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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Russland wird sich so viel nehmen, wie wir ihm geben“

    „Russland wird sich so viel nehmen, wie wir ihm geben“

    Marija Berlinska ist eine der bekanntesten Armee-Freiwilligen der Ukraine. 2014 absolvierte sie erste Luftaufklärungskurse in einem Freiwilligenbataillon, der gegen die von Russland gesteuerten Kräfte im Osten der Ukraine kämpfte. Seitdem engagiert sie sich in mehreren mitbegründeten Projekten für die Technologisierung der ukrainischen Armee. Ob NGO Zentr pidtrymky aeroroswidky (Zentrum für Luftaufklärungsunterstützung), Initiativen wie Narodny FPV (Volks-FPV) und Victory Drones oder die Stiftung Dignitas Fund – all diese Projekte bilden Militärangehörige und Zivilisten in Bau, Wartung und Umgang mit Drohnen aus.  

    Berlinska ist die „Mutter der ukrainischen Luftaufklärung“, so der ukrainische Journalist Denis Trubetskoy im Porträt. Sie berät staatliche und militärische Entscheider ebenso wie zivilgesellschaftliche Akteure. Ihre Prognosen und Ratschläge werden im Hinterland oft als zu pessimistisch kritisiert, stoßen an der Front jedoch häufig auf große Zustimmung. 

    Berlinska schreibt regelmäßig Beiträge für die Ukrajinska Prawda, im Interview mit Chefredakteurin Sewhil Mussajewa spricht sie über ihr jüngstes Treffen mit Präsident Wolodymyr Selensky und die aktuell so schmerzhaften wie umstrittenen ukrainischen Themen: drängende Reformen im Verteidigungssektor, notwendige Verbesserungen bei der Mobilisierung sowie Worst-Case-Szenario und realistische Maßnahmen zu dessen Vermeidung. 

    Marija Berlinska im Interview mit Ukrajinska Prawda

    Ukrajinska Prawda: Wir haben schon verschiedene Phasen dieses Krieges durchlaufen. Zu Beginn der Invasion begeisterter Widerstand, später die Befreiung der Regionen Charkiw und Cherson, dann die erfolglose Gegenoffensive. Danach kam, was Walerii Salushny, der ehemalige Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, als Pattsituation und Sackgasse bezeichnete. In welchem Stadium des Krieges befinden wir uns deiner Meinung nach jetzt? 

    Marija Berlinska: Wir befinden uns an einem Punkt, an dem die Russen in der Offensive und dabei erfolgreich sind. Sie werden die Offensive fortsetzen, das ist logisch. Doch wir kämpfen nicht nur gegen die versammelte Rüstungsindustrie Russlands, sondern auch Chinas, Nordkoreas, des Iran, Belarus’ und vieler anderer offener oder verdeckter Verbündeter. 

    Unter anderem beliefern leider auch westliche Länder die Russen mit Komponenten für Drohnen, Raketen, Flugzeuge und andere Rüstungsgüter. 

    Wir befinden uns also an einem Punkt, an dem der Feind aus seinen Fehlern gelernt, sich neu aufgestellt und beschlossen hat, nun aufs Ganze zu gehen. 

    Ja, auf DeepState können wir das offensichtliche Vorrücken der Russen sehen. Gleichzeitig haben wir erwartet, dass die Russen Pokrowsk schon im September 2024 umzingeln und einnehmen würden. Jetzt haben wir November und sie stehen immer noch einige Kilometer vor Pokrowsk. Zwar rücken sie weiter vor, aber in einem sehr langsamen Tempo. 

    Ich würde das Ganze aus einer weiteren Perspektive betrachten. Heute sehen wir es als Norm an, dass es die Ukraine gibt: mit funktionierendem Bankensystem, dass wir Kaffee trinken gehen können und der Verkehr funktioniert – also die Staatlichkeit und damit grundlegende wirtschaftliche, kulturelle und politische Prozesse. Doch in Wirklichkeit ist das ein Wunder. Nur gewöhnen sich Menschen sehr schnell an gute Dinge. 

    Die Tatsache, dass Pokrowsk noch nicht eingenommen wurde, ist auf keinen anderen Faktor zurückzuführen als auf das Heldentum der Ukrainer. Sie kämpfen um jedes Waldstück und jeden Meter. Freiwillige Helfer setzen Himmel und Hölle in Bewegung, um Geld für Drohnen zu sammeln. Und unter vielen miesen Kommandeuren gibt es immer noch anständige Leute, die bis zum Schluss bei ihren Einheiten bleiben, sterben und verwundet werden, aber um jeden Meter kämpfen. 

    Wenn wir es zynisch mit einem Boxkampf vergleichen, sind die Russen irgendwo in Runde 3 oder 4, doch wir bereits in Runde 10 oder 11. 

    Nur so ist zu erklären, dass Pokrowsk im November 2024 immer noch uns gehört. Angesichts des dichten Artilleriefeuers, der Luftangriffe, der Tausenden von Gleitbomben, die auf uns fallen, und der ständigen taktischen Verbesserungen der Russen, ist das ein Wunder. 

    Die Russen zögern nicht, von uns zu lernen, sie übernehmen unsere besten Praktiken und verbreiten sie bei sich, auch in der Technologie. 

    Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem der Feind beschlossen hat, aufs Ganze zu gehen. Wenn wir es zynisch mit einem Boxkampf vergleichen, sind die Russen irgendwo in Runde 3 oder 4, doch wir bereits in Runde 10 oder 11.  

    Also nach dem Grad der Erschöpfung? 

    Ja, nach der Erschöpfung. Wir hängen mehr und mehr in den Seilen und sie haben ihre Kriegsmaschinerie gerade erst in Gang gesetzt. Das heißt, sie spüren ihre katastrophalen Verluste noch nicht. 

    Die Kremlführung weiß, dass eine Niederlage oder das Ausbleiben sichtbarer Ergebnisse für sie nicht nur den politischen, sondern auch den realen Tod bedeutet. Das könnte einen Aufstand in Russland geben. Deshalb lassen sie nicht locker und werden so viele Ressourcen wie nötig in dieses Kriegsfeuer werfen, nonstop. 

    Ihre angestrebten Ziele beschränken sich nicht auf die Besetzung der Region Donezk und die vollständige Kontrolle über den Donbas, richtig? 

    Wir reden hier nicht über rein administrative Grenzen. Wenn es ihnen gelingt, die Region Saporishshja im Ganzen zu besetzen, werden sie dafür kämpfen und sie einnehmen. Wenn es ihnen gelingt, Richtung Dnipro vorzustoßen, werden sie gegen Dnipro ziehen. 

    Ich habe festgestellt, dass die Ukrainer oft der Illusion unterliegen, es reiche aus, Putin etwas zu geben, ein Opfer zu bringen, und er werde aufhören. Aber Russland versteht nur Gewalt, das weiß ich sicher. Ich weiß ebenso, dass Russland sich genau so viel nehmen wird, wie wir ihm geben. Und wenn es die Ressourcen hat, bis nach Lwiw zu marschieren, wird es bis nach Lwiw ziehen. 

    Deshalb habe ich schon mehrfach darauf hingewiesen, dass es sehr wichtig ist, wie der Feind zu denken. Der Feind denkt wie ein Verrückter. 

    Könnte Russland uns also einnehmen, wenn sich seine Verbündeten auf der „Achse des Bösen“ maximal konsolidierten, die westlichen Länder aber untätig blieben und die Ukraine selbst von internen Unruhen geplagt würde?  Ja, das kann es durchaus. 

    Ich war erstaunt über die Zahlen vom September 2024: Russland hat 200 ballistische Raketen aus Nordkorea erhalten und gegen unsere Städte eingesetzt. Gleichzeitig war die Zahl der Raketen, die wir in dieser Zeit von allen unseren Partnern erhalten haben, geringer. Was können wir in diesem Fall nicht nur Russland, sondern auch seinen Verbündeten entgegensetzen? 

    Erstens müssen wir die Realität akzeptieren und dürfen uns nicht einlullen lassen. Zweitens müssen wir uns das Worst-Case-Szenario klarmachen. 

    Welches ist das für Marija Berlinska im November 2024? 

    Das Worst-Case-Szenario ist, dass wir uns nach und nach zu einem der Hauptschlachtfelder in einem Dritten Weltkrieg zwischen der „Achse des Bösen“ und den demokratischen Ländern entwickeln, was sich bereits abzeichnet. So werden wir zu einem großen Trainingsgelände. 

    Das Worst-Case-Szenario ist auch, wenn einerseits die Länder der „Achse des Guten“ nicht rechtzeitig aufwachen und erkennen, dass sie so schnell und so viel wie möglich Ressourcen und vielleicht sogar eigene Soldaten bereitstellen müssen. 

    Andererseits werden wir ohne Einigkeit und Konsens bei uns selbst Kampfgeist und Moral verlieren. Dann verlieren wir die Kontrolle über die Armee und damit allmählich unsere Staatlichkeit als solche. 

    Könnte Russland uns also einnehmen, wenn sich seine Verbündeten auf der „Achse des Bösen“ maximal konsolidierten, die westlichen Länder aber untätig blieben und die Ukraine selbst von internen Unruhen geplagt würde? Ja, das kann es durchaus. Und nicht nur die linke Dnipro-Seite. 

    In den letzten Monaten hatte ich den Eindruck, dass unsere Partner in den europäischen Ländern alles tun wollen, um den Krieg einzufrieren. Was lässt diese Menschen erkennen, dass das auch eine Bedrohung für sie darstellt? 

    Siehst du, das Verbrechen ist gut organisiert und wir sind es nicht. 

    Die Terroristen und Wahnsinnigen haben sich zusammengetan, doch die westliche Welt ist leider sehr gespalten und begreift nicht, welche existenzielle Bedrohung dies für das eigene Koordinatensystem und seine Spielregeln bedeutet. Die Länder der so genannten Achse des Bösen versuchen, ihre eigene Weltsicht hierauf zu übertragen. 

    Je schlimmer die Situation, desto mehr wollen die Leute zuhören. 

    Du warst bei einem vertraulichen Treffen mit Präsident Wolodymyr Selensky. Außerdem kommunizierst du mit der Militärführung und den Leitern einiger wichtiger Ministerien, die für unsere Verteidigungsfähigkeit verantwortlich sind. Verstehen diese Menschen dort die Gefahr? 

    Ich habe festgestellt, dass man zuhören möchte und einige Ideen akzeptiert. Ich habe auch festgestellt, dass es leider viele Prozesse gibt, die manuell gemanagt werden, selbst auf der strategischen Ebene. Was mir noch aufgefallen ist? Je schlimmer die Situation, desto mehr wollen die Leute zuhören. 

    Ich sage mal so, ich habe es in all den zehn Jahren als meine Pflicht angesehen, immer wieder das gleiche Mantra zu wiederholen: Drohnen werden den Verlauf dieses Krieges bestimmen, Technologie wird den Verlauf dieses Krieges bestimmen. Wir müssen die Bevölkerung vorbereiten, Leute ausbilden und die Philosophie des gesamten Krieges neu begründen. Wir müssen aufhören daran zu glauben, dass es uns schon nicht betreffen wird oder wir einen leichteren Weg haben. 

    Der einzige Weg, der uns hilft, ist die technologische Militarisierung der Gesellschaft. 

    Der einzige Weg, der uns hilft, ist die technologische Militarisierung der Gesellschaft. Das bedeutet, dass jeder in der Lage sein muss, Technologie zu produzieren und anzuwenden, um sich und sein Volk zu schützen. Dann geht kein Mensch mehr nach vorn, um aufzuklären, sondern es fliegt eine Drohne, oder Bodendrohnen sorgen für Deckungsfeuer, Minenverlegung und -räumung, Logistik usw. 

    Ein Team von Freiwilligen und ich sind bereit, diese Aufgabe zu übernehmen und dafür zu sorgen, dass mindestens 10-20.000 Menschen in jeder Region wissen, wie man Boden- und Flugroboter steuert und die Betriebsprogramme versteht, wie man mit ihnen kommuniziert und kämpft. 

    Der Krieg nährt sich auch nicht aus der Region Donezk oder aus Kursk. Er wird tief aus Russland gespeist. 

    Ich habe ja bereits über das Worst-Case-Szenario gesprochen, nun wollen wir uns dem Best-Case-Szenario zuwenden. Auch wenn es ein sakrales Mantra umstößt, müssen wir die Wahrheit sagen: dass das nicht mehr die Grenzen von 1991 sein werden. Das können wir vergessen. Wir geben kein Land auf, nicht die Krim und nicht den Donbas. Doch wir müssen aufhören, in der Öffentlichkeit zu diskutieren, dass wir sie in einem Jahr wieder haben werden. Das könnte im besten Fall – mit der richtigen und umfassenden Vorbereitung – in Jahren geschehen. 

    Im Moment besteht das beste Szenario darin, eine aktive Verteidigung zu führen. Das bedeutet, einen 30-40 Kilometer breiten Streifen, vermint mit mehreren und befestigten Verteidigungslinien entlang der gesamten Frontlinie zu bauen. Man kann hier vom Feind lernen, der teils eine sieben-, acht-, manchmal zehnfach gestaffelte Verteidigung hat. Dort muss investiert werden. 

    Der Krieg nährt sich auch nicht aus der Region Donezk oder aus Kursk. Er wird tief aus Russland gespeist, aus den Panzerfabriken, den Reparaturwerken, den Forschungs- und Entwicklungszentren. Dort müssen wird zuschlagen und diese Ressourcen zerstören. 

    Wir brauchen wirklich ein eigenes Raketenprogramm, doch wir beginnen erst, uns dem zu nähern. 

    Das ganze Land muss bereit sein, einen Sprintmarathon zu laufen. 

    Und drittens muss das ganze Land, die ganze Bevölkerung, endgültig auf die Geschichte eines langen Krieges, eines Sprintmarathons, eingestimmt werden und darauf, dass jeder bereit sein muss, ihn zu laufen. Kinder sollten bereits ab der 5. oder 6. Klasse Programmieren, Robotik und die Grundlagen der militärischen Kommunikation lernen. 

    Nicht, dass ich möchte, dass unsere Kinder in den Krieg ziehen, sondern weil der Krieg 2014 begonnen hat und diejenigen, die damals 12-14 Jahre alt waren, jetzt kämpfen und nicht darauf vorbereitet waren. 

    Wenn man mit den Militärs an der Front spricht, beklagen alle, dass es zu wenig Leute gibt, zu wenig Infanterie. Was kann man gegen den katastrophalen Personalmangel tun? 

    Man könnte zumindest drei konkrete Schritte unternehmen: Erstens, die Versetzungen innerhalb der Armee vereinfachen. Damit könnten einige unzufriedenen Leute Dampf ablassen und gleichzeitig würde die Armee etwas Menschlichkeit gegenüber den eigenen Soldaten zeigen. 

    Es ist wirklich absurd, dass Menschen, die gekommen sind, um die Freiheit zu verteidigen, sich in der Sklaverei wiederfinden. 

    Man muss es jedoch vernünftig machen, denn wir wollen nicht, dass auf einmal eine ganze Brigade zu einer anderen wechselt und wir dann, wie man uns im Generalstab erklärte, ein Loch in der Front haben. 

    Wenn jedoch alle plötzlich einen Kommandeur verlassen, liegt dies wohl am Kommandeur. Das wäre vielleicht ein Signal, ihn auszutauschen. 

    Ich würde die Forderung der Gesellschaft und der Armee nach Gerechtigkeit erfüllen. 

    Der zweite Punkt ist die vertikale Versetzung. Wenn eine Person in der Führungsebene einer Einheit bei der Erfüllung ihrer Aufgaben versagt, sollten wir auf jeden Fall ihre Rolle überdenken. 

    Es kann nicht sein, dass jemand in einer hohen Position nur befördert werden kann. Ich denke, es wäre fair zu sagen: Wer seine Aufgaben nicht erfüllt, geht nach unten und kann Zugführer oder einfacher Infanterist werden. 

    Drittens würde ich die Forderung der Gesellschaft und der Armee nach Gerechtigkeit erfüllen. Wir müssen den Menschen eine Pause gönnen, denn die Lasten des Krieges werden die ganze Zeit von denselben Menschen getragen. Deshalb würde ich allen zumindest alle drei-vier Monate ein paar Wochen oder sogar einen Monat Urlaub gönnen. 

    Wenn man es richtig und systematisch durchdenkt, die Front nicht ausdünnt und die ganze Sache digitalisiert und dabei die Reihenfolge der Prioritäten beachtet, ist das absolut realistisch. 

    Dann gibt keine Selbstmorde, keine Scheidungen und nicht einen solch hohen Prozentsatz von Deserteuren. Dann haben die Menschen die Möglichkeit, ihre Kinder zu umarmen, Zeit mit ihrer Familie zu verbringen, ins Kino oder zum Arzt zu gehen. 

    Ist die Führung bereit, solche Entscheidungen zu treffen? 

    Wie man ein ineffizientes Managementsystem verändert? Was ich jetzt sage, klingt für einige wahrscheinlich nach Astrophysik oder wirrem Gerede: Ich behandle Menschen wie Roboter. Das ist meine Berufskrankheit der letzten zehn Jahre. 

    Ich glaube, dass die einzige Möglichkeit, Ressourcen effektiv zu nutzen, darin besteht, sie zu digitalisieren. Jeder von uns hat seine eigenen taktischen und technischen Eigenschaften. Du hast zum Beispiel die Eigenschaft, ein großes Team von Journalisten zu führen. Doch gibt es auch etwas, was du nicht kannst. Magst du zum Beispiel Excel-Tabellen? 

    Ich hasse sie. 

    Siehst du. Wenn man dir das aufbürdet, würdest du das nicht schaffen. 

    Wir haben gute Ingenieure, die schlechte Mörserschützen sind, oder gute Fahrer und Mechaniker, die schlechte Scharfschützen abgeben. Mit anderen Worten, wir setzen Menschen für den falschen Zweck ein. Denn wir kennen ihre Eigenschaften nicht. 

    Wenn man den Menschen als Roboter betrachtet, hat jeder von uns seine eigenen Spezifikationen: Mit einem Staubsaugerroboter pflügt man kein Feld, oder? Und mit einem Bewässerungsroboter kocht man keinen Borschtsch.  

    Da geht um das Humankapital. 

    Aber wie können wir es am besten nutzen? Zunächst jeden Roboter beschreiben. Wir bewerten doch auch Pizzalieferanten, Uber-Fahrer oder einen Coffeeshop. Big Data lügt nie. Wenn du ein Café mit einer Bewertung von 4,9 bei 6000 Bewertungen siehst, ist der Kaffee dort wahrscheinlich wirklich gut. So ist es hier auch. 

    Nur so kann man vernünftige Entscheidungen treffen – nicht getrieben von Emotionen oder weil man irgendwo Beziehungen hat, weil man mal zusammen auf einer Hochzeit gefeiert hat. 

    Anfang September veröffentlichte die Ukrajinska Prawda euren Artikel „Ministerium des Chaos“. Hat sich seitdem etwas verändert? Wie würdest Du das Verteidigungsministerium heute beschreiben? 

    Wahrscheinlich als das „Ministerium des letzten Versuchs“ (lächelt). 

    Was für Personen braucht es da deiner Meinung nach? 

    Wir brauchen jetzt geniale Leute. Die gibt es nur sehr wenige. Ich für meinen Teil gehöre nicht dazu. 

    Ich würde mich deshalb auf Logik, technische Eigenschaften und frühere Leistungen stützen und nicht von Emotionen leiten lassen, nicht von irgendwelchen Bekanntschaften, einem guten Eindruck oder der Fähigkeit zu schmeicheln und der Führung Komplimente zu machen oder sich verbiegen zu können. Das ist alles Unsinn. Ich glaube, dass solche Leute ihren Vorgesetzten einen schlechten Dienst erweisen. 

    Aber du verstehst doch, dass die derzeitige Regierung und Verwaltung nach dem Loyalitätsprinzip aufgebaut sind und das wird sich wohl kaum ändern. 

    Also ich hatte diese eine Gelegenheit, mit dem Präsidenten zu sprechen. Und ich habe ihm ganz aufrichtig und ehrlich gesagt, was ich denke. Im Grunde sage ich das schon seit zehn Jahren jedem, mit dem ich rede. Abgeordneten, Ministern und Leitern von Rüstungsunternehmen habe ich immer die Dinge gesagt, die ich für richtig halte. 

    Ich brauche nichts, ich bin nach Beginn der großen Invasion hierher zurückgekommen. Seit 2018 habe ich in Amerika gelebt, arbeitete in einer guten Führungsposition, alles war gut – ganz klassisch: Familie, Haus, viele Reisen – alles war in Ordnung. 

    Deshalb habe ich dem Präsidenten die Wahrheit gesagt. Als ich die Gelegenheit hatte, es ihm ins Gesicht zu sagen, sagte ich: „Wenn wir ertrinken, ertrinken wir alle.“ Woraufhin er mir sagte, dass er hier leben wolle. 

    Bist du zum Beispiel bereit, für das Verteidigungsministerium zu arbeiten? 

    Ich bin nicht bereit – nicht weil ich eine weiße Weste tragen möchte oder Angst vor Verantwortung habe. Ich bin nicht bereit, weil ich glaube, dass ich dort, wo ich gerade bin, effektiv bin: Unser Team bei Victory Drones und Dignitas tut sehr viel, um dem Verteidigungs- und Sicherheitssektor dabei zu helfen, einige wirklich gute Veränderungen voranzubringen. Einiges davon können wir hier noch nicht sagen. Aber so Gott will, wird die Zeit kommen, in der wir erzählen können, wie viel sich im Rahmen der positiven Reformen verändert hat. 

    Wie viele Drohnen werden derzeit im Programm Narodny FPV gebaut? 

    Etwa tausend Drohnen werden übergeben. Das ist nicht sehr viel, aber viel wichtiger ist, dass wir die Blockade in den Köpfen der Menschen beseitigt haben. 

    Lasst uns intelligent kämpfen. Dann werden wir diesen Kampf David gegen Goliath gewinnen. 

     

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    Belarussische Freiwillige kämpfen schon seit 2014 auf Seiten der Ukraine, mittlerweile sind es so viele, dass sie ihre eigene Einheit unter der ukrainischen Armeeführung haben: das Kastus Kalinouski-Regiment

    Was bringt Belarussen dazu, sich diesem Kampf im Nachbarland anzuschließen und ihr Leben aufs Spiel zu setzen? Welche Konsequenzen hat dies für sie selbst, aber auch für ihre Familien in Belarus? Die ukrainische Journalistin Anhelyna Straschkulytsch hat einen freiwilligen Soldaten getroffen: Pawel Schurmei ist ein ehemaliger belarussischer Ruderer, der 2004 und 2008 für sein Land an den Olympischen Spielen teilnahm. Dem Online-Medium Ukraijanska Prawda hat Schurmei, der mittlerweile Kommandant des Kalinouski-Regiments ist, in Charkiw seine Geschichte erzählt.  

    Meine Mutter ist im August 2022 gestorben. Leider konnte ich mich nicht verabschieden 

    Die Frage, ob ich für die Ukraine in den Kampf ziehe oder nicht, stellte sich für mich im Februar 2022 gar nicht. Ich habe mich von klein auf für Geschichte interessiert. Die meisten Bücher, die ich darüber las, behandelten die Geschichte der UdSSR. Zum Großfürstentum Litauen, das Gebiet des heutigen Belarus, gab es nur ganz wenig im Sinne von: „Unterjocht von den polnischen und litauischen Feudalherren strebte das belarussische Volk einen Bund mit dem brüderlichen Russland an“.

    Mit der Zeit bekam ich mehr Wissen und ich begriff, dass alles, was ich früher gelesen hatte, eine Lüge war. Die sowjetische Macht hatte versucht, die belarussische Geschichte zu vernichten. Wir sollten nur von unserem „großen Bruder“ wissen, der alles für uns entschied: unser Schicksal, unser Leben, unseren Weg. 

    Bereits zu Beginn der russischen Aggression im Jahr 2014 überlegte ich, mich der ukrainischen Armee anzuschließen, tat es aber nicht, weil ich mir um meine Mutter in Belarus Sorgen machte. Das war ja eine Einbahnstraße. Die belarussischen Freiwilligen, die sich der Verteidigung der Ukraine anschlossen, konnten nicht mehr nach Hause zurückkehren. 2022 konnte ich nicht mehr anders, als für die Ukraine in den Krieg zu ziehen. Und nicht etwa wegen meiner ukrainischen Frau und die Familie – diese Horde muss einfach in die Schranken gewiesen werden. Die Russen waren schon in der Ukraine. Sind einfach einmarschiert, als wären sie da zu Hause. Haben Türen eingetreten, Menschen in die Knie gezwungen, ihnen Waffen an die Köpfe gehalten, Frauen, Mütter, Kinder vergewaltigt und umgebracht. Man hätte diese Wilden schon viel früher aufhalten müssen. 

    Ich war seit dem 24. Februar 2022 nicht mehr in Belarus. Meine Mutter ist im August 2022 gestorben. Leider konnte ich mich nicht von ihr verabschieden. Ein paar Tage nach Beginn des großangelegten Kriegs bin ich aus den USA nach Polen geflogen und am 1. März in Warschau gelandet. Im dortigen belarussischen Zentrum versammelten sich Freiwillige. Belarussen im Warschauer Exil halfen mir, Ausrüstung und Medikamente zu besorgen. Polnische Sportruderer organisierten einen Kleinbus für mich, mit dem wir in die Ukraine fuhren. Bereits am Abend des 8. März kamen wir in Kyjiw an. 

    Wer seine Muttersprache nicht lernen will, lernt die Sprache der Unterdrücker 

    Am nächsten Tag verkündeten die belarussischen Freiwilligen die Gründung des Kastus-Kalinouski-Bataillons. Der Kommandant Jorik forderte alle auf, sich einen Kampfnamen auszusuchen. Hätte ich nicht Dzjadzka (dt. Onkel) genommen, hätte ich Babaj (dt. Waldgeist) geheißen. Aber das ist mir erst später eingefallen. Heiße ich also „Onkel“. Wenigstens nicht Tante. (lacht) Ich bin in einer großen Familie aufgewachsen und hatte viele Onkel. Sie waren kaum älter als ich, aber ich nannte sie trotzdem Onkel. Daraufhin begannen sie auch, mich Onkel zu nennen. So ist dieser Spitzname entstanden. 

    Zu Beginn waren die belarussischen Freiwilligen zusammen mit einer Einheit der Territorialverteidigung von Asow in Kyjiw stationiert. Man wollte uns nicht sofort als Kanonenfutter in den Kampf schicken, sondern ließ uns zuerst ein mehrwöchiges Anfänger-Training absolvieren. Nur wenige von uns hatten militärische Erfahrung, aber wir gaben uns Mühe, alles so schnell wie möglich zu lernen. Ich habe gute physische Voraussetzungen dafür, mit einer schweren Waffe zu laufen. So wurde ich MG-Schütze. Ich bekam ein leichtes Maschinengewehr und wurde zu meinem ersten Einsatz nach Irpin geschickt – das war zwischen 20. und 30. März. 

    Wir verbrachten dort sechs Tage. In der Region Kyjiw erlebte ich etwas, das ich nie vergessen werde. Zusammen mit einem ukrainischen Soldaten sollte ich ein Gebäude bewachen, aber nach einer halben Stunde starb er vor meinen Augen. Er wurde in der Leistengegend verletzt und verblutete innerhalb weniger Minuten. 

    Ende März kehrten wir aus Irpin zurück. Am nächsten Morgen unterschrieben wir unsere Verträge für den Dienst in den Streitkräften der Ukraine. In unserer Einheit bemühen wir uns, belarussisch zu sprechen. Wer seine Muttersprache nicht lernen will, lernt die Sprache der Unterdrücker. Dass ein Teil der belarussischen Bevölkerung die Landessprache nicht spricht, ist die Folge der systematisch auf die Vernichtung der Identität abzielenden russischen Politik. Russland versucht, alles Nationale auszurotten, damit seine Panzer problemlos durch unser Land rollen können. 

    Pawel Shurmei, Kommandant des Kalinouski-Regiments / Foto © privat
    Pawel Shurmei, Kommandant des Kalinouski-Regiments / Foto © privat

    Lukaschenko ist ein Leibeigener Putins. Putins Regime hat Belarus okkupiert, und Lukaschenko hat seine Heimat verkauft, um an der Macht zu bleiben. Solange Lukaschenko an der Macht ist, wird die Ukraine in Gefahr sein. Denn am 24. Februar 2022 fuhren von Belarus aus Militärkolonnen in die Ukraine ein. Raketen wurden von belarussischem Boden aus abgefeuert. Am Anfang schrie Lukaschenko: „Kyjiw in drei Tagen“. Ich glaube, er hätte sich dem Krieg angeschlossen, wenn Putin schnell Erfolg gehabt hätte. Und er wäre zur Parade der Russen in Kyjiw gekommen. Aber als er sah, dass Russland vorerst scheiterte, mischte er sich lieber nicht ein und wartete ab, wohin das Ganze führen würde. Er versucht, auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen, aber das kann sich jeden Moment ändern. Zudem kann Russland ihn jederzeit gegen einen angenehmeren Leibeigenen austauschen. Lukaschenko ist ein Monster, das sich alle Optionen offenhalten will, um so lange wie möglich an der Macht zu bleiben. Und solange er an der Macht ist, ist die Ukraine nicht vor Panzern und Raketen aus dem Norden sicher. Das Training russischer Soldaten und die Stationierung russischer Atomwaffen auf belarussischem Gebiet sind zumindest dazu da, den Ukrainern, Europäern und der NATO Angst einzujagen. Und im schlimmsten Fall dazu, die Ukraine oder Litauen von belarussischem Gebiet aus mit taktischen Kernwaffen anzugreifen. 

    Wenn wir gefragt werden: „Wollt ihr Kalinouski-Kämpfer den Krieg etwa nach Belarus bringen?“, verneinen wir das natürlich. In der Ukraine sehen wir, was Krieg bedeutet, im Gegensatz zu Lukaschenko und seinen Generälen, die der Meinung sind, die alles nur für ein Spiel halten. Indem sie sich in Putins Leibeigenschaft begeben haben, haben sie Belarus in eine Lage gebracht, in der das Volk erleben kann, was Krieg bedeutet. 

    In Wahrheit war Lukaschenkos Position 2020 mehr als wackelig 

    Wenn die Belarussen denken, es hänge nicht von ihnen ab, riskieren sie, den Krieg am eigenen Leib zu erfahren. Nach der Präsidentschaftswahl in Belarus 2020 war das Volk irrtümlich der Meinung, die Situation im Land mit friedlichen Protesten ändern zu können. Die Menschen hofften, Lukaschenko und der ganzen Welt zeigen zu können, dass er keine Mehrheit hinter sich hat. Aber die Leute müssen kapieren, dass nichts im Leben gratis ist. Sie müssen endlich den entscheidenden Schritt tun. Der kann sie die Freiheit kosten, die Gesundheit, das Leben, aber ohne diesen Schritt wird nichts passieren. Die Ukraine ist an diesem Punkt angelangt. Ich weiß nicht, ob die Belarussen schon verstanden haben, dass in Belarus ohne Blutvergießen leider keinen Machtwechsel geben kann. 

    In Wahrheit war Lukaschenkos Position 2020 mehr als wackelig. Eine Woche nach den Wahlen stattete er einer belarussischen Fabrik einen Besuch ab. Die Arbeiter schrien ihm entgegen: „Hau ab! Du kannst uns mal!“ Lukaschenko reagierte schockiert: „Wie kann das sein? Wie könnt ihr so was sagen?“ Manche denken, dass Russland damals bereit war, seine Truppen nach Belarus zu schicken, um die Proteste niederzuschlagen. Aber dann wäre diese Geschichte ganz anders verlaufen. Die Belarussen müssen verstehen, wenn sie nach dem Prinzip leben: „Das hängt nicht von mir ab, das geht mich nichts an, das ist nicht meine Entscheidung“, dann werden die Entscheidungen tatsächlich von anderen getroffen. 

    In unserer Einheit sind viele Freiwillige, denen das Jahr 2020 im Bezug auf die Situation in Belarus und den russischen Einfluss auf Belarus die Augen geöffnet hat. Damals wanderten viele von ihnen in die Ukraine aus und schlossen sich später den Ukrainischen Streitkräften an. In meinem Leben gab es noch einen bezeichnenden Moment. Ich hatte in Belarus einen Freundeskreis, in dem ich einer der Jüngsten war. Viele meiner Freunde hatten in der Sowjetarmee gedient. Sie waren mit Lukaschenko immer unzufrieden, fanden aber Putin ganz in Ordnung. Nach 2014 fingen unsere Treffen oft friedlich an, es kam aber dann fast zu Schlägereien. Auch wenn sie es nicht ganz ernst meinten, nannten sie mich „Ukro-Yankee-Schwein“ und „Bandera-Jude“. Aber nach 2020 verstanden fast alle – acht bis neun von zehn Leuten – dass Putin noch schlimmer als Lukaschenko ist. Sie haben es am eigenen Leib erfahren. 

    Wissen Sie, wenn man überlegt, wieso man für den Nachbarn kämpfen soll, muss man sich bewusst machen, dass man selbst als Nächster dran ist. Es gibt eine Redewendung: „Jedes Volk hat den Führer, den es verdient“. Das trifft leider auch auf Belarus zu. Belarus ließ sich 1994, als nach dem Zerfall der Sowjetunion alle Stabilität, medizinische Versorgung und anständige Löhne forderten, von einem Kolchosendirektor die Ohren vollschwafeln: „Ich hole alles zurück. Ihr werdet alles haben.“ Tja, seit mehr als 30 Jahren „haben wir alles“ … 

    In Belarus herrscht derzeit ein rechtsstaatlicher Bankrott 

    Die Familien der belarussischen Freiwilligen, die für die Ukraine kämpfen, sind in Gefahr. Sobald der belarussische Geheimdienst von so etwas erfährt, fängt es an mit Hausdurchsuchungen, die Familien werden verhört und strafrechtlich verfolgt, es werden Anklagen erhoben, Eigentum wird konfisziert, sie werden gezwungen sich vor der Kamera von ihren Familienmitgliedern loszusagen – und diese Videos werden im Fernsehen gezeigt. Sogar die Eltern oder die 70-, 80-jährigen Großeltern unserer Jungs und Mädels werden zu Verhören geladen. 

    Die Repressionen in Belarus sind brutal. Die Freiwilligen können Anrufe vom Handy des Vaters oder der Mutter bekommen, und dann zeigt man ihnen, wie diese gefoltert werden – wie man ihnen die Fersen verbrennt oder sie schlägt. Sie können mit den Menschen absolut alles machen, können sie sogar totschlagen, ohne dass ihnen etwas passiert. In Belarus herrscht derzeit ein rechtsstaatlicher Bankrott. Unabhängigen Rechtsanwälten wurde die Lizenz entzogen. Man kann sich keinen rechtlichen Beistand mehr holen. In Belarus ist es immer sehr brutal zugegangen, aber seit 2020 haben sich die Repressionen noch weiter verschärft. 

    Die belarussischen Freiwilligen stehen unter besonderer Beobachtung der Geheimdienste. Denn oppositionelle bewaffnete Verbände sind für Lukaschenko die Gefahr Nummer 1. Die belarussische Führung hat große Angst vor dem Kastus Kalinouski-Regiment. Deshalb haben Lukaschenkos Agenten es besonders im Visier. Im März 2023 wurde ich in Belarus angeklagt – „wegen Extremismus und der Teilnahme an den Kampfhandlungen auf der Seite der Ukraine“. Und Anfang Juni 2024 in Russland. Wie ich davon erfahren habe? Im März letzten Jahres bekam ich plötzlich Anrufe von meinen Bekannten, die mir gratulierten und sagten, ich sei nun ein Belarusse mit Gütesiegel. Bei uns gibt es einen Witz: Wenn du in Belarus vor Gericht kommst, hast du alles richtig gemacht.  

    Später begannen mir Journalisten zu schreiben und baten mich zu kommentieren, baten mich um Stellungnahmen und fragten, wie es mir gehe. Wie soll es mir schon gehen? Wir sitzen hier beisammen, unterhalten uns, und jeden Moment kann eine Rakete einschlagen. Was soll eine Anklage in Belarus oder Russland schon ändern? Manchmal scherze ich, dass ich gerade nicht persönlich nach Russland fliegen kann, deshalb schicke ich stattdessen eine Drohne. 

    Die Belarussen müssen verstehen, dass unsere Zukunft von uns selbst abhängt. Es hat keinen Sinn, darauf zu warten, bis die Ukraine, Europa oder Amerika unser Schicksal entscheiden. Wir sind selbst die Herren unserer Zukunft. Geholfen wird nur denen, die kämpfen. 

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    „Wenn man dich Propaganda nennt, dann berührt dich das emotional“

    Es macht einen Unterschied, ob jemand über ein Land schreibt oder aus diesem heraus berichtet – insbesondere, wenn dieses Land das eigene ist und sich im Krieg befindet: In einer Kolumne für die Ukrajinska Prawda berichtet die ukrainische Journalistin Alina Poljakowa über einen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen in europäischen Redaktionen, über typische Fragen zu Korruption und Pressefreiheit in der Ukraine sowie das Schreiben über die Heimat im Überlebenskampf.

    Journalisten berichten im März 2022 über die Folgen eines Beschusses der Stadt Wassylkiw bei Kyjiw / Foto © Imago, NurPhoto

    In den letzten anderthalb Monaten habe ich mit meinen ukrainischen Kollegen 18 Redaktionen ausländischer Medien in sechs europäischen Ländern besucht und mit mehr als hundert ausländischen Kollegen gesprochen.

    Wir wurden gefragt: „Wie können wir die Berichterstattung über die Ukraine in unseren Medien verbessern?“ oder „Auf welche anderen Themen sollten wir die Aufmerksamkeit lenken?“ Sie boten uns an, etwas gemeinsam zu machen, und haben uns für die Arbeit gedankt. 

    An anderer Stelle wurden komplexe und wichtige Fragen aufgeworfen, auf die ich weiter unten eingehen werde, und wieder woanders wurde Propaganda beklagt.

    Korruption in der Ukraine

    Beginnen wir mit den Fragen. Zur Korruption in der Ukraine wurden am häufigsten Fragen gestellt. Definitiv war diese Frage in allen drei deutschen Redaktionen zu hören.

    Meine Kollegen und ich haben es sogar geschafft, einen internen Witz darüber zu machen, denn in jeder dieser Redaktionen mussten wir das Gleiche wiederholen: Alle Recherchen zur Korruption in der Ukraine in den letzten gut zwei Jahren wurden von ukrainischen Journalisten veröffentlicht – man denke nur an die Eier für 17 Hrywnja oder an die türkischen Jacken. Und, vor allem: Es hatte Konsequenzen. Die Leute verloren ihre Positionen. 

    Als wir gefragt wurden, ob es deswegen interne Konflikte gebe, ob solche Stücke während des Krieges publiziert werden sollen, waren sich alle einig, dass das Thema behandelt gehört, wenn es gesellschaftlich wichtig ist und die Situation im Land verbessern kann.

    Natürlich wurde auch nach Verfolgung gefragt: etwa die Überwachung von Journalisten von Bihus.info und Einberufung als Rache für die Journalisten von Slidstvo.info. Unsere internen Angelegenheiten sind nicht so intern, was übergangslos zur nächsten Frage führt. 

    Meinungsfreiheit

    Auch das Thema Meinungs- und Pressefreiheit in der Ukraine stand ganz oben. Nicht zuletzt wegen der beiden oben beschriebenen Fälle. 

    Stellenweise klang es auch ein wenig ungläubig: „Könnt ihr überhaupt während des Kriegsrechts über alles schreiben?“ Wo sich herauslesen ließ: „Können wir Euch, den ukrainischen Medien, vertrauen?“ Auch das Thema Objektivität tauchte mehr als einmal auf. 

    Aber seltsamerweise fühlen sich die Medien in der Ukraine meiner persönlichen Wahrnehmung nach während des Krieges freier an als in Ungarn ohne den Krieg. Zwei der drei Medien, die wir dort besucht haben, hatten ihren Sitz in gemieteten oder gekauften Wohnungen, weil es für sie schwierig ist, überhaupt ein Büro zu mieten. Und Geschichten wie die über UMH und Kurtschenko trifft man dort oft an. 

    Obwohl wir noch viel vor uns haben, wenn wir uns beispielsweise an den Telemarathon oder die Situation mit Ukrinform erinnern.

    Verhandlungen

    Am Vorabend des Friedensgipfels [am 15./16. Juni in der Schweiz – dek] gab es viele Fragen über Frieden und Verhandlungen. „Unsere Leser wollen wissen, wohin das alles führt“, hieß es. 

    Also, ich würde auch gerne wissen, wohin das führt. Aber bisher mussten wir in jeder Redaktion, in der das gefragt wurde, über Minsk 1, Minsk 2 und die „Position der Stärke“ als einzig möglicher Option für die Ukraine sprechen, in der die Ukraine in solche Verhandlungen eintreten kann. Vorausgesetzt, dass auch Russland das will. Russland zeigt jedoch keine Anzeichen der Bereitschaft dazu, sondern versucht nur, so viel wie möglich zu zerstören. 

    Reisen in die besetzten Gebiete

    Was in den besetzten Gebieten passiert, ist sowohl für ausländische als auch für ukrainische Medien von Interesse. Der einzige Unterschied ist, dass es für ukrainische Journalisten einfach unmöglich ist, dorthin zu fahren, weil wir wissen, was das für Folgen haben kann. Einige ausländische Journalisten fragen sich, ob es für sie möglich ist.

    Im Laufe der Gespräche sind wir zu dem Schluss gekommen, dass die überwiegende Mehrheit von ihnen nicht gegen die Gesetze der Ukraine verstoßen will, und genau das würde passieren, wenn sie zum Beispiel von Russland aus auf das Territorium der Krim einreisen würden, was jetzt die einzige Option ist.

    Sie würden auch ihre Russland-Korrespondenten nicht dorthin schicken (die sie immer noch haben), weil sie verstehen, dass die Realität und das, was sie vor Ort zeigen dürfen, sehr unterschiedlich sein kann. So geschehen zum Beispiel bei dem Journalisten des ZDF.

    Nicht synchron

    Und obwohl wir in den meisten Fällen mit allen eine gemeinsame Basis und eine gemeinsame Sprache fanden, selbst als es um „gute Russen“ (!) ging, kamen unsere Meinungen in einigen Fällen nicht überein.

    Das anschaulichste Beispiel ereignete sich auf einem Diskussionspanel mit einem spanischen Fotografen, der acht Jahre lang den Einmarsch Russlands in die Ukraine einen „Bürgerkrieg“ genannt hatte, während er auf der Krim und im Donbas fotografierte, dem aber 2022 anscheinend alles klar wurde.

    Die Gedanken, die er in dem ihm eigenen Ton weiter äußerte, veranlassten mich und meine Kollegen schließlich, den Raum zu verlassen, was er mit den Worten kommentierte: „Das ist es, was Propaganda von Journalismus unterscheidet.“

    Wenn man dich Propaganda nennt, dann berührt dich das emotional.

    In solchen Momenten möchte ich gerne sehen, wie diese Leute arbeiten würden, wenn der Krieg in ihr Land kommt.

    Denn es ist eine Sache, nach Libyen, Syrien oder in die Ukraine zu fahren, um eine Pulitzer-Preis-würdige Geschichte zu finden.

    Eine andere Sache ist es, Berichterstattung über die Folgen des Beschusses deiner Heimatstadt zu machen, von Orten zu berichten, an denen deine Freunde möglicherweise getötet worden sind, Kollegen in den Krieg zu verabschieden und Freunde und Verwandte zu begraben.

    Ein bisschen spät zum „Tag des Journalisten“, und dennoch möchte ich meinen ausländischen Kollegen danken, die weiterhin über den Krieg in der Ukraine berichten, und natürlich unseren ukrainischen Kollegen, die einfach keine andere Wahl haben.

    Unsere Aufgabe ist es, die Wahrheit lauter zu schreien als die russische Propaganda schreit.

    Machen wir also weiter.

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