Wahlen unter tatsächlich fairen und freien Bedingungen – mit diesem Ziel ging das Bündnis um Swetlana Tichanowskaja, Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa im Sommer 2020 in den politischen Kampf gegen den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko. Zehntausende Belarussen waren bereits in der Zeit des Wahlkampfs zu den Kundgebungen des Dreigestirns gekommen. Was folgte, waren Proteste, Gewalt, Festnahmen und Repressionen, die bis heute andauern. Tichanowskaja und Zepkalo mussten ins Exil. Wie ihre Mitstreiterinnen war Kolesnikowa eigentlich keine Politikerin, sondern Musikerin und Projektmanagerin. Dann wurde sie im Zuge der Repressionen verschleppt, festgenommen und schließlich zu elf Jahren Haft verurteilt. Mittlerweile ist sie seit über 1000 Tagen in Haft.
Das belarussische Online-Medium Zerkalo zeichnet sowohl ihren Lebensweg und ihren Sprung in die Politik detailliert und kenntnisreich nach, als auch die Bedingungen ihrer heutigen Haft.
Maria Kolesnikowa wurde 1982 in Minsk in eine Ingenieursfamilie geboren. Ihre Familie erzählt von ihrer glücklichen Kindheit: „In den 1980er Jahren gab es so viele Jolka-Feste mit den klassischen Figuren, mit Väterchen Frost und Schneeflöckchen, im Kindergarten, in der Schule, im Betrieb der Eltern, sodass die Festtagsstimmung und die Feierlaune ziemlich lange anhielten“, erinnert sich Marias Vater, Alexander Kolesnikow. „Ich weiß noch, wie Mascha einmal fragte: ‚Wie viele Väterchen Frost und Schneeflöckchen gibt es eigentlich auf der Welt?‘, weil sie bei jeder Feier anders aussahen. Sie war oft ganz aufgeputscht von den vielen bunten Eindrücken, der allgemeinen Euphorie und der Freude, Liebe und Herzlichkeit überall, und es war nicht einfach, sie zu beruhigen. In diesen Momenten war sie sehr aktiv, fröhlich und lustig. Mit einem Wort: glücklich. Wir alle waren glücklich!“
Maria war die ältere von zwei Schwestern. „Mascha ist von Natur aus ein sehr guter, empathischer und kommunikativer Mensch“, erzählt ihre Schwester Tatsiana Khomich. „Sie bemüht sich immer, mit Menschen aus verschiedenen Bereichen in Kontakt zu kommen, weil sie daraus etwas Neues schöpfen, etwas lernen kann. Sie hat einen starken Gerechtigkeitssinn. Sobald sie eine Ungerechtigkeit wahrnimmt, spricht sie sie an, geht auf die Menschen zu. Ich weiß noch, wie sie in der Kindheit immer als große Schwester für mich eintrat, wenn mich jemand beleidigte. Sie war immer eine Anführerin. Menschen sind gern mit ihr zusammen, weil sie die Gabe besitzt, andere zu inspirieren.“
Schon als Kind liebte die zukünftige Politikerin Musik. „Unsere Mutter vermittelte uns internationale Klassik, unser Vater die Klassiker der Rockmusik. Wir hörten Rachmaninows Konzerte genauso wie die Rock-Oper Jesus Christ Superstar. Von klein auf fügte sich das für uns wunderbar ineinander. Mit unserer Mutter reisten wir durch Europa und besuchten immer Opern, Konzerte, Museen und Ausstellungen“, erinnert sich Maria.
Nach dem Abschluss der 9. Klasse an der Schule Nr. 184 in Minsk begann Maria ihre Ausbildung am Minsker Glinka-Konservatorium, mit Spezialisierung auf Flöte. In einem Interview erzählte sie, dass sie in ihrem Jahrgang das einzige Mädchen neben 15 Jungs gewesen sei. „Ich hatte große Schwierigkeiten, mit den Jungs auszukommen, aber so habe ich gelernt, mit der Männerwelt zu kommunizieren. Damals war man der Ansicht, ein Mädchen müsse sich in diesem schwierigen Fach nicht allzu sehr anstrengen, da sie in drei Jahren ohnehin heiratet und Kinder bekommt. Eine professionelle Zukunft sah man nur für Männer. Das traf mich damals sehr schwer, ich war immer überzeugt, alles schlechter als ein Junge zu machen. […] Wir hatten das gleiche Recht auf Bildung, aber kein Recht auf gleiche Behandlung?“
Das Projekt über die Freiheit
Hartnäckig machte Kolesnikowa weiter. Nach dem Konservatorium begann sie ein Studium an der Musikhochschule und verdiente ihr Geld im Orchester der Oper, in einem Ensemble und im Orchester des Präsidenten. Nach dem Diplom durchlief sie zwei Jahre lang das Graduiertenprogramm der Musikakademie, um dann 2007, mit 25 Jahren, nach Deutschland zu gehen. An der Hochschule für Musik in Stuttgart begann sie ein Studium der Alten und Neuen Musik.
Die nächsten zwölf Jahre verbrachte sie im Westen und besuchte Belarus nur selten, entwickelte sich als Musikerin und Projektmanagerin weiter. „Ich stehe mit eigenen Projekten auf der Bühne, werde aber auch zu Auftritten mit anderen Projekten eingeladen“, erklärte sie vor den Wahlen 2020. „In Europa ist es üblich, dass du als Musikerin deine Ideen selbst verwirklichst. Von der Bühnenverkabelung bis zum Flyerdruck – ich kann alles, auch Stühle aufstellen, weil ich es oft genug selbst gemacht habe. Auch für finanzielle Fragen, wie die Förderung von Musikprojekten, konnte ich Lösungen finden. In Deutschland habe ich wirklich eine Schule in Management, Abrechnung und Organisation durchlaufen.“
Im Jahr 2019 änderte sich alles. Kolesnikowas Mutter starb während einer geplanten Herzoperation in einem Minsker Krankenhaus. Ihr Tod veranlasste Maria zur Rückkehr. „Mir war bewusst, wie allein mein Vater nun war, der 38 Jahre lang mit meiner Mutter zusammengelebt hatte. Ich hatte das Bedürfnis, mehr Zeit als vorher mit meiner Familie zu verbringen. […] Wäre meine Mutter am Leben geblieben, hätte ich vielleicht nicht das gemacht, was ich heute tue, weil dann auch ihre Meinung eingeflossen wäre“, erklärte sie. Zufall oder nicht, noch im selben Jahr beteiligte sich Kolesnikowa an einem Projekt über Freiheit. „Ich spielte Bassflöte, auf einem Bildschirm liefen Filmaufnahmen vom Ploschtscha-2010. In den ersten Wochen im Wahlkampfteam musste ich oft an dieses Projekt denken“, erzählte Maria.
Bekanntschaft mit Babariko und Start im Wahlkampfteam
In Belarus organisierte Kolesnikowa die Vortragsreihe Musiklektionen für Erwachsene, die sehr gut ankam und jeweils bis zu 120 Besucher anlockte. 2019 nahm sie am Projekt Orchester der Roboter teil, in dem Schüler lernten, Robotermusiker zu programmieren. Doch ihr wichtigstes „Baby“ war das OK16. 2017 hatte der bekannte belarussische Mäzen und Chef der Belgazprombank, Viktor Babariko, für drei Millionen Dollar die ehemaligen Werkshallen der Minsker Werkzeugmaschinenfabrik MZOR gekauft, wo noch im selben Jahr ein neuer Kulturstandort namens OK16 öffnete. Zu dieser Zeit kontaktierte Maria Kolesnikowa Babariko zum ersten Mal auf Facebook, im Jahr darauf lernten sie sich persönlich kennen.
„2018 organisierte ich ein großes Projekt und kam mit fünf deutschen Künstlern nach Minsk. Wir veranstalteten gemeinsam Performances, Bildungsprojekte und Diskussionen im OK16. Es war ein durchweg ehrenamtliches Projekt, einfach internationaler Austausch. Und dort lernten wir uns kennen“, erinnerte sie sich in einem Interview mit Tut.by.
In der kurzen Zeit seines Bestehens wurde das OK16 zu einem zentralen Punkt auf der kulturellen Landkarte von Minsk. Kolesnikowa wurde künstlerische Leiterin und traf Babariko häufig bei Veranstaltungen. Sie besprachen auch gemeinsame Projekte, die im OK16 stattfanden: „Damals zeigte sich, dass unsere Wertvorstellungen sehr nah beieinander liegen. Als ich dann von seinem Vorhaben hörte, für das Präsidentenamt zu kandidieren, konnte ich das nur unterstützen.“
Am 12. Mai 2020 machte Babariko seine Kandidatur öffentlich. Acht Tage später wurde seine Initiativgruppe registriert. „Eduard (Babarikos Sohn, Anm. der Zerkalo-Redaktion) und ich waren vom ersten Tag an dabei, dann kamen immer mehr Leute dazu“, berichtete Maria dem Portal Tut.by.
Iwan Krawzow zufolge, der ebenfalls Mitglied des Wahlkampfteams war, übernahm Kolesnikowa praktisch sofort die Führung: nicht formal, sondern einfach, weil sie sowohl unter ihren Mitstreitern als auch inmitten gänzlich unbekannter Menschen Autorität ausstrahlte. „Es ist eine Illusion, dass man aus einer beliebigen Person jemanden machen kann, den die Menschen lieben sollen. Autorität und Leadership sind keine einfachen Dinge, sie hängen von Charaktereigenschaften ab, von Handlungen, vom Umgang mit Menschen und auch von der Gesamtsituation, dem politischen Prozess, an dem sich jemand beteiligt. Mascha ist eine gute Managerin, sie kann mit Menschen arbeiten. Das war von Beginn der Wahlkampagne an sichtbar. Sie versteht es, den besten Zugang zu unterschiedlichen Charakteren zu finden. Sie hat Erfahrung als Projektleiterin, die sie in den letzten Jahren im Kulturbereich sammelte“, erzählt Krawzow. Er erinnert sich, dass Kolesnikowa im Juni 2020, als das Team immer größer wurde, schnell das professionelle Niveau der Neuzugänge einschätzen konnte und problemlos zuordnete, in welchem Bereich sich die Person am besten einbringen konnte.
Zum Symbol der Kampagne wurde ein Herz, das Kolesnikowa immer und überall, wo sie auftrat, mit ihren Fingern formte. Selbst im Gerichtssaal, bereits hinter Gittern. Das Symbol sei nicht ihre Idee gewesen, erzählte Maria Tut.by: „Das war Teamwork, eine große Anzahl von Menschen hat gemeinsam die Entscheidung getroffen, was es wird. Aber wir denken, dass dieses Zeichen die Mission von Viktor und seinen Anhängern sehr gut wiedergibt, nämlich gegenseitigen Respekt, Liebe, Selbstachtung. Das alles steckt in diesem Herz.“
Parallel zu Kolesnikowas effektiver Arbeit erlebte die Gesellschaft einen ungekannten Aufbruch. Die Registrierung eines Präsidentschaftskandidaten erforderte 100.000 Unterschriften. Babarikos Stab reichte rund 365.000 Unterschriften ein, von denen die Verwaltung etwa 165.000 als gültig anerkannte. Das reichte für die Registrierung als Kandidat.
Doch Babarikos Kandidatur wurde noch im Keim erstickt. Am 18. Juni wurden er und sein Sohn in der Strafsache „Belgazprombank“ festgenommen. Es war abzusehen, dass auch die Mitglieder seines Teams Repressionen zu befürchten hatten, doch Maria gab nicht klein bei. „Meine Kunst wäre keinen Heller wert, wenn ich sagen würde: ‚Ach, was soll’s, ist mir zu chaotisch bei euch, ich fahre wieder nach Stuttgart, trinke Sekt auf dem Balkon und freue mich über die Rosen!‘ Es ist sinnlos, Kunst zu schaffen, mit der ich mein Leben lang über Freiheit und über die Hürden der Zensur spreche, wenn ich dann in einem Moment, in dem ich tatsächlich helfen und etwas verändern kann, einfach weggehe“, erklärte sie ihre Haltung im Juni 2020.
Wahlkampf für Tichanowskaja
Zu diesem Zeitpunkt war Maria das bekannteste Gesicht in Babarikos Wahlkampfteam. Sie hatte gemeinsam mit dem Team seine Dokumente bei der Zentralen Wahlkommission eingereicht. Doch am 14. Juli, da saß er bereits hinter Gittern, wurde seine Registrierung abgelehnt, ebenso die von Waleri Zepkalo. Allerdings ließ die Wahlkommission die damals praktisch unbekannte Swetlana Tichanowskaja als Kandidatin zu.
Am 16. Juli fand das schicksalsträchtige Treffen der drei Wahlkampfteams – Babariko, Zepkalo, Tichanowski – statt, bei dem beschlossen wurde, die Kräfte zu vereinen. „Damals kamen alle drei Teams zusammen, und es brach eine heiße Diskussion aus. Aber dann schlug Mascha vor: ‚Lasst uns doch zu dritt weitermachen‘. Und gemeinsam sind wir dann ziemlich weit gekommen“, sagte Veronika Zepkalo, die das Team ihres Mannes vertrat. Bei diesem Treffen einigten sich alle auf fünf Grundprinzipien: zu einer Stimmabgabe ausschließlich am 9. August aufzurufen; sich für die Befreiung der politischen und wirtschaftlichen Gefangenen einzusetzen; die Präsidentschaftswahl zu wiederholen; die Wähler über Möglichkeiten zum Schutz ihrer Stimmen zu informieren; sich an Initiativen für faire Wahlen zu beteiligen.
Das vereinte Wahlkampfteam führten Tichanowskaja, Zepkalo und Kolesnikowa gemeinsam an, „die drei Grazien“, wie sie bald genannt wurden. Sie wurden zum Symbol einer friedlichen Bewegung für Wandel, aber auch für eine vereinte belarussische Opposition. Aufwärmzeit gab es keine. Bereits am 19. Juli fand die erste Kundgebung mit Swetlana Tichanowskaja in Dsershinsk statt. Wie Tut.by anmerkte, wurde die kaum publikumserfahrene Kandidatin auf der Bühne von Kolesnikowa und Zepkalo unterstützt, und der Ablauf der Veranstaltung wurde erweitert und verbessert, zum Standard für alle weiteren Kundgebungen. Zuerst sprach Tichanowskaja über ihren Mann, seinen Kampf und darüber, dass ihre Kandidatur nur die Reaktion auf seine Festnahme bei einer Kundgebung am 29. Mai in Grodno sei. Maria und Veronika sprachen dann über die Probleme im Land und über die fünf Prinzipien, auf die sich die drei Teams geeinigt hatten.
Kolesnikowa prägte während der Kampagne gleich mehrere markante Aussagen, die Tut.by zusammengetragen hat: „Belarussen, ihr seid unglaublich“, „Liebe ist stärker als Angst“, „Die scheppernde Rostlaube der Regierung zerfällt in voller Fahrt“, „Jeder von uns sollte sagen: Ich kann alles ändern“, „Wir haben uns verändert, und zwar für immer“ und „Ihr wisst, was wir machen werden: dieses System mit allen gesetzlichen Mitteln beackern“.
Ich habe Angst, dass es nie enden wird
„Ab dem Zusammenschluss verbrachten wir fast die ganze Zeit zusammen. An manchen Tagen hatten wir drei bis vier Kundgebungen, ständig Interviews, Pressekonferenzen, Auftritte, Fahrten. Es gab keine freien Tage, wir waren ständig irgendwo unterwegs. Auf den Autofahrten durch das ganze Land lernten wir das gesamte Imbissangebot der Tankstellen kennen. Kein Tag verlief nach Plan. Wir wussten nicht, ob wir am Abend nach Hause zurückkehren, ob wir es zurück ins Büro schaffen. […] Es gab auch unangenehme Situationen. In einer Stadt wurden wir vor der Kundgebung gewarnt, dass auf dem Dach eines naheliegenden Gebäudes Scharfschützen gesehen wurden. Später, als wir auf die Bühne traten, zeigten die Menschen in Richtung des Gebäudes und riefen, da seien Scharfschützen. Ich schlug vor, sie zu begrüßen. Wir wandten uns alle drei um und winkten den Scharfschützen einfach zu“, erinnert sich Veronika Zepkalo.
Am 30. Juli fand im Minsker Park der Völkerfreundschaft eine Kundgebung statt, die zu diesem Zeitpunkt die größte in der Geschichte des unabhängigen belarussischen Staates. Menschenrechtsaktivisten schätzten die Zahl der Teilnehmer auf 63.000.
Drei Tage zuvor sagte Kolesnikowa in einem Interview diese – im Nachhinein betrachtet – prophetischen Worte: „Ich habe keine Angst im klassischen Sinne. Ich habe Bühnenangst, aber ich gehe trotzdem auf die Bühne und mache meine Arbeit. Ich habe Angst, dass es nie enden wird, wenn wir jetzt nicht all unsere Kraft aufbringen. Wenn es aber jetzt nicht endet, dann machen sie uns alle platt. Dann bleibt hier nichts übrig von frei denkenden Menschen, von Menschen, die bereit sind, ihre Unzufriedenheit zu äußern, von Menschen, die ihr eigenes Unternehmen aufbauen wollen. Die IT-Leute denken vielleicht, es geht sie nichts an, weil sie für Externe arbeiten, aber auch sie sind betroffen. Wenn sich jetzt nichts ändert, dann ändert sich nie etwas. Und mit ,jetzt‘ meine ich den 9. August plus einige Zeit für den Prozess. Der Prozess ist im Gange, und es ist die einzige Chance auf Veränderung. Wenn wir das nicht hinkriegen, können wir alle unsere Koffer packen und das Land verlassen.“
[…]
Veränderung lag in der Luft, dennoch sollte es anders kommen. Ab dem 9. August 2020 kam es zu massiven Protesten. Hunderttausende gingen auf die Straßen, nicht nur in der Hauptstadt Minsk, sondern auch in vielen anderen Städten, und sogar in Dörfern. Der Staat reagierte mit brutaler Gewalt, alleine in der ersten Woche der Proteste wurden Tausende festgenommen. In den Gefängnissen wurden die Menschen geschlagen und gefoltert. Swetlana Tichanowskaja wird von den Machthabern gezwungen, das Land zu verlassen. Die Opposition ruft einen Koordinationsrat ins Leben, der den Machtwechsel vorbereiten und begleiten soll. Aber auch dessen Führungsmitglieder werden nach und nach inhaftiert oder fliehen außer Landes.
Karpenkows Drohungen und der zerrissene Pass
Am 7. September wurde Maria festgenommen. Eine Leserin von Tut.by erzählte, wie sie auf dem Prospekt der Unabhängigkeit hinter sich das Klappern von Absätzen hörte, sich umdrehte und Kolesnikowa erkannte. Es war etwa 10.05 Uhr am Vormittag.
„Ich hatte sie schon einmal live gesehen, deshalb erkannte ich sie. Ich wollte noch zu ihr hingehen, mit ihr reden und mich bedanken, dann überlegte ich es mir anders, dachte, sie muss bestimmt müde sein. Ich ging also weiter, spielte noch kurz mit dem Gedanken, mich umzudrehen und ihr mit den Händen ein Herz zu zeigen. Beim Nationalen Kunstmuseum sah ich einen dunklen Kleinbus mit der Aufschrift Swjas (dt. Netz) auf der Seite, an der Rückseite stand die Marke Sobol. Ich lief weiter, dann hörte ich, wie ein Handy auf dem Asphalt aufschlug, dann Fußgetrappel, ich drehte mich um und sah, wie maskierte Leute in Zivil Maria in diesen Kleinbus zogen. Ihr Telefon war heruntergefallen, einer der Männer hob es auf, sprang in den Kleinbus, und sie fuhren weg“, berichtete sie.
Wohin Maria gebracht wurde, blieb unklar. Tut.by bekam von Innenministerium, Untersuchungsausschuss und Wirtschaftsbehörden die einstimmige Auskunft, es lägen keine Informationen über eine Festnahme vor. Sie alle logen.
Später berichtete Maria in einem Brief, was mit ihr geschehen war: „Nach meiner Verschleppung wurde ich gewaltsam ins Büro von Nikolaj Karpenkow gebracht, dem Chef des GUBOPiK, der mich anschrie, beleidigte und einschüchterte. Das ,Gespräch‘ fand im Beisein zweier anderer Herren statt: Gennadi Kasakewitsch, erster Stellvertreter des Innenministers, und Andrej Pawljutschenko, Chef des OAZ [Operatives Analysezentrum]. Sie stellten mir ein Ultimatum: entweder, ich verlasse das Land und kann jenseits der Grenze machen, was ich will, oder sie bringen mich außer Landes – lebendig oder zerstückelt. Sie brechen mir die Finger, sie sperren mich für 25 Jahre ein, ich werde Hemden fürs Militär nähen … Das Gespräch dauerte mehrere Stunden, mit einer Pause zur ,Erholung‘ in einer Einzelzelle.“
Da die Politikerin nicht ausreisen wollte, beschloss man, sie gewaltsam außer Landes zu bringen. An diesem Tag wurden in Minsk zwei weitere Aktivisten aus Babarikos Wahlkampfteam festgenommen, Anton Rodnenkow und Iwan Krawzow. Sie hatten nach Maria gesucht und wurden vor ihrem Haus aufgegriffen. Schon am Abend des 8. September gaben sie eine Pressekonferenz in Kyjiw.
Kolesnikowa zerriss ihren Pass
Rodnenkow und Krawzow berichteten, dass sie am frühen Morgen (des 8. September) in einen Kleinbus gesetzt und zum Grenzübergang Alexandrowka an der ukrainischen Grenze gebracht worden seien. Krawzow hätte Kolesnikowa in die Ukraine bringen sollen, um die Situation im Land zu „deeskalieren“. Maria trafen sie erst in der neutralen Zone, hinter der belarussischen Grenzlinie. Laut Plan sollten alle drei in einem Auto in die Ukraine fahren.
„Kaum hatten sie Mascha aus dem Kleinbus geholt, da begann sie schon im Befehlston ihre Freilassung zu fordern und die Vorgangsweise der Beamten strafrechtlich einzuordnen“, erzählte Krawzow. „Als sie dann im Auto saß und ihren Pass sah, schnappte sie ihn sich und zerriss ihn in viele kleine Stücke. Dann warf sie die zerknüllten Fetzen aus dem Fenster unbekannten jungen Leuten zu, die das Auto umringten. Schließlich kletterte sie durch das Fenster aus dem Auto und rannte zurück zur belarussischen Grenze.“
Dort wurde Maria von denselben Leuten verhaftet, die sie hergebracht hatten. Am 9. September, dem dritten Tag nach der Festnahme, wurde bekannt, dass Kolesnikowa sich im Untersuchungsgefängnis Nr. 1 [Minsk, Waladarka] befand. Einige Tage später wurde sie nach Shodino überführt, wo sie bis zum Januar des Folgejahres blieb, als man sie wieder nach Minsk zurückbrachte. Kolesnikowa wurde angeklagt, zu Handlungen aufgerufen zu haben, die auf die Gefährdung der nationalen Sicherheit abzielen.
Gefängnisalltag
In einem Interview mit der BBC berichtete Kolesnikowa ausführlich über ihr Leben hinter Gittern: „Ich wache jeden Morgen um 6:00 Uhr frisch und munter auf. In meinem früheren Leben wäre das unvorstellbar gewesen. Um 6:30 Uhr beginnt das Frühstück im Gefängnis, es gibt Brei, Saft, Brot und Tee. Doch ich esse nie so früh und lasse es stehen. Dann ,dusche‘ ich, indem ich Wasser in der Schüssel erwärme. […] Um 8:00 Uhr kommt die Kontrolle, danach lerne ich zwei bis drei Stunden lang Fremdsprachen oder lese auf Deutsch oder Englisch. Das ist meine produktivste Zeit. Gegen 9:00 Uhr habe ich Ausgang. Der Gefängnishof ist drei mal drei Meter groß (in Shodino war er größer). Aber auch so schaffe ich es, 40 bis 50 Minuten zu laufen und mache anschließend noch 30 Minuten lang Übungen.
Nach dem Ausgang frühstücke ich: belegte Brote oder, selten, Brei mit Trockenfrüchten, unbedingt aber einen starken Kaffee. Ich räume meine Zelle auf, und auch darin liegt eine gewisse Freude: den Ort, an dem du dich befindest, sauberer, gemütlicher und besser zu machen. Wenn keine Treffen mit Anwälten oder Verhöre anstehen, lese ich im Anschluss zwei, drei Stunden lang. […]
Während der gesamten Zeit war ich in fünf verschiedenen Zellen, mit jeweils anderer Belegschaft. Meine jetzige Zelle ist sehr klein, 2,5 mal 3,5 Meter, es gibt zwei Pritschen für vier Personen, eine Toilette, Waschbecken, Fernseher, Wasserkocher, eine Kanne, Schüsseln, einen Tisch, eine Bank. Durch das Fenster und das Gitter ist der Himmel zu sehen.
In Belarus ist das Rauchen an öffentlichen Orten verboten, sogar an Haltestellen, doch im Gefängnis gilt das nicht. Hier rauchen fast alle und überall: in den Zellen, Gängen, Diensträumen. Das gefährdet nicht nur meine Gesundheit, sondern auch meinen Beruf als Flötistin.“
Wir ergänzen, dass Kolesnikowa im Gefängnis keine Flöte und auch nicht immer Noten haben darf.
[…]
Krankheit und Operation
Ende 2022 verschlechterte sich Kolesnikowas Gesundheitszustand rapide.
Ihr Anwalt hatte sie zuletzt am 17. November in der Strafkolonie besucht. Später wurde bekannt, dass Maria in die Isolationshaft verlegt worden sei. „In der Arrestzelle war es sehr kalt, Maria schlief praktisch nicht. Um sich aufzuwärmen, bewegte sie sich die ganze Zeit und legte an einem Tag rekordverdächtige 15.000 Schritte in der kleinen Zelle zurück. In den Tagen vor der Krankenhauseinweisung verlor Maria immer wieder das Bewusstsein, sie litt unter erhöhtem Blutdruck und Übelkeit. Einmal wurde sie in der Dusche ohnmächtig und zog sich beim Sturz Schrammen an den Beinen zu. Der Gefängnisarzt meinte nur, sie hätte jeden Morgen im Strafraum die Möglichkeit gehabt, ihre Probleme zu melden, hätte dies aber unterlassen. Dabei hat sie Tabletten gegen den Bluthochdruck bekommen, die man ihr ohne eine Anzeige gesundheitlicher Beschwerden wohl kaum gegeben hätte“, erzählten ihre Mitstreiter.
Am 28. November wurde sie für weitere zehn Tage in die Isolationszelle gebracht. Ihr Anwalt wurde mit der Begründung, sie habe keinen Antrag auf ein Treffen mit ihm gestellt, nicht zu ihr durchgelassen. Er unternahm zwei weitere Versuche, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Am nächsten Tag hieß es, Kolesnikowa sei im Krankenhaus. Zu Bluthochdruck, Übelkeit und Ohnmacht waren am Nachmittag noch starke Bauchschmerzen hinzugekommen, sie war buchstäblich umgefallen. Maria wurde in die chirurgische Abteilung [des Gefängniskrankenhauses] gebracht, jedoch schon am Abend in die Unfallklinik in Gomel verlegt, weil sie operiert werden musste. Sie hatte einen Magendurchbruch.
Kolesnikowas Diagnose war die Folge eines Magengeschwürs. Ein Durchbruch tritt auf, wenn das Geschwür die Magenwand „durchschlägt“ und der Mageninhalt (mitsamt der Salzsäure, die die Nahrung zersetzt) in den Bauchraum fließt. Zu einer solchen Perforation kommt es in 10 bis 15 Prozent der Fälle eines Magengeschwürs, in der Regel begleitet von starken, stechenden Schmerzen. Trotz hochentwickelter Medizin bleibt die Behandlung von Magendurchbrüchen eine komplizierte Aufgabe für Chirurgen: Die Sterblichkeit bei entsprechenden Operationen liegt, je nach Quelle, bei 5 bis 18 Prozent (teilweise sogar 25 Prozent).
Endlich kann ich wieder ein bisschen laufen
Noch am selben Tag, dem 28. November, wurde Kolesnikowa mittels Laparoskopie (Bauchspiegelung, minimalinvasiver Eingriff) erfolgreich operiert. Sie wachte aus der Narkose auf, ihr Zustand blieb aber weiterhin kritisch. Ihr Vater fuhr in die Klinik, doch sein Gespräch mit den Ärzten fand im Beisein von Mitarbeitern des Innenministeriums statt. Die Ärzte weigerten sich, dem Vater die Diagnose mitzuteilen: Dafür sei angeblich Marias schriftliche Zustimmung nötig.
Am 1. Dezember erfuhr Zerkalo von einem Insider, dass nach wie vor weder Familienangehörige noch Anwalt Maria besuchen durften. Sie erfuhren auch nichts über ihren Zustand. „Man sagt ihnen ganz trocken, alles sei in Ordnung, und es werde alles Nötige getan“, sagte er. Ärzte und Pflegepersonal mussten Verschwiegenheitserklärungen unterzeichnen, im Falle einer Zuwiderhandlung drohten sechs Jahre Gefängnis. Erst am 5. Dezember wurde Kolesnikowa zurück ins Gefängniskrankenhaus verlegt und konnte dort ihren Vater treffen. Das zehnminütige Treffen fand unter Aufsicht des Arztes und mehrerer Gefängnisbediensteter statt.
„Endlich kann ich wieder ein bisschen laufen, etwa eine Stunde am Tag, ich steigere langsam Tempo und Schrittzahl, heute 5000. Das ist ein echter Rekord für mich, nachdem ich mich vom 29. November bis letzte Woche fast gar nicht bewegt habe. Es ist noch nicht alles wieder gut, aber ich bin positiv und optimistisch und will unbedingt gesund werden! Also, mach dich bereit: deine Draniki und Schaschliks stehen bald ganz oben auf meiner Speisekarte“, schrieb Kolesnikowa ihrem Vater am 27. Dezember 2022. Doch das war eher ein Aufmunterungsversuch, denn tatsächlich ging es Maria eher schlecht. „Kolesnikowa liegt auf der Krankenstation, ihr Zustand ist nicht sehr gut, sie ist völlig abgemagert“, erzählten Mitinsassinnen zu Beginn des Jahres 2023.
Zur selben Zeit entzog das Justizministerium Wladimir Pyltschenko, Kolesnikowas und Eduard Babarikos Anwalt, die Lizenz. Aufgrund mangelhafter Qualifikation könne er seinen Beruf nicht ausüben. Am 16. Januar wurde Kolesnikowa wieder in den regulären Strafvollzug verlegt. Sie geht wieder zur Arbeit, sei aber „nach der Schicht sehr müde“. Ihren Mitstreitern zufolge gehe es ihr gut, sie lege langsam Gewicht zu.
„Ich weiß ganz genau, dass jede Schwierigkeit vorübergeht“, schrieb sie in einem ihrer Briefe in die Freiheit. „Warum also traurig sein und sich sorgen, wenn doch auf jeden Fall der Moment kommt, an dem sie vorbei geht? Wozu Lebenszeit auf etwas verschwenden, das sinnlos ist und mir sogar schadet? Ich lebe so, als wäre all das Entsetzliche und Absurde um mich herum gar nicht da.“
Ausgerechnet am 25. März verkündete Wladimir Putin, noch in diesem Jahr Atomwaffen in Belarus stationieren zu wollen. An diesem Tag begeht die belarussische Opposition traditionell den Dsen Woli, um an die Ausrufung der Belarussischen Volksrepublik im Jahr 1918 und damit an die Unabhängigkeit des Landes zu erinnern. Diese sehen viele durch den Kreml bedroht, seitdem Alexander Lukaschenko sich nach den Protesten von 2020 in eine unheilvolle Abhängigkeit von Russland manövriert hat. So ließ er in einer höchst umstrittenen Reform den Passus aus der 1994 stammenden Verfassung streichen, der Belarus als „Nuklearwaffen-freie” Zone deklarierte. Zudem hatte Lukaschenko in jüngerer Zeit dem Westen häufiger damit gedroht, Belarus als Standort für russische Atomwaffen zur Verfügung stellen zu wollen.
Ganz unerwartet kommt Putins Ankündigung also nicht. Bedeutet dieser Schritt im russischen Krieg gegen die Ukraine eine weitere Eskalation mit dem Westen und der NATO? Welche Folgen hätte die Stationierung für Belarus und Lukaschenko, der jetzt schon auf verschiedenen Ebenen in den Krieg verstrickt ist? Für das belarussische Medium Zerkalo beantwortet der Politikanalyst Artyom Shraibman diese und weitere Fragen.
Wladimir Putins Entscheidung, taktische Atomwaffen in Belarus zu stationieren, kam nicht völlig unerwartet, schon deshalb, weil Alexander Lukaschenko im vergangenen Jahr mehr als einmal davon gesprochen hatte.
Es ist nicht das erste Mal, dass er Putin präventiv zur Eskalation einlädt, indem er aus „Der Kreml hat entschieden“ ein „Wir haben vereinbart“ macht. Genauso war es im Februar vergangenen Jahres mit den Truppenübungen, aus denen ein Krieg wurde, und im Herbst mit der Einladung russischer Truppen [nach Belarus – dek] zur Formierung einer gemeinsamen Einheit. Diese Truppe wurde schließlich zum Deckmantel für die Ausbildung russischer Mobilisierter auf belarussischen Übungsplätzen.
Interessanterweise formulierte Lukaschenko im September Bedingungen für die Stationierung von Atomwaffen im Land, die aber nicht erfüllt wurden. Damals sagte er, im Falle eines Angriffs auf Belarus oder einer Stationierung von Atomwaffen in Polen durch die USA, sollte es auch in Belarus welche geben. Als Begründung für Putins Entscheidung werden nun tatsächlich Lieferungen von Munition mit abgereichertem Uran an die Ukraine angeführt – dabei handelt es sich allerdings um Geschosse, die mit Nuklearwaffen nichts gemein haben.
Durch die Drohung, in Belarus Atomwaffen zu stationieren, versucht Putin, mit dem Westen zu sprechen
Das ist ein Wink mit dem Zaunpfahl, dass nicht Lukaschenko festlegt, wann und warum zum ersten Mal seit den 90er Jahren Atomsprengköpfe nach Belarus zurückkehren, seien es auch nur taktische, also von der Kraft her geringere als strategische Raketen, die zu Beginn von Lukaschenkos Regierungszeit abgezogen wurden.
Durch die Drohung, in Belarus Atomwaffen zu stationieren, versucht Putin, mit dem Westen zu sprechen. Ein Vergleich des militärisch-industriellen Potenzials Russlands und seiner Verbündeten auf der einen und der Koalition der Verbündeten der Ukraine auf der anderen Seite ist unmöglich. Eine Niederlage in diesem Krieg kann Putin nur durch die Müdigkeit oder den Unwillen des Westens abwenden, die ukrainischen Streitkräfte mit Waffen zu beliefern. Besondere Bedeutung hätte eine Unterbrechung der Lieferungen vor der nächsten ukrainischen Offensive.
Alle Optionen für eine nichtatomare Eskalation hat Putin ausgeschöpft. Die Mobilisierung hat zu keinem Durchbruch auf dem Schlachtfeld geführt, im Rahmen der russischen Winteroffensive wurden einige wenige zerstörte Kleinstädte und Dörfer bei Awdijiwka und Bachmut eingenommen. Zehntausende Söldner und Soldaten wurden im Fleischwolf vergeudet. Eine zweite Mobilisierungswelle kann nicht so schnell und einfach verlaufen wie die erste. Alle, die kämpfen wollten oder auf das schnelle Geld hofften, sind mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits an der Front. Immer mehr russische Einheiten beklagen einen Mangel an Waffen. Allem Anschein nach gibt es nicht mehr genug Raketen und Drohnen, wie noch im Oktober und November, als massiv und regelmäßig geschossen wurde. Und ihre Effektivität wird von der mit westlichen Systemen gepäppelten ukrainischen Flugabwehr zunichte gemacht.
Die Mobilisierung hat zu keinem Durchbruch geführt. Zehntausende Söldner und Soldaten wurden im Fleischwolf vergeudet
Bleibt also die atomare Drohung. Putin hat nicht zufällig eine klare Deadline formuliert: Die Basis für die taktischen Nuklearsprengköpfe in Belarus wird bis zum 1. Juli fertig sein. Iskander-Marschflugkörper stehen bereit, Piloten bilden wir aus, und dann werden die Nuklearwaffen in 200 bis 300 Kilometer Entfernung von Kyjiw stehen. Voilà, NATO, drei Monate Zeit, denkt euch was aus. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Westen mit der Wimper zuckt, ist minimal. Im Laufe der letzten Monate ist seine Entschlossenheit, die Ukraine mit Waffen und Gerät zu beliefern, nur gewachsen. Und das bedeutet, dass wir zur Jahresmitte hin tatsächlich die demonstrative Stationierung von russischen Nuklearwaffen in Belarus erleben werden.
Für uns wird das Folgen auf mehreren Ebenen haben: militärisch, außen- und innenpolitisch.
Die Belarussen lehnen jegliche Eskalation ab
Stellt man sich einen Ausgang des russisch-ukrainischen Krieges auf der Ebene einer direkten Konfrontation zwischen NATO und Russland vor, dann gibt es aus militärischer Sicht keinen Zweifel, dass Depots, Abschussvorrichtungen und Militärflugplätze auf belarussischem Gebiet zum Ziel (mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem der ersten Ziele) von NATO-Raketenschlägen werden. Die Stationierung von Nuklearwaffen beseitigt die Ungewissheit in dieser Frage: Niemand wird eine solche Bedrohung in der Nähe von Warschau, Vilnius, Kyjiw und Riga zulassen.
Innenpolitisch bedeutet die Stationierung russischer Atomwaffen für Minsk einen Schritt neuer Qualität in Richtung der intensiveren Beteiligung am russischen Krieg. Fast ein halbes Jahr lang hat Lukaschenko sich damit zurückgehalten. Im Oktober waren tausende russische neumobilisierte Soldaten ins Land gekommen, dafür hatte es seitdem keinen bestätigten Beschuss der Ukraine von belarussischem Territorium und Luftraum aus gegeben.
Dadurch, dass das Maß der Kriegsbeteiligung nicht weiter eskalierte, konnte Minsk im westlichen Lager Zweifel säen, ob die Sanktionen gegen Russland und Belarus nicht entsprechend angeglichen werden sollten. Polen und die baltischen Staaten bestehen darauf, doch die Ukraine, viele europäische Staaten und sogar die USA halten eine Differenzierung zwischen Putin und Lukaschenko für sinnvoll. Einige EU-Mitglieder setzen sich gar dafür ein, belarussisches Kali von Sanktionen auszunehmen.
Die Stationierung von Atomwaffen in Belarus wird die Position der prorussischen Hardliner ganz offensichtlich stärken. Denn es ist ein klares Signal an den Westen, dass es nichts gebracht hat, auf neue Sanktionen gegen Belarus zu verzichten – Lukaschenko hat es nicht davon abgehalten, sich Russland militärisch weiter anzunähern. Es ist gut möglich, dass sowohl die EU als auch die USA die drei Monate, die Putin ihnen als Bedenkzeit zugesteht, nutzen werden, um Lukaschenko ebenfalls Bedenkzeit zu geben, ob er weitere Ergänzungen in seinem Paket von Sanktionspaketen haben will. Doch da Minsk in diesen Fragen ganz klar nicht das Entscheidungszentrum darstellt, ist schon jetzt klar, worauf die gegenseitigen Reaktionen abzielen werden..
Genauso vorhersehbar wird die Bewertung dieses Schritts in der belarussischen Bevölkerung sein. Meinungsforscher sind zwar uneinig, inwieweit Umfragen in einer Diktatur zu Kriegszeiten belastbar sind, doch in einigen Fragen zweifelt niemand die Existenz eines nationalen Konsenses (oder etwas, was dem sehr nahekommt) an. Ein Beispiel ist, dass eine erdrückende Mehrheit der Belarussen eine Beteiligung der eigenen Armee am Krieg in der Ukraine ablehnt. Zu diesem Ergebnis kommen absolut alle Umfragen, sowohl telefonisch als auch online, die seit Anfang 2022 durchgeführt wurden, und es bleibt von Monat zu Monat stabil. Es besteht kein Spielraum für Ergebnisverzerrungen.
Bei der Frage der Stationierung von Atomwaffen in Belarus sieht es ähnlich aus. In Umfragen, die Chatham House im Zeitraum von März bis August 2022 durchführte, war nur jeder Fünfte bereit, eine solche Entscheidung zu unterstützen, 80 Prozent sprachen sich dagegen aus. Aktuellere Daten gibt es nicht, doch berücksichtigt man die stabilen Ergebnisse des ersten Kriegshalbjahres, gibt es keinen Grund zur Annahme, dass sich danach eine grundsätzliche Veränderung ergeben haben könnte.
Für die Propaganda wird es extrem schwierig sein, die Stationierung von Atomwaffen als Stärkung der nationalen Sicherheit zu verkaufen
Die Ursachen für diese Einstellung liegen auf der Hand. Selbst viele prorussische Belarussen, die Putins „Spezialoperation“ befürworten (ihr Anteil liegt in diesen Umfragen bei 35 bis 40 Prozent), verstehen, wie riskant es ist, Brückenkopf für Nuklearwaffen zu sein. Diejenigen, die neutraler oder proukrainisch eingestellt sind, begreifen das ohnehin. Für die Propaganda wird es extrem schwierig sein, die Stationierung von Atomwaffen als Stärkung der nationalen Sicherheit zu verkaufen. Selbst wenn man eine maximal effektive Wirkung des Fernsehens annimmt, wird höchstens ein Viertel oder ein Drittel der belarussischen Bevölkerung diese Maßnahme befürworten, was Lukaschenko mit einer Minderheit zurücklässt.
Langsam erodieren wird hingegen die Unterstützung, die die Regierung einigen Umfragen zufolge dank des gestiegenen Interesses der Belarussen an Frieden und Nichtbeteiligung am Krieg gewonnen hatte.
„Jetzt werden sie uns noch mehr fürchten“
Lukaschenko hat bereits eine in der Bevölkerung unpopuläre Entscheidung getroffen, als er das Aufmarschgelände für den Angriff und Beschuss der Ukraine bot (laut Daten von Chatham House unterstützten das nur 10 bis 15 Prozent). Damals entschied die Regierung klugerweise, diese Raketenangriffe zu verschweigen, und die Propaganda fokussierte sich darauf, dass Belarus Vorschläge für Friedensinitiativen einbringt, keine Soldaten an die Front schickt und ukrainische Flüchtlinge aufnimmt.
Über das tatsächliche Maß der belarussischen Beteiligung am Krieg erhielten so nur diejenigen regelmäßig Informationen, die im Süden von Belarus lebten, von wo die Raketenangriffe geführt wurden, und die immer geringer werdende Zahl von Rezipienten unabhängiger Medien. Doch wie soll man vor dem loyalen, politisch uninteressierten Fernsehzuschauer eine solche Nachrichtenbombe wie die Stationierung von Nuklearwaffen im Land verbergen? Vor allem, wenn Putin offen davon spricht und Lukaschenko das Thema schon seit einem Jahr antreibt. Daher wird die Regierung eher versuchen, „aus Gebrechen Großtaten zu machen“, wie es der Oberst im Kultfilm DMB formuliert, und ihren Befürwortern etwas erzählen wie: „Jetzt werden sie uns noch mehr fürchten“, und „denen machen wir die Hölle heiß.“
Lukaschenko schafft selbst die Basis dafür, dass die Belarussen ihn loswerden wollen
Doch Militarismus kann keine Bevölkerung beruhigen, die sich auf die Forderung nach Frieden und Ruhe geeinigt hat. Angst und Sorge sind scheußlich, selbst wenn der Schützengraben, in dem du sitzt, dir moralisch nahesteht – wenn deine Hauptforderung ist, überhaupt nicht in Schützengräben zu sitzen. Je mehr Lukaschenko mit einem Anstieg der Kriegsgefahr für Belarus assoziiert wird, desto größer werden auch die potenziellen Chancen für Politiker – heute oder in der Zukunft – die Vorschläge machen, wie die Gefahren und die dadurch ausgelösten Ängste abnehmen können.
Indem er in einem fremden Krieg den Verbündeten spielt, schafft Lukaschenko selbst die Basis dafür, dass die Belarussen ihn loswerden wollen. Und zwar nicht, weil die Wirtschaft nicht läuft oder die Sicherheitskräfte über die Stränge schlagen, sondern aus demselben Grund, aus dem sie ihn damals gewählt haben. Damit im Land Frieden und Stabilität herrschen.
Swjatoslaw Wakartschuk ist Sänger und Frontmann der ukrainischen Rockband Okean Elzy, die im ganzen Land große Popularität genießt. Seit Beginn des Angriffskriegs, den Russland gegen die Ukraine führt, reist Wakartschuk durch das Land, um Konzerte zu geben. Er ist in der Metro von Charkiw aufgetreten, als die Menschen dort vor den Bombenangriffen Schutz suchten, hat vor dem mit Sandsäcken geschützten Denkmal von Herzog de Richelieu in Odessa gesungen oder sich mit Flüchtlingen in Lwiw getroffen.
Das belarussische Nachrichtenportal Zerkalo.io hat mit Wakartschuk, der bis 2020 auch politisch aktiv war, über seine Straßen- und Unterstützungskonzerte gesprochen, über sein Land im Krieg und auch über Belarus, wo er und seine Band ebenfalls sehr bekannt sind. Dazu gibt es ein paar Videos aus dem Repertoire von Okean Elzy.
Zerkalo: Wo sind Sie derzeit?
Swjatoslaw Wakartschuk: Ich war in Charkiw, Saporishshja, Cherson, Mykolajiw, Odessa und Kyjiw. Seit zwei Tagen bin ich in der Westukraine, in Lwiw. Ich habe Militäreinheiten, Freiwilligenzentren und Polizeistationen besucht. Morgen fahre ich in Städte, die näher an Kampfzonen liegen. Für diese Woche habe ich noch etwas Großes vor, ich kann aber aus Sicherheitsgründen keine Details zu meiner Reiseroute nennen. Ich habe schon Memes gesehen darüber, wie schnell ich durch die Ukraine fahre, aber eigentlich ist das nicht verwunderlich: Wir schlafen wenig, stehen früh auf und kümmern uns sorgfältig um die Logistik.
Haben Sie Sicherheitspersonal dabei?
Ja, ein kleines Team, aber ich möchte nicht sagen, wer das ist.
Swjatoslaw Wakartschuk singt sein Lied „Wse bude dobre“ (Alles wird gut) für Ukrainer, die in den Westen ihres Landes geflohen sind.
Haben Sie bedacht, dass Ihre Ermordung oder Kriegsgefangenschaft für die russische Regierung ein Glücksfall wäre?
Krieg ist Krieg. Man denkt nicht daran, was mit einem selber passieren kann, sondern was aus unserem Land und unseren Kindern wird. Tut mir leid, wenn das pathetisch klingt, aber so ist es. Es muss einem klar sein, dass es derzeit nirgendwo in der Ukraine sicher ist. Man sollte nicht glauben, dass man in der Nähe der Front einem höheren Risiko ausgesetzt ist als sagen wir mal in Lwiw. Vor ein paar Tagen flogen Raketen in einen Bezirk von Lwiw. Davor wurde der Truppenübungsplatz Jaworiw in der Oblast Lwiw unter Beschuss genommen (laut regionalen Behörden kamen dabei 35 Menschen ums Leben, 134 wurden verletzt – Anm. d. Red.). Die Russen bombardieren die gesamte Ukraine, sie setzen alles ein, was geht. Sie schießen auf zivile Ziele und normale Leute, töten Frauen und Kinder, zielen auf Geburtskliniken und Altersheime. Anders als einen Nazismus des 21. Jahrhunderts kann ich das alles nicht nennen. In diesem Moment denkt man nicht an sich. Die Frage, ob mir jemand etwas antun kann, finde ich während eines Kriegs um unsere Unabhängigkeit – zumal ich Offizier bin (Leutnant – Anm. d. Red.) – fehl am Platz.
Was hat Sie auf dieser Tour am meisten erschüttert?
Glauben Sie mir – da gab es viel. Am meisten vielleicht das Kinderkrankenhaus in Saporishshja. Die Ärzte ließen mich auf die Intensivstation, wo sie vor meinen Augen Kinder versorgten, die in einem humanitären Korridor, der sie aus Mariupol evakuieren sollte, beschossen worden waren. Da war ein Mädchen namens Mascha, ein Teenie, ungefähr 14 Jahre alt. Ein paar Stunden vor meiner Ankunft hatten sie ihr ein Bein amputiert. Sie war in Tränen aufgelöst – aber nicht vor Schmerz, sondern weil sie begriff, wie es jetzt mit ihr weitergeht. Ein junges, hübsches Mädchen, das plötzlich ein Bein verliert, nur weil irgendwelche wahnsinnigen Blutsauger im Kreml mit Filzstift auf der Karte ihre Angriffsziele markieren und einen Krieg vom Zaun brechen. Das ist einfach richtig furchtbar.
Goebbels war ein Anfänger im Vergleich zu dem, was die sich heute erlauben
Im selben Krankenhaus traf ich einen kleinen Jungen von zwei oder drei Jahren. Er spielte mit Autos und war physisch unversehrt. Aber das Kind hatte beide Eltern verloren. Er hat keine Mama und keinen Papa mehr … Das ist kaum auszuhalten. Da weißt du, dass du das niemals verzeihen wirst. Da kann die russische Propaganda sonst was verbreiten. Goebbels war ein Anfänger im Vergleich zu dem, was die sich heute erlauben. Sie hören und sehen die Realität nicht. Vielleicht wollen sie es einfach nicht. Ich habe aufgehört, ihre Taten zu analysieren. Niemand wird das Russland jemals verzeihen. Und die Verantwortung wird nicht nur Putin tragen, sondern alle russischen Staatsbürger, die das zugelassen haben.
Der Song „Obiimy“ (Umarme mich) aus dem Jahr 2013 gehört zu den bekanntesten Liedern von Okean Elzy.
Ergeben sich Ihre Straßen-Auftritte zufällig?
Ehrlich gesagt: Nur ein Auftritt war geplant, alle anderen waren spontan. Sie glauben ja wohl nicht, dass das Klavier auf dem Bahnhof in Lwiw extra für mich aufgestellt wurde? Das stand schon vorher da, ich habe es gesehen und beschlossen loszuspielen. Oder in der U-Bahn von Charkiw: Die Gitarre haben Freiwillige aufgetrieben in der Hoffnung, dass ich irgendwas spiele. Sie brachten sie mir und sagten: „Hier.“ Da konnte ich natürlich nicht nein sagen. Der einzige geplante Auftritt war in einer Stadt in der Westukraine, wo es viele Freiwilligenzentren und Flüchtlinge gibt.
Worüber sprechen Sie mit den Leuten bei solchen Begegnungen?
Wir überlegen, wie wir siegen können und was wir dafür tun können, wie wichtig es jetzt ist, füreinander da zu sein. Ich bedanke mich bei den Menschen. Erzähle, was ich in anderen Städten gesehen habe. Versuche, auch physisch zu helfen. Unsere Crew bringt außerdem humanitäre Hilfe. Die einen brauchen Antibiotika, die anderen sitzen in den Metrostationen und freuen sich über Musik, und wieder andere brauchen beides. Einige Mitglieder der Band Okean Elsy leisten in Lwiw Freiwilligenarbeit, jeder macht sich nützlich. Alle bemühen sich, den Sieg herbeizuführen.
Was für Fragen stellen Ihnen die Menschen?
Fragen zu ganz einfachen, handfesten Dingen: Wie man in der Westukraine fußfasst, wie man irgendwo hinkommt, wie es bei uns aussehen wird, wenn der Krieg vorbei ist.
Sogar die, die Angst haben und durch den Krieg eher in eine Depression gefallen sind, wünschen der Ukraine einen baldigen Sieg. Aber die meisten Menschen sind positiv gestimmt. Möglicherweise hilft uns der Hass, der in unseren Herzen keimt, stark zu bleiben. Ich bin mir sicher, dass dieser Hass nach unserem Sieg verschwindet.
Wofür machen Sie das alles?
Ich kann nicht anders. Das ist mein Land, ein anderes habe ich nicht. Und ich liebe es. Wahlfreiheit und Würde – das sind für mich die wichtigsten Werte im Leben. Ich sehe, dass die Ukraine sie zu ihren zentralen Werten gemacht hat und wir sie jetzt verteidigen müssen. Wenn wir das nicht tun, dann wird sie ein russischer Soldat mit seinem Stiefel zertreten, und ich werde meinem kleinen Sohn nicht zeigen können, dass wir in unserem Land das erreicht haben, wonach wir gestrebt haben.
Okean Elzy gaben zwei Tage vor Ausbruch des Krieges ein spontanes Konzert auf einer unter Straßenmusikern beliebten Fußgängerbrücke in Kyjiw.
Sie sind oft in Belarus aufgetreten. Welchen Eindruck hatten Sie damals von unserem Land?
Ich habe vom belarussischen Publikum immer Liebe und Unterstützung gespürt, keine Feindseligkeit. Für uns war eine Reise zu euch immer ein großes, freudiges Ereignis. Bis zu den Protesten 2020, danach sind wir nicht mehr in Belarus aufgetreten.
Es zerstört die Zukunft von Belarus, wenn euer Land sich in einen Krieg hineinziehen lässt
Hat sich Ihre Einstellung nach dem Krieg verändert?
Ich hoffe, dass es in Belarus sehr viele echte Patrioten gibt, denen klar ist, dass es eure Zukunft zerstört, wenn euer Land sich in einen Krieg hineinziehen lässt. Ich bitte die Belarussen nicht um der Ukraine willen, auf die Straßen zu gehen und Soldaten und Panzer zu stoppen. Macht das für Belarus, in eurem eigenen Interesse. Wenn Putin und Lukaschenko euch in einen blutigen Krieg schicken, werden eure Soldaten in der Ukraine getötet. Und niemand wird sich dafür entschuldigen.
Letzte Frage: Wird alles gut?
Da bin ich mir sicher, dass alles gut wird [das sagt er auf Ukrainisch, gleich dem Titel seines Liedes, s.o. – dek]. Wenn in der Ukraine das Gute und die Freiheit siegen, dann ist das gut für die ganze Welt, auch für euch, unsere Nachbarn. Das zu verstehen ist wichtig. Es lebe die Ukraine!
„Wer gehen will, geht leise.“ So sagte es ein ehemaliger Mitarbeiter der Truppen des Inneren in Belarus. Der hatte seinen Dienst infolge der massiven Repressionen und Polizeigewalt gegen die Demonstranten aufgekündigt, die seit dem 9. August 2020 gegen die belarussischen Machthaber protestieren. Mitarbeiter der Silowiki-Strukturen gehören zu den wichtigsten Stützen des Apparats von Alexander Lukaschenko, der auch aktuell immer noch mit massiven Repressionen gegen jeglichen Widerstand vorgeht. Allerdings berichten Medien und andere Kanäle immer wieder, dass die Unzufriedenheit bei den Silowiki extrem hoch sei. Auch Andrej Ostapowitsch verließ bereits im August 2020 seinen Dienst als Mitarbeiter des Ermittlungskomitees. „Mir wurde klar, dass ich da nicht mehr arbeiten kann“, sagte er in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur. „Auch Untätigkeit wäre Mittäterschaft.“ In Polen gründete er schließlich die Initiative BYPOL, eine Vereinigung für ehemalige Mitarbeiter von Strafverfolgungsbehörden, die mittlerweile zu einem der bekanntesten und aktivsten Akteure der Opposition avanciert ist.
Wer aber steht noch hinter BYPOL? Wie arbeitet die Initiative? Woher erhält sie ihre Informationen? Was waren die bis dato größten Scoops von BYPOL? Das Medienportal tut.by hat sich das Projekt genauer angeschaut und dafür auch Mitarbeiter von BYPOL interviewt.
Vor einem halben Jahr war Andrej Ostapowitsch noch Beamter einer Bezirksabteilung der Ermittlungsbehörde in Minsk. Er nahm damals selbst an Protestaktionen teil, ahnte aber nicht, dass er eine Initiative ehemaliger Silowiki gründen würde, die in mühseliger Kleinarbeit Informationen über diejenigen sammelt, die Belarussen verhaften, prügeln und sogar töten, wenn sie mit dem Regime nicht einverstanden sind. Genau das macht jetzt BYPOL; außerdem bietet die Initiative aktuellen und ehemaligen Mitarbeitern der Sicherheitskräfte Hilfe an. Das Innenministerium bezeichnet die von BYPOL bereitgestellten Informationen meistens als Fake.
Anfang März veröffentlichte BYPOL die Abschiedsrede des damaligen Innenministers Juri Karajew anlässlich seines Ausscheidens aus dem Amt [Ende Oktober 2020 – dek]. Davor hatte BYPOL die Ergebnisse seiner Recherchen zum Geschehen am 11. November 2020 auf dem Platz des Wandels publiziert sowie eine Rede des jetzigen stellvertretenden Innenministers Nikolaj Karpenkow und andere Audioaufzeichnungen, die viel Aufsehen erregten.
tut.by berichtet im Folgenden, wer hinter BYPOL steht und wie die Initiative funktioniert.
Was ist BYPOL, und wie ist das Projekt entstanden?
Die Initiative BYPOL wurde von ehemaligen Mitarbeitern der Ermittlungsbehörde und des Innenministeriums gegründet. Sie treten gegen Alexander Lukaschenkos Politik auf, sammeln Daten zu Gesetzesübertretungen von Silowiki und appellieren an diese, auf die andere Seite zu wechseln. Ende August 2020 schrieb Andrej Ostapowitsch, ein Beamter in einer der Bezirksabteilungen der Ermittlungsbehörde in Minsk, seinen Entlassungsantrag. Darin stand, dass er das Vorgehen der Staatsmacht, die friedliche Demonstranten vertreibe und verprügle, nicht unterstütze und er zu neuen, ehrlichen und gerechten Wahlen aufrufe. Daraufhin begannen Ermittlungen gegen ihn, und er beschloss, Belarus zu verlassen.
In Polen gründete Ostapowitsch eine Initiative für Silowiki, die mit der Vorgehensweise des belarussischen Regimes nicht einverstanden sind. Als erste beteiligten sich Igor Loban, ehemaliger Ermittler in besonders wichtigen Fällen an der Ermittlungsbehörde der Region Hrodna, Wladimir Schigar, ehemaliger Fahndungsbeamter der Kriminalpolizei in Masyr, und Matwej Kupreitschik, leitender Ermittlungsbeamter an der Minsker Polizeiabteilung für die Bekämpfung von Drogen- und Menschenhandel, an der Initiative. Im Oktober wurde bei einem Treffen mit Swetlana Tichanowskaja die Gründung von BYPOL bekanntgegeben.
Wie viele Menschen sind an dem Projekt beteiligt, und was sind seine zentralen Aufgaben?
Die Initiative legt nur die Daten von drei ehemaligen Silowiki offen, die wir bereits genannt haben (im März wurde bekannt, dass Ostapowitsch das Team verlassen hat). Die Namen weiterer Mitglieder werden unter Verschluss gehalten, um Verschwörungen vorzubeugen.
„Derzeit hat BYPOL gut und gern mehrere hundert Mitglieder“, sagen Vertreter der Initiative. „Auch sehr viele Zivilpersonen kommen auf uns zu und leisten enorme Unterstützung.“
Der Hauptsitz von BYPOL befindet sich in Warschau, aber auch in anderen polnischen Städten und EU-Ländern gibt es Büros, in denen ehemalige Strafverfolgungsbeamte und Aktivisten (meist über den Telegram-Kanal des Projekts) eingehende Daten zu Gesetzesübertretungen im Strafverfolgungssystem bearbeiten. Mitglieder von BYPOL helfen ehemaligen Silowiki, das Land zu verlassen, wenn ihnen Gefahr droht – solche Fälle gab es rund 30. Wobei BYPOL anmerkt, dass es eine Initiative und keine Stiftung ist und entlassenen Beamten keine finanzielle Hilfe anbieten kann.
„Im Gegenteil, wir ermutigen Strafvollzugsbeamte, die mit uns einer Meinung sind, mit uns zusammenzuarbeiten, ohne ihre Strukturen zu verlassen. Wie man sieht, bringt das Ergebnisse“, heißt es bei BYPOL.
So erhält BYPOL Informationen über Vorgänge im System sowohl von aktiven als auch von ehemaligen Silowiki. Manche Daten findet man in Datenbanken – dabei bekommt BYPOL Hilfe von IT-Fachleuten. Informationen kommen auch von anderen zivilgesellschaftlichen Projekten, etwa von 23-34.net, wenn es um Verwaltungsarrest von Protestierenden geht oder um Informationen von Gesetzesübertretungen der Silowiki aus dem Einheitlichen Verbrechensregister EKRP.
Die Daten von Polizeimitarbeitern, die an Verbrechen beteiligt waren, gibt BYPOL (über Swetlana Tichanowskajas Büro) an die EU weiter in der Erwartung, dass das nicht nur zu persönlichen Sanktionen führt, sondern auch zu einem Lieferstopp für Spezialausrüstungen der belarussischen Sicherheitskräfte.
Im Februar initiierte Tichanowskaja auf Basis von BYPOL die Gründung eines Situationsanalysezentrums für folgende Aufgaben:
– strategische und taktische Planung der Wiederherstellung von Recht und Ordnung in Belarus; – Sammlung und Auswertung von aktuellen und relevanten Informationen unter anderem über Protestaktionen in Belarus; – Koordinierung von Projekten aktiver Gruppen, Initiativen und Organisationen; – Beratung und Unterstützung für aktivistische Vereinigungen zur Gewährleistung ihrer Sicherheit; – Einbeziehung von und Austausch mit aktiven Sicherheits- und Strafverfolgungsbeamten; – Neutralisierung von Bedrohungen gegen die Unabhängigkeit von Belarus.
Sein Budget legt BYPOL nicht offen. Den Kauf von Technik für die Arbeit am Projekt haben im Ausland lebende Belarussen und der Solidaritätsfonds Bysol finanziell unterstützt. Vertreter der Initiative, die öffentlich über ihre Tätigkeit berichten, haben um politisches Asyl ersucht.
Warum kündigen Beamte ihren Dienst, und gibt es viele solcher Fälle?
Der Höhepunkt der Kündigungen sei Sommer/Herbst 2020 gewesen, aber das bedeute nicht, dass der Prozess zum Stillstand gekommen sei, heißt es bei BYPOL.
„Die Unterbesetzung, die im Innenministerium jetzt rund zehn Prozent beträgt, ist längst nicht mehr auszugleichen“, schätzen BYPOL-Vertreter die Lage ein. „Die verbleibenden Mitarbeiter sind einer extremen Belastung ausgesetzt. Zu Spezialeinheiten wie der OMON werden Grundwehrdienstleistende angeworben, die gerade erst die Schule und eineinhalb Jahre Armee hinter sich haben – und dann sollen sie gleich in einer Eliteeinheit kämpfen. In letzter Zeit machen Silowiki, die ihren Dienst quittieren, das nicht öffentlich, weil jetzt eine öffentliche Kündigung aus den Spezialeinheiten garantiert zu einer Verfolgung führt. Der Gründer von BYPOL, Andrej Ostapowitsch, musste nach Russland fliehen, wo er vom FSB festgenommen wurde. Andrej gelang die Flucht in den Wald, wo er sich vor seinen Verfolgern verstecken und anschließend nach Polen absetzen konnte. Auch nach den restlichen öffentlichen Vertretern von BYPOL wird derzeit gefahndet. Aus dem geleakten Gespräch über Roman Bondarenko geht hervor, dass Roman seinen Dienst in der Militäreinheit 3214 erwähnt hatte (eine Spezialeinheit der Truppen des Innenministeriums – Anm. tut.by), bevor er in dem Kleinbus verprügelt wurde.“
Ein weiteres Beispiel ist der Fall des ehemaligen Polizisten Dimitri Kulakowski, der wegen Beleidigung eines ihm unbekannten Polizeibediensteten zu zwei Jahren „Chemie“, einer Art Hausarrest mit Arbeitsauflagen, verurteilt wurde. Während seiner Verwaltungsstrafe im Untersuchungsgefängnis Okrestina war er unmenschlichen Bedingungen ausgesetzt und schluckte aus Protest Gegenstände aus Metall. Vor Gericht sagte Kulakowski:
„Ich glaube, das Strafverfahren gegen mich wurde fingiert, weil ich aus Überzeugung meinen Job im Innenministerium gekündigt habe. Bis zum 18. August 2020 war ich Chef der kriminalpolizeilichen Abteilung des Bezirks Sawodksi. Nach den Geschehnissen im August war mir klar, dass ich aus moralischen Gründen nicht weiterarbeiten kann. Ich brachte meine Haltung offen zum Ausdruck, im September habe ich ein Foto gepostet (von einer Polizeiuniform vor einer Müllkippe – Anm. tut.by). Ich nehme an, dass Mitarbeiter des internen Sicherheitsdienstes mir eine Lektion erteilen und die verbleibenden Kollegen abschrecken wollten, dass ihnen im Fall einer Kündigung dasselbe passieren würde – so kam es zu meinem Verfahren. Ich war 27 Tage eingesperrt (in Untersuchungshaft – Anm. tut.by), sie forderten ein Geständnis von mir, dass ich versucht hätte, Informationen über Polizeibeamte zu verkaufen, ich verweigerte. Die Haftbedingungen waren unmenschlich, 25 Tage Kerker ohne Medikamente und medizinische Versorgung.“
Wie verifiziert BYPOL Informationen über Gesetzesverstöße der Silowiki?
Die Vertreter der Initiative sagen, dass sie die Informationsquellen nicht offenlegen, da damit oft eine Gefährdung der Sicherheit jener Personen einhergeht, die das Material zur Verfügung gestellt haben.
„Gleichzeitig ist uns unser Ruf sehr wichtig, daher legen wir großen Wert auf Faktencheck. Das Einheitliche Verbrechensregister ist ein effektives Mittel. Anhand der Rückmeldungen bewerten wir das Projekt positiv, es verdient das Vertrauen aktiver Sicherheitskräfte. Interessanterweise fragen viele aktive Polizeibeamte bei uns nach, ob sie auch nicht im nächsten Update des Einheitlichen Verbrechensregisters erscheinen.“
BYPOL ist nicht für die totale Auflösung der Sicherheitskräfte, sondern vertritt die Meinung, dass nur jene Vollzugsbeamte entlassen werden sollen, die Straftaten begangen haben. Die bestehenden Offiziersversammlungen sollen von Gewerkschaften abgelöst werden, die tatsächlich die Rechte der Mitarbeiter vertreten.
„Die Dokumentation der Verbrechen und die Identifikation der Täter haben einen enormen Einfluss auf die Stimmung innerhalb des Systems“, meint BYPOL. „Wobei man dazusagen muss, dass allein die Dokumentation der Verbrechen noch keine Wunderpille ist und nicht zu Veränderungen führt. Erst zusammen mit unseren anderen Aktivitäten und dem Engagement der Zivilgesellschaft führt sie zum gewünschten Ergebnis.“
Was war das Aufsehenerregendste, was BYPOL aufgedeckt hat? Und wie hat das Innenministerium darauf reagiert?
BYPOL wird nicht nur von einfachen, sondern auch hochrangigen Mitarbeitern der Strafvollzugsorgane kontaktiert. So ist die Initiative an die Aufzeichnung eines Gesprächs gekommen, in dem ein Mann mit einer Stimme wie der Ex-Innenminister Juri Karajew über Sergej Tichanowski sagt, dieser sei „gefährlicher als alle diese Babarikos“ und man müsse ihn „für lange Zeit wegsperren“. Allerdings wird in der Aufzeichnung der Name Tichanowski nicht genannt. Formulierungen, dass „er, dieser Lump, in Russland viel Schlimmeres gesehen hat“ (bekanntlich arbeitete Tichanowski in Russland) und dann „zurückkam und anfing: Wir bringen diese Macht ins Wanken“, lassen darauf schließen, dass die Rede von Tichanowski ist.
In einer weiteren bedeutsamen Aufnahme, die von BYPOL veröffentlicht wurde, sagt eine Stimme, die wie der heutige stellvertretende Innenminister Nikolaj Karpenkow klingt (damals Chef der Abteilung für die Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Korruption), dass Alexander Taraikowski durch ein Gummigeschoss gestorben sei, das ihm „in die Brust flog“ (ursprünglich hatte das MWD erklärt, Taraikowski sei durch die Explosion eines selbstgebauten Sprengsatzes ums Leben gekommen, den er in den Händen gehalten habe). In der Aufnahme geht es auch darum, dass die belarussischen Silowiki mit russischen Jarygina-Pistolen ausgestattet worden seien und wie man mit Protestierenden umgehen solle. Es wird betont, dass „das Staatsoberhaupt uns beim Einsatz von Waffen von allen Seiten deckt“.
„Wie der Präsident gesagt hat: Wenn einer auf euch zurennt, wenn einer euch angeht, greift zur Waffe, also, zu einer nichtletalen. Und dann aus nächster Nähe: in die Beine, in den Bauch, in die Eier. Damit ihm, wenn er wieder zu sich kommt, klar ist, was er angerichtet hat. Tut ihm einfach irgendwas an, macht ihn zum Krüppel, verstümmelt ihn, bringt ihn um. Zielt ihm direkt auf die Stirn, direkt ins Gesicht, mitten rein, dass er nie mehr wieder so wird wie vorher. Kann auch sein, dass er wiederbelebt wird, auch gut. Es fehlt ihm halt dann das halbe Hirn, na, geschieht ihm schon recht. Weil im Grunde alle, die jetzt auf die Straßen gehen und sich an diesem Schienenkrieg beteiligen, weil die, die die Fahrbahnen blockieren, Polizisten angreifen, Molotow-Cocktails werfen – weil das Terroristen sind. Solche brauchen wir nicht in unserem Land.“
In derselben Aufnahme erklingt auch die Idee von den Lagern:
„Ein Lager, also, keines für Kriegsgefangene, auch kein Internierungslager, sondern ein Lager für besondere Aufrührer, zur Aussonderung. Und dann ein Stacheldraht rundherum. In zwei Bereiche teilen: eine Etage für die Heizkammer, eine Etage für die Speisung, und dass sie arbeiten. Dort sollten sie eingesperrt werden, bis sich alles beruhigt hat.“ Eine unabhängige phonoskopische Expertise hat übrigens bestätigt, dass die Stimme in der Aufnahme tatsächlich Nikolaj Karpenkow gehört, einen Kommentar von ihm persönlich bekam tut.by nicht.
Außerdem hat BYPOL eigene Recherchen zu Roman Bondarenkos Tod veröffentlicht. Da sind die Namen der Beteiligten an der Schlägerei am Platz des Wandels angeführt und was die Beamten der Polizeidienststelle Zentralny, auf die Roman gebracht wurde, dem Rettungsdienst mitteilten und auch, dass Bondarenko nicht alkoholisiert war.
Die häufigste Reaktion des Innenministeriums auf Informationen von BYPOL ist, dass es sie als Fälschungen abtut. Nur in einem Fall hat die Polizei Untersuchungen angekündigt – zu einem Video aus der Polizeidienststelle des Bezirks Frunsenski, wo am 12. August 2020 bei Protesten Festgenommene verprügelt wurden. Einige der Festgenommenen haben sich selbst wiedererkannt. „Zu dieser Videoaufzeichnung, wo Beamte der Bezirkspolizei Frunsenski die Häftlinge nicht sehr gut behandeln, wird eine Untersuchung durchgeführt“, sagte der erste Stellvertreter des Innenministers, Juri Nasarenko. „Die Anordnung des Ministers ist erfolgt. Je nach Ergebnis der Untersuchungen werden entsprechende Schlüsse gezogen.“ Seitdem sind mehr als zwei Monate vergangen, über die Ergebnisse der Untersuchung ist nichts bekannt.
Die Silowiki-Strukturen scheinen nach wie vor loyal zum Machtapparat von Alexander Lukaschenko zu stehen. Nur vereinzelt kündigen Leute der Spezialeinheit OMON, Milizionäre und andere ihre Arbeit auf. Häufig, weil sie die brutale Gewalt, die von den Sicherheitsleuten ausgeht, nicht mehr mittragen wollen.
Dass auch für sie die ständige Belastung und der psychische Druck hoch sind, zeigt dieses Interview, das das Medienportal tut.by mit einem ehemaligem Mitarbeiter der Truppen des Inneren geführt hat. Er bat darum, anonym zu bleiben. Das Gespräch mit ihm zeigt auch, welche Rolle Korpsgeist und ideologische Schulung in den Reihen der Silowiki spielen und mit welchen Folgen derjenige rechnen muss, der die Loyalität aufkündigt.
N.N.: Die, die gehen, versuchen es leise zu tun, damit ihnen nichts Schlimmeres widerfährt.
Nach den Wahlen schrieb ich ein Entlassungsgesuch. Es dauerte mehrere Wochen, bis die Formalitäten abgewickelt waren und ich offiziell vom Dienst befreit war. Währenddessen wurde ich meines Amtes enthoben und war irgendwann bereits nicht mehr an Einsätzen beteiligt [Auflösung von Demonstrationen – Anm. der Redaktion]. Jetzt kann ich über mich sagen: Ich war in einer Führungsposition tätig. Ab dem 9. August wurden wir bei den Protesten eingesetzt. Natürlich waren wir immer darauf vorbereitet – schließlich waren wir Einsatzkräfte des Innenministeriums. Aber die Vorbereitung erfolgte im Rahmen der Gesetze. In den ersten Tagen waren das gesamte Innenministerium, die Einsatztruppen des Inneren und das Militär, das heißt die Offiziersschüler der Militärakademie, an der Auflösung der Demonstrationen beteiligt. Wir hatten sie schon vor der Wahl geschult und ganz gezielt vorbereitet. Aber niemand hätte gedacht, dass es so weit kommen würde. Am späten Abend des 9. August war ich auf der Nemiga Straße, wir waren in Uniform, trieben die Leute auseinander, nahmen aber niemanden fest. In den nächsten Tagen, als ich noch im Dienst war, war unsere Einheit in Bereitschaft, wir saßen im Zentrum von Minsk und warteten auf unseren Einsatz. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, dass es zu einem solchen Ausmaß an Gewalt kommen würde.
Wir erfuhren es einige Tage später, als Berichte darüber im Internet erschienen. Und ich hörte viel von meinen Kollegen, die an anderen Standorten eingesetzt waren. Nach dem Dienst kam ich gegen drei Uhr nachts ins Revier, schaltete das Telefon ein, sah mir alles an, analysierte die Lage. Und mir war sofort klar: Das war erst der Anfang. So viel ungerechtfertigte Gewalt! In dem Moment verlor das Ganze für mich seinen Wert, unsere Abzeichen waren mit Schande befleckt, und ich entschied, dass ich nicht länger Teil davon sein wollte. Die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit war für mich die Grundlage meines Dienstes, aber, wie sich herausstellte, „ist manchmal nicht die Zeit für Gesetzmäßigkeit“. Ich habe das damals nicht verstanden und verstehe es bis heute nicht.
tut.by: Denken Sie, dass die Gewalt geplant war? Sind die Einsatzkräfte einem Befehl gefolgt oder geriet die Situation einfach außer Kontrolle?
Es kann sein, dass in der Okrestina Straße und an ähnlichen Orten die Leute absichtlich geschlagen und gedemütigt wurden. Was das Verhalten der Einsatzkräfte betrifft, so denke ich, dass das Verhältnis wohl 50 : 50 war. In jedem Fall gab die politische Führung ihr stillschweigendes Einverständnis und versuchte nicht, die Gewalt zu verhindern. Sogar als alles schon an der Öffentlichkeit war: Es war geschehen, und man verschloss davor die Augen. Und natürlich war die gesamte Miliz nun auf der Seite der Regierung, von der man sich Schutz versprach. Sie sehen ja selbst, es gibt kein einziges Strafverfahren gegen Einsatzkräfte. Dazu kommt, dass viele über keinerlei juristische Bildung verfügen. Einige glauben allen Ernstes, dass sie sich in einer Kriegssituation befinden, dass die Proteste von Drahtziehern (aus dem Ausland) gesteuert werden und sie das Land verteidigen. Einer versicherte mir: „Du hast gar nichts verstanden, später wirst Du es verstehen.“
Sie können Eigentum beschlagnahmen oder ein Auslandsreiseverbot verhängen
Sie werden von Ideologen geschult. Die Soldaten befinden sich überhaupt in einer Informationsblase. Abends schauen sie im Fernsehen die Nachrichten. Man bringt ihnen bei, dass an allem die westlichen Drahtzieher Schuld seien. Einige verstehen einfach überhaupt nicht, was vor sich geht. Sie denken über ihre Versetzung in die Reserve nach und wie sie nach dem Wehrdienst leben werden. Alles andere kümmert sie nicht. Und selbst wenn es jemand versteht – wenn du rund um die Uhr in einer in sich abgeschlossenen Welt lebst, wirst du es kaum wagen, deine Meinung laut kundzutun, denn du weißt nicht, was dann mit dir passiert.
Ich hatte einen festen Vertrag, aber auch für mich war es riskant zu gehen, sie hätten mich durchaus schnappen können, oder alles durchsuchen. Die Jungs von der Direktion kamen zu mir, Untersuchungsbeamte, um mit mir zu reden. Auch andere Offiziere sprachen mit mir. Aber letztlich gaben sie mir ein paar Tage Bedenkzeit, und stimmten der Entlassung zu.
Ich wandte mich an Stiftungen und fand zunächst einen Mentor und dann einen Job. Auch ehemalige Kollegen halfen mir. Aber viele glauben nicht ernsthaft daran, dass ihnen irgendwelche unbekannten Menschen helfen können, daher trauen sie sich nicht zu gehen. Insgeheim beklagen sie sich untereinander über den Dienst und die Vorgesetzten, aber sie verlassen sich nur auf sich selbst und halten weiterhin aus.
Wie viele Menschen haben wie Sie den Dienst quittiert? Und was hält die Übrigen davon ab?
Aus meiner Einheit sind nur wenige gegangen, die anderen sind nach wie vor im Dienst. Was sie am meisten hält, ist das Geld. Nehmen wir zum Beispiel einen jungen Offizier mit einem Fünfjahresvertrag. Hat er die Zeit nicht abgeleistet, muss er das Geld für die Ausbildung und seinen Unterhalt zurückzahlen. In welcher Höhe hängt davon ab, wann er geht. Der Betrag beläuft sich auf etwa 1000 Rubel für jeden Monat, den er nicht gedient hat. Von einem Bekannten, der einer anderen Abteilung angehörte, haben sie 80.000 Rubel [knapp 26.000 Euro – dek] verlangt. Das sind utopische Summen, man weiß nicht, woher man die nehmen soll. Aber bezahlen muss man innerhalb eines halben Jahres, dann schreitet das Gericht ein, und es kommt zu Zwangsvollstreckungen, sie können einem vorübergehend Rechte entziehen, Eigentum beschlagnahmen oder ein Auslandsreiseverbot verhängen. Einige Zeit später beginnt die Indexierung [die Anpassung an die Inflation – dek] und die Summe steigt schneeballartig. Nicht jeder hat Verwandte und Freunde, die ihm helfen können. Deshalb halten die Leute still. Der zweite Grund liegt in der langjährigen Betriebszugehörigkeit. Gehst Du, verlierst du deine gesamten Arbeitsjahre [für spätere Rentenansprüche – dek]. Dann sagen sie: Ihr wusstet doch, worauf ihr euch einlasst. Wir wussten es nicht. Es ist immer noch eine Art Frondienst und nicht so rosig, wie es bei der Aufnahme in die Akademie dargestellt wird.
Wie viel haben Sie verdient?
Unsere Gehälter lagen zwischen 900 und 1100 Rubel [300 und 350 Euro – dek]. Bei mir gingen 400 Rubel [130 Euro – dek] für die Miete drauf, weitere 200 Rubel [gut 60 Euro – dek] für Sprit, um zur Arbeit zu kommen, da bleibt nicht mehr viel zum Leben. Es stimmt nicht, dass für die Arbeit bei den Protesten viel Geld gezahlt wurde. Ja, im August gab es einmalige Boni – 500 Rubel [rund 160 Euro – dek] zusätzlich zum normalen Gehalt. Aber selbst beim OMON verdient man keine exorbitanten Summen – viele machen es wirklich aus Überzeugung.
Wie pflichteifrig jemand bei den Verhaftungen ist, hängt weitgehend von der Person ab. Auch hier ist das Verhältnis meiner Meinung nach 50 : 50. Der eine glaubt an westliche Drahtzieher und ist besonders aktiv. Aber die Hälfte tut nur so. Sie denken, ich werde in der Kette stehen mit meinem Schild, aber ich werde nichts tun. Glauben Sie, dass unsere Verwandten nicht festgenommen werden? Doch, das werden sie. Eine Verwandte von mir wurde festgenommen, sie stand da mit Blumen in der Hand. Sie nahmen ihr den Schmuck, das Telefon und sogar den Ehering ab und erklärten, sie bekäme es zurück, wenn sie die Strafe bezahlt.
Wer gehen will, geht leise, damit es keine Probleme gibt
Wie ist es für die Sicherheitsbeamten, erkannt zu werden? Ist das ein schmerzhafter Moment?
Einige schämen sich, andere haben Angst um ihre Familien. Diejenigen, die sich im Recht fühlen, werden einfach wütend. Aber es gibt sicherlich niemanden, dem es egal ist. Das ist echt belastend. Das weiß ich von mir selbst: Ich wollte die Maske nicht abnehmen, und wir haben immer gegenseitig darauf geachtet, dass unsere Gesichter bedeckt waren. Viele haben Angst zu gehen, weil sie nicht wissen, was sie dann tun sollen. Wenn einer nach der Schule zur Militärakademie geht oder sich nach dem Wehrdienst verpflichtet, hat er nichts anderes gelernt. Natürlich hat er dann Angst, etwas Neues anzufangen und sein Leben von Grund auf zu verändern. Viele haben Familie, Kinder, Kredite, Staatsbedienstetenwohnungen – und wo sollen sie dann hin?
Wer gehen will, geht leise, damit es keine Probleme gibt. Für die Hälfte meiner Kollegen bin ich ein Verräter, vor allem für die Führung. Sie werden bis zum Ende für dieses Regime ihren Kopf hinhalten. Viele von ihnen sind über 40. Die haben durch den Dienst vieles erreicht, warum sollten sie es aufs Spiel setzen?
Die Armee wurde geschaffen, um äußere Feinde zu bekämpfen. Nach der Logik derer, die dem System besonders treu ergeben sind, kämpft sie auch jetzt gegen westliche Drahtzieher, die die Leute für ihre Teilnahme an Protestaktionen bezahlen. Ein Teil von ihnen denkt, dass Lukaschenko eine starke Führungspersönlichkeit ist und an der Macht bleiben wird. Der andere Teil glaubt, dass Russland uns bezwingen wird. Aber diese Option ist ihnen auch recht. Wie mir einmal ein Kommandant sagte: „Na und? Führen die Offiziere in Russland etwa ein schlechtes Leben?“
Stimmt es, dass wegen der ständigen Proteste die Einsatzkräfte in Kasernen leben?
Am Anfang lebten wir, das heißt die, die unter Vertrag standen und die Offiziere, tatsächlich in Kasernen. Jetzt sitzen sie hauptsächlich an den Wochenenden in den Kasernen, weil die Proteste am Samstag und Sonntag stattfinden. Und die freien Tage wurden auf Mitte der Woche verlegt, wenn keine Demos stattfinden. Die Kollegen sind sehr müde, sie sehen ihre Familien nicht und können sich nicht wirklich ausruhen. Niemand hatte damit gerechnet, dass sich das Ganze Monate hinziehen würde. Am 10. und 11. August, als es zu größeren Gewaltausbrüchen kam, waren wir in Bereitschaft, aber wir hörten die Explosionen um uns herum. Als ich später all diese Bilder sah, diese Lawine von Gewalt, war ich mir sicher, dass es niemals enden würde. Ich dachte, Lukaschenko würde das Kriegsrecht einführen und alles würde noch schlimmer. Und das war der Moment, an dem ich anfing, darüber nachzudenken, dass ich aussteigen muss.
Haben Sie die Videos im Internet gesehen, in denen die Leute den Einsatzkräften zurufen: „Miliz mit dem Volk“? Wie wird das wahrgenommen?
Mir selbst haben die Leute das entgegengerufen. Aber in dieser Situation funktioniert das überhaupt nicht. Die Stimmung ist sehr angespannt, man passt auf, dass niemand etwas wirft, und dann schreien sie einem ins Gesicht. Jeder muss selbst erkennen, was er tut, und für sich eine Entscheidung treffen. Das kritische Denken muss an das Gewissen appellieren und die Scheuklappen öffnen.
Vor jedem Einsatz stellen sie die Frage: „Wer ist nicht bereit? Vortreten“. Niemand tritt vor. Vortreten ist das Schlimmste. Was kommt dann? Man wird bestraft oder gefeuert oder wer weiß, was passiert. Lieber man fährt mit, irgendwie wird man den Einsatz schon überleben.
Als wir nach Minsk fuhren, hupten uns alle zu. Ich erinnere mich, wie ein Kollege sagte: „Wie sie uns alle hassen“. Aber man denkt: Ich bin ja ein normaler Mensch, ich habe niemanden geschlagen, und dann siehst du die Bilder von der Okrestina … Jetzt verstehe ich, warum die Leute uns so hassen, weil wir die Grenze des Gesetzes übertreten haben, denn das Gesetz gilt jetzt nur noch in eine Richtung, und wenn Du Dich gegen die Herrschenden stellst, hast Du keinerlei Schutz. Und das ist schlimmer als im Krieg. Du lebst und denkst, dass sie jeden Moment kommen und dich für irgendeine abfällige Bemerkung mitnehmen können. Und das Gefühl dieser permanenten Ungerechtigkeit raubt dir nachts den Schlaf.
Die, die dem System treu bleiben, glauben nicht, dass Lukaschenko geht, und sollte er doch gehen, sind sie überzeugt, dass die Armee unter jeder Regierung gebraucht wird. Sie denken, ach, das sitzen wir aus, und dann wird es wie vor der Wahl. Ich glaube, die Regierung wird sich noch ein, zwei Jahre halten. Und dann ist Zahltag.
Auch am vergangenen Sonntag beim Marsch der Freiheit konnte man wieder hören, wie Demonstranten diese Losung schrien: Shywe Belarus!, Es lebe Belarus! Zudem sieht man den Ausruf auch immer wieder auf Wänden, Plakaten oder Fahnen. Es ist nicht so, dass diese Beschwörungsformel erst seit dem Beginn der Proteste im Sommer in Belarus populär geworden ist. Auf Kundgebungen und Demonstrationen der Opposition gehört sie schon lange zum Standardrepertoire, um seinen Protest gegen Machthaber Alexander Lukaschenko auszudrücken und die Souveränität der Republik Belarus zu betonen.
Aber woher stammt diese Losung eigentlich? Wann hat sie sich entwickelt? Und in welchen unterschiedlichen Kontexten wurde sie seitdem verwendet? Auf diese Fragen gibt der Historiker Denis Martinowitsch für das belarussische Medienportal tut.by eine Antwort.
Der Historiker Alexej Kawka sieht den Ursprung dieses Ausspruchs in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als manche Teilnehmer am Aufstand von Kastus Kalinouski die Parole benutzten: „Wen liebst du? – Ich liebe Belarus. – Ganz meinerseits.“ Doch die genaue Wortkombination trat erstmals am Ende eines Gedichts von Janka Kupala auf: „Ein Klagen, ein Schrei, dass Belarus lebt!“, entstanden in den Jahren 1905 bis 1907, als damals im Russischen Reich gerade eine Revolution im Gange war.
Wer liebt nicht dieses Feld, den Wald, den grünen Garten, die schnatternde Gans! Der Wirbelsturm, der hier manchmal klagt – ist ein Klagen, ein Schrei, dass Belarus lebt!
Aber nicht nur Janka Kupala, auch andere Dichter, die in der Zeitung Nasha Niva publizierten, verwendeten aktiv diesen Spruch. Kein Wunder, dass im Editorial einer Ausgabe von 1911 stand:
„Die belarussische Nationalbewegung wächst, die armseligen, in Vergessenheit geratenen belarussischen Dörfer erwachen zu einem neuen, eigenständigen Leben; unsere Städte und Ortschaften erwachen und werden ihrer nationalen Namen gewahr. Es erwacht die riesige, kriwitschische Weite mit unseren Äckern, Wiesen und Wäldern, und in den Liedern unserer Volkssänger erschallt, dass Belarus lebt!“.
Wie wurde diese Losung vor dem Zweiten Weltkrieg verwendet?
Sehr aktiv. Aber bevor wir diese Frage beantworten, machen wir einen kleinen Exkurs. 1917 fand in Minsk der Erste Allbelarussische Kongress statt. Die belarussischen Staatsbeamten betonten immer wieder dessen große Bedeutung. „Diese Volksversammlung hat die zentralen Werte erkennen lassen, die für uns bis zum heutigen Tag Gültigkeit haben: ein eigener Staat, dessen sozialer Charakter und das Faktum, dass nur das Volk, sein Wille, seine kollektive Vernunft und seine politische Führung ein echter Quell der Unabhängigkeit sein können“, erklärte Alexander Lukaschenko 2017.
„Erstmals seit vielen Jahrhunderten zeigte das belarussische Volk seinen Willen zur Selbstbestimmung, und erstmals wurde die Idee einer belarussischen Staatlichkeit geäußert. Aus dieser Idee, der Idee des Allbelarussischen Kongresses, geht die Praxis der Allbelarussischen Versammlungen hervor“, sagte Igor Marsaljuk ebenfalls 2017 in einer Sendung des Staatsfernsehens ONT. Auf eben diesem Kongress erklang die Losung „Es lebe das freie Belarus!“. Bis zum Krieg behielt die Losung in der Belarussischen SSR ihre Bedeutung bei. Nur dann in der Variante „Es lebe das sowjetische Belarus!“. Und auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Losung noch verwendet, wie auf dem Plakat zu sehen ist.
Wie wurde die Losung während des Krieges verwendet?
Der Verweis auf die Zeit der nationalsozialistischen Okkupation ist ein Lieblingsmotiv der belarussischen Propagandisten. Leider lässt auch der habilitierte Geschichtswissenschaftler Igor Marsaljuk es nicht aus.
„Man kann sich natürlich auf Verse von Kupala oder Pimen Pantschenko beziehen, in denen diese Wendung vorkommt. Aber wenn wir nicht von der Wortverbindung sprechen, sondern von der Grußform, dann sehen wir in den Statuten des Weißruthenischen Jugendwerks, dass man als Rangniederer auf den Ranghöheren zuging, ihn begrüßte mit: Es lebe Belarus und dabei die Hand zum Hitlergruß hob. Die Antwort darauf war kurz und bündig: Es lebe. Dieser Gruß wurde, genauso wie Sieg heil!, während der deutsch-faschistischen Besetzung der BSSR kanonisch und in weiterer Folge zu einer konstanten, alltäglichen Formel der belarussischen Emigration in Kanada und den Vereinigten Staaten“, sagte Marsaljuk auf CTV.
Während des Krieges gab es im besetzten Belarus tatsächlich eine solche Organisation mit dem Namen Weißruthenisches Jugendwerk. Sie wurde 1943 gegründet, ein Jahr vor der Befreiung. Und ja, ihre Mitglieder grüßten wirklich mit Hitlergruß. Doch auf ihrem Höhepunkt hatte die Organisation gerade mal 12.600 Mitglieder, von denen noch dazu später ein Teil zu den Partisanen überlief. Doch gleichzeitig wurde diese Losung auch auf der anderen Seite der Barrikaden verwendet. „Verfechter der BSSR und später auch Partisanen und Untergrundkämpfer im Zweiten Weltkrieg riefen: ‚Es lebe das sowjetische Belarus!‘“, schrieb 2007 die Zeitung SB. Belarus segodnja. Während des Krieges entstand ein Marschlied der belarussischen Partisanen. Ein kurzes Fragment daraus zitierte E. Tumas vom Lehrstuhl für Chor und Gesang der Belarussischen Universität für Kunst und Kultur. Wir bringen einen längeren Ausschnitt:
Niemals wird erliegen den heftigen Bränden unser großes und ruhmreiches Land. Auf in den Kampf für die Heimat, Genosse, schließ dich den Partisanen an. Am preußischen Henker für Dorf und Haus ruft das Volk zur Rache auf. Zum Angriff bereit sind die Waldsoldaten, Granaten krachen, Gewehre donnern – es lebe Belarus! Es lebe hoch!
Dieser Text ist in der Werksammlung von Pimen Pantschenko zu finden, einem Klassiker der belarussischen Literatur. Es handelt sich um eine Übersetzung des vom russischen Dichter Alexej Surkow verfassten Partisanenmarsches. Der Band, in dem das Gedicht erschien, wurde 1981 in einer Auflage von 17.000 Stück veröffentlicht. Die Losung Es lebe Belarus irritierte niemanden.
Wie der Slogan „Es lebe Belarus“ wieder aktuell wurde
Nach dem Krieg wurde die Losung in der Emigration aktiv verwendet, während sie in der BSSR in den Hintergrund trat. Aktuelle Bedeutung erlangte sie durch die Belarussische Nationale Front (BNF) und die politischen Ereignisse Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre. Doch nach dem Machtantritt Alexander Lukaschenkos ereilte die Parole Es lebe Belarus dasselbe Schicksal wie die weiß-rot-weiße Fahne: Die staatlichen Medien begannen, sie ausschließlich mit der Opposition im Allgemeinen und der BNF im Besonderen zu assoziieren. Diese Wahrnehmung herrschte lange Zeit vor und beeinflusste die Haltung eines Teils der Gesellschaft zu nationaler Symbolik und zu dieser Losung.
In den 2010er Jahren kehrte der Slogan wieder auf die Tagesordnung zurück. Die Opposition im ursprünglichen Wortsinn war praktisch zur Gänze vernichtet. Die Parteien (auch die BNF) hörten in diesen Jahren auf, das politische Geschehen mitzugestalten. Gleichzeitig traten anderweitig politisch aktive Belarussen bei politischen Aktionen weiterhin mit nationaler Symbolik auf und skandierten Es lebe Belarus! In der Folge wurden sowohl die nationale Fahne als auch die Losung nicht mehr nur der Opposition zugeordnet. Zumal: Ab dem Jahr 1990 erschien sie regelmäßig als Slogan auf der Titelseite der Narodnaja Gaseta, einer Publikation des Parlaments. Der oben erwähnte Igor Marsaljuk ist übrigens Abgeordneter des Repräsentantenhauses. Seit den 1990er Jahren ist einiges an Zeit vergangen. Eine neue Generation ist herangewachsen, die bereits im unabhängigen Belarus zur Schule ging, Geschichte und Literatur des eigenen Landes gelernt hat und in der Lage war, selbst ihre Schlüsse zu ziehen. „Für Belarus!, Es lebe Belarus! oder Blühe, Belarus! – im Grunde ist das alles dasselbe mit anderen Worten. Ist es denn so außergewöhnlich oder gar – das fehlte gerade noch – das exklusive Recht bestimmter Parteien, seinem Land Wohlergehen zu wünschen, zu betonen, dass es lebt (und nicht im Sterben liegt und nicht untergeht – Gott bewahre!)? Soll das heißen, ein normaler Mensch, der mit Politik nichts am Hut hat, darf nicht einmal ein paar schöne Worte über sein eigenes Land verlieren?“, stellte 2007 die Zeitung SB. Belarus segodnja die rhetorische Frage. „Heimatliebe, Nationalbewusstsein oder, wenn man so will, ‚Bewusstheit‘ sind heute der Normalzustand jedes Belarussen.“
Beim Marsch der Nachbarn, der am vergangenen Sonntag in zahlreichen belarussischen Städten stattfand, wurden nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen über 420 Personen inhaftiert. Diesmal fanden Protestzüge und andere Aktionen in vielen unterschiedlichen städtischen Bezirken statt – eine neue Taktik, die verhindern soll, dass die Sicherheitskräfte gegen eine zentral organisierte Demonstration vorgehen können.
Belarus kommt weiterhin nicht zur Ruhe. Der langjährige Autokrat Alexander Lukaschenko weigert sich sich seit August, mit der Bürgerbewegung und mit dem Koordinationsrat der Opposition Gespräche aufzunehmen. Auch die Äußerungen Lukaschenkos vom vergangenen Freitag konnten die Lage nicht beruhigen. Der 66-Jährige hatte gesagt, dass er unter einer neuen Verfassung nicht mehr als Präsident zur Verfügung stehen werde. Eine mögliche Verfassungsreform wird seit Wochen diskutiert, von der Opposition allerdings als Täuschungsmanöver kritisiert. Am Vortag war Russlands Außenminister Sergej Lawrow zu einem Kurzbesuch in Minsk gewesen. Auch er hatte Verfassungsreformen eingefordert.
Solch tiefgreifende gesellschaftspolitische Prozesse äußern sich nicht nur in Musik, Kunst und Kultur, sondern auch in der Sprache. Anja Perowa hat für das belarussische Medienportal tut.by eine Erkundungstour unternommen – zu den neusten sprachlichen Ausformungen der Protestkultur.
Bänder (russ. lenty). Der Protest der Belarussen äußert sich nicht nur in gemeinsamen Spaziergängen. Es kommen dabei auch rot-weiße Bändchen aus unterschiedlichen Materialien zum Einsatz. Möglicherweise wäre das Volk nie darauf gekommen, hätte es nicht den stillschweigenden Kampf der Autoritäten gegen die Symbolik der Protestierenden gegeben. Als die weiß-rot-weißen Flaggen von den Balkonen entfernt wurden (übrigens noch vor den Wahlen), haben die Belarussen einen neuen Trick entwickelt – indem sie sie eben aus Bändchen bastelten, die schwerer zu entfernen sind.
Bussik (russ. busik). Dasselbe wie Kleinbus. Konkret bezeichnet dieser Begriff die Fortbewegungsmittel der Silowiki. In der Regel sind es die Modelle Volkswagen Transporter T5, Ford Transit (auch Custom), Mercedes-Benz Sprinter und spezielle Volkswagen Crafter. Die Fahrzeuge sind farblich meist dunkel, gelegentlich auch weiß oder silber. Solche Fahrzeuge wurden natürlich auch früher von Spezialeinheiten verwendet, doch vermutlich nicht in solchen Mengen. In diesem Zusammenhang ist noch ein weiteres Wort entstanden: „Bussophobie“. Sie tritt auf, wenn man einen Bussik sieht und befürchtet, in diesen hineingezerrt zu werden.
Drahtzieher (russ. kuklowody). Da gibt es tschechische, amerikanische, litauische, ukrainische. Kurz – alle möglichen. In gewisser Hinsicht sind Drahtzieher die, die sich den Kosmonauten entgegenstellen. Doch wurden sie nie gesehen. Obwohl Alexander Lukaschenko der festen Überzeugung ist: Sie existieren. Das hat er bereits am 10. August verkündet: „Ein Gespräch zeigte uns, dass Drahtzieher am Werke sind. Eine der Linien von Drahtziehern führt nach Tschechien. Schon heute wird unser vereintes Hauptquartier aus Tschechien verwaltet, wo – verzeihen Sie mir – diese Schafe sitzen, die nichts verstehen, was man von ihnen will […] Sie hören nicht auf zu drücken und zu fordern: Bringt die Leute auf die Straße und führt Verhandlungen mit den Machthabern über eine freiwillige Machtübergabe.“ Die Belarussen zeigten sich nicht ratlos und druckten schnell „Geld von den Drahtziehern“ – das sind Dollarnoten mit den Bildern von Nina Baginskaja, Swetlana Tichanowskaja, Alexander Lukaschenko, mit Ratten und Kartoffeln, was sich auf unterschiedliche Ereignisse und Witze bezieht.
Hündchen (russ. sobatschka). In den August fiel die Zeit der Pro-Lukaschenko-Kundgebungen. Die Teilnehmer riefen eine ganze Reihe von Losungen. Vom einfachen „Be-la-rus!“ bis zum Mem „Batka voran, das Volk geht mit dran“. Doch am liebsten schrien die Belarussen „Sa Batku“ (dt. Für Batka), die in Massenchören in die Forderung „So-batsch-ku!” (dt. Ein Hündchen!) mutiert. Selbstverständlich erschien sofort nach dieser Entdeckung ein Video, auf dem vor die Antwort der Demonstranten Fragen montiert wurden wie: „Wen werden wir füttern?“ Das Hündchen natürlich.
Jabating. Ironische Bezeichnungen für Pro-Lukaschenko-Kundgebungen. Geht zurück auf den Slogan „Ja/My Batka“ (dt. Ich/Wir sind Batka). Manche denken, dass russische Polittechnologen und Propagandisten ihn sich ausgedacht haben, da die Belarussen Lukaschenko fast nie so nennen (außer freilich Natalja Eismont). Sehr schnell verkürzten Internet-Scherzkekse die Losung der Demonstranten zu einem donnernden „Ja Batka“. Dann gab es bald darauf die bekannten Jabatki (als Bezeichnung für die Teilnehmer der regierungsfreundlichen Kundgebungen) und Jabating (eine eben solche Kundgebung).
Kette (russ. zep). Wir sprechen von Solidaritätsketten, die häufig aus dem Nichts in unterschiedlichen Stadtteilen nicht nur von Minsk, sondern in ganz Belarus entstehen. Wer weiß: Vielleicht wurde der gängige Satz „Mehr als drei dürfen sich nicht versammeln“ erdacht, weil man so etwas vorausgeahnt hat? Denn: Zwei Menschen sind noch keine Kette, aber drei – durchaus. Die größte Kette dieser Art war wohl die Menschenkette am 22. August. Sie verlief von der Okrestina bis Kuropaty.
Kosmonauten (russ. kosmonawty). Wer das ist, das seht ihr auf dem Foto. Meistens bezeichnet dieses Wort OMON-Kräfte in Uniform und mit Helm. Die volle Ausrüstung umfasst außerdem Schulterprotektoren, Handschuhe, Ellbogenschützer und ähnliches Gedöns, wie Gamer es nennen würden. Der Grund für ihren Spitznamen ist offensichtlich – ihre Uniform erinnert wirklich an einen Raumanzug.
Oliven (russ. oliwki). So nennt man im Volksmund die OMON-Mitarbeiter in ihrer olivgrünen Kleidung. Die Existenz einer Uniform in solch einem Farbton ist kein Geheimnis, man hat sie früher sogar im Fernsehen gezeigt. Jetzt haben wir hier dargelegt, warum man die OMON-Leute frank und frei „Oliven“ nennen darf und keine Angst haben muss sich zu vertun. Übrigens nennen die Leute die Silowiki in ihren schwarzen Standardklamotten auch Ölbäume und Johannisbeeren – ein komplettes Feinkostgeschäft findet sich hier.
Partisanieren (russ. partisanit). Das Wort hat seine Bedeutung nicht wesentlich verändert, eher erlebt es eine Renaissance. Die, die „partisanieren“, gehen nicht etwa zu Protesten, sondern beteiligen sich an Untergrundaktivitäten. Zum Beispiel drucken sie Wandzeitungen, verteilen Flugblätter, kleben Sticker und helfen Freiwilligen. Oder sie hängen an sehr ungewöhnlichen Orten weiß-rot-weiße Flaggen auf.
Prostituierte und Drogensüchtige (russ. prostitutki i narkomany). Sprich: Protestierende und Demonstranten. So nannten sich irgendwann die Belarussen selbst auf Anregung von Lukaschenko. Die „Drogensüchtigen“ tauchten am 10. August auf, als auch die Geschichte mit den Drahtziehern geschah. Daher kamen dann auch die „Schafe“. Mit den Prostituierten ist es ein bisschen komplizierter. Über sie hatte Lukaschenko schon vor der Wahl gesprochen, am 4. August, hatte aber niemanden wirklich so genannt: „Wir, der Staat – werden den Kampf im Internet nie gewinnen, da das gelbe Schmuddel-Presse ist. Wir können uns nicht auf ein derart vergilbtes Niveau hinunterbegeben und alle, die uns nicht gefallen, – entschuldigen Sie den Ausdruck – Schlampen und Nutten nennen.“ Offensichtlich passten die Prostituierten dermaßen gut zu den Drogensüchtigen und Schafen, dass man entschied, sie doch einzureihen.
Shodino. Wenn jemand in der zweiten Hälfte 2020 gesagt hat, dass er nach Shodino fährt, war das höchstwahrscheinlich nicht einfach eine Vergnügungsfahrt in die Stadt in der Nähe von Minsk. Was hinter den Worten „in die Okrestina kommen“ stand, wussten die Belarussen auch früher, aber in das Gefängnis Nr. 8 in Shodino wurden nicht so viele festgenommene und inhaftierte Minsker gebracht. Doch jetzt ist die Adresse Sowjetskaja 22A wohlbekannt bei denen, die Briefe dorthin schreiben. Und wohlbekannt ist auch, was Maria Kolesnikowa eben dort für die unglaublichen Belarussen durchmacht.
Spazierengehen (russ. guljat). Dank der legendären Nina Baginskaja, die zum Symbol des Prostestes wurde, haben die Belarussen einen neuen Satz gelernt: „Ich gehe grad spazieren.“ Genau das sagte die Rentnerin im August, als Vertreter der Sicherheitskräfte plötzlich Fragen hatten, an sie und ihre Flagge. Heute sagen viele Belarussen, wenn sie auf Protestaktionen sind, nicht, dass sie demonstrieren. Sie gehen grad spazieren. Und die Hauptsache dabei ist, dass allen völlig klar ist, was das heißt. In den Chats der einzelnen Bezirke lautet daher die Frage oft: „Wollen wir heute spazierengehen?“
Teestündchen (russ. tschajepitije). Die Zusammengehörigkeit der Belarussen vor dem Hintergrund der diesjährigen Ereignisse ist in ein neues Gesprächsformat mit den Nachbarn eingeflossen: das Teestündchen. Erst gab es Stadtteil-Chats auf Telegram(noch so eine Erscheinung aus 2020), wo sich Leute miteinander unterhielten. Doch sehr schnell wurde das alles entvirtualisiert und man traf sich: trank Tee, brachte Torten und andere süße Sachen mit, lud Musiker ein und tanzte zu Livemusik. Kurz, es war herzig. Besonders berühmt für seine Teestunden im Hof wurden der Stadtteil Nowaja Borowaja, der Hof beim Platz des Wandels, Grushville und die Feste in der Osmolowka.
23.34. Ist keineswegs eine Uhrzeit, sondern die Nummer des Paragraphen für Ordnungswidrigkeiten. Den Inhalt kennt mittlerweile fast jeder Belarusse, deswegen werden wir hier nichts erklären. Wenn ein Freund erzählt, dass man ihn „nach 23.34“ verurteilt hat, muss man ihn nichts weiter fragen. Er war spazieren, denn: Es gab bisher noch keinen Präzedenzfall, wo ein Jabating mit diesem Paragraphen geahndet wurde
Von den sieben Präsidiumsmitgliedern des Koordinationsrates ist nur noch die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch auf freiem Fuß und in Belarus, alle anderen wurden festgenommen oder zur Ausreise gedrängt. Doch in den Sozialen Medien wird berichtet, dass auch Alexijewitsch anonyme Anrufe erhält und Unbekannte vor ihrer Tür stehen. Auf der Seite des belarussischen PEN-Zentrums hat Alexijewitsch eine Erklärung veröffentlicht, in der sie sich auch an die russische Intelligenzija wendet. dekoder bringt die ebenfalls auf tut.by abgedruckte Stellungnahme im Wortlaut in deutscher Übersetzung.
Von meinen Freunden und Gesinnungsgenossinnen und -genossen im Präsidium des Koordinationsrates ist keiner mehr da. Alle sind entweder im Gefängnis oder wurden rausgeschmissen und unfreiwillig außer Landes gebracht. Heute war der letzte dran: Maxim Snak.
Wir haben keinen Umsturz geplant. Wir wollten keine Spaltung in unserem Land.
Erst wurde unser Land erbeutet, dann die besten von uns gekidnappt. Doch an die Stelle der aus unserer Mitte Gerissenen treten Hunderte andere. Nicht der Koordinationsrat revoltiert. Das ganze Land revoltiert.
Ich möchte wiederholen, was ich immer sage: Wir haben keinen Umsturz geplant. Wir wollten keine Spaltung in unserem Land zulassen. Wir wollten, dass in der Gesellschaft ein Dialog beginnt. Lukaschenko sagt, dass er nicht mit der Straße redet. Aber die Straße, das sind hunderttausende Menschen, die jeden Sonntag und jeden Tag auf die Straße gehen. Das ist nicht die Straße. Das ist das Volk. Die Menschen gehen mit ihren kleinen Kindern auf die Straße, weil sie glauben, dass sie gewinnen.
Warum schweigt ihr, wenn ein kleines, stolzes Volk zertrampelt wird? Wir sind doch immer noch eure Brüder und Schwestern.
Wenden möchte ich mich auch an die russische Intelligenzija – nennen wir sie doch aus alter Gewohnheit einfach so. Warum schweigt ihr? Nur einzelne Stimmen von Unterstützern hören wir. Warum schweigt ihr, wenn ihr seht, wie ein kleines, stolzes Volk zertrampelt wird? Wir sind doch immer noch eure Brüder und Schwestern. Und meinem Volk möchte ich sagen, dass ich es liebe. Dass ich stolz bin.
Da, es klingelt schon wieder jemand an der Tür, den ich nicht kenne …
Zwei Mitglieder des oppositionellen Koordinationsrats sind am Montagvormittag, 24. August, von OMON-Kräften festgenommen worden. So spitzt sich die Situation in Belarus weiter zu, nachdem Alexander Lukaschenko am Wochenende mit dem Maschinengewehr in der Hand vor die Silowiki trat – und in Minsk eine historische Zahl von mehr als 100.000 Menschen gegen Wahlfälschung und Gewalt protestierte.
Die EU und der Kreml fordern Lukaschenko zum Dialog auf, die OSZE bot Vermittlung an – und abgesehen davon, dass Lukaschenko jedes Gespräch bislang verweigert: Wie kann ein Dialog überhaupt aussehen zwischen zwei Parteien, die einander kaum vertrauen? Das fragt der belarussische Journalist Artyom Shraibman. Und macht ein paar – vielleicht utopische, aber durchaus bedenkenswerte – Vorschläge im unabhängigen Online-Portal tut.by.
Wie auch immer Alexander Lukaschenko die Realität wahrnimmt: Fakt bleibt, dass das System in seiner bisherigen Form immer schwerer zu steuern ist. Und um es auf lange Zeit wie eine Besatzungsmacht zu verwalten, dazu fehlt Lukaschenko schlicht das Geld.
So oder so wird also der Moment kommen, in dem Lukaschenko oder genügend Leute in seinem engsten Kreis erkennen, dass der Dialog mit den Opponenten weniger riskant ist als der Versuch, den Senf wieder zurück in die Tube zu drücken. Oder ihr Patriotismus wird stärker als der Wunsch, ewig an der Macht zu bleiben.
Verfassungsreform und Neuwahlen
Was kann Gegenstand dieses Dialogs sein? Hier bin ich zu meinem eigenen Erstaunen einverstanden mit Lukaschenkos Worten: Der nachhaltigste Weg ist eine schnelle Verfassungsreform und anschließende Neuwahlen für einen Neustart der Regierung.
Der Präsident von Belarus hat auch Recht, dass man die heutige Verfassung mit ihrer Schlagseite [zugunsten des Präsidenten – dek] niemandem so überlassen kann – weder Tichanowskaja noch Tichanowski, Lukaschenko junior, dem Premierminister Golowtschenko, Babariko, Zepkalo, Mutter Theresa oder dem Papst. Diese Verfassung ist ein Pfad in den Abgrund, weil sie das Schicksal einer Nation von den Launen eines einzelnen Menschen abhängig macht. Das kann das Land nicht länger riskieren.
Damit die Gesellschaft diesen Prozess als legitim ansieht, kann er nicht stattfinden als Dialog von Lukaschenko und Leuten, die er selbst auswählt, wie etwa den offiziellen Gewerkschaften, der staatlichen Jugendorganisation BRSM oder Belaja Rus. Sondern es muss ein Dialog der gegenwärtigen Opponenten sein: Lukaschenko und sein engster Kreis auf der einen Seite und das Präsidium des Koordinationsrates auf der anderen Seite.
Beide Seiten vertrauen einander nicht und werden es wohl nie tun. Das Präsidium des Koordinationsrats und seine Anhänger sehen Lukaschenko als illegitimen Usurpator, der die Wahl verloren hat und keines seiner Versprechen einhält. Lukaschenko und seine Anhänger halten das Präsidium des Koordinationsrats für ein selbsternanntes Gremium ohne Unterstützung aus der Gesellschaft, das von äußeren Mächten gesteuert wird.
Auf eine Vermittlung von außen sollte verzichtet werden, weil die Krise in Belarus vom Wesen eine zutiefst innere ist
Das heißt, sobald die Regierung bereit zu einem Dialog ist, brauchen beide Seiten Mediatoren. Falls man Moskau oder Brüssel, Washington oder Peking ins Boot holt, werden die beiden Seiten noch stärker den Verdacht schöpfen, dass die jeweils anderen versuchen würden, das Land aus der Hand zu geben.
Auf eine Vermittlung von außen sollte verzichtet werden, weil die Krise in Belarus vom Wesen eine zutiefst innere ist. Es wirkt komisch, wenn gerade die von äußerer Einmischungen sprechen, deren neue [russische – dek] Mitarbeiter im belarussischen Staatsfernsehen Belorussija schreiben. Man denke daran, wie eine Vermittlung von außen in der Hochphase des ukrainischen Maidans scheiterte und zum Prolog für einen langwierigen Krieg wurde. Der Mediator muss im Land selbst gefunden werden.
Wer gilt als unvoreingenommene Autorität für beide Seiten?
Das ist schwer, denn es gibt praktisch niemanden, der ohne Zweifel als unvoreingenommene Autorität für beide Seiten gilt. Es muss jemand gefunden werden, der definitiv keine Machtansprüche hegt und allein am gesellschaftlichen Frieden und Konsens interessiert ist.
Das beste, was wir haben, scheinen mir die Kirchen zu sein. Mir liegen solche Mutmaßungen fern, aber einige Leute werden womöglich verlockt sein, die Belarussisch-Orthodoxe Kirche als Wegbereiterin für russische oder die katholische Kirche als Wegbereiterin für polnische Interessen zu sehen. Ein Kompromiss könnte ein gemeinsame Vermittlung sein von den Oberhäuptern der fünf Konfessionen in Belarus: Orthodoxe, Katholiken, Protestanten, Juden und Muslime.
Dialog unter zwei Bedingungen
Je weniger Bedingungen es für einen Dialog gibt desto besser. Doch ein paar grundlegende Bedingungen müssen erfüllt sein, damit ein Dialog möglich ist. Ich sehe zwei:
Erstens müssen Gewalt und Repressionen von Seiten der Machthaber beendet werden. Zweitens muss Alexander Lukaschenko und seiner Familie eine unbefristete Garantie für physische Sicherheit und vollständige Immunität garantiert werden. Wenn diese Gesten des Goodwill nicht von beiden Seiten angenommen werden, wird es nicht möglich sein, sich an einen Tisch zu setzen.
Das beste Produkt eines solchen Dialogs wäre ein Verfassungsentwurf, den keine der beiden Seiten als Niederlage empfinden würde. Es wäre die Verfassung einer parlamentarischen Republik, die entweder überhaupt keinen Präsidenten hat oder dessen Rolle eine rein repräsentative wäre. Lukaschenko bliebe in einer solchen Situation der erste und letzte Präsident des Landes mit umfassenden Machtbefugnissen.
Wenn die Regierung überzeugt ist, dass sie die Mehrheit vertritt, so kann sie ihre Positionen auch in einer parlamentarischen Republik bewahren. Dafür ist es einzig vonnöten, eine Partei zu gründen und die Wahlen zu gewinnen.
Ein solches Referendum muss schnell erfolgen – spätestens in einem Monat
Die heutige Verfassung einfach durch eine willkürliche Entscheidung abzuschaffen, ist juristisch ein zu fundamentaler Bruch. Was immer dann folgt, könnte nicht mehr legitim sein. Besser ist, sich im Rahmen der heute gültigen Verfassung zu bewegen. Laut dieser können derart gravierende Änderungen nur mittels eines Referendums angenommen werden. Dieses Referendum, und auch die Abfolge der nächsten Schritte, müssen genau niedergelegt werden in einer Übereinkunft beider Seiten und qua Unterschrift der Vermittler, in diesem Fall der Kirchenvertreter, bekräftigt werden.
Ein solches Referendum muss schnell erfolgen – spätestens in einem Monat, und selbstverständlich nach Modalitäten, denen alle vertrauen. Das heißt, das Zentrale Wahlkomitee ZIK und das gesamte Wahlkommissions-System müssen Vertreter der anderen Seite und außerdem eine mehrere Tausend Menschen starke internationale Kommission von Wahlbeobachtern zulassen. Da jedoch diese Verfassungsreform der Idee nach sowohl bei der Regierung als auch bei ihren Gegnern Unterstützung findet, müsste es beim Referendum in jedem Fall eine Entscheidung dafür geben.
Im Anschluss sollten – nun schon entsprechend der neuen Verfassung – so schnell wie möglich Parlamentswahlen stattfinden, wiederum in einer Wahl, die höchste Transparenz bietet. Ob das Parlament mit Parteilisten nach dem heutigen Mehrheitsprinzip oder nach einem Mischprinzip gewählt wird, das ist ein Verhandlungsgegenstand, der aktuell nicht im Vordergrund steht.
Ich wiederhole: Der ganze Prozess sollte haargenau in allen Stadien und mit Daten durchgeplant werden, um Abweichungen von diesen Vereinbarungen so schwer wie möglich zu machen.
Der Verzicht auf außenpolitische Vermittlung bedeutet nicht, dass internationale Akteure außen vor bleiben. Ohne sich direkt einzumischen können äußere Kräfte die beiden Seiten durchaus zum Dialog motivieren und beobachten, wie die Verhandlungen geführt werden.
Ein internationaler Hilfsfond für Belarus
Da das Land derzeit immer tiefer in eine wirtschaftliche Krise rutscht, könnte ein Hebel zur Stimulation von außen darin bestehen, einen internationalen Hilfsfonds für Belarus zu gründen. Zum Beispiel 3 bis 5 Milliarden Dollar, die dem Land zugute kommen, nachdem die grundlegenden Etappen der Transformation vonstatten gegangen sind, und unter der Bedingung, dass alle Abmachungen von beiden Seiten eingehalten wurden. Russland und die Europäische Union (mit Unterstützung der USA) könnten einen solchen Fonds solidarisch einrichten und sich auf die Regeln, Bedingungen und Stadien für die Zahlung der Mittel einigen.
Damit sie sich nicht gegenseitig des Versuchs verdächtigen, sich Belarus unter den Nagel reißen zu wollen, sollte ein Punkt der internen Vereinbarung zwischen den Machthabern und ihren Gegnern ein Konsens über die Außenpolitik sein. Das bedeutet eine feste Vereinbarung darüber, dass Belarus, egal, wie der Prozess ausgeht, nicht von seinen internationalen Verpflichtungen Abstand nimmt, keine Kehrtwende in die eine oder andere Richtung vornimmt, und dass die Souveränität unantastbar ist.
Ich weiß, wie illusorisch heute jeder Punkt aus meinem Text erscheinen mag. Doch zu dem Zeitpunkt, wo als Alternative zum Dialog nur noch Bürgerkrieg, völliger Ruin oder äußere Besatzung bleiben, ist es besser, wenn wir zumindest einen ungefähren Algorithmus für eine Rettung haben. Ich wünsche uns allen gutes Gelingen.
Der belarussische Ökonom Sergej Tschaly gehört dem Koordinationsrat von Swetlana Tichanowskaja an. In einem Radiointerview, das das unabhängige belarussische Online-Medium tut.by in Teilen verschriftlicht hat, erklärt er, wie er diese besonderen Tage in seiner Heimat erlebt und einordnet.
Tschaly spricht über die Rolle der Frauen, den Machtwillen Lukaschenkos, die Bedeutung der finanzkräftigen IT-Branche für den Protest und über die Frage, wie ein Übergang gestaltet werden könnte.
„Es war unglaublich und sehr erbaulich“ – die Rolle der Frauen
Nach der Wahl vom 9. August beobachteten wir eine Eskalation der Gewalt, die – das ist ganz offensichtlich – nirgendwo hinführt. Genauso offensichtlich ist, dass dies die Strategie der Machthaber war, der Plan der Silowiki.
Der schlimmste Tag war der Mittwoch [es waren mehr als 6000 Menschen festgenommen und in Gefängnissen zum Teil brutal misshandelt worden – dek]. Da kam einem der Gedanke: Und was machen die am nächsten Tag? Wird es eine außergerichtliche Abrechnung geben? Wir hatten wirklich Angst, und eine organisierte Gegenwehr wie die Barrikaden rund um das Einkaufszentrum Riga gab es nicht mehr. Am nächsten Morgen dann die Frauenkette mit Blumen. Erst dachte ich, ich wäre ein wenig zu gefühlig, doch dann wurde mir klar: Das ist völlig in Ordnung. Ich habe wirklich geweint, weil mir bewusst wurde: Das war’s. Zum wiederholten Mal haben die Frauen unser Land gerettet. Mir ist bewusst, wie beängstigend es gewesen sein muss, dort zu stehen, nach all dem Schrecken. Es war unglaublich und sehr erbaulich!
Das sind Frauen, die für ihre Männer einstehen. Und alle haben dasselbe Motiv: „Warum zum Teufel habt ihr unsere Männer eingelocht?!“ Das ist besonders schmerzlich in einem Land, in dem die Hälfte der männlichen Bevölkerung im Großen Vaterländischen Krieg gefallen ist und die Frauen ihren Platz einnehmen mussten. Das ist ein Archetyp, gegen den du nicht ankommst. Die Ereignisse in Belarus werden in die Geschichte eingehen als erste feministische Revolution. Feminismus im guten Sinne des Wortes. Und es ist schon jetzt klar, dass es ein Umbruch ist.
Gewalt und fehlender Respekt
Was die Belarussen erfuhren, als das Internet wieder eingeschaltet wurde [unmittelbar nach der Wahl war das Internet über mehrere Tage zu großen Teilen blockiert – dek], war für sie ein Schock. Die vielen Zeugnisse von Erniedrigungen, die Umwandlung des Okrestina-Gefängnisses zur Folter-Einrichtung, der barbarische Sadismus gegen das eigene Volk. Das wühlte alle enorm auf. Auch die Silowiki wirkten demoralisiert.
Die Verzweiflung und Schwäche von Lukaschenko und seinen Leuten wird gut sichtbar, wenn sie versuchen, mit dem Volk in einen Dialog zu treten. Ob Roman Golowtschenko im Minsker Traktorenwerk MTZ oder Natalja Kotschanowa, die zur staatlichen Rundfunkanstalt BT kam – beide schafften es nicht, mit den Leuten zu reden. Die Arbeiter fragen, warum man sie als Schafe oder Drogensüchtige bezeichnet, warum man sie foltert, warum behauptet wird, es würden nur zwanzig Menschen streiken. Und als Antwort kam: „Nunja, wir geben euch doch Arbeit, zahlen euren Lohn.“ Die verstehen wirklich nicht, was die Leute wollen. Sie verstehen nicht die scharfe Ablehnung jenes respektlosen Tons, in dem der Präsident seinen Wahlkampf geführt hat, vor seinem „Völkchen“ – all dieses Genervtsein vom eigenen Volk.
„Wo ist mein Volk?“ – Kundgebung von Lukaschenko und seinen Anhängern
Ich habe bereits gesagt, dass man 80 Prozent Wählerstimmen einfach erdichten kann. Doch dann kommt es wie im Film Der Zar, als Iwan der Schreckliche nach draußen tritt, aber niemand ist zu seiner Krönung gekommen. Und da steht er dann verzweifelt: „Wo ist mein Volk?“ In unserem Fall musste man „sein Volk“ offensichtlich [mit Bussen – dek] herankarren, und selbst dann waren es noch wenige.
Es ist wie im Klischee über häusliche Gewalt. Da sagt der Mann: „Gut, dann lassen wir uns eben scheiden. Aber du Miststück wirst noch an mich denken! Du wirst doch eh keinen Besseren finden! Ich bin das Beste, das du je im Leben hattest!“ Das sind die Worte eines gekränkten Ehemannes, der von seiner Frau verlassen wird. „Verjagt ihr euren ersten Präsidenten, so wird es der Anfang vom Ende sein.“ Damit sagt Lukaschenko genau wie der gekränkte Ehemann: Ihr werdet noch lange an mich denken. Das werden die Belarussen vermutlich auch – aber nicht so, wie sich Lukaschenko das vorstellt.
„Ihr seid unglaublich“ – das neue Selbstbild der Belarussen
[Beim Marsch der Freiheit am 16. August – dek] wirkte Minsk wie ein Urlaubsort, in dem Karneval gefeiert wird: überall Menschen, beim Heldenstadt-Obelisken, auf dem zentralen Prospekt, auf dem Unabhängigkeitsplatz. Keine grauen, düsteren Gesichter, kein allgegenwärtiger Pessimismus, den viele Gäste aus dem Ausland oft bemerkt haben. Wir hatten einfach nicht darauf geachtet, wie abstoßend diese klebrige Angst ist, in der wir leben mussten. Der diffuse Druck, der überall in der Luft lag. Man bemerkt das lange nicht und hält es für normal, aber wenn man davon befreit wird, dann sind die Veränderungen unglaublich. Du schaust dich um und denkst: Was sind die Leute alle schön!
[Über Maria Kolesnikowas Slogan „Ihr seid unglaublich!“ – dek:] So funktioniert positive Verstärkung! Wenn man den Leuten sagt, wie armselig sie sind, dass sie ohne ihren Präsidenten nichts wert sind – dann erhält man ein bestimmtes Ergebnis. Wenn man aber sagt, wie toll sie sind, dann ist das Ergebnis ein anderes.
Daher kommen auch die Spezifika des belarussischen Protestes: Dass sich die Leute ihre Schuhe ausziehen, bevor sie auf eine Sitzbank steigen, dass sie während der Proteste eine Müllsammlung organisieren, sich untereinander Wasser bringen oder einander im Auto nach Hause bringen.
Der belarussische Protest ist ein unglaublich starkes Phänomen. Belarus war in der letzten Zeit eines der brutalsten Regime in der Region. Und der Protest hat keine Anführer, anders als der ukrainische Maidan, wo es, wie man nicht vergessen darf, in Kiew einen oppositionellen Bürgermeister gab, der die Proteste unterstützt hat. Wir sehen in Belarus eine Nation, die sich ihrer selbst bewusst wird. Die Grundlage sind all jene, die nicht vom Staat abhängig sind. Darum ist es so abstoßend, ständig von der Regierung zu hören: „Wir geben euch doch alles …“ Ja, ihr gebt den Leuten Arbeit – und vielen einen jämmerlichen Lohn.
Füttern allein reicht nicht mehr – die Aktivität der IT-Leute
Viele Leute aus der IT-Branche [deren Unternehmen teilweise auch streiken – dek] haben in einer Enklave gelebt – im belarussischen Silicon Valley, auf der Hipster-Partymeile Sybizkaja oder im Barbershop. Diese Leute haben plötzlich verstanden, dass sie Teil des Geschehens werden wollen. Nicht einfach nur daneben stehen, sondern mitmachen. Die interessieren sich schon gar nicht mehr für die Übergangsphase, sondern für das, was danach kommt.
Die Logik ist folgende: Nehmen wir an, Lukaschenko bleibt. Das heißt, die IT-Branche würde geschröpft, anderswo ist nicht mehr viel zu holen im Land. Nehmen wir die Kosten für einen Umzug ins Ausland: Das ist nicht mehr so wie noch vor zehn Jahren, als alle noch als Ich-AG schwarz gearbeitet haben und mit dem Wegzug drohten. Heute sind das große Firmen mit großen Aufträgen. Ein Umzug würde gigantische Kosten für die Unternehmen bedeuten. Sie sind bereit Kapital zu investieren, damit dieses Szenario nicht eintritt.
Das ist ein deutliches Anzeichen dafür, dass die Geburt einer Nation stattfindet. Das ist nicht mehr der dürftige Gesellschaftsvertrag à la „Wir füttern euch und schlagen euch nicht, dafür haltet ihr euch aus der Politik raus“.
Swetlana Tichanowskaja als Gesicht der Revolution
Wenn die Revolution schon feministisch ist, werde ich sie auch so nennen. Nehmen wir Swetlana Georgjewna Tichanowskaja: Ich weiß nicht, was passiert ist, aber sie hat den Mut gefunden und erklärt, dass sie bereit ist, die Führung für die Übergangszeit zu übernehmen. Es ist klar, dass sie gezwungen ist, sich zurückzuhalten: Offenbar gibt es einige Vereinbarungen mit den Sicherheitsbehörden, die sie außer Landes gebracht haben. Uns ist auch klar, dass ihr Mann als Geisel gehalten wird. Nichtsdestotrotz – als Gesicht des Wandels ist sie wieder da.
„80 Prozent“ – der gestohlene Wahlsieg
Ich schließe nicht aus, dass es einen Befehl geben wird, wieder alle Demonstranten zusammenzuschlagen. Ob er aber ausgeführt wird, ist fraglich. Wie recht doch Viktor Babariko hatte: Den Willen des Volkes kann man nicht fälschen, wenn die Waage so deutlich in eine Richtung ausschlägt. Es ist Wahlfälschung, wenn man aus 55 Prozent 79 macht. Und was hier passiert ist, ist schon keine Fälschung mehr – das ist ein gestohlener Wahlsieg.
Uns wird seit jeher die Angst eingeflößt, dass das Land zugrunde geht, dass wir wieder barfuß laufen und unter der Knute stehen werden. Doch wie beim Marsch am Sonntag alle gespürt haben, wie frei es sich atmen lässt, wenn man diese ewige klebrige Angst abgeschüttelt hat: Nun stellen Sie sich vor, dass das auch mit der Wirtschaft passieren wird: Der ewige Druck, die totale Kontrolle werden verschwinden, die Energie der kreativen Menschen wird freigesetzt. Ich war in den USA, ich habe gesehen, wie so etwas gehen kann. Das beeindruckt wahnsinnig. Nehmen wir Pittsburgh, das wie aus dem Nichts heraus zu einem Industrieriesen wurde. So geht es. Eine solche Zukunft haben wir vor uns – und keine Bastschuhe und keinen Schrecken der 1990er Jahre.
Marathon und kein Sprint – der Übergang
Jetzt geht es vor allem darum, sich auf eine friedliche Machtübergabe an die gewählte Präsidentin Swetlana Georgjewna Tichanowskaja zu einigen, die sich vorübergehend im Exil befindet. Sie ist vielleicht nicht die ideale Präsidentin, doch sie ist ideal für diesen Übergang.
Als Mensch verfügt sie über ein tadelloses moralisches Kapital und hat während der Kampagne unglaubliche persönliche Qualitäten bewiesen. Es ist offensichtlich, dass sie nicht Präsidentin werden will, und gerade darin liegt ihre Überlegenheit. Ich bin sicher, dass die nächste Wahl äußerst interessant wird. Es wird ein echter Zusammenprall von Programmen und geopolitischen Präferenzen. Ich denke, dass sogar eine Partei von Lukaschenkos Anhängern auftauchen könnte, die fordern wird, dass alles wieder so werden soll wie es war.
Es geht jetzt darum, dass wir geduldig sind, nicht die Hoffnung verlieren und Liebe zeigen. Also das tun, was die weltweit erste feministische Revolution bislang getan hat. Wir laufen der ganzen Welt voraus. Und wie Lukaschenko einmal sagte: Am Ende beneiden uns alle Länder.