem Instagram-Account formuliert).


    Und da ist dieser Graben zwischen Staatsmacht und Gesellschaft – einer Gesellschaft, die bereit ist, ihre Geschichte und Identität anzunehmen und zu reflektieren, ohne darauf zu warten, dass diese Prinzipien oktroyiert werden, die bereit ist, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen, ohne darauf zu warten, dass der Staat ihre Probleme löst – das ist möglicherweise die am meisten hoffnungsspendende Nachricht des ausklingenden Jahrzehnts.

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  • Ausländische Agenten – Krieg in den Köpfen

    Ausländische Agenten – Krieg in den Köpfen

    Die Aufregung war groß, als die Duma vergangene Woche in dritter Lesung dafür gestimmt hat, dass künftig auch einzelne Personen als „ausländische Agenten“ eingestuft werden können. Bislang waren davon nur NGOs und Medien betroffen – als „ausländischer Agent“ sind derzeit zehn Auslandsmedien gelistet, darunter etwa Radio Swoboda (Radio Liberty) und Voice of America. Das neue Gesetz ist so breit formuliert, dass theoretisch jeder, der Inhalte von solchen als „ausländische Agenten“ registrierten Medien öffentlich repostet und außerdem Geld aus dem Ausland erhält – und sei es von seiner Tante –, als „ausländischer Agent“ eingestuft werden kann. Duma-Abgeordnete beeilten sich zu erklären, dass das Gesetz als Antwort auf US-amerikanische Gesetze zu verstehen sei. 

    Nun müssen sich Mitarbeiter derjeniger Auslandsmedien sorgen, die bereits als „ausländische Agenten“ gelistet sind. Leonid Lewin, Vorsitzender des Duma-Ausschusses für Informationspolitik und Ko-Autor des Gesetzes, erklärte zudem, wer über Sport oder Musik schreibe, habe nichts zu befürchten – und russische Blogger schon gar nicht. 

    Solche mündlichen Einschränkungen sind jedoch rechtlich nicht bindend, sie sorgen vielmehr für Unruhe: Es wäre nicht das erste Mediengesetz, das, unklar formuliert, selektiv und willkürlich angewandt wird und gerade so Angst und Selbstzensur schürt. Das Gesetz wurde von der Duma Ende November in dritter Lesung ohne Gegenstimme beschlossen. Damit es in Kraft tritt, fehlt nun noch die Unterschrift Putins, in der Regel eine Formalie.

    Maxim Trudoljubow fragt auf Vedomosti, was hinter der Rhetorik und den neuen Maßnahmen eigentlich steht.

    In öffentlichen Auftritten russischer Staatsbeamter, Duma-Abgeordneter sowie TV-Moderatoren und selbst in den Gesetzestexten, die die Duma verabschiedet, geht es immer um dasselbe. Alles, was der Staat der Gesellschaft vermitteln will, lässt sich in einem Gedanken zusammenfassen: dass Russland äußere Feinde hat und dass die Feinde Helfershelfer haben innerhalb der Landesgrenzen. Anfangs, mit dem ersten Gesetz über ausländische Agenten, wurden die Feinde als kollektive Gruppe erfasst – es ging um [Nicht-Regierungs-] Organisationen. Nun kann der Staat auch einzelne Bürger als ausländische Agenten einstufen.

    Die Gesetze über ausländische Agenten können zivilgesellschaftlichen Organisationen und konkreten Personen unmittelbar Schaden zufügen. Doch die Hauptaufgabe dieser Bestimmungen und überhaupt der gesamten TV-Rhetorik besteht darin, Format und Ton des gesellschaftlichen Diskurses festzulegen oder dessen, was man darunter versteht. Die Repressalien selbst sollen laut Absicht derer, die sie sich ausdenken, nur minimal sein. Doch die Ideen, die über solche Repressalien der Gesellschaft vermittelt werden sollen, sollen Allgemeingut werden. Der Einsatz von Gewalt ist also punktuell, wird aber geistig-gedanklich massenhaft Wirkung haben.

    In diesem modellierten Diskurs muss man für bestimmte Ziele nicht mehr kämpferisch aufmarschieren, man muss sie nicht unterschreiben, ja, nicht einmal laut aussprechen. Nirgends wird gesagt, dass Russland einen Krieg führt, aber ausländische Feinde – und ihre Agenten – gibt es. Es ist nicht so ganz klar, wo genau die Front verläuft, aber ein wehrhaftes Hinterland gibt es ganz sicher. Und für jenes Hinterland muss man Einheit demonstrieren und Agenten entlarven. In Friedenszeiten stellen Agenten keine Gefahr dar.

    Niemand glaubt in Russland ernsthaft, dass das, was öffentlich ‚Wahlen‘ genannt wird, tatsächlich Wahlen sind. Es ist Dekoration, aber sie wird gebraucht, solange der Feind vor den Toren steht

    In Friedenszeiten wäre das anders, aber aktuell ist – zumindest vorübergehend, angesichts der rauen Kriegszeit – Wachsamkeit gefragt. Darum lasst doch die Wahlen vorerst ruhig Formsache sein – jetzt gerade ist nicht die Zeit für politischen Wettbewerb. Ein nicht zugelassener Kandidat bei den Wahlen ist ein Helfer des Feindes. Niemand glaubt in Russland ernsthaft, dass das, was öffentlich „Wahlen“ genannt wird, tatsächlich Wahlen sind. Sie sind Dekoration, aber sie werden gebraucht, solange der Feind vor den Toren steht. Soll doch ruhig auch die Wirtschaft eher Formsache sein – jetzt gerade ist nicht die Zeit für echte Konkurrenz. Niemand glaubt, dass Russlands Wirtschaft ungestüm wächst, aber es gibt dieses schön dekorierte Schaufenster – das Zentrum von Moskau –, das aussieht, als befände sich Russland im Wirtschaftsboom.
     
    Es bleibt die Frage, wo jene Frontlinie verläuft, wegen der all das geschieht und um die der Kreml den gesellschaftlichen Konsens konstruiert. Sie wurde aus dem Diskurs verdrängt, wie auch das Wort „Krieg“. Es ist interessant, dass ausländische Experten (aus jenen Ländern, deren Agenten für Russland so gefährlich sind) in letzter Zeit die Außenpolitik des Kreml loben, vor allem die Erfolge im Nahen Osten. Doch in der Innenpolitik konzentriert sich der Kreml nicht auf diese Siege. Die Politmanager sehen, dass es nicht gut ankommt, den Fokus auf die Außenpolitik zu legen. Zudem kann man auch nicht ernsthaft die gegenwärtige Innenpolitik mit Erfolgen im Nahen Osten rechtfertigen. So wird die Frontlinie zu einer virtuellen. Das große allgemeine Ziel, das die Politik des Kreml rechtfertigen soll, wird nicht laut geäußert. Vielleicht, weil es gar keins gibt.

    Das große allgemeine Ziel, das die Politik des Kreml rechtfertigen soll, wird nicht laut geäußert. Vielleicht, weil es gar keins gibt

    Die Aufgabe der russischen Politmanager ist keine leichte: Sie müssen in einer Situation arbeiten, in der Krieg abgelehnt wird, in der die Nachfrage wächst nach individuellen Rechten, nach einer tatsächlich funktionierenden Wirtschaft, nach steigenden Einkommen und Wohlstand der Bürger. Russland lebt in derselben Zeit wie die ganze übrige Welt: in einer Moderne, in der Grenzen durchlässig und Verhältnisse von Dominanz und Unterwerfung instabil sind. Ein realer, heißer Krieg mit einem richtigen Hinterland – mit dem dazugehörigen Einheitsgefühl und Sonderschichten in den Fabriken – lässt sich in einer solchen Situation nicht durchführen. Darum versucht man, einen imaginären Krieg und ein starkes Hinterland in den Köpfen der Bürger zu formieren.

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  • Gerechtigkeit statt harte Hand

    Gerechtigkeit statt harte Hand

    66 Prozent der Menschen in Russland äußern ihre Zustimmung für die Tätigkeit des Präsidenten. Gleichzeitig meinen nur sechs Prozent, dass die Staatsmacht gerecht ist. Wie geht das zusammen? Viele russische Beobachter haben schon versucht, diesen Widerspruch aufzulösen. Etwa unter Verweis auf die häufig als alternativlos empfundenen Herrschaftsverhältnisse, die zudem in Russland ja nie anders gewesen seien. Vor allem vor dem Hintergrund von sinkenden Zustimmungswerten für Putin liefern Soziologen nun Antworten auf das scheinbar widersprüchliche Phänomen. 

    Manche von ihnen, wie etwa Grigori Golossow, halten angesichts des steigenden Rufs nach Veränderung sogar eine Perestroika 2.0 für möglich. Andere sind da vorsichtiger. Wie Wladimir Petuchow – einer der Gründerväter der modernen russischen Soziologie. Auf Vedomosti analysiert der Wissenschaftler die aktuellen Zahlen – und widerspricht dabei dem häufigen Eindruck, „dass im Land viel passiert, aber sich kaum etwas ändert“.

    In den letzten Jahren, besonders 2017 und 2018, gab es einige signifikante Verschiebungen – in der öffentlichen Meinung und in den Erwartungen der russischen Bürger. Das zeigen Forschungsergebnisse der RAN (Rossijskaja Akademija Nauk, dt. Russische Akademie der Wissenschaften). Am auffälligsten ist dabei das Bröckeln des paternalistischen Konsens. Dieser hat  sich, verglichen mit dem Krim-Konsens, als wesentlich beständiger erwiesen, war er auch weniger klar ausgedrückt. Sein Kern ist schnell zusammengefasst: Loyalität zur Regierung im Tausch dafür, dass sie sich aus dem Privatleben der Bürger heraushält und eine grundlegende soziale Absicherung bietet – wenn auch nicht für alle, so doch für den Großteil der Bürger. 

    Dieser Konsens fußte auf einer mehr als ein Jahrzehnt andauernden Phase des wirtschaftlichen Wachstums, die mit wenigen Unterbrechungen bis 2014 andauerte. Sie ermöglichte es den Menschen, sich um ihre privaten Angelegenheiten zu kümmern und die Lösung gesellschaftspolitischer Fragen der Regierung zu überlassen. Ob die Regierung etwas tat oder nicht, stieß dabei kaum auf Interesse. In diesen Jahren galt Stabilität als das höchste Gut. Daher gab es auch keine Forderungen nach Veränderung – weder wirtschaftlich noch politisch.

    Fundamentaler Richtungswechsel

    Doch schon die nächste Krise, gefolgt von einer wirtschaftlichen Depression, veränderte die Zukunftspläne vieler Russen oder machte sie sogar zunichte. Schließlich erkannten die meisten, dass ein Festhalten am Status Quo angesichts der wirtschaftlichen Depression und des Verfalls sozialer Einrichtungen die Stagnation und die Krisenerscheinungen nur befördert, was wiederum zu einer weiteren Verschlechterung der ohnehin schon schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Lage eines jeden Einzelnen führt. Hinzu kommt, dass die Regierung selbst in letzter Zeit recht eindeutige Botschaften an die Bürger sendet: Der paternalistische Konsens der Nullerjahre habe sich erschöpft, und nun sei es an ihnen, sich selbst und ihre Familien zu versorgen. 

     


    Quelle: RAN/WZIOM

    Daraus erklärt sich der fundamentale Richtungswechsel in der öffentlichen Meinung und den Erwartungen: Zwischen 2012 und 2016 wuchs der Anteil der Russen, die finden, das Land brauche grundlegende Veränderungen sowie politische und wirtschaftliche Reformen, von 28 auf 56 Prozent. Er hat sich also verdoppelt. Gleichzeitig sank die Zahl der Befürworter des Status Quo von 72 auf 44 Prozent. 

    Weder radikal noch revolutionär

    Da die moderne russische Gesellschaft sehr heterogen und fragmentiert und die gegenwärtige Polit- und Wirtschaftselite alles andere als eine glühende Anhängerin des Wandels ist, unterbreitet sie dem Volk auch keine realistischen Zukunftsstrategien. Darum trägt die Forderung nach Veränderung einen amorphen und meist wenig zielgerichteten Charakter. Es handelt sich wohl eher um eine Ansammlung von Wünschen: Dringliche soziale Probleme sollen gelöst und verschiedenste Formen der Ungleichbehandlung aufgehoben werden. Solche Forderungen sind weder radikal noch von revolutionärem Pathos durchdrungen. Die Zahl der Befragten, die sich für Veränderungen aussprachen, gleichzeitig aber fanden, das Land brauche einen allmählichen, vorsichtigen Wandel, ist doppelt so hoch wie die Zahl jener Menschen, die sich schnelle und tiefgreifende Veränderungen wünschen (60 zu 30 Prozent).

    Umfragen belegen außerdem, dass viele Russen, weil sie keine klaren Richtlinien für die Zukunft sehen und wegen dieser Ungewissheit besorgt sind, nichts dagegen hätten, zum vergleichsweise ruhigen Zustand der Nullerjahre zurückzukehren, als das Erdöl teuer war, die Löhne stiegen und Russland deutlich weniger Feinde hatte als heute. Im Bewusstsein eines Großteils der Gesellschaft verdrängt die Nostalgie nach Putins ersten zwei Amtszeiten allmählich sogar jene nach dem goldenen Zeitalter der Stagnation unter Breshnew.   

    Der Unterschied zur Zeit der Perestroika

    Darin unterscheidet sich die Situation von der vor 30 Jahren, als in unserer Gesellschaft das letzte Mal heftige Forderungen nach Veränderung aufkamen. Damals war vor allem in der Anfangsphase die Regierung mit Michail Gorbatschow an der Spitze die treibende Kraft. Erst später gaben aktivistisch orientierte Gruppen und Kreise diesen Veränderungen eine neue Ausrichtung und Agenda
    Aber es gibt noch einen wichtigen Unterschied: Gerade im Vergleich zur Jelzin-Zeit machen sich die heutigen Russen weniger Hoffnungen und Illusionen in Bezug auf den Staat. Forderten unsere Mitbürger in den 1990er Jahren buchstäblich den Staat zurück, der sie ihrem Schicksal überlassen hatte, so lässt sich in den letzten Jahren ein entgegengesetzter Trend beobachten: Der Staat verblasst zunehmend als zentrales Element, um gute Lebensumstände für alle zu erreichen. Denn immer mehr Menschen zweifeln daran, dass der Staat alltägliche, routinemäßige, nicht auf einen schnellen propagandistischen Effekt zielende Aufgaben lösen könnte, die zu einer Erhöhung der Lebensqualität führen. 
    So erscheint den Russen ein vom Präsidenten angekündigter Durchbruch im Bereich der Technik und Wissenschaft in den nächsten zehn Jahren realistischer als beispielsweise eine Sanierung der Straßen im selben Zeitraum, erst recht, wenn es um die russische Provinz geht.   

    Selbstverantwortung statt Sozialstaat

    Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass zahlreiche Gruppen und Schichten aufgetaucht sind, die den Sozialstaat für unnötig erklären oder schlicht seine Effektivität anzweifeln. Außerdem sprechen sie sich für mehr individuelle Freiheit und Selbstverwirklichung aus. 
    Der Anteil der Russen, die angeben, sich ohne staatliche Unterstützung versorgen zu können, wächst langsam, aber beständig: 2015 waren es 44 Prozent der Befragten, heute sind es schon fast 50 Prozent. Unter den heute 18- bis 30-Jährigen sind es sogar 62 Prozent. In dieser Alterskohorte geben nur 38 Prozent an, dass sie und ihre Familien ohne staatliche Unterstützung nicht überleben könnten.

    Gleichzeitig sind diese „selbstverantwortlichen Russen“ im Großen und Ganzen regierungsloyal. Die Zustimmung für Präsident Putin unter ihnen ist ähnlich hoch wie unter denjenigen Menschen, die eine staatliche Unterstützung für sich und ihre Familie für notwendig erachten. Aber das ist nicht ungewöhnlich, denn Selbstverantwortung muss keineswegs in Opposition zum Staat stehen. 

    Sollten die Interessen des Staates Vorrang vor den Rechten des Individuums haben?

     


    Quelle: RAN/WZIOM

    Bemerkenswert ist allerdings, dass viele von ihnen die Interessen des Staates nicht über die Interessen der Bürger stellen. Nur 29 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu, dass „die Interessen des Staates Vorrang vor den Rechten des Individuums haben sollen“. 36 Prozent verneinen diese Aussage und ein relativ großer Anteil (35 Prozent) zeigt sich unentschieden. Besonders oft verneinen Bewohner von Megastädten die Aussage (42 Prozent, gegenüber 26 Prozent Zustimmung). Insgesamt verneinen sie Befragte aus nahezu allen Gruppen und Bevölkerungsschichten (mit Ausnahme der über 60-Jährigen). 

    Die „harte Hand“ verliert an Anziehungskraft

    Auch die ehemals populäre Idee der sogenannten harten Hand, die dann angeblich für Ordnung im Land sorgt, verliert ihre Anziehungskraft. Auf die Frage „Welche Ideen entsprechen am ehesten Ihren Vorstellungen von einer erstrebenswerten Zukunft für Russland?“ gab es folgende Antworten (Platz 1 bis 5): soziale Gerechtigkeit (59 Prozent); Demokratie, Menschenrechte, Recht auf freie Selbstentfaltung (37 Prozent); Russlands Wiedererlangung des Status einer führenden Weltmacht (32 Prozent); Rückkehr zu nationalen Traditionen und moralischen Werten (27 Prozent), starke, durchgreifende Regierung, die Ordnung gewährleistet (26 Prozent). „Maskuliner Herrschaftsstil“ rangiert als Idee also nicht nur hinter der Idee der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch um fast zehn Prozentpunkte hinter der Idee der Demokratie, der Menschenrechte und des Rechts auf freie Selbstentfaltung.

    Welche Ideen entsprechen am ehesten Ihren Vorstellungen von einer erstrebenswerten Zukunft für Russland?

     


    Quelle: RAN/WZIOM

    Anders gesagt: Im Land für Ordnung zu sorgen ist eine Losung von Gestern oder sogar von Vorgestern. Die heutigen Russen beschäftigen ganz andere Probleme, die sich auf administrativem Weg nicht lösen lassen. Allen voran ist es die Situation im sozialen Bereich, die unsere Mitbürger heute sogar für besorgniserregender erachten als mögliche materielle Einbußen. Deswegen verlangen die Russen von der Regierung keine Härte, sondern vor allem Effektivität. Und die Achtung des Gesetzes durch alle Menschen – auch durch die Machthaber. Wobei die Gleichheit vor dem Gesetz für die Russen gleichbedeutend ist mit Gerechtigkeit und Demokratie.

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  • Wir wollen es so wie in der Ukraine!

    Wir wollen es so wie in der Ukraine!

    Zwei Wochen vor der Stichwahl um die Präsidentschaft in der Ukraine geht der Wahlkampf in die heiße Phase. Nach seinem Erfolg in der ersten Runde hat Wolodymyr Selensky den Amtsinhaber Petro Poroschenko zu einem Fernsehduell im Kiewer Olympiastadion aufgefordert. Wenn der Herausforderer ins Stadion wolle, „dann lass es halt ein Stadion sein“, erwiderte Poroschenko in einer Videobotschaft. Im Vorfeld des Duells liefern sich die Kontrahenten einen heftigen Schlagabtausch in ukrainischen Medien.

    Auch viele Menschen in Russland schauen gebannt auf den Wahlkampf. Die letzte Stichwahl bei einer Präsidentschaftswahl gab es hier 1996. Damals, so einige Beobachter, habe es in Russland auch den letzten wirklichen Wahlkampf um die Staatsspitze gegeben. Denn spätestens seit dem Aufbau der sogenannten Machtvertikale werde im Land auch die politische Konkurrenz systematisch unterdrückt.

    Viele unabhängige Stimmen in Russland schauen derzeit mit gewissem Neid auf die Konkurrenz im ukrainischen Wahlkampf. Auch der Journalist Wladimir Ruwinski fragt auf Vedomosti, ob die Ukraine Beispiel für Russland sein könne.

    Der amtierende Präsident der Ukraine, Petro Poroschenko, ist dem Schauspieler Wolodymyr Selensky im ersten Wahlgang unterlegen. Nun hat er sich zum TV-Duell im 70.000 Personen fassenden Olimpijskyj-Stadion in Kiew bereit erklärt – eine effektvolle Wende im ohnehin grellen ukrainischen Wahlkampf. Der ist umso beeindruckender für das russische Publikum: Eine TV-Debatte des amtierenden Staatschefs mit einem Konkurrenten ist in Russland – egal in welchem Format – einfach undenkbar.

     

    Kandidat Selensky gibt seine Zusage zur TV-Debatte – wenn die im Stadion stattfindet.

    Die Stichwahl in der Ukraine ist für den 21. April angesetzt. Die TV-Debatte ist für den 19. April geplant [inzwischen hat Poroschenko noch den 14. April als möglichen Termin ins Spiel gebracht – dek], als Schlussakkord im Wahlkampf. Es ist nicht das erste TV-Duell eines amtierenden ukrainischen Präsidenten mit einem realen Konkurrenten: Allerdings waren die bisherigen im klassischen Fernsehformat (zuletzt 2004 zwischen Viktor Juschtschenko und Viktor Janukowytsch, damals schaute fast das halbe Land zu). Die Herausforderung erinnerte diesmal an einen Video-Battle: Auf Poroschenkos formelles Angebot reagierte Selensky mit einer Video-Botschaft, in der er das Stadion zur Bedingung machte – „vor dem Volk der Ukraine“ – sowie ein medizinisches Gutachten, um zu beweisen, dass der künftige Staatschef „kein Alkoholiker und kein Drogenabhängiger ist“. Der Präsident antwortete ebenfalls mit einem Video, indem er sich einverstanden erklärte mit dem ungewöhnlichen Ort und dem medizinischen Gutachten.

    Wie die Debatte ausgeht, steht noch nicht fest: Poroschenko ist gewiss erfahrener in öffentlichen Diskussionen zu ernsthaften politischen, wirtschaftlichen und sozialen  Themen. Aber Selensky ist ein erfahrener Showmaster, der sein Publikum in Bann zieht. Wie die Diskussion solch unähnlicher Kontrahenten aussehen wird, lässt sich kaum vorhersagen – umso größer wird das Interesse an dem Duell sein.

    Und nicht nur in der Ukraine. In Russland wird laut einer WZIOM-Umfrage im April der Wahlkampf von 39 Prozent der Befragten voller Interesse verfolgt, 2014 waren es 28 Prozent. Die Russen geben hierbei Selensky den Vorzug (laut WZIOM 31 Prozent) und nicht Poroschenko (1 Prozent). Die Sympathien mit dem Polit-Neuling erklären sie mit Hoffnung auf eine Wende zum Besseren, auf einen Machtwechsel, oder schlicht mit dem Auftauchen eines neuen Gesichts. Es sieht danach aus, dass hier eher eigene Empfindungen hinsichtlich der Stagnation in Russland projiziert werden und das eher eine Rolle spielt als ein tiefes Verständnis der Situation in der Ukraine.

    Umfrage in Russland: Welcher der beiden Stichwahl-Kandidaten bei der ukrainischen Präsidentenwahl ist Ihnen sympathischer?

     

    Quelle: WZIOM (2019)

    Der 2018 zum vierten Mal zum Präsidenten gewählte Wladimir Putin hat sich nie zu einer persönlichen Teilnahme an Wahlkampfdebatten herabgelassen. Die Weigerung wurde formal immer damit begründet, dass der amtierende Präsident beschäftigt sei, aber es war klar, dass das Staatsoberhaupt es schlicht für sinnlos und sogar schädlich erachtet hatte, öffentliche Diskussionen mit seinen aktuellen Sparring-Partnern zu führen. Die Ergebnisse hätten keinerlei Bedeutung für den Wahlkampf haben können: Der Wahlsieger stand im Moment der Nominierung bereits fest. Im Fall der Ukraine liegt die Sache anders: Die reale und nicht simulierte Konkurrenz macht sowohl den Ausgang der Debatten als auch das Ergebnis des zweiten Wahlgangs unvorhersagbar. Ob wir denn möchten, dass es in Russland sei wie in der Ukraine, hat Putin 2017 gefragt. Im Jahr 2019 gibt es immer mehr Anlass dies zu bejahen.

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  • The New Times: Crowd vs. Willkür

    The New Times: Crowd vs. Willkür

    „Ihr habt sie doch nicht mehr alle“ – das war das Signal, so meint der russische Journalist Alexander Pljuschtschew, das die Bürger an die Staatsmacht senden wollten, als sie bei einem Blitz-Crowdfunding mehrere Millionen Rubel für The New Times sammelten.

    Dem kremlkritischen Onlinemagazin war Ende Oktober eine Strafe in Höhe von 22,25 Millionen Rubel (rund 290.000 Euro) auferlegt worden – die höchste Strafe, die je gegen ein russisches Medium verhängt wurde. Begründet wurde die Entscheidung mit nicht vorschriftsgemäßer Deklaration von ausländischen Einkünften. Chefredakteurin Yevgenia Albats bezeichnete den Fall als ohnehin verjährt und sieht eine politische Motivation. Die Zeitung kündigte Berufung an.

    Dank des Crowdfundings muss The New Times nun keine Schließung befürchten. Pawel Aptekar kommentiert die Soli-Aktion auf Vedomosti.
     

    Die erfolgreiche und rasante Spendenaktion, die gestartet wurde, damit das Magazin The New Times die auferlegte Geldstrafe bezahlen kann, zeigt eine enorme Solidarität der Bürger. Für die ist der Kampf gegen staatliche Ungerechtigkeit offensichtlich wichtiger als politische oder persönliche Divergenzen mit den Opfern der Staatsmacht.

    Die Unterstützung von bestimmten Menschen oder Organisationen ist im heutigen Russland für viele Bürger eine Art freiwillige Steuerzahlung, ihr persönlicher Beitrag im Kampf gegen bürokratische Willkür. 

    Eine freiwillige Steuerzahlung

    Das Onlinemagazin The New Times hat innerhalb von nur vier Tagen 26,8 Millionen Rubel [rund 350.000 Euro – dek] an Spenden gesammelt. Das ist eine erheblich höhere Summe als die geforderte Strafe von 22,25 Millionen Rubel [rund 290.000 Euro – dek].
    Die Spendensumme ist ein Rekord, sowohl was die Höhe als auch die Zeit betrifft, innerhalb der sie gesammelt wurde – die Entscheidung des Gerichts ist noch nicht einmal rechtskräftig (die Berufungsprüfung ist für den 20. November angesetzt). 

    Der Unternehmer und Mäzen Boris Simin, Sohn des Gründers des Fonds Dinastija Dimitri Simin, nannte das gesammelte Geld ein „Lösegeld für einen Banditen, der einem das Messer noch gar nicht an die Gurgel hält“.

    20.000 Groß- und Kleinspender, die sich nicht scheuten, ihre Namen zu nennen – das sind mehr als alle Abonnenten des Magazins. Der Wunsch, dass das Oppositionsmedium seine Arbeit weitermachen  kann, trifft sich dabei mit dem Bestreben, die Staatsmacht zu ärgern: Die Erzürnten haben buchstäblich mit dem Rubel abgestimmt. 

    Mit dem Rubel abgestimmt

    Der Erfolg der Kampagne kann natürlich umschlagen in neue hohe Geldstrafen für Aktivisten, oppositionelle Medien und Non-Profit-Organisationen. Aber allein die Tatsache des Erfolgs eines solchen politischen Crowdfundings, nach all den Charity-Aktionen, lässt hoffen. Denn die Geschichte des Magazins, das – bildlich gesprochen – Geld für eine dringende OP benötigt, ist wichtig, aber nicht einzigartig. Die Organisation Transparency International Russia hat kürzlich innerhalb von acht Tagen eine Million Rubel gesammelt – eine Summe, die die Organisation nach einem Gerichtsentscheid aufbringen musste, als Entschädigungszahlung an den Rektor der Bergbauuniversität Wladimir Litwinenko. 
    Doch es gelingt nicht nur bei dringenden Zahlungsforderungen, Geld zu sammeln, sondern auch für die alltägliche Arbeit von Organisationen – unter anderem für den Fonds für Korruptionsbekämpfung von Alexej Nawalny, die Gefangenenorganisation Rus Sidjaschtschaja (dt. „Einsitzende Rus“) und für Mediazona.

    Die Spender stehen nicht immer voll hinter denen, denen sie helfen, aber der Wunsch nach Gerechtigkeit und Solidarität mit denen, die vom Staat verfolgt werden, ist stärker als die unterschiedlichen Ansichten. 
     

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Bürokratisches Verbrechen

    Bürokratisches Verbrechen

    In Russland werden offenbar systematisch Archivmaterialien über die Opfer stalinistischer Verbrechen zerstört. Bekannt sind nur einzelne Fälle; weder die Zielrichtung noch das Ausmaß der Zerstörung ist bislang klar.

    Das Vorgehen russischer Behörden wurde nur zufällig entdeckt. Berichten zufolge erging 2014 eine geheime Anweisung, alle „verjährten“ Registrierkarten von Personen ab 80 Jahren zu vernichten. Offizielle Stellen widersprechen den Vorwürfen und behaupten, dass es sich nur um Einzelfälle handeln könne. 
    Bei einem kleinen Teil der Gesellschaft ließ die Meldung Alarmglocken schrillen, einen Großteil lässt sie bislang kalt. Bei Umfragen bekunden ohnehin nur rund zwölf Prozent der Menschen in Russland ein großes Interesse für Stalinsche Säuberungen, auch das Fußballfest lässt es gerade wohl schwinden.

    Steckt da gezielte Geschichtspolitik dahinter? Und warum sind historische Quellen wichtig für die Gesellschaft? Diese Fragen stellte Pawel Aptekar für Vedomosti.

    Ein einzigartiger historische Fundus an Informationen – die Registrierkarten der Häftlinge / Foto © gulagmuseum.org
    Ein einzigartiger historische Fundus an Informationen – die Registrierkarten der Häftlinge / Foto © gulagmuseum.org

    Einige regionale Informationszentren des Innenministeriums vernichten Registrierkarten von Lagerhäftlingen. Auf das Problem aufmerksam wurde der Historiker Sergej Prudowski. Bei einer Aktenanfrage zum Lageraufenthalt eines Häftlings in Magadan wurde ihm von den dortigen Innenbehörden mitgeteilt, dass die angeforderten Dokumente  vernichtet worden seien. Und zwar gemäß einer mit dem Vermerk „Nur zum Dienstgebrauch“ versehenen zwischenbehördlichen Anordnung vom Februar 2014. Laut Kommersant ging diese Anordnung an das Innenministerium, das Justizministerium, das Katastrophenschutzministerium, das Verteidigungsministerium, den [gnose-7771FSB[/gnose], die Drogenaufsichtsbehörde, die Zollbehörde, den FSO (Föderaler Dienst zur Bewachung der Russischen Föderation), den Auslandsnachrichtendienst, die Staatsanwaltschaft und den staatlichen Kurierdienst.

    In welchem Maßstab die Anweisung umgesetzt wurde, ist bislang unbekannt. Prudowski sagt: „Vor  zwei Jahren habe ich vom Informationszentrum des Innenministeriums in Komi noch ausführliche Auskünfte aus Akten und Registrierkarten ehemaliger Häftlinge erhalten.“

    Einzigartiger historischer Fundus

    Die Registrierkarten der Häftlinge sind ein einzigartiger historischer Fundus an Informationen über Menschen, die zur Strafverbüßung in Lager  geschickt wurden. De facto befindet sich in den Archiven des FSB und in den Staatsarchiven also eine Fortführung der Akten der Repressierten. „Die Registrierkarten ergänzen die Prozessakten um Informationen über den Aufenthaltsort, die Verlegungen und durch zusätzliche Vermerke: die ausgeführte Zwangsarbeit, Krankheiten und Strafen während der Haftzeit“, so Prudowski.

    Derartige Anordnungen würden wohl kaum die Geschichtspolitik des Staates widerspiegeln, meint Nikita Sokolow, Begründer der Freien Historischen Gesellschaft. „Die Staatsorgane, insbesondere das Rossarchiv und das Verteidigungsministerium befassen sich aktiv mit der Digitalisierung von Dokumenten. Anschließend werden die Materialien im Netz frei zugänglich gemacht und ermöglichen so jedem Interessierten, die dokumentierten Ereignisse zu den eigenen mythisch verklärten oder politisch gefärbten Versionen ins Verhältnis zu setzen.“

    Widersprüchliche Signale

    Doch die Signale von oben sind widersprüchlich. Hochrangige Politiker fordern eine Erziehung zum Stolz auf die eigene Geschichte und rechtfertigen Stalin, um kurze Zeit später an der Enthüllung eines Denkmals für die Opfer der Repressionen teilzunehmen und die Repressionen als eine Tragödie zu bezeichnen, die sich nicht wiederholen dürfe. Diese Doppelzüngigkeit ermöglicht auch solche absurden Transformationen wie die Umgestaltung des Museums der Geschichte politischer Repressionen Perm-36 in ein Museum über die Lageraufseher.

    Dieser Vorfall hat der Gesellschaft gezeigt, was für ein begrenztes, bürokratisches Verständnis die Archivangestellten des Innenministeriums von ihrer Arbeit haben: Für sie sind die Registrierkarten keine Dokumente von unschätzbarem Wert, sondern einfach nur vergilbtes Papier.
    Erstaunlich, dass in Zeiten, wo man über große Erfahrung in der Digitalisierung von historischen Dokumenten verfügt, diese vernichtet werden, ohne auch nur eine Kopie zu erstellen. Das würde wohl kaum viel Zeit, Personal oder Mittel in Anspruch nehmen. Es geht um Registrierkarten – ein Blatt Papier, nicht um umfangreiche Akten.
    So ein Umgang mit historischen Materialien macht diese „Arbeit“ zu einem Verbrechen – sei es auch ohne Vorsatz – an der vaterländischen Geschichte und am Gedenken an die Opfer, denen man in öffentlichen Reden neuerdings so gern Respekt bekundet. 

    Oleg Chlewnjuk, Historiker und Verfasser zahlreicher Bücher über den Großen Terror, sagt: „Bedenkt man, um welche Dokumente es sich handelt und welche Bedeutung das Thema hat, ist ein solches Vorgehen unvernünftig.“ Die heimliche Anordnung offenbart tatsächlich ein tiefschürfendes Problem: den Konflikt zwischen dem, was die Silowiki für die staatlichen Interessen halten, und der gesellschaftlichen Forderung nach Zugang zu wichtigen Informationen. Derartige Säuberungen müssen, selbst wenn sie auf staatliche Anweisung hin geschehen, transparent sein und mit Erklärung von Zielen und Motiven erfolgen. 

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Tag der Einbrecher

    Tag der Einbrecher

    Die Wahrscheinlichkeit, am ersten Tag des Monats ausgeraubt zu werden, ist etwa anderthalb Mal höher als an jedem anderen Tag. Wladimir Kudrjawzew erklärt auf Vedomosti, warum. Spoiler: Es hängt womöglich mit den Besonderheiten russischer Kriminalstatistiken zusammen.

    Einige Tage sind gefährlicher als andere – zumindest laut Aberglaube und Populärkultur. So gilt beispielsweise der Dreizehnte eines Monats, wenn er auf einen Freitag fällt, als Unglückstag. Gibt es solch ominöse Unglückstage tatsächlich? Und sollte man sich vor ihnen in Acht nehmen?

    Um eine Antwort auf diese Fragen zu finden, könnte man Statistiken von Diebstählen – eine der häufigsten Straftaten überhaupt – für die einzelnen Tage eines Monats analysieren. Glücklicherweise stellen wir dabei für Freitag, den 13. keinerlei Anomalien fest. Doch schlechte Neuigkeiten gibt es trotzdem: Glaubt man der russischen Kriminalstatistik, so ist die Wahrscheinlichkeit, am ersten Tag des Monats ausgeraubt zu werden, etwa anderthalb Mal höher als an jedem anderen Tag. 

    Glauben russische Kriminelle an Zahlenmagie?

    Jetzt könnte man annehmen, die russischen Kriminellen glaubten entweder an Zahlenmagie oder wären getrieben von einer mystischen Kraft, die sie zwingt, am Monatsersten besonders viel zu klauen. Heißt das dann, dass gerade am Ersten eines jeden Monats besondere Vorsicht geboten ist? Und wenn dem so ist, gibt es dafür auch eine vernünftige Erklärung?

    Regelmäßige jahreszeitliche oder kurzfristige statistische Schwankungen bei verschiedenen Straftaten, darunter auch Diebstähle, sind der Kriminologie durchaus bekannt. Doch den „Monatsersten-Effekt“ kannte die moderne Wissenschaft bislang nicht: Tatsächlich haben wir es dabei mit einem sogenannten Artefakt der Kriminalstatistik zu tun, das heißt einer zufälligen oder absichtlichen systematischen Verzerrung der Zahlen. 

    Wem nützt es?

    Aber wem und wozu nützt die Verfälschung der Diebstahl-Statistik? Und dann auch noch diese spezifische Präzision? Die Antwort hängt womöglich mit den Besonderheiten in der Registrierung und Erfassung von Straftaten in Russland zusammen. Die Kriminalstatistik wird hier weniger als Аnalyse-Instrument für Verbrechen verwendet, sondern vor allem als individueller KPI (Key Performance Indicator) der Mitarbeiter in den Strafverfolgungsbehörden. Deshalb sehen sich diese gezwungen, ihre persönlichen Statistiken mit allen erdenklichen Mitteln zu schönen, ab und zu eben auch mit dem Fälschen offizieller Dokumente. Davon zeugen auch die Ergebnisse der Generalstaatsanwaltschaft, die in einer Prüfung des letzten halben Jahres von etwa 650.000 Verstößen in den Statistiken ausgeht.

    Wenn man nun die Monatsersten-Anomalie betrachtet, so werden die Mitarbeiter allem Anschein nach von der berüchtigten „Palka“ und dem APPG +1 (das ist ein Index der gelösten Fälle, der sich aus den gelösten Fällen des Vorjahreszeitraumes plus einer weiteren aufgeklärten Straftat errechnet) zum Verfälschen der Statistiken motiviert.
    Und schon ist es gar nicht mehr mysteriös und das Verhalten der Ordnungshüter rational und vollkommen nachvollziehbar, hängen doch Bonuszahlungen, Beförderungen und Abmahnungen direkt von der berüchtigten Aufklärungsrate ab. Die Korrelation zwischen den registrierten und den aufgeklärten Diebstählen sollte also von Jahr zu Jahr und Periode zu Periode praktisch unverändert bleiben, und sich – im Idealfall – sogar leicht verbessern.

    Das Übertreffen der Norm birgt Gefahren

    Dass die Verbrechen von einem in den nächsten Monat übertragen werden, hat zwei Gründe: Wenn eure Abteilung im vergangenen Oktober ungefähr 50 Prozent der erfassten Diebstähle aufgedeckt hat, so darf sie in diesem Oktober auf keinen Fall „nur“ eine 49-prozentige Aufklärungsrate vorweisen. Hier gilt es also, den nicht-aufgeklärten Überschuss vom Ende des letzten Monats auf den Anfang des nächsten zu übertragen. 

    Theoretisch wäre auch ein anderes Szenario möglich, nämlich dann, wenn die Abteilung das Pensum übertrifft und ganze 55 Prozent der Straftaten aufdeckt. Auch dieser Mehrbetrag wäre auf den kommenden Monat zu übertragen. Erstens wäre das eine ausgezeichnete Vorleistung – quasi ein Airbag – für den kommenden Monat und zweitens weiß – mit einem Blick in die Geschichte der Stachanowzy – jeder, dass ein Übertreffen der Norm banale Gefahren birgt: Es gefällt den Kollegen in der Abteilung nicht, und außerdem hebt es den Gesamtwert, den es dann im nächsten Zeitraum wieder zu erfüllen gilt. 

    Manipulieren kann man auf verschiedenste Art und Weise. Eine durchaus geeignete Fälschungsmethode war zum Beispiel in der bereits erwähnten Prüfung der Generalstaatsanwaltschaft zu lesen: Die Ordnungshüter verwendeten beim Ausfüllen der Statistiken in einzelnen Fällen selbstlöschende Tinte. 

    Einstweilen dauert das Schattenboxen Monat um Monat und Quartal um Quartal an. Und die modifizierte Statistik des Vorjahres wird, so will es das Ritual, von seiner kontinuierlich verbesserten und nicht minder modifizierten diesjährigen Version überboten. Angst vor dem Monatsersten oder gar Freitag, dem 13. braucht deswegen niemand zu haben.

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  • Lüftchen des Wandels

    Lüftchen des Wandels

    Es ist ein kleiner Stimmungstest, ein halbes Jahr vor der Präsidentschaftswahl: Rund 40 Millionen Wahlberechtigte waren vergangenes Wochenende aufgerufen, an den Regional- und Kommunalwahlen teilzunehmen. In 16 von 82 Regionen wurde auch der Gouverneur gewählt.

    Allerdings: Die Wahlbeteiligung an dem Termin kurz nach den Sommerferien ist traditionell gering, auch diesmal lag sie nach vorläufigen Ergebnissen bei insgesamt nur knapp 29 Prozent. In Moskau, wo Stadtrat und Bezirksräte gewählt wurden, kam gar der Verdacht auf, sie sei gewollt niedrig: Es gab kaum Wahlwerbung, auch die staatlichen Medien berichteten nicht.

    Wie erwartet hat die Regierungspartei Einiges Russland in den meisten Regionen die meisten Stimmen bekommen. Die unabhängige Wahlbeobachtungsorganisation Golos nannte außerdem mehr als 1500 Verstöße.

    Und dennoch gibt es Überraschungen: Ein halbes Jahr vor der Präsidentschaftswahl verzeichneten oppositionelle und unabhängige Kandidaten landesweit Achtungserfolge. Besonders sichtbar sind diese Erfolge in Moskau, wo die Opposition, vor allem die Wahl-Koalition rund um Dimitri Gudkow, in 62 Bezirken der Stadt insgesamt 266 Sitze holte – von insgesamt 1502 Sitzen in 125 Bezirken. Zwar sind Einfluss und Machtfülle der Bezirksabgeordneten eher gering. Gleichwohl haben sie in begrenztem Rahmen dennoch die Möglichkeit, Druck aufzubauen.

    Die System-Opposition dagegen verlor so viele Sitze, dass einige Beobachter schon von einer Krise innerhalb des Systems Putin sprechen. Manche sehen in lokalen Wahlsiegern wie Gudkow oder dem Solidarnost-Politiker Ilja Jaschin gar eine oppositionelle Alternative zu Oppositionspolitiker Alexej Nawalny – der Gudkow nicht einmal gratuliert hatte.

    All dies, meint Politologe Alexander Kynew auf Vedomosti, sagt eine Menge aus über die gesellschaftliche Stimmung und den Zustand des politischen Systems – ein halbes Jahr vor den Präsidentschaftswahlen. Kynew identifiziert drei wichtige Punkte:

    Die Ergebnisse der Wahlen vom 10. September waren vor allem eines – ein Indikator für die Stimmungen in der Gesellschaft. Sie zeigten auch, wie die Gesellschaft auf die Polittechnologien reagiert, die von der Regierung eingesetzt werden. Darüber hinaus sagen die Ergebnisse eine Menge über den Zustand des politischen Systems aus und über den Zustand des Parteiensystems. Und sie stecken für eine Reihe konkreter Führungsfiguren die Optionen für die Zukunft ab.

    Punkt eins. Der Ausgang der Wahlen zeigt vor allem einen Triumph derjenigen Kräfte, die nicht von dem politischen Parteiensystem abhängen.

    Die wichtigsten und unerwarteten Wahlsieger waren unabhängige Kandidaten: So bei den Wahlen zur Stadtduma in Bolschoi Kamen (Region Primorje) – hier setzten sich 18 freie Kandidaten durch, außerdem zwei von Einiges Russland sowie jeweils einer von den Kommunisten und von Gerechtes Russland. Oder bei den Kommunalwahlen in Moskau, wo eine Vielzahl von Aktivisten Erfolge feierten.

    Kandidaten des Wandels

    Es stimmt zwar, dass viele von ihnen in Moskau für Jabloko angetreten waren, doch die Marke „Jabloko“ spielte im Wahlkampf bei kaum einem Kandidaten eine Rolle. Sehr viel wichtiger waren die Marken „Jaschins Team“, „Russakowas Team“ oder „Galjaminas Team“. Einige der Teams traten formal gar für unterschiedliche Parteien an. Sie präsentierten sich als Kandidaten des Wandels und als Gegner der Stadtregierung. Und dass die Parteizugehörigkeit nur bedingt etwas bedeutet, war jedermann klar.

    Im Gegensatz dazu fielen die Ergebnisse der im Parlament vertretenen Parteien der System-Opposition höchst bescheiden aus. Sie werden von den progressiveren und gebildeteren Moskauer Wählern vielfach nicht mehr als echte Opposition wahrgenommen.

    Punkt zwei. Die Wahlen haben erneut gezeigt, dass sich ein Wahltermin Anfang September zerstörerisch auf die Qualität des Wahlkampfes und die gesellschaftliche Legitimität der Wahlen auswirkt.

    Die Strategie, die Wahlbeteiligung erodieren zu lassen, ist eine Sackgasse. Versuche, die niedrige Wahlbeteiligung mit Administrativen Ressourcen zu kompensieren oder Wähler mit Gewinnspielen und Lotterien förmlich zu bestechen, sind ins Leere gelaufen. Im Endeffekt erscheinen so nur die Leute, die auch dorthin beordert werden. Die tatsächliche Wählerschaft nimmt dadurch kaum zu. Das ist wenig überraschend: Die Bereitschaft, auf Anordnung zu wählen, und die Bereitschaft, für einen Lottoschein zur Wahl zu gehen, zeigen schlicht, dass es an einer eigenen staatsbürgerlichen Haltung mangelt und die Wähler sich des Werts ihrer eigenen Stimme nicht bewusst sind.

    Sobald da, wo es von Fakes nur so wimmelt und viele nur zum Schein antreten, jemand Echtes auftaucht, jemand, der in der Lage ist, mit einer guten Kampagne die Wähler zu mobilisieren, entgleist das ganze System. Wählerbestechung mit Hilfe von Lotterien führt lediglich dazu, dass Wahlen als Institution diskreditiert werden. Hierbei ist es unwichtig, welche Position die Regierung vertritt. In den Augen der Leute ist es Bestechung, sind das Almosen – und Versuche der Rechtfertigung diskreditieren denjenigen, der sie unternimmt. Ganz zu schweigen von den Fällen, in denen mit Hilfe mobiler Wahlurnen oder vorzeitiger Stimmabgabe an den Wahlergebnissen geschraubt wird.

    Die so gewonnenen Stimmenanteile erzeugen weder Vertrauen noch verleihen sie Autorität. Diese „Lotto-Legitimität“ ist genauso ein Bonbon-Papier wie ein Lottoschein. Der einzige annehmbare Ausweg, über den sowohl die Wahlen selbst als auch das Parteiensystem saniert werden könnten, wäre ein für Wähler und Kandidaten günstiger Wahltermin. Die Regierung muss lernen, normale Wahlkämpfe zu führen – das käme auch der eigenen Qualität zugute.

    Punkt drei. Die Wahlergebnisse zeigen ausgeprägte regionale Unterschiede, besonders wichtig in Moskau.

    Mit ihrer Unterstützung verschiedener Oppositionskandidaten machen die Wähler eindeutig ihrer Unzufriedenheit Luft. Schließlich weiß kaum jemand in Moskau, wie überhaupt der Leiter dieser oder jener Bezirksverwaltung heißt; aber jeder kennt den Bürgermeister und dessen Mannschaft.

    Die Moskauer Protestwahl vom 10. September ist vor allem ein Protest der Wähler gegen Sergej Sobjanin und dessen Politik. Die Wahlergebnisse haben die psychologische Atmosphäre in der Stadt verändert und der gesellschaftlichen Bewegung neuen Schwung und neue Energie verliehen.

    Unter diesen Umständen ist nur schwer vorstellbar, wie Sergej Sobjanin ohne Lärm und Skandale überhaupt noch die direkten Bürgermeisterwahlen gewinnen soll. So muss die Zentralregierung die Bürgermeisterwahlen entweder ganz absagen (was Skandal und Risiko bedeuten würde) oder sie muss sich irgendeine andere Lösung einfallen lassen.

    In Moskau geht es jetzt erst los.

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  • Der Traum vom apolitischen Protest

    Der Traum vom apolitischen Protest

    Apolitisch sei das Volk, so heißt es oft über Russland. Der Kreml sorgt für Stabilität und wirtschaftliche Prosperität, dafür mischen sich die anderen gesellschaftlichen Akteure nicht in die Politik ein, so lautet der Gesellschaftsvertrag. Immer wieder stellt sich in den letzten Jahren auch die Frage, inwieweit dieser am Bröckeln sei.

    Mitte Mai gingen in Moskau nun mehrere tausend Menschen auf die Straße – um gegen den Abriss ihrer Wohnhäuser zu protestieren.

    Bis zu 8000 Moskauer Häuser, zumeist Plattenbauten aus den 1950er und 1960er Jahren, sollen abgerissen und ihre Bewohner umgesiedelt werden. Knapp 1,6 Millionen Menschen könnten betroffen sein. Einige davon werden jetzt von den Moskauer Behörden dazu aufgerufen, für oder gegen das Programm zu stimmen. Nichtwähler werden als Befürworter gezählt, der Abstimmungsprozess insgesamt wird von vielen als intransparent empfunden. Dies und die Angst um ihr Eigentum trieb auch Menschen auf die Straße, die sonst noch nie oder nur selten auf Protest­veranstaltungen waren. Es ist naheliegend, dass viele von ihnen generell mit der Staatsmacht zufrieden sind.

    Die Veranstalter bestanden darauf, dass dieser Protest nicht politisch sei. Warum? – das analysieren Nikolay Epplée und Andrej Sinizyn auf Vedomosti.

    Foto © Ilya Varlamov/varlamov.ru
    Foto © Ilya Varlamov/varlamov.ru

    Die Demonstration im Moskauer Stadtzentrum richtete sich gegen das Renovierungs­gesetz – die wichtigste politische Meldung der letzten Monate – und war als „unpolitisch“ angekündigt worden. Die Organisatoren hatten die Teilnehmer gebeten, keine Parteisymbole zu verwenden. Sie wollten auch nicht, dass auf der Bühne „Politiker“ sprechen.

    Diese abgesteckten Grenzen wurden schließlich überschritten, und der Ausschluss Alexej Nawalnys samt Familie aus den Reihen der gewöhnlichen Demonstrations­teilnehmer sorgte in den Sozialen Netzwerken für einen sinnlosen Skandal.

    Das Wort „Politik“ hat in Russland ein Eigenleben

    Das alles drängt die Frage auf, wo in Russland heute die Linie zwischen Politik und Nicht-Politik verläuft. Die Frage ist fast schon linguistisch. Das Wort „Politik“ hat in Russland ein Eigenleben. Fast könnte man damit Kinder erschrecken.

    Die Entwicklung des politischen Systems seit Beginn der 2000er Jahre hat allmählich dazu geführt, dass unter Politik entweder das legitime Ausüben der Macht oder ein illegitimer Kampf um Macht verstanden wird. Demnach liegt das Politik-Monopol beim Kreml; alle anderen sind entweder loyal, oder sie bekämpfen die bestehende staatliche Ordnung für eine Handvoll Dollars vom State Department (und gehören deswegen bestraft).

    Lösung von Problemen „ohne Ausweitung ins Politische“

    Also ist es durchaus verständlich, dass Menschen, die aus wirtschaftlichen oder sozialen Gründen demonstrieren, jeglichen politischen Anstrich fürchten.

    Jedes Mal wieder hoffen die vom Mautsystem Platon getriezten Fernfahrer oder die Ärzte, die ihr Gehalt nicht bekommen, oder die Bewohner der Pjatietashki, die um ihre Wohnungen bangen, dass es ihnen gelingt, sich ohne „Ausweitung ins Politische“ mit der Regierung zu einigen und ihr spezielles Problem zu lösen.

    Die Situation birgt ein strukturelles Scheitern: Es gibt in Russland keine normale politische Repräsentation, die Systemparteien vertreten niemanden, und die außersystemischen Parteien können in Machtfragen keinen Wettstreit antreten.

    Als Instrument zum Schutz von Bürgerinteressen bleibt nur die Straße. Und das Internet und die Medien.

    Es bleibt nur die Straße

    Übrigens sind einige Proteste, die mit anscheinend unpolitischen Parolen geführt wurden, sehr wohl erfolgreich gewesen: Auf Druck der Bürger wurde der Bau des Ochta-Zentrums in St. Petersburg abgeblasen, die Errichtung eines Denkmals für Fürst Wladimir auf den Moskauer Sperlingsbergen aufgegeben und die kommer­zielle Bebauung der Ländereien der Timirjasew-Akademie unterlassen. Allerdings ist die Zahl der Proteste, deren erklärte Ziele nicht erreicht wurden, sehr viel größer.

    Bedürfnis nach politischer Teilhabe

    Das Wichtigste aber ist, dass die Proteste in Wirklichkeit immer politisch waren und politisch sein werden. Eine Protestaktion könne nicht unpolitisch sein, sie sei eine politische Handlung, sagt die Politologin Ekaterina Schulmann. Die treibende Kraft dahinter sei das Bedürfnis nach politischer Teilhabe und danach, dass die Meinung der Bürger, die Interessen der Bürger berücksichtigt werden. Bei den Moskauer Demonstrationen gehe es um das Bedürfnis nach einer funktionierenden Verwaltung; in dem System, wie es sich derzeit darstellt, würden die Interessen der Bürger nicht vertreten.

    Die Geschichte mit der „Renovierung“ ist umso pikanter, als deren offizielle Ankündigung bei einem Treffen von Bürgermeister Sergej Sobjanin mit Wladimir Putin erfolgte. Der erfolgreiche Beginn des Programms soll (nach Ansicht vieler Experten) Teil des Moskauer Präsidentenwahlkampfes sein. Natürlich ließen Bürgermeister und Präsident das Politik-Monopol dabei unangetastet. Die Demonstranten aber könnten es antasten. Oh, bewahre!

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  • Niedriglöhne – das kleinere Übel?

    Niedriglöhne – das kleinere Übel?

    In Russland liegt der Mindestlohn noch unter dem Existenzminimum. Die Niedriglöhne gehen oft mit geringer Arbeitsproduktivität einher – darin sehen viele Experten den Kern der russischen Wirtschaftsprobleme. Im Februar hat die Duma bereits über eine Angleichung beraten, voraussichtlich im August soll eine Arbeitsgruppe dazu eine Entscheidung vorlegen.

    Auf Vedomosti erklärt Maria Podzerob, weshalb allerdings nicht nur Arbeitgeber, sondern auch viele Arbeitnehmer in Russland Niedriglöhne als einen Vorteil begreifen.

    Veraltete Transformatoren, die oft repariert werden müssen – darüber läuft die Stromversorgung der Stadt Kineschma in der Oblast Iwanowo. Laut Sergej Sirotkin, Generaldirektor des örtlichen Stromversorgers, würden eine neue Technik und eine Modernisierung der Anlagen 125 Millionen Rubel [ca. 2 Millionen Euro] kosten. Da das Unternehmen über solche Mittel nicht verfügt, stellt es für die Reparaturen 130 Handwerker ein, denen es 20.000 Rubel [ca. 333 Euro] im Monat zahlt. Im Jahr machen diese Gehälter 31,2 Millionen Rubel [ca. 520.000 Euro] aus – deutlich günstiger als eine technische Umrüstung. Auch die regionalen Behörden seien zufrieden: Sie wollen nicht, dass aufgrund von Automatisierung Mitarbeiter entlassen werden – die seien auf dem Arbeitsmarkt in Kineschma nicht wieder vermittelbar, sagt Sirotkin. 

    Vizeministerpräsidentin Olga Golodez gab kürzlich bekannt, dass 4,9 Millionen Beschäftigte im Land unter der Armutsgrenze leben. Daten von Rosstat zufolge lag im Vorjahr bei 10,4 Prozent der Beschäftigten der Verdienst unter dem Existenzminimum.

     

     
    Nach Angabe der Statistikbehörde Rosstat waren 2015 rund 72 Millionen Personen mit Wohnort in Russland erwerbstätig, etwa vier Millionen Menschen galten als arbeitslos. Die amtliche Statistik über Verdienste erfasst allerdings nur rund 29 Millionen Beschäftigte. Auf diese krasse Differenz machte Olga Golodez schon 2013 aufmerksam: Der Staat wisse überhaupt nicht, was diese Menschen eigentlich machen – darüber habe man keinerlei Daten. Quelle: Rosstat.

    In Russland habe sich eine große Klasse von Working Poor herausgebildet, heißt es in einem kürzlich erschienenen Bericht des Zentrums für strategische Entwicklung (ZSR), der zusammen mit der Moskauer Higher School of Economics erstellt wurde. Tatsächlich ist es aber nicht nur für Unternehmen lohnend, Working Poor anzustellen – auch Arbeitnehmer profitieren davon, für ein paar Kopeken zu arbeiten.

    Spezielles Arbeitsmarkt-Modell

    Laut ZSR-Bericht ist in Russland ein spezielles Arbeitsmarkt-Modell entstanden: Wirtschaftskrisen werden demnach nicht mittels wachsender Arbeitslosenzahlen gemeistert, sondern dank sinkender Löhne. Letztere können Unternehmen fast ungehindert senken, da ja das obligatorische Minimum – der Mindestlohn – sehr niedrig sei, so der Bericht. Derzeit beträgt der Mindestlohn 7500 Rubel [ca. 125 Euro]. 

    Der Staat sei daran interessiert, dass die Betriebe möglichst wenigen Mitarbeitern kündigen. Auch jetzt üben regionale Regierungen weiterhin Druck auf Großbetriebe mit mehr als 500 Mitarbeitern aus, um Kürzungen und Arbeitslosigkeit nicht zuzulassen, so Alexander Safonow, Vizerektor der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst beim Präsidenten der Russischen Föderation.

    Laut Sergej Sokolow, ehemaliger GR-Manager bei Nike, kommen sich Behörden und wichtige Arbeitgeber dabei gegenseitig entgegen: Die Regionalverwaltung erteilt den Betrieben etwa die Erlaubnis, einigen wenigen Personen zu kündigen, jedoch dürfe das die Arbeitslosenzahlen in der Region nicht erhöhen, weswegen sich der Betrieb wiederum verpflichtet, Umschulungskurse zu organisieren oder Umzug und Arbeitsaufnahme in einer anderen Region zu finanzieren. Im Gegenzug berücksichtigt die Behörde etwa stärker, wenn ein Unternehmer vorankommen möchte und um Unterstützung seiner Investitionspläne bittet. 

    Den Rest gibt’s im Briefumschlag

    Alexander Masljuk, Senior Consultant der Korn Ferry Hay Group, erläutert, ein offizielles Gehalt in Höhe des Mindestlohns würden vor allem große staatliche Infrastrukturunternehmen zahlen. Für die sei eine verdeckte Arbeitslosigkeit charakteristisch, bei der die Leute zwar im Personalbestand erfasst sind, aber nur minimale Aufgaben erfüllen. 

    Private Unternehmen, die offiziell Gehälter in Höhe des Mindestlohns zahlen, händigen ihren Mitarbeitern in Wahrheit den Rest im Briefumschlag aus, sagt Masljuk. Laut Rosstat sind die Beschäftigtenzahlen im Schattensektor von 2010 bis 2014 von 15,2 Millionen auf 16,4  Millionen gestiegen.  

    Angestellte, die monatlich 8000 bis 9000 Rubel [etwa 125 bis 150 Euro] bekommen, seien nicht daran interessiert, sich großartig abzumühen, und würden versuchen, die Situation für sich zu nutzen, meint Dimitri Koschnew, Koordinator der interregionalen Gewerkschaft Rabotschaja assoziazija [Arbeitsassoziation – dek], die zur Arbeitskonföderation Russlands gehört. 

    Er hat selbst drei Jahre in einer Fabrik gearbeitet, in der Drehgestelle für Schienenfahrzeuge produziert wurden. Und er erinnere sich noch, wie ein Drittel der Werkstatt auf Sauftour ging und der Chef nicht wirklich eingriff: Was soll man denn verlangen von jemandem, der 5000 Rubel [knapp 85 Euro] im Monat verdient? In der Fabrik seien ständig Bauteile und Werkzeuge weggekommen, erinnert sich Koschnew. 

    Was soll man denn verlangen von jemandem, der 5000 Rubel im Monat verdient?

    Geklaut wird auf Schritt und Tritt, stimmt der Top-Manager eines mächtigen Energiekonzerns zu. In Energieunternehmen, sagt er, lassen die Angestellten oft Stromkabel mitgehen, um sie weiterzuverkaufen. 

    Die niedrigen Löhne würden außerdem dazu führen, dass die Leute in zwei oder drei Jobs gleichzeitig arbeiten – wovor die Arbeitgeber eher die Augen verschließen, so Safonow. 
    Die Kehrseite der niedrigen Gehälter ist eine geringe Produktivität, konstatieren die Experten des ZSR. In Branchen der New Economy (Einzelhandel, Onlineverkauf, Banken, Autoindustrie) kämpfe man ernsthaft um die Produktivität des Personals.  

    Höhere Löhne senken Konkurrenzfähigkeit 

    Für die Arbeitgeber sei es günstiger, niedrige Löhne zu zahlen, als in eine Automatisierung der Produktion und Umstrukturierung der Organisation zu investieren, meint Sergej Lossinski, Regionalentwicklungschef am Zentrum für infrastrukturelle Ökonomie.   

    Sergej Sirenko, Generaldirektor einer Schnurfabrik in Tscheljabinsk, hat Zeiten erlebt, in denen es vom Umsatz her möglich gewesen wäre, einem neu angestellten Arbeiter 40.000 Rubel [etwa 670 Euro] im Monat zu zahlen. Doch das habe er nicht gemacht, weil in der Region ein vergleichbarer Fachmann nicht mehr als 30.000 Rubel [etwa 500 Euro] verdiente. Wenn man den Leuten mehr zahle als andere Betriebe, sinke die Konkurrenzfähigkeit der Produktion, zur Verringerung der Herstellungskosten müsse man automatisieren, wofür aber wiederum das Geld nicht reiche, überlegt Sirenko.  
        
    Daten aus dem Bericht des ZSR zufolge geben Verarbeitungsbetriebe für Löhne derzeit ungefähr 30 Prozent weniger aus als zu Beginn der 2000er Jahre.

    Niedrige Einkommen, also keine Nachfrage, also keine Modernisierung, also keine anständigen Gehälter 

    Safonow gibt zu bedenken, dass die Voraussetzung für die technische Umrüstung eines Betriebs die ausreichende Nachfrage sei. In einer einkommensschwachen Bevölkerung entstehe aber keine hohe Nachfrage. Ohne Nachfrage keine Modernisierung, also auch keine anständigen Gehälter. 

    Wer sich für die Modernisierung entscheide, gewinne langfristig an Perspektive, meint Dimitri Teplow, Generaldirektor des Reparatur- und Montagewerks Krasnokamsk (Region Perm), der seine Produktionstechnik 2013 erneuert hat. Seine Fabrik stellt Landwirtschaftsmaschinen her und ist im Lieferantenverzeichnis von Rossagrolising gelistet. Nach Angaben von SPARK-Interfax stiegen ihre Erträge zwischen 2012 und 2015 um 27 Prozent auf 311 Millionen Rubel [gut 5 Millionen Euro], die Aktiva um 43 Prozent auf 201,4 Millionen Rubel [rund 3,4 Millionen Euro].  

    Im Februar beriet die Duma, den Mindestlohn auf das Existenzminimum anzuheben. Eine solche Anhebung könne die Betriebe zwar zu einer kleinen Lohnerhöhung bewegen, meint Safonow, ändere aber noch nichts am ökonomischen Modell. Das man aber, den Autoren des ZSR-Berichts zufolge, auch gar nicht ändern soll: Dieses Arbeitsmarktmodell habe Krisensicherheit bewiesen. Eine große Armee von Working Poor sei eben der Preis für die niedrige Arbeitslosenrate. 

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