Die Nachricht kam freitags, Ende Juli: Wieder wurden einzelne Medien und Journalisten auf die Liste der „ausländischen Agenten“ gesetzt.
Nach den Solidaritätsprotesten Anfang des Jahres und angesichts der anstehenden Dumawahl geraten auch Medien in Russland immer stärker unter Druck: Die Politanalystin Tatjana Stanowaja konstatiert etwa, dass die unabhängigen Medien „zunehmend politische Bedeutung zugeschrieben bekommen und zur offenen Zielscheibe für die Repressionswalze werden“. Auf der offiziellen Liste der „ausländischen Agenten“ unter Medienschaffenden und Medien jedenfalls stehen derzeit 34 Namen von Journalisten und Medien – 17 davon sind allein 2021 dazugekommen. Darunter sind das Exilmedium Meduza, VTimes und seit dem 23. Juli auch The Insider. An jenem Freitag, dem 23. Juli, wurden außerdem weitere Einzelpersonen auf die Liste gesetzt: Journalisten von Open Media, das von Michail Chodorkowski finanziert wird. Schon Mitte Juli wurde das Investigativmedium Projekt zur „unerwünschten Organisation“ erklärt, der Chefredakteur Roman Badanin und einzelne Mitarbeiter landeten ebenfalls auf der Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“.
Als solche sind sie als Einzelpersonen etwa gezwungen, vier Mal im Jahr ein spezielles Meldeformular an das Justizministerium zu senden, wofür sie als juristische Person registriert sein müssen. Sie sind verpflichtet, den Behörden Daten über ihre Aktivitäten, Einnahmen und Ausgaben zu übermitteln, andernfalls drohen Geld- oder sogar Haftstrafen. Und sie müssen jedes Material, das sie veröffentlichen, mit einem speziellen Zusatz kennzeichnen, der deutlich macht, dass der Text von einem „ausländischen Agenten“ stammt – das gilt auch für ihre Posts in sozialen Medien.
The Village hat einzelne Journalisten von Open Media und Projekt gefragt, wie sie von ihrem Status als „ausländischer Agent“ erfahren haben – und was das mit ihnen, ihrer Arbeit und ihrem Leben macht. Nur wenige Tage nach den Interviews, am heutigen Donnerstag, 5. August, hat Open Media bekannt gegeben, die Arbeit ganz einzustellen.
dekoder bringt Auszüge aus fünf der Interviews in deutscher Übersetzung.
„Mir zerriss es förmlich das Herz, und die Leute aßen weiter ihr Mittagessen“
Olga Tschurakowa Ehemalige Journalistin bei Projekt Status als „ausländische Agentin“ seit dem 15.07.2021
Ich saß im Café und arbeitete, als mein Handy plötzlich nicht mehr aufhörte zu klingeln. Mein Name war in die Liste der „ausländischen Agenten“ aufgenommen worden, Projekt hatte man zu einer „unerwünschten Organisation“ erklärt. Ich sprang auf, bekam plötzlich keine Luft mehr, fing an zu weinen, hatte eine Panikattacke. Die anderen Gäste taten, als wäre nichts. Ich glaube, sie haben mich nicht einmal bemerkt. Mir zerriss es förmlich das Herz, und die Leute aßen weiter ihr Mittagessen.
Am Ende bist du der „ausländische Agent“ und nicht die Menschen, die sich wie die letzten Schweine benehmen
Ich habe sofort meine Kollegen angerufen. Wir haben besprochen, was wir jetzt machen, was wir tun sollen. Ich hatte ein Gefühl von absoluter Unsicherheit und Ungerechtigkeit. Du arbeitest, schreibst darüber, wie die Staatsbeamten stehlen und wie *** schlecht unser Staat funktioniert, und am Ende bist du der „ausländische Agent“ und nicht die Menschen, die sich wie die letzten Schweine benehmen. Zuerst hatte ich das Gefühl, dass die uns nicht kleinkriegen würden. In den ersten Stunden nach der Erklärung gab es viel Unterstützung, viele Nachrichten. Viele gratulierten sogar zu dem neuen Status, was sehr merkwürdig ist. In unserem pervertierten Staat ist die Erklärung zum „ausländischen Agenten“ wirklich so was wie eine Auszeichnung, aber wenn man das am eigenen Leib erfährt, wird einem klar, dass es da nichts zu gratulieren gibt.
Ich stand lange unter Schock – wir haben nicht damit gerechnet, dass man uns (die Journalisten von Projekt – Anm. d. Red.) als natürliche Personen zu „ausländischen Agenten“ erklären würde. Im Endeffekt wurde Projekt quasi dichtgemacht – mit so harten Maßnahmen hätte ich nicht gerechnet. Offensichtlich haben wir gute Arbeit geleistet, und die Machthaber hatten davon die Nase voll.
Ich bin so gut wie überzeugt, dass wir in Russland nicht mehr arbeiten, keine Recherchen mehr machen können
Gleich danach bin in den Urlaub gefahren, ins Ausland, und war plötzlich allein mit meinen Gedanken. Da kam eine große Enttäuschung und die Müdigkeit. Ich habe zehn Jahre lang für unabhängige Medien gearbeitet, habe versucht, die Gesellschaft auf die Probleme in unserem Staat aufmerksam zu machen. Jetzt werde ich faktisch aus meinem eigenen Land gedrängt, als wäre ich eine Verbrecherin. Und den Menschen ist immer noch alles egal. Ich hatte das Gefühl, dass ich meine Arbeit nicht mehr machen kann, weil sie offenbar niemand braucht. Warum sollte ich Journalismus machen, wenn er mein Leben zerstört hat? Nach diesem Urlaub hatte ich das erste Mal Angst, nach Hause zurückzukehren. Schon an der Grenze hatte ich Angst vor den Verhören und Durchsuchungen.
Ich bin so gut wie überzeugt, dass wir in Russland nicht mehr arbeiten, keine Recherchen mehr machen können, im Zweifel hängen sie uns Strafverfahren an, stecken uns ins Gefängnis. Ob ich im Ausland als Journalistin arbeiten will, habe ich für mich noch nicht raus. Und in Russland journalistische Recherchen zu machen, ist im Moment gefährlich, sinnlos und schlicht unmöglich.
„Dieser Status ist wie eine schwere Krankheit“
Ilja Roshdestwenski Korrespondent bei Open Media Satus als „ausländischer Agent“ seit dem 23.07.2021
Die Nachricht, dass ich zum „ausländischen Agenten“ erklärt wurde, erreichte mich, als ich gerade den Helden meiner neuen Recherche beschattete. Ich hatte seit Stunden auf der Lauer gesessen, da schaute ich aufs Handy, sah die Nachricht, wurde traurig und saß dann noch circa anderthalb Stunden so da.
Es ist schwierig, sich auf so etwas vorzubereiten: Du bist die Medien, natürliche Person und „ausländischer Agent“. Mensch und Maschine. Man kann sich natürlich mit seinen Anwälten beraten, alle Anweisungen und Anordnungen des Justizministeriums lesen, aber selbst mit einer juristischen Ausbildung wird man nicht schlau daraus. Das Gesetz zu den „ausländischen Agenten” ist so formuliert, dass es dir schwer gemacht wird, die Berichte zu schreiben und die russische Gesetzgebung zu befolgen.
Ich habe schon mit allen möglichen Juristen gesprochen. Wir haben abgesprochen, mit wem ich die Entscheidung des Justizministeriums vor den russischen Gerichten anfechten werde und wer mit mir vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zieht. Meine Anwälte werden mir helfen, mich als juristische Person registrieren zu lassen und im Oktober den ersten Bericht abzugeben, damit ich keine groben Fehler mache.
Das Gesetz ist so formuliert, dass es dir schwer gemacht wird, die russische Gesetzgebung zu befolgen
Das Justizministerium macht von einer interessanten Praxis Gebrauch – der Eintrag in die Liste wird Freitagabend bekannt gegeben. Am Samstag bin ich mit dem Gedanken aufgewacht, dass ich jetzt „ausländischer Agent“ bin, dass ich buchstäblich einen Knebel im Mund habe. Der Status als „ausländischer Agent” ist wie eine schwere Krankheit. Du kannst dagegen ankämpfen und damit leben, aber es herrschen neue Bedingungen, die du erfüllen musst.
Wenn du einen Fehler bei der Berichterstattung machst oder bei Facebook den Vermerk vergisst, dass du „ausländischer Agent” bist, bestraft dich das Justizministerium zuerst mit einem Bußgeld. Der zweite Verstoß wird dann schon strafrechtlich verfolgt. Mir ist klar, dass man jeden hinter Gitter bringen kann, aber in meinem Fall ist diese Möglichkeit jetzt nicht mehr so illusorisch. Sie begleitet mich die ganze Zeit.
„Ich bin auch Agent der Führungsriege, das sollten die nicht vergessen“
Maxim Glikin stellvertretender Chefredakteur von Open Media Status als „ausländischer Agent“ seit dem 15.07.2021
Von der Ehrung mit dem Orden Inoagent habe ich während der Arbeit erfahren, als ich die Redaktion eines Artikels beendet hatte und gerade mit dem nächsten beginnen wollte. Ich weiß nicht, warum ich auf dieser Liste gelandet bin – ich mache keinen investigativen Journalismus, von mir gibt’s keine öffentlichen Erklärungen, ich bin nicht auf Twitter. Wobei ich die Logik der Machthaber verstehe, schließlich bin ich stellvertretender Chefredakteur und verantworte das Politikressort, und das macht sie sehr nervös.
Natürlich hat es mich schockiert, dass ich jetzt auf der Liste stehe. Zunächst habe ich mich in den Medien nicht darüber geäußert, weil ich keine Ahnung hatte, wie ich mich dazu verhalten soll.
Kürzlich war ich dann auf einem Lyrik- und Konzertabend meiner Frau (der Dichterin Sara Selzer – Anm. d. Red.). Da kommen Gäste auf mich zu und wollen mit mir anstoßen. Nach dem Motto: „Ich stoße grad das erste Mal im Leben mit einem „ausländischen Agenten“ an. Das war schon lustig. Aber ich bin nicht euphorisch, mir ist klar – die Aufmerksamkeit wird schwinden, und ich stecke da immer noch drin.
Ich bewundere den Mut von Roman Dobrochotow (Chefredakteur von The Insider, der ebenfalls zum „ausländischen Agenten“ erklärt wurde – Anm. d. Red. ) und unterstütze ihn, aber ich kann nicht wie er sagen: „Ich pfeife auf diesen ganzen Inoagenten-Kram, ich schreib denen nichts.“ Ich bin weniger prominent, ich werde alles genau notieren und Rechenschaft ablegen. Das ist natürlich enorm mühsam, aber wenn sie verlangen, noch zehnmal mehr zu machen, werde ich es tun, solange ich genug Kraft und Zeit habe. Ich bleibe bei Open Media. Ich bin nicht sicher, ob ich bei anderen Medien in Russland einsteigen könnte, wenn ich diese Stelle verliere. Früher habe ich Dokumentarfilme gemacht und Bücher geschrieben – vielleicht mach ich dann damit weiter. [Wenige Tage nach dem Interview, am 5. August 2021, hat Open Media seine Arbeit offiziell eingestellt – dek]
Ich werde alles genau notieren und Rechenschaft ablegen. Das ist natürlich enorm mühsam
In den Augen der Machthaber bin ich Agent irgendwelcher ausländischer Interessen, und teilweise stimmt das. Aber gleichzeitig war ich Agent der russischen Machthaber und der Gesellschaft insofern, als ich alle möglichen Positionen, Meinungen und Nachrichten verbreitet habe. Die gesamten 30 Jahre meiner journalistischen Karriere habe ich über die Meinungen russischer Staatsbeamter informiert: in Interviews mit dem Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin, dem Chefideologen des Kreml Wladislaw Surkow und vielen anderen. Insofern bin ich auch ein Agent der Führungsriege unseres Landes, und das sollten sie nicht vergessen.
„Man kann drei Anwälte haben, aber das schützt einen am Ende auch nicht“
Julia Jarosch Chefredakteurin von Open Media Status als „ausländische Agentin“ seit dem 15.07.2021
Seitdem wir bekannt gegeben hatten, dass Michail Chodorkowski Open Media finanziert, ist unser Leben nicht mehr so ruhig. Wir konnten zwar im Prinzip arbeiten, unsere Quellen haben mit uns kommuniziert, aber es gab immer wieder Schwierigkeiten. Zum Beispiel haben wir keine Zulassung von der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor bekommen.
Als ich erfuhr, dass ich und meine Kollegen auf dieser Liste stehen, war ich zwar nicht schockiert, aber ich hatte das Gefühl, dass meine schlimmsten Befürchtungen wahr wurden. Die Durchsuchung bei Roman Dobrochotow und die Beschlagnahmung seines Reisepasses waren eine absolute Grenzüberschreitung.
Ich hatte das Gefühl, dass meine schlimmsten Befürchtungen wahr wurden
Auf der einen Seite gibt es Menschen, die ganz wild darauf sind, ihre Loyalität gegenüber der Regierung zu demonstrieren. Auf der anderen Seite gibt es eine Schar von verstörten Journalisten, die versuchen, sich an die Gesetze zu halten, auch wenn sie sie für ungerecht halten. Das Leben zeigt aber, dass das nicht ausreicht: Man kann drei Anwälte haben, aber das schützt einen am Ende auch nicht. Bei diesem Gedanken wird einem schon ziemlich bang.
„Ich bin geneigt, meine Karriere als Reporter zu beenden“
Pjotr Manjachin, Ehemaliger Autor bei Projekt Status als „ausländischer Agent“ seit dem 15.07.2021
Das ist alles ganz banal. Ich habe aus den Nachrichten erfahren, dass ich in die Liste der „ausländischen Agenten“ aufgenommen wurde. Ich war erstmal geschockt. Hatte keine Ahnung, was passiert, es war komisch, schrecklich und unklar.
Gerade mache ich Urlaub in der Natur. In der Oblast Nowosibirsk. Wenn ich zurückkomme, mache ich mir Gedanken wegen der Arbeit – das ist gerade noch völlig unklar. Ich bin geneigt, meine Karriere als Reporter zu beenden, weil ich mir nicht vorstellen kann, wie man mit diesem Ausländischer-Agent-Balken irgendwo publizieren soll, außer in Medien, die ebenfalls als „ausländische Agenten“ gelten. Verständlicherweise werden nur sehr wenige Medien bereit sein, immer jene 24 Wörter voranzustellen: „Diese Mitteilung wurde erstellt (oder verbreitet) von … der/das eine Funktion als ausländischer Agent innehat … “
Ich kann mir nicht vorstellen, wie man mit diesem Ausländischer-Agent-Balken irgendwo publizieren soll
Ich habe das Gefühl, dass ich jetzt immer im Fokus bin. Es ist nicht so, dass die Organe der Staatsmacht sich nicht auch schon vorher für mich interessiert hätten. Aber wenn man bedenkt, dass ich innerhalb vieler tausender Kilometer der einzige „ausländische Agent“ bin [Pjotr lebt in Sibirien – Anm. d. Red.], werden sie sich jetzt doppelt so so sehr für mich interessieren. Das wird natürlich nicht nur auf der Arbeit so sein – jeder beliebige Text von mir muss gekennzeichnet werden, auch etwa ein wissenschaftlicher Artikel. Ich hab keine Ahnung, was ich da machen soll. Bei juristischen Fragen hilft mit das Zentrum zum Schutz der Rechte von Medien. Wir werden eine juristische Person anmelden und dann weiter all diese dämlichen Rechenschaftsforderungen erfüllen.
Ich habe nicht vor, diese Heimat zu verlassen, nicht wegen einer Entscheidung des Justizministeriums
Auszuwandern ist die gleiche Option wie Tod oder Gefängnis. Es ist albern zu denken: „Ich gehe, wenn es dann völlig eskaliert, aber jetzt geht es noch …“ So schiebt man das alles ständig auf, darum bleibe ich in Sibirien. Das ist meine vertraute Heimat, ich bin bewusst nicht von hier weggegangen vor sechs Jahren, als ich die Schule abgeschlossen habe. Und ich habe auch jetzt nicht vor, diese Heimat zu verlassen, nicht wegen einer Entscheidung des Justizministeriums oder sonst irgendetwas.
Am 6. Mai sind es fünf Jahre, dass der Marsch der Millionen auf dem Bolotnaja-Platz mit heftigen Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten endete. Doch Bolotnoje Delo, der Fall Bolotnaja, ist noch nicht vorbei: Aktivisten der sogenannten Bolotnaja-Bewegung, die damals festgenommen wurden, wird bis heute der Prozess gemacht. Diese Verfahren werden von Medien und Gesellschaft kaum beachtet, dabei sind sie nach russischem Recht öffentlich.
Zum Jahrestag sprach The Village mit Leuten, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, diese Prozesse zu besuchen – wie sie zuvor mitunter auch die Prozesse gegen Pussy Riot oder Chodorkowski besucht hatten.
Polina Kibaltschitsch 22 Jahre, Kunsthistorikerin Hat über 100 Verhandlungen besucht
Ich habe schon als Kind politische Nachrichten verfolgt und erinnere mich noch gut an Fernsehreportagen über Protestaktionen zum Fall Chodorkowski. In der Schule habe ich die Bücher von Soja Swetowa und Vera Wassiljewa gelesen. Damals wurde mir klar: Du musst zu Gerichtsverhandlungen gehen, wenn du gegen das System bist.
Zum ersten Mal bin ich im Frühling 2012 zum Gericht gegangen, zum Prozess gegen Pussy Riot, aber da wurde niemand reingelassen, wir mussten draußen bleiben. Im Herbst desselben Jahren war ich dann zum ersten Mal bei einer Verhandlung. Da wurden im Zuge der Bolotnaja-Prozesse vor dem Basmanny-Amtsgericht die Haftstrafen von Artjom Sawjolow und Denis Luzkewitsch verlängert. Ich war am 6. Mai auf dem Bolotnaja-Platz gewesen und hatte gesehen, wie unfair das alles zuging, deswegen beschloss ich, die Leute zu unterstützen.
Viele Justizwachtmeister kennen mich bereits. Manche denken, ich bekomme Geld dafür, dass ich zu den Verhandlungen gehe. Ich weiß jetzt alles über Gerichte: die Verfahrensordnung, wie man mit Justizbeamten richtig umgeht, was man mitnehmen darf und was nicht. Wenn die Wachtmeister etwa Flugblätter oder Buttons in einer Tasche entdecken, lassen sie einen nicht hinein. Einmal haben sie bei mir eine stumpfe Nadel gefunden und wollten mich nicht durchlassen, außerdem hatte ich eine Schere dabei, die sie bei der Kontrolle nicht bemerkten.
Du musst zu Gerichtsverhandlungen, wenn du gegen das System bist
Und einmal haben sie vor dem Moskauer Stadtgericht einem Mann ein T-Shirt mit der Aufschrift „Freiheit für Ildar Dadin“ ausgezogen, und er ist mit nacktem Oberkörper in das Gebäude hineingegangen. Wenn dem Wachtmeister nicht gefällt, wie du aussiehst, kommst du nicht in den Saal.
Die Justizwachtmeister wenden oft körperliche Gewalt an, nach Ende der Sitzung werfen sie die Leute buchstäblich hinaus. Im Basmanny-Gericht haben sie schon mal jemanden die Treppe hinuntergestoßen oder auf die Straße hinaus. Einmal bekam ein Mann dadurch einen Herzinfarkt und musste vom Rettungswagen abgeholt werden.
In vier Jahren war ich bei über 100 Verhandlungen
Das System ändert sich nicht von allein, man muss den Staatsapparat austauschen, die Vetternwirtschaft hält ja alles zusammen. Natürlich packt mich manchmal ein Gefühl der Ohnmacht, aber ich gehe weiterhin ins Gericht. Hauptsächlich zu Verhandlungen der Bolotnaja-Prozesse – in vier Jahren war ich bei über 100 davon.
Zuletzt war ich im Februar bei einer Sitzung im Fall Maxim Panfilow. Zu seiner Unterstützung kamen nur Maxims Verwandte, ich war die einzige, die ihn nicht persönlich kannte – nicht mal Journalisten waren da. Obwohl zu Beginn der Bolotnaja-Prozesse pro Versammlung noch bis zu zehn Freiwillige gekommen waren.
Die Leute wollen sich nicht belasten. Wenn sie auf dem Weg ins Café oder ins Kino keinem Polizisten über den Weg laufen, dann denken sie, es sei gar nicht so schlimm mit dem Polizeiregime, alles ok. Aber in Wahrheit liegt alles im Argen, und das sehe ich vor allem bei Gericht.
Verwandte von Angeklagten sagen, die Anwesenheit von Freiwilligen helfe ihnen sehr, deswegen gehe ich weiter zu Verhandlungen. Mit meiner Gegenwart vor Gericht signalisiere ich dem System, dass die Gesellschaft über die Willkür im Land Bescheid weiß.
Jelena Sacharowa 68 Jahre, Konzertmeisterin Hat über 70 Verhandlungen besucht
An meine ersten Verhandlungen kann ich mich noch sehr gut erinnern. Das war 2013, am Nikulinski-Gericht, der Saal knallvoll. Acht Leute wurden gebracht – darunter Luzkewitsch, Barabanow und Kriwow. Den Prozess leitete eine kalt dreinblickende Richterin namens Nikischina.
Plötzlich sackte Kriwow, der zu dem Zeitpunkt seit etwa 40 Tagen im Hungerstreik war, zusammen und sank bewusstlos auf die Bank. Verteidiger Makarow rief sofort nach Ärzten. Die eilten schnell herbei, doch die Richterin verweigerte ihnen den Einlass – die Ärzte verschwanden unverrichteter Dinge. Kriwow kam nicht wieder zu sich, also rief Makarow erneut Rettungsleute. Nikischina wies die Justizwachtmeister an, die Türen zu versperren. Die Sanitäter verstanden nicht, was los war, und bummerten gegen die Tür. Die Situation spitzte sich zu: Vor unseren Augen stirbt ein Mensch, und wir können nichts dagegen tun.
Die Hälfte des Saales sprang auf, die Leute fingen an zu schreien, die Justizwachtmeister fischten mich und ein paar weitere Personen aus der Menge und zerrten uns zur Tür raus, einen Mann stießen sie die Treppe hinunter. Nie im Leben hatte ich so eine Angst wie damals. Klar, danach besuchte ich alle Sitzungen zum Bolotnaja-Fall – bis zur Urteilsverkündung.
Manche Anwälte fühlen sich wie auf einer Großdemo, andere ziehen eine Ein-Mann-Show ab
Ich habe solche und solche Anwälte und Verteidiger erlebt. Die einen fühlen sich wie auf einer Großdemo, die anderen ziehen eine Ein-Mann-Show ab. Mein letzter Anwalt war so ein zugeknöpfter Lord: Seiner Meinung nach muss man gezielt durch die erste Instanz, dann Berufung einlegen und dann eine Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einreichen.
Ich wurde 14 Mal festgenommen, meistens wegen Artikel 19.3 („Ungehorsam gegen die behördliche Anordnung eines Polizeibeamten“ – Anm. The Village), aber lange wurde ich nie auf dem Revier behalten. Meistens war das wegen Einzelprotestaktionen gegen den Krieg in der Ukraine, die ich unter anderem mit Ildar Dadin unternommen hatte. Ein paarmal wurde ich von der SERB provoziert, die haben mich sogar mit schwarzer Farbe übergossen.
Manche Leute können sich Aktionen nicht erlauben. Zum Beispiel, weil sie ohnehin schon mal durch Zutun der Extremismuszentren ihre Arbeit verloren haben, oder weil ihre Kinder noch klein sind, oder weil sie schon so viele Verwaltungsdelikte haben, dass ihnen das nächste Mal eine strafrechtliche Anzeige droht. Das sind die Leute, die dann zu Verhandlungen gehen. Und mein Mann geht zum Beispiel nur zu großen Demonstrationen, wo es nicht gefährlich ist.
Die Neigung dieser Leute zu Gewalt und Obrigkeitshörigkeit – das sind reine Minderwertigkeitskomplexe
Ich glaube, die meisten Silowiki waren nicht besonders gut in der Schule und sind dann in der Polizeifachschule gelandet. Denen hat niemand Bücher vorgelesen, vielleicht wurden sie zu Hause sogar geschlagen. Die Neigung dieser Leute zu Gewalt und Obrigkeitshörigkeit – das sind reine Minderwertigkeitskomplexe. Einmal habe ich in einem Gefängnistransporter einen Polizisten gefragt: „Was würden Sie tun, wenn Sie auf Demonstranten schießen müssten? Die neuen Gesetze erlauben das ja.“ Er sagte: „Ich gehe in zwei Jahren in Rente – ich hoffe, bis dahin bekomme ich keinen solchen Befehl.“
Das Personal der obersten Behörden muss ausgetauscht werden, auch die Richter: Das sind gebrochene Individuen. Als Richter Kaweschnikow das Urteil über Wanja Nepomnjaschtschich verlas (er wurde im Bolotnaja-Fall zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt – Anm. The Village), stand ich im Saal, sah dem Richter in die Augen und stellte ihm in Gedanken die Frage: „Was geht in deinem Kopf vor, wenn du einen völlig unschuldigen Menschen einsperren lässt?“
Im Januar dieses Jahres war Kaweschnikow mein Richter bei einem Verwaltungsdelikt. Ich kam in einem T-Shirt mit einem Portrait von Nepomnjaschtschich zur Verhandlung und legte ein Foto von ihm in meine Passhülle. Den habe ich Kaweschnikow direkt in die Hand gedrückt – sein Gesicht zeigte null Reaktion.
Es ist enorm öde. Ich schlafe bei dem monotonen juristischen Gebrabbel immer fast ein
Gerichtsanhörungen sind für mich kein Vergnügen, sondern unliebsame Notwendigkeit. Es ist enorm öde. Ich schlafe bei dem monotonen juristischen Gebrabbel immer fast ein. In letzter Zeit „koordiniere“ ich die Angeklagten draußen auf dem Korridor. Nach der Demonstration am 26. März fanden am Twerskoj-Gericht fast jeden Tag Verhandlungen statt. Massen wunderbarer junger Leute kamen herein. Die meisten hatten vor Nawalnys Film noch nie was von Korruption gehört. Sie wurden zum ersten Mal vor Gericht zitiert, kannten sich überhaupt nicht aus, einen Anwalt hatte kaum jemand. Ich fing sie an der Tür ab, fragte: „Sie sind wegen dem 26. hier, haben Sie einen Anwalt, welcher Paragraph?“, und empfahl ihnen einen Verteidiger.
Ich glaube, der Bolotnaja-Fall wird uns noch wie ein Kindergeburtstag vorkommen. Irgendwo sitzt jetzt ein ganzer Trupp von Ermittlungsbeamten, die alle Videoaufzeichnungen von der Aktion am 26. März durchsehen und Material für neue Anklagen sammeln.
Natalja Mawlewitsch 66 Jahre, Übersetzerin Hat über 20 Verhandlungen besucht
Bis 1987 habe ich in der inneren Emigration gelebt, das war die Zeit meines passiven Widerstands gegen das System. Als in den 1990ern eine neue Zeit anbrach, wurde mir bewusst, dass ich das Leben hier verbessern kann: Dieses Land ist meines, die Stadt gehört mir. Mit Putins Machtantritt gab es aber immer weniger Freiheit, und es hat sich gezeigt, dass viele sie auch gar nicht brauchen. Das war eine bittere Erkenntnis, aber ich habe mich nicht in mein Schneckenhaus verkrochen.
Zum ersten Mal war ich bei Gericht, als der Prozess gegen Chodorkowski und Lebedew lief. Die Sitzung fand am Basmanny-Gericht statt, niemand wurde hineingelassen, die protestierende Menge stand auf der Straße. Während dem ersten YUKOS-Prozess hatte ich noch Zweifel, was die Schuld der Angeklagten anging, aber die wurden mit Beginn des zweiten komplett hinfällig. Der Prozess lief auf eine Inszenierung von Kafka oder Ionesco hinaus – er war offensichtlich absurd.
Der YUKOS-Prozess lief auf eine Inszenierung von Kafka oder Ionesco hinaus – er war offensichtlich absurd
Das bedeutendste Gerichts-Ereignis der letzten Jahre ist natürlich der Bolotnaja-Fall. Mir ist eine Sitzung im Gedächtnis geblieben, bei der es um den geschädigten OMON-Mann German Litwinow ging, dem angeblich in den Finger geschnitten worden war. Litwinow änderte im Laufe des Prozesses seine Meinung: Von ihm hing nämlich das Schicksal von zwölf Menschen ab – und im Endeffekt sagte er, er betrachte sich nicht als Geschädigten, und wechselte in den Zeugenstand. Ich fuhr danach mit ihm im Lift und sagte irgendwas Pathetisches über Ehrlichkeit, und er antwortete: „Ja, ehrlich bin ich, aber wo soll ich jetzt arbeiten?“ Keine Ahnung, was aus ihm geworden ist.
Man trifft bei Gericht immer dieselben 20 Leute
Normalerweise trifft man bei Gericht immer dieselben 20 Leute, die am sechsten jedes Monats Einzelwachen abhalten und auf der Nemzow-Brücke stehen. Es sind wenige, sie haben es schwer, und deshalb macht es mich traurig, dass manche sie „Großstadtirre“ nennen.
Früher war die politische Willkür im Land wie eine Straße, auf der immer mal eine Glasscherbe liegt: Wenn du drauftrittst, tut es weh. Aber jetzt ist es, als würdest du auf Schmirgelpapier laufen – der Schmerz ist dumpf und zur Gewohnheit geworden.
Politische Gerichtsprozesse gibt es mittlerweile so viele, dass ich, würde ich zu allen hingehen, nicht mehr zum Arbeiten kommen würde. Das letzte Mal war ich vor ein paar Jahren bei Gericht, auf einer Verhandlung zum Bolotnaja-Fall. Aber ich verfolge die Prozesse immer noch – und werde auch wieder hingehen.
Karina Starostina 52 Jahre, Bibliothekarin hat über 40 Sitzungen besucht
Ich habe mein Leben lang in der Gebrüder-Grimm-Kinderbibliothek gearbeitet. Meine Vorgesetzten wussten immer, dass ich politisch aktiv bin, und verbaten während meiner Arbeitszeit Gespräche über Politik. Trotzdem ließen sie mich in Ruhe – ich war eine hochgeschätzte Mitarbeiterin, in bibliothekarischen Kreisen bekannt. Jetzt werde ich woanders arbeiten. Wie es dort wird, weiß ich nicht. Für alle Fälle habe ich in sozialen Netzwerken meinen Nachnamen geändert.
Ich gehe nur zu denen, deren Ideen ich verstehe. Zu Prozessen von Nationalisten gehe ich nicht
Meine erste Bolotnaja-Verhandlung war die gegen Mischa Kossenko vor dem Samoskworezki-Gericht am 8. Oktober 2013 – der wurde damals für unzurechnungsfähig erklärt. An sich bin ich feige, aber an diesem Tag waren die Umstände günstig: Ich hatte früher Feierabend, und außerdem interessiere ich mich für Psychiatrie. Ich wurde damals nicht in den Saal gelassen und stand im Endeffekt mit einer Gruppe von Unterstützern im Hof.
Das Urteil steht oft schon im Vorhinein fest, die Schablone ist fertig
Ich habe eine ganz einfache Motivation: Die Leute des Bolotnaja-Falls haben für uns alle gesessen. Deswegen muss, wer kann, zu diesen Prozessen gehen. Ich gehe nur zu denen, deren Ideen ich verstehe. Viele Liberale gehen auch zu Prozessen von Nationalisten. Ich gehe da nicht hin.
Das Urteil steht oft schon im Vorhinein fest, die Schablone ist fertig. Wobei es unmöglich ist, den Ausgang eines Falles vorherzusagen, egal, was rundherum passiert und wie gut die Anwälte sind.
Ich gehe kein Risiko ein, gebe acht, nicht im Polizeitransporter zu landen. Ich wurde viermal festgenommen, aber es wurde nie ein Protokoll aufgenommen. Meistens war das bei Mahnwachen auf der Nemzow-Brücke.
„Wir überschätzen die Bedeutung des Oktobers und die Rolle Lenins etwas. Seine Rolle war riesig, aber den Weg des Bürgerkriegs hatten wir bereits eingeschlagen“, erklärt Boris Kolonizki, renommierter Historiker an der Europäischen Universität St. Petersburg, über die dramatischen Ereignisse vor 100 Jahren im damaligen Petrograd.
Im zweiten Teil des Longread-Interviews, das The Village zum Jahr 1917 mit ihm geführt hat, hinterfragt er die Bedeutung zentraler Personen.
Welche Rolle spielte der Zar selbst bei seinem Sturz in der Februarrevolution? Welche politischen Kräfte rangen danach um die Macht, wie bedeutend war Lenin? Und warum drohte abermals ein politischer Umbruch?
Alexey Pavperov: Die gängige Meinung ist, dass Zar Nikolaus II. die Hauptschuld an der Februarrevolution trägt. Gerade seine Inkompetenz, sein Konservatismus, seine Fehler und der katastrophale Mangel an Respekt gegenüber dem kaiserlichen Thron hätten die Revolution erst ermöglicht.
Boris Kolonizki: Nikolaus II. war kein guter Politiker. Er hat Fehler gemacht, strategische und taktische, auf verschiedenen Ebenen. Andererseits, wie ich schon sagte, in den Jahren des Ersten Weltkriegs steckten alle beteiligten Länder in einer sehr schwierigen Lage. Die Lage Russlands kann man allerdings als besonders schwierig bezeichnen. Objektiv gesehen stellte das Land damals die größte Armee der Welt, ohne dabei der fortschrittlichste, führende Staat zu sein. Dafür war eine gigantische Mobilisierung nötig.
Eine Frontlinie aufzubauen, das ist eine ingenieurtechnische Mammutaufgabe, vergleichbar mit dem Bau der Sibirischen Eisenbahn, eine riesige nationale Baustelle. Eine Zehn-Millionen-Mann-Armee musste versorgt werden: Verlegung, Waffen, Nahrung und medizinische Versorgung, Abtransport der Verletzten. Selbst einem erstklassigen Politiker hätte das große Probleme bereitet.
Geknallt hätte es sowieso – vielleicht später oder in einer weniger heftigen Form.
Geknallt hätte es sowieso – vielleicht später oder in einer weniger heftigen Form
Nikolaus II. hat haufenweise Fehler gemacht. Zum Beispiel personelle: Manche Leute waren, wie die Februarrevolution gezeigt hat, eindeutige Fehlbesetzungen, was zu unprofessionellem Verhalten oder sogar zu Illoyalität gegenüber dem Zaren geführt hat.
Schwere Fehler machte er im Kampf um die öffentliche Meinung. Heute wird viel zu viel über die Ermordung Rasputins gesprochen, wichtig ist jedoch nicht der Mord an sich, sondern wie das Regime darauf reagierte. Da ist ein Mensch getötet worden, aber es wird nicht ermittelt. Was für eine Regierung ist das bitte?
In Ewa Bérards Buch Pétersbourg impérial [dt. Das imperiale Petersburg – dek] wird die These aufgestellt, der Zar hätte Petersburg nicht besonders gemocht und den Großteil seiner Zeit in Zarskoje Selo verbracht. Er hätte die öffentliche Meinung ignoriert und sich während offizieller Veranstaltungen zurückgezogen. Der Zar soll die Stadtbevölkerung, die Bourgeoisie, missachtet und gefürchtet haben.
Könnte man sagen, dass das fehlende Verständnis zwischen der Stadt und dem Zaren eine bedeutende Rolle während der Revolution gespielt hat?
Es gab ein Petersburg, das er nicht mochte. Und es gab eins, das er durchaus mochte. Die Paraden auf dem Marsfeld,und die Gesellschaft der Gardeoffiziere, die liebte er zweifelsohne. Petersburg war zu diesem Zeitpunkt eine sehr militärische Stadt.
Manchmal gelangen ihm auch kluge Schachzüge, da nutzte er die politische Infrastruktur der Stadt. Im Februar 1916 besuchte er die Staatsduma und sorgte damit für einen Medienhype, der wochenlang anhielt.
Ich denke, es hat nicht so sehr mit der Stadt zu tun, sondern vielmehr mit seiner Einstellung zu Russland insgesamt, zu dessen Geschichte, dessen sozialer Struktur. Er liebte ein imaginäres Russland der Bauern, die er den gebildeten, vom westlichen Einfluss verdorbenen Klassen gegenüberstellte.
Die Bedeutung der Hauptstädte zu unterschätzen, das war ein gewaltiger politischer Fehler, ein riesengroßer politischer Patzer von Anfang an
Er und – in noch größerem Maße – Zarin Alexandra Fjodorowna glaubten an die Existenz eines ungemein religiösen Bauernvolks als Träger von höchsten moralischen Werten und monarchistischer Gesinnung, und betrachteten alle anderen als eine Art Sperre, die nur stört.
Das Volk versteht den Zaren, und das wird Russland auf ewig retten – so sah das imaginäre Land aus, das Nikolaus in Wirklichkeit nicht besonders gut verstand.
Aus dem Schriftwechsel zwischen dem Zaren und seiner Gattin geht ihr Verhältnis zum Geschehen deutlich hervor: Petersburg und Moskau lärmen, sind voller Klatsch und Tratsch, aber diese beiden Städte sind nur zwei kleine Punkte auf der riesigen Landkarte Russlands.
Die Bedeutung der Hauptstädte zu unterschätzen, das war ein gewaltiger politischer Fehler, ein riesengroßer politischer Patzer von Anfang an.
Eigentlich war Nikolaus II. ja ein interessanter Mensch. [Die Dichterin Sinaida – dek] Hippius bezeichnete ihn als „Charmeur“: Er konnte die Menschen in seinen Bann ziehen. Viele, die ihn verachteten, verfielen bei einer persönlichen Begegnung seinem Charme – dem eines zurückhaltenden, durchaus intelligenten Menschen. Er konnte mit seinem Charme bestechen.
Eigentlich war Nikolaus II. ja ein interessanter Mensch. Viele, die ihn verachteten, verfielen bei einer persönlichen Begegnung seinem Charme
Dabei zeichnete ihn eine gewisse Unbeständigkeit aus. Manchmal ließ er wichtige Mitarbeiter gehen, ohne ihnen noch ein Hintertürchen offen zu lassen. Man muss jedoch die Kunst beherrschen, sich von jemandem zu verabschieden und ihn sich zugleich für den Notfall noch warmzuhalten. Außerdem verkannte er mitunter den Einfluss der öffentlichen Meinung, der Oppositionsparteien und der Geschäftswelt – seine Denkweise war nicht sehr modern.
Als er Kerenski kennenlernte, sagte er: „Wie schade, dass wir uns nicht schon früher begegnet sind.“ Aber wer hatte sie denn daran gehindert?
Gut, Kerenski war vor der Revolution eine absolute Randfigur. Aber was ist mit dem KadettenführerPawel Nikolaewitsch Miljukow?! Man kann sagen, was man will, aber der war ein russischer Patriot. Sein Sohn, ein Offizier, war im Ersten Weltkrieg gefallen. Stellen Sie sich vor, der Imperator hätte einen Brief an ihn gerichtet, oder ihn sogar eingeladen, irgendwie seine Unterstützung geäußert, von Mensch zu Mensch – ein halbes Jahr später hätten die Kadetten strammgestanden und den Kaiser hochleben lassen.
Politische Zugeständnisse waren eine Zeit lang gar nicht so wichtig, ein paar simple kommunikative Gesten hätten schon gereicht.
VI. Über die Helden der Revolution und den Weg zum Bürgerkrieg
Lassen sich denn mit Gewissheit Personen nennen, deren Handeln im Zeitraum zwischen den beiden Revolutionen eine maßgeblich negative Rolle spielte und letztlich zur Verstärkung des Konflikts, zur Gewalteskalation und zur Zerrüttung der Lage in Petrograd geführt hat?
Das kommt auf den Blickwinkel an. Für die einen war die Fortsetzung des Krieges ein positiver Faktor, für die anderen war es gerade umgekehrt. Genauso ist es mit der gewaltsam durchgeführten Agrarreform. Die Antwort hängt vom jeweiligen Interesse ab.
Ich glaube, Wörter wie „positiv“ und „negativ“ sind sowieso nicht sehr gut als Erkenntnisinstrumente geeignet. Und trotzdem benutzen wir sie.
Aus meiner Sicht gibt es nichts Schlimmeres als den [Russischen – dek] Bürgerkrieg. Das ist ein in höchstem Maße wichtiges Ereignis in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, es hat uns stark beeinflusst und tut das immer noch. In gewissem Sinne befinden wir uns bis heute in seinem Wirkungsfeld.
Die große Frage ist für mich der Weg von der Revolution zum Bürgerkrieg. Jede Revolution ist ein potentieller Bürgerkrieg. Und in der Regel wird jede Revolution von kleinen, lokalen Bürgerkriegen begleitet. Sie können ganz unterschiedliche Ausmaße annehmen.
In Russland war der kritische Punkt der Auftritt von General Kornilow, der die Provisorische Regierung herausforderte. Der Bürgerkriegs-Mechanismus war in Gang gesetzt. Deswegen überschätzen wir die Bedeutung des Oktobers und die Rolle Lenins etwas. Seine Rolle war riesig, aber den Weg des Bürgerkriegs hatten wir bereits eingeschlagen.
Wir neigen generell dazu, die Geschichte zu personifizieren – Kerenski, Kornilow, Lenin, Nikolaus II. – und ebenso den Konflikt zwischen Kerenski und Kornilow auf einen psychologischen zu reduzieren. In Wirklichkeit ist die Vorstellung naiv, dass da irgendein Staatsoberhaupt sitzt und alles entscheidet. Er hat immer einen Kreis von Unterstützern, eine Referenzgruppe, er muss manövrieren. Er arbeitet in einem Team, es ist ein großes Orchester.
Der Bürgerkriegs-Mechanismus war in Gang gesetzt. Wir überschätzen die Bedeutung des Oktobers und die Rolle Lenins
Wir sind ein kulturell sehr gespaltenes Land. Es herrscht völliges Unvermögen, sich gegenseitig zuzuhören: Alle fordern lauthals einen Dialog, aber es endet immer in vielen verschiedenen gleichzeitigen Monologen, die auch noch extrem laut vorgetragen werden. Wir reden von einer nationalen Aussöhnung, aber alles endet mit grob aufgezwungener Buße.
Was war der Grund für das Chaos und die Desorganisation im politischen Leben Russlands nach der Februarrevolution? Warum fanden sich keine Kräfte, die entschlossen die Macht übernehmen und die Situation unter Kontrolle halten konnten?
Darüber sind sich die Historiker nicht einig. Faktisch entstand während der Februarrevolution eine Konstellation, die mit dem nicht sehr präzisen Begriff Doppelherrschaft bezeichnet wird.
Das Schlüsseldokument, das die Konturen dieser Ordnung vorgab, war der Befehl Nr. 1 des Petrograder Sowjets, mit dem die Armee praktisch demokratisiert und das System der Kompaniekomitees eingeführt wurde. Von Anfang erhoben sie einen Regierungs- und Machtanspruch. Diese Macht konnte in verschiedenen Landesteilen und Regionen unterschiedliche Gestalt annehmen, aber sie war überall präsent.
Manche Historiker sagen, dass es keine Doppelherrschaft war, weil in einigen Regionen eine gewisse Zusammenarbeit stattfand. In anderen Gebieten war die Lage noch verworrener. In Kiew beispielsweise wurde die Macht von den Organen der Provisorischen Regierung, dem Kiewer Sowjet und der Zentralna Rada beansprucht. In Finnland gab es die Machtorgane des Großfürstentums Finnland, die Militär- und Zivilorgane der Provisorischen Regierung und die Komitees, die dort besonders stark waren.
Gewinner und Akteure waren keineswegs immer die Bolschewiki. Im Gouvernement Kasan beispielsweise begann der örtliche Bauernsowjet, der von Sozialrevolutionären geleitet wurde, mit einer Landreform, ohne sich groß an Petrograd zu orientieren.
Das Machtsystem des Zarismus war also zerfallen, und auf seinen Trümmern begann der Kampf zwischen einer Vielzahl unterschiedlicher Kräfte.
Ja. Wobei es einen Konsens gab in Bezug auf einige wichtige strukturelle Entscheidungen: Die Polizei wurde abgeschafft und durch eine Volksmiliz ersetzt. Man ging davon aus, dass eine ständige Polizei etwas Schlechtes sei. Stattdessen sollte jeder freie Bürger zeitweise die Pflichten der Ordnungshüter übernehmen. Eine Miliz, also praktisch eine Volkswehr. So eine naive, utopische Idee.
Jeder freie Bürger sollte zeitweise die Pflichten der Ordnungshüter übernehmen. So eine naive, utopische Idee
Außerdem wurde die lokale Machtstruktur abgeschafft – anstelle der Gouverneure wurden Kommissare ernannt. Diese Maßnahmen waren unumgänglich: Die Revolutionäre wollten die neue Ordnung festigen und absichern.
Ein weiterer wichtiger Punkt war die Abschaffung der Todesstrafe – eine humanitäre Forderung, für die alle Parteien eintraten, die der Provisorischen Regierung und dem Petrograder Sowjet angehörten. Zu Kriegszeiten war das eine äußerst schwierige Entscheidung, weil sie die Herrschaftsinstrumente einschränkte.
Nach der Julikrise und dem ersten erfolglosen Versuch der Bolschewiki, die politische Macht zu ergreifen, schwang die gesellschaftliche Stimmung massiv nach rechts um. Im September jedoch, bei der Niederschlagung des Kornilow-Aufstands, musste Kerenski bolschewistische Aktivisten aus dem Gefängnis entlassen, sich bolschewistischer Agitatoren bedienen und Waffen an die Arbeiter verteilen. Danach lag die Initiative im politischen wie im gesellschaftlichen Bereich wieder bei den Bolschewiki, die sich kurz zuvor noch in der Illegalität befunden hatten und von der Gesellschaft als negative, destabilisierende Kraft wahrgenommen wurden.
Was sagen diese Umschwünge über die Situation in Petrograd aus?
Wenn es um die Revolution geht, sollten wir nicht allein von den Bolschewiki reden. Ich würde eher von den Bolschewiki und ihren Verbündeten sprechen. Während der Julikrise spielten etwa die Anarchisten eine große Rolle. Sehr wichtig für die Bolschewiki war das Bündnis mit den linken Sozialrevolutionären. Dann gab es noch verschiedene Organisationen der Menschewiki-Internationalisten, verschiedene nationale Gruppen, parteilose Aktivisten und andere.
Die Radikalisierung war nicht unbedingt immer eine Bolschewisierung. In den Sowjets und Komitees, von denen die Legalisierung der Revolution entscheidend abhing, gehörten viele nicht der Partei der Bolschewiki an. In manchen Fällen zum Beispiel sprachen sich die gleichen Leute, die Kerenski im Juli noch unterstützt hatten, im September gegen ihn aus.
Ich würde nicht sagen, dass sich die Partei der Bolschewiki vollständig in der Illegalität befand. Die Situation war überall im Land unterschiedlich. Aber selbst in Petrograd schaffte es die Partei, eine Zeitung herauszubringen, die zwar immer wieder eingestellt wurde, aber jedesmal unter anderem Namen neu erschien.
Am Anfang sehen wir den Glauben an das Wunder der Revolution, die alles verändern wird. Später zeigt sich dann, dass die Dinge nicht ganz so gut stehen
Und eigentlich geht es nicht um die Bolschewiki, sondern um die Macht. Unsere Sicht ist zu sehr auf die Bolschewiki und auf Lenin verengt. Man muss auch das Verhalten ihrer Gegner betrachten – und das Verhalten derjenigen, die demobilisiert wurden. Wir schauen – glücklicherweise meist im Fernsehen – auf Revolutionen in anderen Ländern. Am Anfang sehen wir eine ungeheure Begeisterung, den Glauben an das Wunder der Revolution, die alles verändern wird. Später zeigt sich dann, dass die Dinge nicht ganz so gut stehen – die Wirtschaft, die Kriminalität und so weiter und so fort.
Ohne diese naive Begeisterung ist beispielsweise das Phänomen Kerenski gar nicht vorstellbar – ein Führer und Retter, an den alle glauben. Nach einiger Zeit sind dann die einen nach rechts abgewandert, in Richtung Konterrevolution. Sehr viele (ich würde sogar sagen, die meisten) haben die Politik ganz aufgegeben: Sie hatten die ständigen Diskussionen satt, waren müde davon. Der Winter stand vor der Tür, die Leute kümmerten sich um Heiz- und Lebensmittel sowie um ihre Lieben, und dann nahm auch noch die Kriminalität zu.
Bei einigen hielt sich die Revolutionsbegeisterung. Etwas klappt nicht? Dann muss man eben noch härter und entschlossener handeln. Eine solche Radikalisierung der Linken spielte den Bolschewiki und ihren Verbündeten in die Hände.
Ja, unser Bild von diesen Geschehnissen ist wohl tatsächlich zu stark vereinfacht. Und es ist normal, dass zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Kräfte die Initiative übernehmen und die Sympathie der Gesellschaft gewinnen.
Es geht nicht nur um Sympathie, es geht um den Grad der Beteiligung. Die einen unterzeichnen per Mausklick eine Petition. Andere nehmen an Kundgebungen teil. Und wieder andere beteiligen sich an Protestaktionen. Das sind sehr unterschiedliche Dinge.
1917 drückten die einen ihre Sympathien aus, indem sie zu Hause Zeitung lasen und die Passagen, die ihnen gefielen, rot anstrichen. Andere gingen auf die Straße. Manche nahmen die Organisationsarbeit in die Hand. Manche stellten Geld zur Verfügung.
Die Sympathie für eine populäre Person kommt nicht immer in Form aktiver politischer Handlungen zum Ausdruck. Politik ist eine vielschichtige und mehrdimensionale Angelegenheit.
dekoder dankt Robert Kindler für seine Unterstützung bei der Aufbereitung des Interviews.
„Alle hatten eine Krise erwartet, aber nicht zu diesem Zeitpunkt und nicht in dieser Situation. Es kam, wie man so schön sagt, eins zum anderen …“, erklärt Boris Kolonizki, renommierter Historiker an der Europäischen Universität St. Petersburg, über die dramatischen Ereignisse vor 100 Jahren im damaligen Petrograd, die zur Februarrevolution führten.
Zu Beginn des Jahres 1917 erwächst aus Protestmärschen und Streiks eine Protestbewegung, die Zar Nikolaus II. den Thron kostet. Bewaffnete Arbeiter und Soldaten besetzen am 27. Februar zentrale Knotenpunkte der Stadt, darunter Waffenarsenale, die Telefonzentrale und Bahnhöfe. Die Regierung verliert ihre Macht und Kontrolle, aus der Duma wird die Forderung nach Abdankung des Zaren laut – der er sich kurz darauf beugt.
Die Februarrevolution krempelt die politischen Verhältnisse um: Die 300-jährige Herrschaft der Zarenfamilie Romanow endet. Russland ist keine Monarchie mehr.
Boris Kolonizki ist auf dem Feld der Revolutionen von 1917 führender Experte in Russland. Im ersten Teil eines Longread-Interviews mit The Village, geht er vor allem auf die Stimmung jener Zeit ein, warum sie damals so dramatisch hochkochte, welche Symbole eine wichtige Rolle spielten und wie das Jahr 1917 gegenwärtig wahrgenommen wird.
Alexey Pavperov: Welche der beiden Revolutionen, deren Jahrestage dieses Jahr begangen werden, ist Ihrer Meinung nach von größerem Interesse für die Öffentlichkeit? Es sieht so aus, als würde von seiten der Regierung die Oktoberrevolution mehr Aufmerksamkeit bekommen.
Boris Kolonizki: Das hängt ganz davon ab, wie man die Geschehnisse betrachtet. Viele meinen, es war ein zusammenhängender Revolutionsprozess. Die Frage ist, wie wir die Revolution begreifen, wie wir den Begriff definieren. Ich denke, sowohl der Februar als auch der Oktober wecken Aufmerksamkeit bei den Menschen und den Medien. Möglicherweise hat es sich aus der Historie heraus so ergeben, dass viele meinen, besser über die Ereignisse des Oktobers informiert zu sein. Aber das ist bei weitem nicht immer der Fall.
Für die derzeitige Regierung ist die Revolution kein angenehmes Thema. Es spaltet eher, als dass es verbindet. Ich erwarte einige Kontroversen
Man wird sehen. Für die derzeitige Regierung ist es im Grunde kein angenehmes Thema: Es spaltet die öffentliche Meinung eher, als dass es verbindet. Wie Sie wissen, haben viele auf irgendein Signal gewartet, und in der Botschaft des Präsidenten an die Föderalversammlunghaben sie eines bekommen. Aber es ist unwahrscheinlich, dass man auf dieser Grundlage zu einer nationalen Einheit kommen wird, daher erwarte ich einige Kontroversen. Schwer zu sagen, was da kommt.
Ich meine damit nicht nur den gesamtpolitischen Kontext, sondern auch unvorhersehbare Ereignisse. Zum Beispiel hätte ich absolut nicht damit gerechnet, dass der Kinofilm Mathilda so viel Aufsehen erregen und Publicity bekommen würde. Gut möglich, dass noch andere Überraschungen warten.
I. Die Stimmung in St. Petersburg vor 100 Jahren
„Kleinere Revolten und Lebensmittelknappheit waren nichts Neues.“ Dies trieb die Menschen auf die Straße, hier in Petrograd im Februar 1917
Wir unterhalten uns heute im Februar 2017. Können Sie bitte beschreiben, wie die Stimmung in der Hauptstadt etwa zur gleichen Zeit vor 100 Jahren war? Bis zur Revolution blieb noch knapp ein Monat, die Hungerrevolten brachen erst in der letzten Februar-Dekade aus. Was bewegte die Stadt in dieser Phase?
Kleinere Revolten und Lebensmittelknappheit waren nichts Neues. Doch die Versorgungsengpässe waren jetzt deutlich spürbar. Das betraf nicht nur Lebensmittel, sondern auch Holz und Kohle – die Versorgung hing davon ab, dass die Infrastruktur funktionierte. Es gab Schwierigkeiten mit dem Transport, Zeitzeugen berichteten von einer Eisenbahnkrise. Dabei deutet in der Statistik nichts auf eine Krise hin, dank der Professionalität ihrer Mitarbeiter wurde die Russische Eisenbahn immer besser. Immer schwieriger aber wurde es, die Armee zu versorgen – entsprechend litt der Binnentransport. Außerdem herrschten schwierige Witterungsverhältnisse in verschiedenen Regionen des Landes und die Schienen mussten vom Schnee freigeschaufelt werden. Auch der teilweise sehr unübersichtliche organisatorische Überbau und der ungeregelte Markt hatten negative Auswirkungen.
Die Menschen strömten nach St. Petersburg: Flüchtlinge, Soldaten, Deserteure
Eine weitere Besonderheit war der Alltag in der Stadt. Die Menschen strömten hierher: Flüchtlinge in Not, Soldaten auf Fronturlaub oder nach einem Krankenhausaufenthalt, Deserteure. Die Grenze zwischen entlassenen oder beurlaubten Militärs auf der einen und Fahnenflüchtigen auf der anderen Seite war manchmal recht schwer auszumachen. Zwar stieg die Kriminalität nicht so stark an, wie es dann in der Folgezeit der Fall war, insgesamt jedoch war eine höhere Instabilität zu spüren. Spekulationsgeschäfte und Korruption florierten.
In der Stadt begegneten einem zahlreiche Männer im wehrpflichtigen Alter in Zivil oder in Uniform, die fernab der Gefahren an der Front lebten. Durch Schmiergelder oder dank guter Verbindungen konnten sich viele einer Einberufung entziehen. Eine Mobilisierung von solchem Ausmaß, wie sie einem auf den Straßen von Paris oder London ins Auge fiel, gab es in St. Petersburg nicht.
Viele in der Hauptstadt schlugen Profit aus Kriegsgeschäften und Spekulationen. Zum Beispiel war damals in Russland ein großer Mangel an Medikamenten spürbar. Bis zum Krieg waren sie vorwiegend aus Deutschland importiert worden. Führte man diese wertvollen Waren über Skandinavien ein, um sie für ein Heidengeld hier weiter zu verkaufen, konnte man davon in Saus und Braus leben. Der Aufstieg von Neureichen – den Marodeuren im Hinterland, wie sie damals in Russland genannt wurden – war bezeichnend in der Kriegszeit. Diese Aspekte der Krise bleiben häufig außen vor. Krieg ist immer ungerecht, aber hier war er vielleicht besonders ungerecht.
Viele in der Hauptstadt schlugen Profit aus Kriegsgeschäften. Krieg ist immer ungerecht. Aber hier war er vielleicht besonders ungerecht
Hinzu kamen innerstädtische Verkehrsprobleme. Zeichnungen von damals zeigen Menschenmassen, die Straßenbahnen stürmen. Die Spannungen im Alltag spitzten sich zu.
Ich möchte noch einmal betonen, dass das Kinkerlitzchen waren im Vergleich zu den darauffolgenden Jahren. Aber Menschen können nun mal ihre aktuelle Situation nicht mit der Zukunft vergleichen.
Noch etwas machte die Stadt damals besonders aus: die Gerüchte. Gerüchte über Verrat, über Spione, Gerüchte über eine deutsche Partei am Hof, Gerüchte über das Vorhaben, einen Sonderfrieden zu schließen, darüber, dass die Zarin eine Agentin des Feindes sei, und über ihre Protektion durch den Zaren. Man munkelte, es gebe eine Verschwörung.
Heute streiten die Historiker über deren tatsächliches Ausmaß, allerdings können Gerüchte über Verschwörungen manchmal genauso bedeutsam sein wie die Verschwörungen selbst.
II. Zunahme der Gewalt und Proben für die Revolution
„Während der Februarrevolution gab es ziemlich viel Vandalismus.“ Zerstörtes Polizeigebäude in Petrograd
Wie stand es um die Gewalt in der Stadt, wie alltäglich war sie? Lew Lurje beispielsweise spricht in diesem Kontext oft von Hooligans und dass junge Arbeiter oft und gerne Gewalt angewandt hätten.
Ich denke, wir können zu jener Zeit nicht von einer einheitlichen Subkultur der Arbeiterklasse sprechen. Es gab zum Beispiel Textilarbeiter, die vor dem Ersten Weltkrieg hauptsächlich saisonal beschäftigt waren. Wenn es im Dorf nichts zu tun gab, zog es sie in die Stadt. Sie waren Arbeitsmigranten, die Geld nach Hause schickten und die Verbindung zu ihren Dörfern nicht abreißen ließen.
Es gab aber auch ausgebildete Arbeiter, die sich teilweise selbst als Arbeiter-Intelligenzija bezeichneten. Sie hatten ein gutes Einkommen, das mitunter dem eines Staatsbediensteten gleichkam. Manche von ihnen konnten ihre Kinder auf Gymnasien schicken. Diese Arbeiterelite, die in England Arbeiteraristokratie genannt wurde, bestand aus gebildeten, politisierten Menschen, die Karriere gemacht hatten. Dabei waren sie oft oppositionell eingestellt. Die Arbeiterklasse war also vielfältig und umfasste verschiedene Generationen.
Für jugendliche Arbeiter war es ein Fest für die Seele, mit einem Eisstück nach einem Polizisten zu werfen
Lurje hat aber absolut recht: Für jugendliche Arbeiter war es ein Fest für die Seele, mit einem Eisstück nach einem Polizisten oder mit einer Schraubenmutter nach dem Meister zu werfen.
Die amerikanische Forscherin Joan Neuberger hat ein Buch mit dem Titel Hooliganism geschrieben: Dieses englische Fremdwort ist Anfang des 20. Jahrhunderts in den russischen Sprachgebrauch eingegangen; seine Bedeutung war damals allerdings eine andere als heute.
Hooliganismus ist kulturell ritualisierte Gewalt. Das heißt, junge Leute aus Arbeitervierteln, die sich in ihrer Nachbarschaft durchaus anständig verhalten, die sich gut anziehen und eventuell gut verdienen, begeben sich auf das Territorium des Klassenfeindes, ins Stadtzentrum oder in einen Datschenvorort, um Vertreter einer anderen sozialen Gruppe zu provozieren.
Lassen sich die steigende Kriminalität und die spontanen Gewaltausbrüche als eine Art Probe für die Ereignisse Ende Februar deuten?
Proben für die Februarrevolution gab es im ganzen Land und viele. Eine Probe, die häufig vergessen wird, gab es auch in St. Petersburg: ein großer Streik im Sommer 1914. Dabei wurden Telegrafenmaste abgesägt, Barrikaden in Arbeitervierteln errichtet, Bahnwaggons umgekippt und unter Revolutionsgesängen Gebäude gestürmt.
Der Unterschied zur Revolution bestand darin, dass die Arbeiter zu jenem Zeitpunkt vom Großteil der Bevölkerung isoliert waren, von der Bildungsschicht, der Mittelschicht, den Liberalen. Liberale Zeitungen äußerten Entrüstung, nach dem Motto: Was für ein unerhörter unzivilisierter Vandalismus, wo wir doch Steuern zahlen, es sind unsere Telefonleitungen und unsere Straßenbahnen!
Während der Februarrevolution haben die Arbeiter dann haargenau dasselbe gemacht. Vielleicht haben sie keine Barrikaden errichtet, dafür aber Straßenbahnen blockiert, hier und da Waggons umgekippt, es gab ziemlich viel Vandalismus.
Ein wichtiges Moment der Februarrevolution waren Pogrome: Lebensmittelläden oder Bäckereien wurden verwüstet. Wissen Sie, die Kruste des französischen Brötchens krachte ziemlich laut. Es kam zu Überfällen auf Juwelierläden, manchmal wurden aber auch nur Schaufenster eingeschlagen.
Auch den Machthabern war ein ebensolches Maß an Gewalt nicht fremd.
Natürlich, und das ist sehr entscheidend. Gewalt galt auch auf der anderen Seite als probates Mittel. Man darf nicht vergessen, dass die Machtorgane bei jeglichen Konflikten in der Regel sehr hart durchgriffen.
Charakteristisch für Russland war, dass es ein Polizeistaat mit einem Mangel an Polizisten war. Sogar in St. Petersburg, wo es eigentlich ein hohes Polizeiaufkommen gab, kam man bei Unruhen nicht ohne die Armee aus. In erster Linie wurden Kosakentrupps eingesetzt, wobei uns bekannt ist, dass auch die Infanterie hinzugezogen wurde. Das heißt, die Armee wurde zu Polizeizwecken eingesetzt. Aber in der Armee lernt man andere Dinge: mit einem Bajonett zu stechen, mit einem Gewehrkolben zu schlagen und – im Extremfall – zu schießen.
Unterm Strich liefen bereits Jahrzehnte vor der Februarrevolution auf beiden Seiten Vorbereitungen zum erbitterten Kampf. Ich mache mir derzeit viele Gedanken zu Konfliktkultur: Wie haben unterschiedliche Länder die Krisen überwunden. Schließlich war Russland nicht das einzige Land, in dem es während des Ersten Weltkriegs Spannungen gab. Aber in Russland bereiteten schon viele kleine Bürgerkriege, an denen sich viele, viele Menschen beider Seiten beteiligten, die Revolution mit vor.
Gerade wurde im Bolschoi Dramatitscheski Teatr das Stück Der Gouverneurnach der gleichnamigen Erzählung von Leonid Andrejew inszeniert. Darin befiehlt der Gouverneur, Streikende, einschließlich Frauen und Mädchen, zu erschießen. Ab diesem Zeitpunkt wird er von ihnen regelrecht verfolgt. Nach den blutigen Ereignissen wartet die ganze Stadt darauf, dass der Gouverneur erschossen wird: Damit endet das Stück. Es zeigt eindringlich, wie die Gesellschaft Terror bestraft und wie Gewaltspiralen ausgelöst werden.
Eine Kompromisskultur gab es weder auf der einen noch auf der anderen Seite
Natürlich gab es einerseits die aggressive Subkultur der Arbeiterklasse. Und in manchen Teilen Russlands war das Ausmaß der Gewalt noch wesentlich größer als in St. Petersburg. Nehmen Sie zum Beispiel die Beschreibungen der Streiks auf dem Gebiet des heutigen Donbass. Andererseits ist es aber den Machtorganen auch zu keinem Zeitpunkt gelungen, für Verhandlungen, Kompromisse oder Deeskalation zu sorgen. Eine Kompromisskultur gab es weder auf der einen noch auf der anderen Seite.
Sicher, die Bolschewikihaben in der russischen Geschichte eine ungeheuer große Rolle gespielt. Doch gerade die Rahmenbedingungen – eine Bürgerkriegskultur und der Mangel an Kompromissbereitschaft – waren Wind in ihren Segeln.
III. Der zunehmende Konflikt zwischen Regime und Gesellschaft
„Viele Probleme wurden unnötig politisiert.“ Demonstration auf dem Marsfeld, nach der Abdankung des Zaren
Kann man sagen, dass 1917 von vielen als ein Jahr wahrgenommen wurde, in dem es zu umfassenden Veränderungen kommen musste – ohne dass man in dem Moment hätte sagen können, wie die aussehen?
Zum einen sagten viele, dass das Leben so nicht weitergehen könne. Zum anderen kam die Revolution recht unerwartet. Alle hatten eine Krise erwartet, aber nicht zu diesem Zeitpunkt und nicht in dieser Situation. Es kam, wie man so schön sagt, eins zum anderen – ein Konflikt, dann ein zweiter, ein dritter …
Zum Teil lag die Schuld bei der Regierung: Viele Probleme wurden nicht gelöst, indem man sie sachkundig erörterte. Stattdessen wurden sie unnötig politisiert.
Das ist eine wichtige Lehre auch für unsere Zeit.
Viele Probleme wurden nicht gelöst, indem man sie sachkundig erörterte. Stattdessen wurden sie unnötig politisiert. Das ist eine wichtige Lehre auch für unsere Zeit
Beispielsweise wird jetzt über einen Zusammenschluss zweier Bibliotheken geredet, der Petersburger Publitschka und der Moskauer Leninka. Es gibt keinerlei rationale Argumente für eine Vereinigung dieser beiden Giganten; Probleme und Errungenschaften finden sich bei beiden. Enden wird alles damit, dass in St. Petersburg schließlich eine Menge Leute aufheulen werden: „Das ist unsere Stadt – was sollen bloß diese Moskauer Pöbeleien?!“
Im Jahr 1917 gab es noch weit mehr solcher Fälle. Viele wollten ihre privaten Angelegenheiten regeln, die dann ohne Notwendigkeit politisiert und ideologisiert wurden, was dann wiederum die Machthaber ausbaden mussten.
Mich hat das Buch Les Français dans la Grande Guerre des Historikers Jean-Jaques Becker sehr beeindruckt. Wir fragen uns, warum es in Russland zur Revolution gekommen ist und wie das hätte verhindert werden können. Und er fragt, wie wir – wir Franzosen – es hingekriegt haben, während des Ersten Weltkrieges eine Revolution zu vermeiden.
Er beschreibt die Konflikte und du erkennst, wie alles am seidenen Faden hing. Manchmal wollten die Streikenden einfach Ärger machen und die örtlichen Verwaltungen versuchten mit unglaublicher Geduld, diese Konflikte zu lösen: mit Hilfe von Lehrern, mit Hilfe der Kirche, mit Hilfe von Schriftstellern, die sie hatten hinzuziehen können. Das ist eine enorme Leistung, die Tradition des demokratischen Diskurses hat die Lage stabilisiert.
Und was geschah in Russland, als diese Konflikte begannen? Im Gouvernement Tomsk beispielsweise kam es während der Mobilisierung zu Unruhen und Zusammenstößen, halb Barnaul wurde abgefackelt. Und in Moskau kam es zu einem antideutschen Pogrom – auch hier setzten die Truppen Waffengewalt ein. In den Textilfabriken in der Provinz kam es zu Konflikten – und wieder Truppen, wieder Waffen.
Ganz zu schweigen von dem Aufstand 1916 in Turkestan, der durch den idiotischen Befehl ausgelöst wurde, die örtliche Bevölkerung zu Arbeitseinsätzen zu rekrutieren. Schlecht durchdacht, schlecht umgesetzt und entsprechend begleitet von Korruption. Die Behörden haben alles Mögliche getan, damit es zu einem Konflikt kam.
Lässt sich das Erbe der Leibeigenschaft als Grund für das Unverständnis und die Spaltung ausmachen, als Grund vieler damaliger Konflikte?Es gab sehr viele Bauern in der Stadt; zwischen ihnen, den Offizieren und den Soldaten herrschte ein grundlegendes Unverständnis.
Die Leibeigenschaft ist sicher wichtig, allerdings gab es in Petersburg viele Arbeiter, die aus Regionen kamen, in denen es nie Leibeigenschaft gegeben hatte, oder eine ganz andere als in Russland. In der Hauptstadt lebten damals viele finnische Arbeiter und Balten …
Aber ich stimme Ihnen insofern zu, als dass es wohl eher eine kulturelle Frage war. Mir scheint: Länder, die eine stürmische Urbanisierung erleben, sind ganz prinzipiell sehr verwundbar.
Die wichtigste Veränderung in der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts war die Umsiedlung Russlands in die Städte. Für die erste, und manchmal auch für die zweite Generation der neuen Städter ist das ein sehr schwieriger Prozess, mitunter schwieriger als eine Emigration. Viele der Zugezogenen zerbrechen psychisch an der Urbanisierung. Die Überlebenstaktik ist eine völlig andere, die Moral, die Religion.
Viele der Zugezogenen zerbrechen psychisch an der Urbanisierung. Die Überlebenstaktik ist eine völlig andere, die Moral, die Religion
Wenn jemand auf dem Land lebt, dann ist die Gemeinde mit dem Dorf und dessen Umgebung kongruent, alle kennen einander mehr oder weniger. Dann kommt er in die anonyme Stadt, in der nicht mal der Bau von Kirchen mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten kann. Zum einen gibt die Stadt viele Möglichkeiten und Freiheiten. Zum anderen bedeutet sie eine große Prüfung und riesigen Stress.
Schauen Sie: Das Spanien, in dem ein Bürgerkrieg ausbricht, die iranische Revolution, der aktuelle arabische Frühling – das alles sind Menschen, die aus traditionellen Gesellschaften in modernisierte Städte gelangen. Die können in verschiedene Richtungen driften.
IV. Über die Effektivität der Bolschewiki und die Schwäche der Regierung
In einem Interview sprachen Sie vom kreativen Gehalt der Revolution; sprich, dass die Kräfte, die um die Macht kämpfen, auch miteinander um die Kreativität der Rhetorik und Propaganda konkurrieren, um die Ideologie und die Kreativität des eigenen Handelns. Kann man sagen, dass die Bolschewiki ihren Konkurrenten hier einiges voraus hatten?
Vor der Revolution war über Jahrzehnte hinweg eine hoch entwickelte Subkultur, ein revolutionärer Untergrund entstanden, insbesondere seit den 1870er Jahren, seit der Bewegung Narodnaja Wolja. Es gab Bestseller des revolutionären Untergrunds, Bücher, mit denen die radikale Jugend erzogen wurde. Es gab Lieder, städtische Mobilisierungsrituale. Diese Kultur hatte ihre Berührungspunkte mit der russischen Hochkultur, ob uns das gefällt oder nicht.
Nach der Februarrevolution herrschte in Russland ein politischer Pluralismus. Ja, die monarchistischen rechten Parteien waren zwar am Drücker, viele Zeitungen waren verboten, aber man konnte im Großen und Ganzen alles sagen, was man wollte – es bestand absolute Freiheit.
Und wenn wir uns die Symbolik anschauen, dann war diese von Anfang an von der revolutionär-politischen Kultur geprägt. Manche Leute bezeichneten diese Revolution als eine bürgerlich-demokratische, doch die dominierende Symbolik war eine sozialistische. Das wiederum schafft einen Rahmen, der vor allem den Radikalen entgegenkommt, in diesem Fall den Bolschewiki und ihren Verbündeten.
Die Politisierung nach dem Februar 1917 geschah mit Liedern und Ritualen. Erst danach lasen die Leute die Parteiprogramme
Die Menschewiki waren in einer sehr schwierigen Lage: Einerseits waren es ihre Lieder und ihre Subkultur. Andererseits war ihnen bewusst, dass sie den politischen Prozess radikalisieren könnten, und davor hatten sie Angst. Ihre Botschaft war folgende: Leute, das sind jetzt nur Symbole; fasst das nicht als direkte Handlungsanleitung auf. Schließlich verstehen die Franzosen die recht blutrünstige Marseillaise ja auch nicht als unmittelbare Anleitung zur Revolution.
Das war damals ein etwas naiver Aufruf. Die Politisierung nach dem Februar 1917 geschah mit Hilfe von Liedern und Ritualen. Erst danach lasen die Leute die Parteiprogramme. Das war dann der Radikalisierungsfaktor.
Warum war der Stabilitätspuffer des gesamten Systems so schwach? Anfang 1917 war die Situation in Petrograd längst nicht katastrophal. Die Аnsprachen der Arbeiter führten zu der Kundgebung auf dem Snamenskaja-Platz, allerdings hatte diese Demonstration größtenteils symbolischen Charakter. Die Autokratie zu stürzen, war anfangs gar nicht das Ziel. Für die meisten politischen Akteure kamen die anschließenden Ereignisse völlig überraschend. Warum lag das Regime des Zaren buchstäblich innerhalb einer Woche am Boden? Warum erhob sich niemand, den Thron zu verteidigen?
Was den Ort angeht, so war traditionell der Platz vor der Kasaner Kathedrale die Bühne für politischen Protest. Der Snamenskaja-Platz allerdings fungierte wie ein gigantisches Sammelbecken. Leute aus gleich mehreren Arbeitervierteln – aus den Stadtteilen Newskaja Sastawa, Moskowskaja Sastawa, Ochta – konnten gar nicht anders, sie mussten an diesem Platz vorbei, wenn sie zum Newski-Prospekt gelangen wollten.
Wir beschreiben die Revolution gewöhnlich durch das Handeln der Hauptakteure. Dabei werden viele Revolutionen von einer Minderheit verwirklicht. An der Oktoberrevolution ist das noch deutlicher zu sehen. Wenn wir uns die revolutionären Ereignisse jener Zeit anschauen, erkennen wir, dass in den Städten kein sonderlich großer Teil der Bevölkerung mobilisiert wurde. Und auch im Februar 1917 ging nur ein bescheidener Teil der Bevölkerung auf die Straße; allerdings war das eine recht aktive und sichtbare Minderheit.
Wir beschreiben die Revolution gewöhnlich durch das Handeln der Hauptakteure. Dabei werden viele Revolutionen von einer Minderheit verwirklicht
Eine Revolution – das ist eine sehr wichtige These für mich – bedeutet, dass gleichzeitig die einen sehr schnell mobilisiert werden, während die anderen – jene, die sich dem revolutionären Prozess entgegenstellen oder ihn wenigstens hemmen könnten – ganz erheblich demobilisiert werden. Mit anderen Worten: Der Grund für die Februarrevolution lag darin, dass ihr nicht massiv entgegengewirkt wurde, selbst von jenen nicht, die das ureigentlich hätten tun müssen. Da waren Generäle, die mit Entscheidungen zögerten, Offiziere, die Befehle nicht weitergaben, Kosaken, die nur so taten, als ob sie Befehle ausführen …
Und dann noch die Gerüchte! Nicht wenige Offiziere der kaiserlichen Armee nahmen ernsthaft an, dass mit der Zarin nicht alles in Ordnung sei. Es wurden Pläne diskutiert, die Herrscherin mit Hilfe von Gardeoffizieren zu verhaften. Vor dem Krieg wäre so etwas kaum denkbar gewesen.
dekoder dankt Robert Kindler für seine Unterstützung bei der Aufbereitung des Interviews.
Backpacking, Kurzurlaub, Studi-Bude zum Semesterstart – ein Hostel ist für die meisten jungen Leute beliebter Anlaufpunkt auf Reisen oder wenn es mal kurzzeitig knapp wird mit Wohnraum. In Russland ist das Hostelleben ebenfalls bei jungen Leuten sehr beliebt. Für manche hat es in einer Millionenmetropole wie Moskau so viele Vorzüge, dass ein Schlafplatz im Achtbettzimmer besser erscheint als eine Wohnung. Manchmal über Monate oder sogar Jahre. Eine Kommunalka unter neuen Vorzeichen? Flucht vor einem Pendler-Leben am Stadtrand? Oder finanziell einfach eine Notwendigkeit?
Das Webmagazin The Village stellt drei junge Männer vor, die aus ihrem Alltag berichten.
Sergej, wohnt seit über zwei Monaten im Hostel Apricot
Ich komme aus Magnitogorsk. Ich bin Akrobatik-Meister und studiere im zweiten Jahr Sport auf Lehramt. Hier in Moskau lebe ich seit über zwei Monaten in einem Achtbettzimmer. Die Leute wechseln ständig – sowohl Männer als auch Frauen schlafen hier. Meist sind wir zu viert oder zu fünft und im Hostel insgesamt über 30. Da ich schon lange in diesem Hostel lebe und alles weiß, bieten sie mir manchmal einen Nebenjob an der Rezeption an.
Ich wohne hier, weil es viel teurer wäre, eine Wohnung oder ein Zimmer zu mieten. Hinzu kommt noch die Kaution, die man beim Einzug zahlen muss. Vor allem sind relativ günstige Wohnungen nur am Stadtrand zu finden. Und ich finde, wenn ich schon in Moskau lebe, dann auf jeden Fall im Zentrum. Wenn ich etwa nach Chimki rausfahre und mich da umsehe, kommt es mir vor, als wäre ich wieder in meiner Heimatstadt in der Provinz gelandet: genau dasselbe eintönige Leben, dieselben Buden mit Obst und Gemüse. Wozu dann überhaupt wegziehen?
Keine Frage, das Leben im Hostel bedeutet, dass ich in Moskau nichts Eigenes habe – außer mein Bett. Das steht dafür mitten in der Hauptstadt. Am Abend spaziere ich zum Roten Platz und zurück – das ist schön. Daher habe ich vor, so lang wie möglich so zu leben. Also eigentlich bis ich heirate und Kinder bekomme. Sollte ich vorher schon ordentlich Geld verdienen, werde ich mir trotzdem keine Wohnung mieten – das wäre Unsinn. Dann leg ich das Geld lieber an.
In unserem Hostel bekommen wir gratis Tee, Kaffee und Zucker. Und es gibt ein Schachspiel, ein Damespiel und eine Xbox. Am Abend schlage ich den anderen Bewohnern oft vor, einen Film zu gucken – dann sitzen wir alle auf dem Sofa im Aufenthaltsraum.
Manchmal kochen wir gemeinsam und essen zusammen zu Abend.
Wenn du lange in einem Hostel wohnst, ist das untere Bett praktischer – also wenn es, wie bei uns, Stockbetten gibt. Ich stehe morgens auf, ziehe meinen Koffer unterm Bett hervor, ziehe mich an und gehe. Ja, hier gibt es keine Schränke, wie übrigens in den meisten Hostels. Aber ich komme auch ohne Schrank gut aus – meine Sachen liegen immer ordentlich im Koffer, ich muss nichts suchen.
Klar, manchmal würde ich echt gern allein sein. Im Hostel ist das schwierig – überall sind Leute. Deswegen frage ich manchmal an der Rezeption, ob ich für ein Stündchen in ein freies Zimmer kann, einfach nur, um da ein bisschen rumzusitzen.
Ich kriege auch Besuch. Wir kochen gemeinsam, trinken Tee in der Küche, sehen im Aufenthaltsraum fern. Bis 23 Uhr ist das erlaubt.
Es gibt alles Mögliche. Aber am schwierigsten sind nicht Kinder, sondern Leute, die im Hostel absteigen und sich aufführen, als wären sie im Metropol
Außerdem habe ich angefangen, auf eigene Faust Englisch zu lernen. Daher freue ich mich, dass oft Ausländer bei uns im Hostel sind: So kann ich üben. Würde ich eine Wohnung mieten, hätte ich diese Möglichkeit nicht.
An manche Eigenarten von Mitbewohnern gewöhnt man sich schwer. Bei uns wohnt zum Beispiel eine Vertreterin, die in einem Schneeballsystem arbeitet. Und sie will jeden Gesprächspartner da mit reinziehen. Anfangs schaffte ich es aus Höflichkeit nicht, ihr zu sagen, dass mich das alles nicht interessiert, und ich musste ihr immer wieder stundenlang zuhören.
Dann hatten wir noch einen Gast, der immer gern trank. Er kam besoffen ins Hostel, setzte sich aufs Fensterbrett, rauchte, drehte Musik auf und sang dazu. Vor Kurzem wurde er rausgeschmissen.
Und letztens lebte hier eine Familie aus Jakutien. Zum Frühstück, zu Mittag und zu Abend aßen sie Fleisch. Sie waren mit einem riesigen Koffer angereist, in dem hauptsächlich Fleisch war – damit stopften sie den ganzen Kühlschrank voll. Jeder Morgen begann mit dem Kochen von Fleisch, noch dazu war das irgendein Wild, Hirsch oder so. Der Geruch hing in der ganzen Küche.
Sie hatten auch kleine Kinder, die auf den Sofas herumhüpften, rumschrien, Zeichentrickfilme einschalteten, wenn ich Olympia sehen wollte, und einen beim Schlafen störten. Aber auch die sind ja nun wieder weg.
Es gibt alles Mögliche. Aber am schwierigsten sind nicht Kinder, sondern Leute, die im Hostel absteigen und sich aufführen, als wären sie im Metropol abgestiegen– die rümpfen wegen allem die Nase, mäkeln an allem herum.
Nikolaj, wohnt seit anderthalb Jahren im Hostel Napoleon
Vor eineinhalb Jahren bin ich aus Rostow am Don nach Moskau gekommen. Der Ableger der Universität, an der ich in Rostow studierte, wurde geschlossen, und so musste ich nach Moskau wechseln. Zuerst wollte ich ins Studentenwohnheim ziehen, aber das war einfach gruselig, ewig nicht renoviert. Also suchte ich auf Booking.com, und dieses Hostel war das erste Suchergebnis. Es heißt Napoleon, weil der Legende nach Napoleon in diesem Haus eingekehrt sein soll. Mit der Uni hat das bei mir irgendwie nicht hingehauen, und ich hab dann eine Arbeit am Empfang eines georgischen Restaurants gefunden.
Im Restaurant arbeite ich in Schichten, von 9 Uhr bis Mitternacht. Ich bekomme dann auch den Schlüssel und kann im Lokal übernachten – so läuft das ein paarmal die Woche. An diesen Tagen zahle ich im Hostel nichts, danach komme ich zurück und nehme irgendein freies Bett. Ich habe also keinen dauerhaften Platz, sondern wechsele immer.
Wie alle, die ständig im Hostel wohnen, kann auch ich hier im Waschsalon kostenlos Wäsche waschen und trocknen. Zucker, Salz, Waschpulver und Klopapier sind hier auch gratis. Das klingt jetzt nach Kleinigkeiten, aber glauben Sie mir, das Leben wird viel einfacher, wenn man nicht an diese Dinge denken muss. Dazu kommt noch, dass im Hostel die Zimmer geputzt werden, und ich muss nur mein Geschirr spülen.
Ich wohne in einem gemischten Achtbettzimmer – also mit Männern undFrauen. Abgesehen von den Sommermonaten wohnen hier meistens drei bis vier Personen, hauptsächlich Männer. Weil ich mit dem Personal befreundet bin, darf ich manchmal ein leerstehendes Zimmer allein bewohnen. Außerdem darf ich als Alteingesessener ein paar Tage später bezahlen, obwohl das normalerweise 50 Rubel Strafe pro Tag kostet.
Dieses Hostel gefällt mir wegen seiner Lage – direkt im Stadtzentrum. Ein Katzensprung bis zum Roten Platz, rundherum Clubs und ein Dixi-Supermarkt.
Ein paarmal habe ich schon erlebt, wie sich unter Dauergästen Pärchen gebildet haben. Im Grunde war ihr Alltag nicht viel anders als bei Paaren, die zusammen leben: Sie kommen von der Arbeit, kochen was, sehen im Aufenthaltsraum fern und gehen schlafen. Nur dass das eben alles im Hostel geschieht und nicht zu Hause. Ich hatte auch schon eine Beziehung mit einem Mädchen aus dem Hostel. Wir kamen zusammen, als ich hier einzog – sie wohnte hier schon mit ihrer Mutter. Wir schliefen zusammen hinter einem Vorhang in einem gemischten Achtbettzimmer. Das ist erlaubt, wenn du für die zweite Person die Hälfte zahlst. Später habe ich dann erfahren, dass sie zusammen mit ihrer Mutter in Bars junge Männer abzockt. Naja, wir waren nicht lange zusammen.
Zuerst wollte ich ins Studentenwohnheim ziehen, aber das war einfach gruselig, ewig nicht renoviert. Also suchte ich auf Booking.com
Unser Hostel ist beliebt, weil hier eine Atmosphäre ist wie zu Hause – man kann sich mit anderen unterhalten, was trinken, gemeinsam rumhängen. Lärm machen wir dabei aber nicht viel – wir setzen uns in die Küche, trinken was und gehen dann aus. Wir lieben Kommunikation und Gemeinschaft: gemeinsam Filme gucken, Pokern oder Videospiele. Voriges Jahr waren viele Franzosen da, wir becherten ordentlich, hatten es lustig, sahen uns Filme an. In anderen Hostels ist alles viel strenger.
Ich hatte schon mal den Gedanken, in eine Wohnung zu ziehen, aber dann dachte ich: „Was werde ich da tun, allein in meinen vier Wänden?“ Wenn ich ins Hostel komme, schaue ich fern, quatsche ein bisschen mit den Leuten in der Küche, spiele mit irgendwem Videospiele. Also wird es nie langweilig. Es gibt Leute, die das Alleinsein unbedingt brauchen, Privatsphäre. Aber ich bin zufrieden so – ich verhänge mein Bett mit Tüchern, und was rundherum passiert, ist mir egal. Es gab eine Zeit, da wollte ich ausziehen – Frauen mit herzubringen ist schwierig. Die Betreiber des Hostels haben zwar nichts dagegen, aber bei den Frauen kommt das nicht gut an, die wollen das nicht.
Vor einem halben Jahr hatte ich was mit einer Moskauerin am Laufen, die hat vielleicht fünf Mal bei mir im Achtbettzimmer übernachtet. Sie war nicht begeistert davon, dass hier alles gemeinschaftlich ist, sie mochte die Leute nicht. Auch wenn uns das nicht daran hinderte, das Bett mit einem Laken zu verhängen und Sex zu haben, mit allen Geräuschen. Und das, obwohl in dieser Nacht junge Sportler mit uns in einem Zimmer schliefen, Jungs und Mädchen von 13, 14 Jahren, die in Moskau ein Trainingslager hatten.
Ein Doppelzimmer habe ich im Hostel nie gemietet. Wozu auch? Ich kann auch im Achtbettzimmer ungestört tun, was ich will.
Manchmal geniere ich mich zu sagen, dass ich im Hostel lebe. Es kommt vor, dass ich Moskauerinnen kennenlerne, die anbeißen, weil ich attraktiv bin, aber wenn sie erfahren, dass ich im Hostel wohne, verduften sie schnell. Irgendwie hab ich es gut hier, aber manchmal belastet es mich, nichts Eigenes zu haben.
Wladimir, wohnt seit über einem Monat in einem Schlafsaal mit 20 Betten in einem namenlosen Hostel
Ich komme aus Asow. Von Beruf bin ich spezialisiert auf Videoüberwachung in Casinos. Ich habe einen Job im Nahen Ausland angeboten bekommen, aber als ich in die Hauptstadt kam, wurde das Angebot erstmal auf unbestimmte Zeit verschoben. Also beschloss ich, in Moskau zu bleiben, weil man mit dem Flugzeug von hier immer leicht wegkommt, hier ist meine Schnittstelle. Ich weiß nicht, wann ich das nächste Mal zu einem Projekt bestellt werde, deswegen habe ich mir keine Wohnung gesucht, sondern bin ins Hostel gegangen. Da wohne ich nun schon seit über einem Monat und arbeite erstmal auf dem Bau.
Für mich ist das Hostel eher kein Wohnheim, sondern eine Pension. Ich habe schon in verschiedenen Hostels gewohnt, und überall gibt es andere Regeln und Zustände. Zum Beispiel werden in manchen prinzipiell keine Staatsbürger aus dem Nahen Ausland genommen. In meinem vorigen Hostel stand ein klitzekleiner Fernseher, unmöglich, damit fernzusehen. Aber ich bin ein Sowjetbürger, ich bin mit Fernseher aufgewachsen, für mich ist es wichtig, am Abend kurz reinzugucken. Ja, das ist diese gute, alte Schizophrenie – durch die Kanäle zappen. Als ich also in dieses Hostel hier kam und auf einmal abends normal fernsehen konnte, das war mir schon sehr viel wert.
Die Namen sind nicht wichtig. Die Hauptsache ist, dass man sich mit so vielen Leuten ausquatschen kann, dass es die Illusion gibt, dir hört jemand zu
Hier bei uns wohnen viele, die in Moskau studieren, aber keinen Platz im Studentenheim bekommen haben, sowas in der Art. Oder junge Moskauer, die nicht mehr bei den Eltern wohnen wollen.
Am besten finde ich, dass am Abend immer jemand in der Küche ist, mit dem man reden kann. Man kann sich hinsetzen und über Politik, Religion, Sport oder das Leben austauschen. In der Küche darf über Gott und die Welt gestritten werden. Dort wird entschieden: Bist du ganz vorne dabei oder bist du Außenseiter? Und es wird gecheckt, bei wem es sich lohnt, zuzuhören. Man diskutiert, beharrt auf seiner Meinung, trennt sich fast als Feind – und am nächsten Morgen wacht man auf und und raucht zusammen eine, weil man sich ja gestern in der Küche ausgesprochen hat. Der Streit ist vergessen, das war ja gestern.
Wir hier im Hostel vergessen oft die Namen voneinander – es sind zu viele, die einen reisen ab, neue ziehen ein. Es kommt vor, dass ich dieselben Mitbewohner vier Mal im Monat kennenlerne. Aber die Namen sind nicht wichtig. Die Hauptsache ist, dass man sich durch das Zusammenleben mit so vielen Leuten ausquatschen kann, dass es die Illusion gibt, dir hört jemand zu, dass deine Gedanken und Gefühle irgendwen interessieren. Mir ist das wichtig.
Ich kann gar nicht sagen, wie viel Leute mit mir im Zimmer sind. Alle Betten sind mit Tüchern verhängt, und ich treffe die anderen nicht oft. Mädchen nehme ich nie mit hierher. Das Hostel eignet sich nicht dafür, Sex zu haben, und der einzige Ausweg wäre, sich in die Dusche zu verdrücken. Aber da muss man es schon sehr nötig haben, ein normaler Mensch wird kaum auf die Idee kommen, jemanden für Sex ins Hostel mitzubringen.
Im Grunde ist Moskau eine gute Stadt, mit dem Hostel-Leben bin ich total zufrieden. Solang ich nicht woanders eine Arbeit angeboten bekomme, bleibe ich hier.