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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Blindlings strategisch

    Blindlings strategisch

    Dank des Staatsfernsehens ist heute jeder in Russland auf dem Laufenden darüber, wieviele Raketen während der letzten 24 Stunden in Syrien abgefeuert worden sind. Geopolitik ist zum Partygespräch geworden, schafft nationale Identität und hebt das Selbstwertgefühl. Jedenfalls kurzfristig, sagt Juri Saprykin in seinem Kommentar. Denn die globale Machtverteilung wird längst nicht mehr von den Schachzügen der Militärs bestimmt: Wer sich in strategische Planspiele verrennt, stellt sich schnell selbst ins Abseits.

    In Zeiten wie diesen sind wir alle ein bisschen Geopolitiker. Noch vor einem Monat sah es so aus, als ob unsere Kenntnisse über Syrien sich auf dem Niveau der sprichwörtlichen Blondine bewegen, die fragt, wie man denn richtig schreibt: Iran oder Irak. Jetzt hingegen kann man jeden Schüler nachts um drei aus dem Bett holen, und wenn er vor dem Schlafengehen die Nachrichtensendung Wremja gesehen hat, wird er munter drauflosreden: über Hama und Homs, die Militärbasen in Latakia und Tartus, was die Saudis damit zu tun haben und was der Iran darüber denkt, und vor allem – welche Bedeutung das alles im Kontext des Großen Kriegs der Kontinente hat. Natürlich sind die Militärschläge auf die Stellungen des IS aus Sicht dieser schülerhaften Geopolitik nicht etwa deshalb wichtig, weil sie den Stellungen des IS schaden, sondern vielmehr, weil wir es denen gezeigt haben, weil man uns deshalb wieder beachtet, weil jetzt ohne uns nichts mehr geht. Und die Beachtung steigt nach dieser Logik mit der Anzahl der Bombardements: So hat etwa der Schriftsteller German Sadulajew bereits verkündet, dass der Nobelpreis für Swetlana Alexijewitsch den Schiffen der Kaspischen Flottille zu verdanken sei – „nur 26 Marschflugkörper – und schon interessierte sich die ganze Welt wieder dafür, was sich in der Welt der russischen Sprache und der russischen Literatur tut.“ (Ich sehe direkt vor mir, wie die Mitglieder der Schwedischen Akademie in einer außerordentlichen Sitzung panikartig slawische Namen in die Kandidatenliste eintragen und dabei aus den Augenwinkeln die Nachrichten im CNN verfolgen).

    Die schon rein rechnerischen Unstimmigkeiten dieser Interpretation (wie etwa der Umstand, dass die Kräfte der Anti-IS-Koalition im Laufe des letzten Jahres hundertmal mehr Angriffe gegen den IS unternommen hat als dies Russland bisher gelungen ist) brauchen unseren Geopolitiker nicht weiter zu kümmern – schließlich gilt: Wer im Besitz der Wahrheit ist, ist auch der Stärkere. Und er muss sich auch nicht daran erinnern, dass wir noch vor ein paar Monaten die gleichen geopolitischen Ziele (dass man uns beachten, mit uns rechnen, sich mit uns verständigen soll) in den Regionen Donezk und Lugansk verfolgt haben: Geopolitiker, auch wenn sie in die Tiefe der Jahrhunderte blicken, haben heute ein kurzes Gedächtnis. Aber stellen wir uns einmal auf den von unseren Protagonisten schmerzvoll erkämpften weltanschaulichen Standpunkt, zumal dieser ja richtig ist: Russland ist in der Tat ein zu großer und bedeutender Faktor auf der Weltkarte, als dass Fragen der globalen Weltordnung ohne seine Beteiligung entschieden werden könnten. Bringen Bombensalven auf Hama und Homs das Land diesem Status näher?

    Wer die Mitte der 80er Jahre bewusst miterlebt hat, wird es bezeugen: Gegen Ende der Sowjetzeit wurden ähnliche Ziele verfolgt (allerdings von einer ungleich eindrucksvolleren Ausgangsposition aus) – dass man uns respektieren, uns nicht bedrohen, unsere vitalen Interessen nicht verletzen, sich mit uns verständigen soll. Und in den Jahren vor der Perestroika war sehr klar, wie man diese Ziele erreichen kann: Wenn die Amerikaner anfangen, in einer für uns wichtigen Region Unruhe zu stiften, werden Waffen, im Notfall auch Truppen, dorthin geschickt; wenn Europa auf unerfreuliche Ideen verfällt, werden die Atomraketen an die äußersten Grenzen verlegt; wenn plötzlich Waffen in den Weltraum geschafft werden sollen, muss eine asymmetrische, aber gleich starke Reaktion im interstellaren Raum gefunden werden. In letzter Zeit herrscht die Ansicht vor, dass der Fall des Ölpreises der Wirtschaftskraft der UdSSR den entscheidenden Schlag versetzt hat. Dabei ist ein anderer Faktor in Vergessenheit geraten, der in dieser Zeit eine Rolle spielte: das Wettrüsten, dem die zunehmend schwächere Sowjetunion weder finanziell noch technologisch standhalten konnte. Die Erinnerung daran ist peinlich, weil das Programm „Star Wars“ ein grandioser Bluff war – die Reagan-Regierung zwang die Sowjetunion zum Wettbewerb auf einem Feld, auf dem sie gar nicht erst vorhatte, selbst anzutreten. Man hat auch deshalb keine große Lust, die Vergangenheit wieder hervorzukramen, weil unsere bereits eingetretene Zukunft zeigt: Im Wettbewerb zwischen den beiden Systemen waren letztlich nicht mehr die Pläne entscheidend, die im Generalstab oder im Pentagon entworfen wurden, sondern die Mikrochips, die bärtige junge Männer im Silicon Valley zusammenlöten. Der Gedanke, dass ausgerechnet diese leicht verpeilte Division die maßgebliche geopolitische Vormacht sichern würde, lag jenseits der Vorstellungskraft der Patriarchen im Kreml.

    Auch Sofa-Geopolitik hat ihre Zyklen, die so unerbittlich sind wie der Wechsel der Jahreszeiten: Der Begeisterungsrausch über die Stärke, die das Land plötzlich zeigt, die Überzeugung, dass Marschflugkörper absolut alle Probleme lösen, die in den sozialen Netzwerken geteilten Agitationsberichte darüber, wie Tausende von IS-Kämpfern schon beim Anblick eines russischen Flugzeugs entsetzt auseinanderrennen – all dies ist nur das erste Stadium. Am Ende wird zwangsläufig das Gefühl stehen, dass wir global übertölpelt worden sind, dass man uns in eine Sackgasse gelockt hat, aus der es keinen Ausweg gibt und uns veranlasst hat, Zeit und Geld zum Fenster hinauszuwerfen. Und das wäre im Prinzip noch in Ordnung und man könnte es ruhig abwarten, wenn der Preis für diesen Weg sich nicht, wie immer in der Geschichte, in Hunderten von Leben nichtsahnender Menschen bemessen würde.

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  • Der russische Frühling

    Der russische Frühling

    Ein Blick zurück auf die Protestbewegung, die nach den zweifelhaften Duma-Wahlen Ende 2011 die großen Städte erfasste: Hunderttausende von Menschen gingen mit der Forderung nach ehrlichen Wahlen und echter Demokratie auf die Straße. In seiner umfassenden Analyse untersucht Andrej Kolesnikow die Beweggründe für die Proteste, ordnet sie in den zeitgeschichtlichen Zusammenhang ein und stellt die Frage: Wie kann es weitergehen?

    Vor drei Jahren [2011 – dek] begann in Russland eine Protestbewegung neuen Typs. Sie wird inzwischen allgemein die Bolotnaja-Bewegung genannt, benannt nach dem Bolotnaja-Platz in der Moskauer Innenstadt, auf dem die ersten großen Proteste stattfanden. Dieser Platz befindet sich – welch Ironie der Geschichte – direkt gegenüber vom Haus an der Uferstraße, auch bekannt als Geisterhaus der Stalinära.

    Als die friedlichen Proteste Fahrt aufnahmen, als die Staatsführung zunächst nicht wusste, ob und wie sie reagieren sollte, als es für einen Augenblick so schien, dass die Ethik der Freiheit einen Klebstoff bilden könnte, der das Volk wieder vereint, wurde auf den Versammlungen der Oppositionsführer und der Intelligenzija nur um eine Frage gestritten: Wie lange wird das Putin-Regime noch durchhalten? Es ist vielen noch im Gedächtnis, wie auf einer dieser Sitzungen die Literaturwissenschaftlerin Marietta Tschudakowa dem Ancien Régime noch zwei Jahre gab … Inzwischen sind drei Jahre vergangen, das ehemalige politische Schlachtfeld bietet einen trostlosen und hoffnungslosen Anblick, wie in den Jahren der Stagnation, als die Zeit „alt und lahm wurde“, der Protest sich fragmentierte und in die Privatwohnungen und Küchen zurückzog. Und das Regime scheint, wie schon damals vor 30 oder 40 Jahren, für die Ewigkeit gemacht.

    Nachholende Revolution

    Heute denkt man nur noch selten daran, aber einer der wichtigsten Gründe für die damaligen politischen Turbulenzen war der Verzicht Medwedews auf eine zweite Präsidentschaftskandidatur. Mit anderen Worten: Die Machtrochade vom September 2011, als verkündet wurde, dass Putin ins Präsidentenamt zurückkehren und Medwedew als eine Art Entschädigung für seine Zeit als Sesselwärmer den Posten des Premierministers erhalten würde. Dies bedeutete zugleich das Aus jeglicher Hoffnung auf Modernisierung.

    Die Rochade nährte damals Kritik und gab den Menschen Anlass zur Empörung. Den eigentlichen Sturm der Entrüstung aber entfesselten die offensichtlichen, dreisten und zynischen Wahlfälschungen bei den Parlamentswahlen am 4. Dezember 2011. Am nächsten Tag wurden während einer Demonstration in Moskau über 300 Personen festgenommen. Am 10. Dezember versammelten sich auf dem Bolotnaja-Platz schon über 150.000 Menschen zu Protesten. Bei diesen Demonstrationen kann man mit Fug und Recht von einem ethisch motivierten Protest sprechen – genau deshalb kamen auf dem Bolotnaja Platz auch Menschen zusammen, die sich vorher nie besonderes für Politik interessiert hatten und die bis dahin mit Putin grundsätzlich sogar zufrieden waren.

    Diese ethische Basismotivation ist Jahrzehnte zuvor von der berühmten sowjetischen Dissidentin Larissa Bogoras beschrieben worden, im Zusammenhang mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei. Sie erklärte damals vor Gericht in ihrem Schlussplädoyer als Angeklagte: „Ich stand vor der Wahl zu protestieren oder zu schweigen. Hätte ich geschwiegen, hätte ich dadurch Vorgängen zugestimmt, denen ich unmöglich zustimmen konnte. Schweigen wäre für mich gleichbedeutend gewesen mit Lügen.“

    Doch neben der ethischen gab es auch – bewusst oder spontan – eine politische Motivation. Der Staat, der einer sozialen und politischen Modernisierung bedurfte, verkündete de facto offen, dass es keine Veränderungen von oben geben würde – der ruhmlose Abgang Medwedews und die gefälschten Wahlen dienten hierfür als Beweis. Die Gesellschaft, oder wenigstens ein wirksamer Teil von ihr, war in seiner Entwicklung dem Staat voraus. Und zeigte daher seinen Anspruch auf Veränderung.

    Der Staat seinerseits war nicht bereit, diese Ansprüche zu befriedigen, denn er verstand nicht, dass Revolutionen nicht auf Straßen und Plätzen stattfinden, sondern in den Köpfen der Menschen.

    Die Proteste der Jahre 2011 und 2012 waren ein (weil das Land nicht modernisiert, sondern immer mehr archaisiert wird, nicht wiederholbarer) Versuch, Demokratisierungs- und Liberalisierungsprozesse von Politik und Wirtschaft zu vollenden, die während Gorbatschows Perestroika und Gaidars Reformen nicht zu Ende geführt worden waren. Der Philosoph Jürgen Habermas nennt solche Versuche, versäumte Entwicklungsschritte mit Verspätung, dann aber schlagartig zu vollziehen, „nachholende Revolutionen“. Die Farben- und Frühlingsrevolutionen der letzten Jahre fallen allesamt unter diesen Begriff, seien es nun die arabischen oder die russischen.

    Präsident nicht aller Russen

    Die Proteste auf dem Bolotnaja-Platz und die auf sie folgende reaktionäre Kehrtwende der Staatsführung nach den Präsidentschaftswahlen (der sogenannte Antifrühling 2012) haben das Modell des Präsidenten aller Russen endgültig begraben. Putin entschied sich, fortan nur noch die Interessen eines bestimmten Teils der Gesellschaft zu vertreten, aber nicht die aller Russen: Von der sich an demokratischen und markwirtschaftlichen Werten orientierenden Klasse fühlte er sich verraten. Und konnte ihnen die Proteste von 2011-2012 nicht verzeihen. Daher auch seine Besessenheit vom positiven Staatshaushalt: Erst der Überschuss im Budget erlaubt es ihm, sich die nötige Loyalität von Schlüsselfiguren des mittleren Machtgefüges zu erkaufen – und der ihm persönlich nahestehenden sozialen Schichten.

    Diese Schichten, die zahlenmäßig starke Klasse unterhalb der Mittelschicht, sind die Stütze des derzeitigen Systems. Mit ihren Vertretern hat Putin so etwas wie einen separaten Gesellschaftsvertrag geschlossen: Er bewahrt sie vor dem Abgleiten in tatsächliche Armut und verschont sie auch weitgehend in Hinblick auf Anforderungen an ihre ökonomische Leistungsfähigkeit. Als Gegenleistung legen sie gegenüber ihren äußeren Lebensumständen Gleichgültigkeit an den Tag und wählen ihn. (Nach Schätzungen der Wirtschaftsexpertin Tatjana Malewa macht die Klasse unterhalb der Mittelschicht 70 % der Bevölkerung aus, wobei 40 % von ihnen von Armut bedroht sind).

    Einen ähnlichen Fall beschrieb Karl Marx in seinem Achtzehnten Brumaire: „Bonaparte möchte als der patriarchalische Wohltäter aller Klassen erscheinen. Aber er kann keiner geben, ohne der andern zu nehmen.“

    Daraus ergibt sich das Modell einer künstlichen Spaltung der Gesellschaft in Nicht-Richtige und Richtige: Bolotnaja gegen Poklonnaja, die Fünfte Kolonne gegen die ehrlich arbeitende Bevölkerung, Nerze gegen Güterwaggons aus der Uralwagonsawod, das weiße Band gegen die St.-Georgs-Bänder

    Der Kreml fährt derzeit einen sehr harten Kurs gegenüber demjenigen Teil der Bevölkerung, der auf Veränderungen aus ist. Jegliche nicht staatlich abgesegnete Protesttätigkeit wird unterdrückt. Mit „seinem“ Teil der Bevölkerung spricht der Staat mit Hilfe des Budgets, das dank der Entwertung des Rubels erfolgreich weiter gefüllt wird. Und wenn der Staat Proteste befürchtet, dann von dem Teil der Bevölkerung, den er selbst als „seinen“ ansieht.

    Es gibt noch ein wichtiges Detail des Protestwinters 2011–2012 und dieses betrifft die Nationalisten. Ihr Traum, auf der Welle des gesellschaftlichen Protests in Richtung Macht zu reiten, ist nicht in Erfüllung gegangen. Allerdings haben sie es geschafft, der Reputation der Oppositionsbewegung und ihrem Koordinationsrat einigen Schaden zuzufügen. (Bei Alexander Werchowski, Forscher über russischen Nationalismus, heißt es: „Erstens waren die fremdenfeindlichen Losungen ziemlich wirkungslos und unpopulär innerhalb der Protestbewegung. Zweitens hielt die erdrückende Mehrheit der radikalen Nationalisten es nicht für möglich, mit Liberalen und Linken an gemeinsamen Protestmärschen teilzunehmen.“ Zitiert nach: Ethnopolitik föderaler Macht und Aktivierung des russischen Nationalismus, Pro et Contra, 18, S. 24). Neutralisiert wurden sie aber letztlich von den Regierenden selbst, die Patriotismus und Nationalismus in einen staatstragenden Mainstream verwandelt haben und so ein eindrückliches Zeichen setzten, wer denn hier der eigentliche Nationalist ist.

    All dies hat auch dazu beigetragen, dass die russische Bolotnaja-Bewegung sich insgesamt weniger radikalisiert hat als der ukrainische Maidan. 

    Evolution des Protests

    Die Bereitschaft der Bürger, aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen an Protesten teilzunehmen, hat inzwischen nahezu ein historisches Minimum erreicht. Die persönliche Bereitschaft an politischen Protesten teilzunehmen betrug im Oktober 2014 ganze 8 %, an wirtschaftlichen 12 %.

    Einerseits ist das nachvollziehbar: Eine Protestwelle kann nicht beliebig lange auf demselben hohen Niveau bleiben, und auch die harten Maßnahmen der Staatsmacht wirken ohne Zweifel einschüchternd. Nicht jeder geht gern freiwillig ins Gefängnis. Auch der Post-Krim-Triumph des Patriotismus hat die Protestbereitschaft merklich gedämpft. Außerdem zeigte sich, dass die „Furcht vor der Freiheit“, von der Erich Fromm in seinem gleichnamigen Werk von 1941 schreibt, im Vergleich zum Bürgerprotest viel mehr das Zeug zum Massenphänomen hat. Bei Fromm heißt es: „Indem man zum Bestandteil einer Macht wird, die man als unerschütterlich stark, ewig und bezaubernd empfindet, hat man auch Teil an ihrer Stärke und Herrlichkeit. Man liefert ihr sein Selbst aus […], verliert seine Integrität als Individuum und verzichtet auf seine Freiheit. Aber man gewinnt dafür eine neue Sicherheit und einen neuen Stolz durch Teilhabe an der Macht, in der man aufgeht.“

    Über die letzten Monate hat sich der Staat so sehr der Abwendung einer möglichen Farbrevolution gewidmet, dass er dabei andere, neu entstehende Protestformen vollkommen übersehen hat – beispielsweise die Proteste der Ärzte in Moskau, die sich letztlich als überaus radikal erweisen könnten. Ein anderes Protestpotenzial entsteht ausgerechnet in denjenigen sozialen Schichten, die der Kreml eigentlich als sich selbst nahestehend begreift und auf deren Loyalität er bisher stets setzen konnte. Ihr Widerstand würde sich dann eher aus sozialer denn aus ethischer Unzufriedenheit speisen, aber auch er könnte sich schließlich politisieren. Denn allmählich gewinnt die Bevölkerung ein Bewusstsein dafür, dass eine Verbindung besteht zwischen der staatlichen Politik einerseits (Angliederung der Krim, Gegensanktionen, Steuerpressing) und den sozialen Problemen (sinkender Lebensstandard, Inflation) auf der anderen Seite.

    Bolotnaja vs. Maidan

    Gründe dafür, dass die Protestbewegung in Russland nicht zu einem Machtwechsel geführt hat, gibt es mehrere. Zum ersten besitzt die Ukraine kein Öl. Damit fehlt ein wichtiger außenwirtschaftlicher Posten im Budget, und dem Staat bleibt weniger Spielraum, sich die Loyalität der Bevölkerung mit Hilfe von punktuellen Sozialleistungen zu erkaufen. Zweitens ist Russland im Gegensatz zur Ukraine nicht zweigeteilt, sondern besteht aus mehreren Russländern mit ihren jeweiligen Eigenheiten. Laut der Wirtschaftsgeographin Natalja Subarewitsch gibt es Russland ganze vier Mal: Sie unterscheidet das Land der Großstädte, das Land der mittleren Industriestädte, das Land der Dörfer und Kleinstädte sowie die Region Nordkaukaukasus und Südsibirien. Bereits von daher ist es für die russische Protestbewegung schwieriger, sich zu konsolidieren.

    Der dritte Grund besteht darin, dass – im Unterschied zum ukrainischen Maidan – die aggressivsten Bevölkerungsschichten sich den Bolotnaja-Protesten gar nicht angeschlossen haben. Das hat den Staat allerdings nicht davon abgehalten, Schauprozesse gegen vermeintliche Extremisten zu inszenieren, um das Bild von den „unverfrorenen Oppositionellen“ im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. (In insgesamt drei Gerichtsverfahren sind zwölf Personen zu Haftstrafen von 4,6 (Udalzow) bis 2,3 Jahren (Beloussow) verurteilt worden.)

    Zu guter Letzt hat die russische Staatspropagandamaschine alles darangesetzt, den ukrainischen Maidan als ein „faschistisches Lager“ darzustellen, welches er in Wirklichkeit nie war, obwohl dort genug Radikale teilnahmen. Die vom Staatsfernsehen verbreiteten Bilder und noch mehr die Kommentare zu ihnen haben viele in unserem Land dazu bewegt, auf Abstand zu der Protestbewegung zu gehen. Und die Parole „Krim nasch!“ hat auch ihren Teil zur Unterstützung der Machthaber beigetragen.

    Eine Revolution in Russland ist ein langwieriger Prozess, und dieser Prozess ist noch nicht zu Ende. Unser politisches Regime ist von Bonapartismus geprägt – einer „labilen Beständigkeit innerhalb einer langfristigen Instabilität“, wie die Historiker W. Mau und I. Starodubrowskaja es ausdrücken (Große Revolutionen: von Cromwell bis Putin, Moskau, 2010, S. 519–520). Der Dreifuß aus Präsident, Kirche, Armee wird vom Superkleber Krim zusammengehalten. Doch einen zweiter Kleber mit gleicher Bindekraft gibt es nicht. Dabei hat die Politik der Staatsführung uns jetzt schon in die Stagflation gelenkt und führt uns voller Zuversicht weiter in die Rezession. So werden die Bolotnaja-Proteste bestimmt nicht die letzte Herausforderung für die Machthaber gewesen sein.

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  • Kontakt der Zivilisationen

    Kontakt der Zivilisationen

    Den für den 1. März 2015 geplanten Anti-Krisen-Marsch nahm der Satiriker, Drehbuchautor und Putin-Kritiker Viktor Schenderowitsch zum Anlass, eine grundlegende Kluft in der jungen Bevölkerung auszuloten: zwischen den Verfechtern oppositioneller Demonstrationen und denen, die den Straßenprotest für unnötig halten. Als sehr erhellend dafür erwies sich eine Unterhaltung auf Facebook.

    Mitja Aleschkowski wurde am Abend der Nawalny-Kundgebung am 30. Dezember 2014 auf dem Manegen-Platz verhaftet, verbrachte die Nacht mit anderen Festgenommenen in einer kalten Zelle des Bullenreviers und berichtete nach seiner Freilassung kurz auf Facebook: „Meine Zellengenossen und ich sind wieder frei. Verhandlung ist am 12. Auf dem Boden geschlafen. Kein Essen, kein Trinken, kein Telefon. Verhaftung ohne jeden Anlass, nicht gebrüllt, keine Sprechchöre, keinen Widerstand geleistet …“

    Schrieb es – und erntete als Kommentar umgehend Unverständnis von Seiten einer freundlichen Elena: „Mitja, warum sind Sie denn dorthin gegangen? Was genau wollten Sie bewirken?“

    Die freundliche Elena, so ist aus ihrem Profil ersichtlich, arbeitet als Produzentin bei der Allrussischen Staatlichen Fernseh- und Radiogesellschaft WGTRK. Sie war früher Korrespondentin des Nachrichten-Fernsehsenders Rossija 24. Ist also eine Art Journalistin. Und weitere Fragen hatte sie nicht: Warum wurde Aleschkowski plötzlich verhaftet, warum sperrte man ihn ein, ohne Essen und Trinken, ohne Erlaubnis, seinen Anwalt anzurufen … Wer verweigerte es ihm? Warum verbrachten die Verhafteten die Nacht auf einem kalten Zellenboden? Tja: Hätte diese Elena ein bisschen auf Facebook herumgeklickt, hätte sie leicht eine Antwort auf all diese leider nicht gestellten Fragen gefunden: Die Bullen erklärten dem bald eintreffenden Anwalt gegenüber arglos, dass sie speziell harte Order von oben hätten … Woher genau „von oben“? Oh, das hätte ein Thema für einen wunderbaren journalistischen Beitrag auf WGTRK sein können.

    Kleiner Scherz.

    Es geht hier nicht um die Pflichten von Journalisten und nicht einmal darum, was aus dem staatlichen Journalismus geworden ist – es geht um einen mentalen Riss. Um ein Verständnisloch, das, so scheint es, durch keinen Dialog mehr zu schließen ist.

    Denn nach allem, was wir wissen, ist Elena kein schlechter Mensch. Nun, zumindest mit Abstand nicht der schlechteste, nicht mal in den Weiten von Mitjas Facebook. Allerdings gelten für sie staatliche Handlungen stillschweigend als Norm, Aleschkowskis Verhalten hingegen erscheint ihr sehr merkwürdig! Sie hat nichts gegen ihn; beschimpft ihn und die anderen, die mit ihm auf den Platz gegangen sind, nicht (das findet man in benachbarten Einträgen des Kommentar-Verlaufs). Elena versucht aufrichtig, ihn und unsere Logik zu verstehen.

    Und kann es nicht!

    Und wir können es nicht erklären (weder ihr noch den Millionen ihrer mentalen Brüder und Schwestern), was uns geritten hat, was uns damals in dieser Hundekälte auf die Manege drängte, nachdem die Richter des Samoskworetschjer Gerichts Oleg Nawalny hinter Gitter geschickt und Alexej Nawalny die soundsovielte Bewährungsstrafe verpasst hatten. Wir bleiben beim Offensichtlichen stecken, besser gesagt bei dem, was offensichtlich scheint, und zwar uns. Und lassen bei den ersten Worten hilflos die Arme hängen.

    Denn das ist so ein Fall, von dem man sagen kann: Wenn es eine Erklärung braucht, braucht man es gar nicht erst zu erklären.

    Und zum hundertsten Mal heißt es, sich an Montaigne zu erinnern: Nicht die Dinge quälen uns, sondern unsere Vorstellung von ihnen. Darin besteht der ganze Kern und das ganze Grauen der Hoffnungslosigkeit. Die Gesetzlosigkeit im eigenen Land quält Mitja Aleschkowski, nicht aber Elena, das war’s! Und Mitjas gibt es weitaus weniger als Elenas.

    Für Aleschkowski (Gandlewski, Bykow, Rubinstein, Tschudakowa und einige Tausend weniger bekannte Menschen, die auf dem Manegen-Platz waren) bedeuteten die Ereignisse im Gericht von Samoskworetschje an jenem Tag eine persönliche Ohrfeige. Für Elena waren sie kein Anlass, sich vom Leben ablenken zu lassen. Und daran ist nichts zu ändern.

    In beiden Fällen ist es zu spät.

    Denn das Verständnis und die Vorstellungen der Menschen von sozialen Verhaltensregeln, von Pflichten und Scham – all das wird in der Kindheit geprägt, und danach, wie bei analogen Fotografien, nur noch entwickelt und allmählich zum Vorschein gebracht. Im Alter von 30–40 wird es in der Lösung der Biographie fixiert.

    Das entstandene Bild zu ändern, ist nicht mehr möglich.

    Deswegen ist es genauso unmöglich, Elena angesichts der willkürlichen Verurteilung ihres Landsmanns ein Empfinden von Scham aufzuzwingen, wie es unmöglich ist, Mitja patriotische Freude angesichts der Angliederung der Krim aufzuzwingen. Das liegt in beiden Fällen jenseits der Grenzen persönlicher mentaler Erfahrung.

    So knallen im engen Kosmos von Facebook zwei einander fremde Zivilisationen aufeinander und senden sich in gegenseitigem Unverständnis Signale: Piep, piep ….

    Vielmehr sendet Mitja nicht einmal ein Piep … er kreist einfach auf seiner merkwürdigen Umlaufbahn. Und Elena, die ach so anständige, normale, vom Allrussischen Sender WGTRK, zeigt sich interessiert: Was macht denn der da bloß?

     

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  • Entlaufene Zukunft

    Entlaufene Zukunft

    Zwar gibt es keine genauen Statistiken, doch vieles spricht dafür, dass die Zahl der gut ausgebildeten russischen Auswanderer steigt. Iwan Dawydow von The New Times versucht, die aktuelle Lage greifbar zu machen und geht der Frage nach, was die jungen Menschen antreibt.

    Der neue politische Kurs des Kremls hat allerlei Auswirkungen, sichtbare wie verborgene. Eine der verborgenen ist die Entstehung einer neuen Klasse von Auswanderern. Junge, talentierte Leute, die in Russland bereits erfolgreiche Unternehmer sind oder beschlossen haben, anderswo bei null anzufangen, verlassen das Land oder planen den Aufbruch. Dabei geht es hier nicht um eine Massenflucht. Beim Großteil der Bevölkerung ist alles genau umgekehrt. Soziologen des Lewada-Zentrums stellen fest: Im Jahr 2015 ist die Zahl der Ausreisewilligen gesunken. Waren im Mai 2012 noch 46 % der Russen dezidiert gegen Emigration, so sind das jetzt 57 %, und die Zahl jener, die definitiv ausreisen wollen, ist im selben Zeitraum von 6 % auf 3 % gesunken. Auf die Frage „Haben Sie jemals in Erwägung gezogen, aus Russland auszuwandern?“ haben 2012 noch 67 % der Befragten geantwortet: „Daran denke ich überhaupt nicht“, 2015 waren das 73 %.

    So muss es auch sein: Der Hurra-Patriotismus der Propaganda wird ja gerade von den Massen jubelnd begrüßt, die bisher die Folgen des Konflikts mit dem Westen nicht ernsthaft am eigenen Leib gespürt haben. Wobei nach Angaben des Außenministeriums die Zahl der Russen, die ständig im Ausland leben, im vergangenen Jahr um 26.000 gestiegen ist und damit die 2-Millionen-Marke überschritten hat. Aber in den Reihen derer, die sich gestern noch in Russland selbständig machen wollten, die bereit waren, Talent und Grips in die Entwicklung des Landes zu stecken, die nicht von einer Karriere in der Stadtverwaltung oder beim FSB träumten, scheint gar niemand mehr übrig zu sein, der sich nicht für die Preise erschwinglichen Wohnraums in Portugal interessieren, nicht ein bisschen ins tschechische Recht reinschmökern, nicht gelegentlich überlegen würde, womit man denn in London die Leute auf sich aufmerksam machen könnte …

    Genaue Statistiken gibt es dazu noch keine, man muss mit indirekten Daten operieren oder sogar seinen persönlichen Eindrücken. Michail Denisenko, stellvertretender Leiter des Instituts für Demografie an der Higher School of Economics, meint dazu gegenüber The New Times: „Es wandern vor allem Reiche, Gebildete, Fachleute und junge Menschen aus.“ Ihm zufolge ist allein die Zahl jener, die nach Europa ziehen, seit fünf Jahren im Steigen begriffen. Man könne jedoch nicht von einem steilen Wachstum innerhalb eines Jahres sprechen, denn die statistischen Kennzahlen in Europa erfassen längere Zeiträume. Entscheidend ist hier aber nicht, wie viele Leute weggehen, sondern: welche. Anfang der Neunziger liefen vor der russischen Armut jene davon, die sich den Westen als leuchtenden Supermarkt erträumten. In den Jahren des Ölreichtums waren es die Begüterten und die wahren Herrscher über das Land – Silowiki und Staatsbedienstete – , die sich Yachten und Paläste anschafften. Die neuen Emigranten sind ein ganz anderer Fall. Das sind Menschen, die bereit sind, mit eigenen Händen Zukunft zu erschaffen, ihre eigene und die ihres Landes. Und natürlich werden sie das auch machen, sie sind schon mittendrin, bringen Europa zum Staunen: „Die Russen können ja mehr als Kalaschnikows und Panzer herstellen.“ Nur erschaffen sie diese Zukunft weder in Russland, noch für Russland.

    Auch indirekte Anzeichen weisen auf die neuen Emigranten hin. „Das Interesse an der Ausfertigung von Aufenthaltsberechtigungen ist gewachsen, in den letzten zwei Jahren ist etwa die fünffache Menge an Anträgen eingegangen“, erklärt Sofija Axjutina, Koordinatorin für internationale Projekte in der Agentur Euro-Resident. „Früher sind Leute mit beträchtlichen finanziellen Möglichkeiten ins Ausland gegangen, jetzt wollen es auch welche mit kleinem Budget tun.“ Am beliebtesten, sagt sie, sind Spanien, Italien, Deutschland und Belgien sowie, etwas abgeschlagen, Kroatien und Montenegro, wobei früher viele dort hinzogen. Die neuen Emigranten sind also alles andere als Milliardäre und suchen sich wohlüberlegt Orte aus, wo man nicht nur angehäuften Besitz verleben, sondern auch arbeiten und Geld verdienen kann. Politische Reden schwingen sie zwar nicht, ihre Entscheidung ist aber zweifellos als politische Geste zu verstehen. Sie sind nicht gewillt, ihre eigene Zukunft in einem Staat zu riskieren, der von den Silowiki beherrscht wird.

    Sang- und klanglos zu verschwinden ist auch eine Art, in einem Land Politik zu machen, in dem die Bürger keinerlei Möglichkeiten haben, das Vorgehen der Machthaber zu beeinflussen. Der Held aus Tschechows „Fall aus der Praxis“ beantwortet die Frage, was unsere Kinder und Enkel machen werden, so: „Wahrscheinlich lassen sie alles liegen und gehen fort … Einem guten, klugen Menschen steht ja die ganze Welt offen.“ Der Klassiker hat es erraten: Sie gehen fort.

     

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  • „Propaganda wirkt, wenn sie auf vorbereiteten Boden fällt“

    „Propaganda wirkt, wenn sie auf vorbereiteten Boden fällt“

    Welche Rolle spielt das Fernsehen derzeit in Russland? Ist das Internet immer ein Garant für Informationsfreiheit? Wie hängen Patriotismus, Medien und Politik zusammen? Wie populär ist Putin wirklich, und bei wem? Diese Fragen verfolgen Yevgenia Albats und Iwan Dawydow von The New Times im Interview mit dem profilierten Ökonomen Konstantin Sonin, HSE Moskau und seit September 2015 auch University of Chicago.

    Internet versus Fernsehen

    Bekanntermaßen hängen Demokratisierungsprozesse unmittelbar mit dem Zugang zu Informationen zusammen und damit, ob Menschen die Möglichkeit haben, Alternativen abzuwägen. Eben darum schien mit dem Aufkommen und der weiten Verbreitung des Internets in Russland keine ernstzunehmende Rückwärtsbewegung mehr möglich: Solange die Behörden das Netz nicht einfach dichtmachen, würden die Menschen wachgerüttelt und die Aussicht, erneut hinter einem eisernen Vorhang zu landen, ließe sie schaudern. Doch was in unserem geliebten Vaterland geschehen ist, scheint ganz und gar unerklärlich. Zugang zum Internet, zu alternativer Information ist da, doch das Land klebt an den Fernsehgeräten, die Leute schlucken, was vom Bildschirm auf sie einströmt, und unternehmen nicht einmal den Versuch, den Inhalt auf seine Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zu prüfen. Das Internet ist der Fernsehpropaganda unterlegen. Welche Erklärung haben Sie dafür?

    Gerade das letzte Jahr gibt uns in dieser Hinsicht zu denken, offenbar sind Informationen kein so einfacher Gegenstand, wie es scheint. Die Erfahrung von 2014 hat gezeigt: Die Tatsache, dass Informationen zugänglich sind, bedeutet noch nicht, dass sie in irgendeiner Form genutzt würden. Zum einen hat ein und dieselbe Information für verschiendene Menschen unterschiedliche Bedeutung, je nach dem Weltbild, das in den Köpfen bereits vorhanden ist. Zum anderen bauen die Menschen jede neue Information so in ihr Bild der Gegenwart und der Zukunft ein, wie es ihren Vorlieben entspricht: Die passenden Bausteine nehmen wir uns, den Rest lassen wir liegen.

    Das heißt aber nicht, dass über das Fernsehen jeder beliebige Inhalt lanciert werden könnte. Nehmen wir doch einmal folgendes Szenario, als Gedankenspiel: Stellen Sie sich vor, die Ressourcen, die auf die Propaganda für den Ukrainekrieg und die Annexion der Krim verwendet wurden, wären stattdessen darauf gerichtet gewesen, dass die Oblast Rostow an die Ukraine abgetreten werden soll. Hätten wir die Oblast Rostow dann tatsächlich der Ukraine gegeben? Ich bin überzeugt, dass das nicht geschehen wäre. Das bedeutet, dass die Propaganda wirkt, wenn sie auf vorbereiteten Boden fällt oder auf gewisse zuvor nicht realisierte, aber doch lebendige Vorlieben trifft.

    Die Propaganda funktioniert, wenn sie das innerste Wesen des kollektiven Bewusstseins anspricht. Ich glaube, in jedem Land kann sich ein Politiker, wenn er das will, des aggressiven Wesens des Menschen bedienen. Aber längst nicht alle setzen zur Erhaltung ihrer Macht auf diesen Weg.

    Ich denke, wir müssen einsehen, dass der mögliche Zugang zu Quellen unzensierter Informationen, zur freien Presse nicht so entscheidend ist, wie wir angenommen haben. Wir sehen heute, dass es Dinge gibt, die tiefer liegen. Das hätten wir allerdings auch schon früher begreifen können. Als zum Beispiel in Deutschland die Nazis an die Macht kamen, ging dies zwar mit Gewalt einher, es existierte aber dennoch eine verhältnismäßig freie Presse. Was die Mehrheit allerdings nicht daran hinderte, dem Irrsinn zu verfallen und mit Hitler zu sympathisieren.

    Die Büchse der Pandora

    Denken Sie an den arabischen Frühling. Die Medien schrieben: Am Anfang war ein Wort, und dieses Wort war ein Tweet.

    Massenkundgebungen und spontane Aufstände gab es lange vor der Erfindung des Internets und sogar vor der Erfindung der Schriftsprache. Twitter hat die Versammlung auf dem Tahrir-Platz leichter gemacht, aber es ist nicht gesagt, dass sich dort nicht auch sonst Massen von Menschen zusammengefunden hätten. Ich würde die Rolle der sozialen Netzwerke auch im Fall der Mobilisierung für den Bolotnaja-Platz und Sacharow-Prospekt nicht überbewerten. Auch ohne die Internet-Aufrufe wären nicht weniger Demonstranten gekommen. Man braucht nur an die riesigen Kundgebungen Ende der 1980er Jahre zu denken: Damals wurde jedes Flugblatt, das mit Durchschlag auf der Schreibmaschine getippt wurde, einzeln in einen Briefkasten gesteckt, und es kamen mehrere hunderttausend Menschen zusammen – wesentlich mehr als heute mit Hilfe des Internets.

    Wir haben die kühne Hypothese aufgestellt, Glasnost hätte nichts mit dem Niedergang des sowjetischen Regimes zu tun. Die Perestroika – ja, das Gesetz über die Kooperativen und die missglückten Wirtschaftsreformen – ja, die wirtschaftliche Stagnation – ja, aber Glasnost – nein.

    Mir kommt es vor, als hätte das Volk Sehnsucht nach Propaganda. Die gigantischen Feierlichkeiten zum siebzigsten Jubiläum des Tags des Sieges haben eine Explosion der Begeisterung ausgelöst, alle schauten die alten Filme, hörten die alten Lieder. Was hatte die Leute vorher davon abgehalten? Sie hätten sich jederzeit eine DVD oder eine CD kaufen und für sich alleine feiern könen! Aber nein. Im Fernsehen sollte das alles kommen. So ist es auch mit der Propaganda. Unterschwellig entsprach ihre gegenwärtige Thematik den Erwartungen: Keiner mag uns und wir mögen die anderen auch nicht – besonders die Ukrainer und die Amerikaner. Und schuld an allem sind die Juden und die Liberalen. Das passte bestens zu den politischen Zielen der Führung unseres Landes.

    Ich glaube, wenn beispielsweise Alexej Nawalny oder Wladimir Ryshkow freien Zugang zum Fernsehen hätten, würden die mit Äußerungen wie „Jakunin mit seinen Pelzdepots soll verurteilt werden und hinter Gitter kommen“ allgemeine Zustimmung erreichen. Wenn man aber die gesamte Prime-Time darauf verwendet zu begründen, dass wir eine rechtsstaatliche Gesellschaft brauchen, also ein faires und unabhängiges Gericht mit Einhaltung parlamentarischer Verfahren bei der Annahme von Gesetzen und der Gewährleistung freier Konkurrenz auf dem Markt – dann geht all das ins Leere, und da hilft auch keinerlei propagandistische Ressource.

    Überdies hat das heutige Regime mit seiner Hetzpropaganda eine Pandorabüchse so voller Hass geöffnet, dass es auch einer nachfolgenden Regierung kaum gelingen wird, sie wieder zu schließen. Zu dem Thema habe ich mich einmal mit Michail Chodorkowski unterhalten. Ich frage ihn: „Stellen Sie sich vor, Sie kommen an die Macht und haben sich, sagen wir, den Kampf gegen die Korruption auf die Fahnen geschrieben. Das Volk fordert von Ihnen, alle korrupten Beamten und Politiker hinter Gitter zu bringen. Werden Sie sie hinter Gitter bringen?“ „Nein, das kann ausschließlich ein von mir unabhängiges Gericht“, antwortet Chodorkowski. „Aber das Volk verlangt trotzdem, dass Sie persönlich darüber entscheiden, wer wie lange hinter Gitter kommt“, wende ich ein. „Ihre Argumente für ein Gerichtsverfahren werden als Schwäche aufgefasst: Das Volk will umgehende Bestrafung, und Sie schlagen ein kontradiktorisches Verfahren vor.“ Es ist eine fatale Situation, in der wir uns befinden: Wer auch immer als nächstes an die Macht kommt, wird gewissermaßen Geisel der heutigen Vorlieben und Erwartungen sein.

    Trügerische Zahlen

    Sehr wichtig ist zu verstehen, dass es nichts bringt darüber zu lamentieren, ob das Volk nun gut oder schlecht ist, aufgeklärt oder ungebildet – man muss an die gebildeten Schichten, an die Elite appellieren. Aber eines ist doch bemerkenswert: Unter den Putinanhängern, den Befürwortern von Krymnasch und dem Krieg in der Ukraine, findet sich eine große Zahl von Leuten, die keine Steuern zahlen und denen ihr Salär einfach im Umschlag ausgehändigt wird. Man sollte meinen: Eine starke Armee erfordert eine Menge Geld, also unterstütze die Macht, welche auch immer, und zahl Steuern. Die Antwort: „Wozu? Die stecken sich doch sowieso alles in die eigene Tasche.“

    Das ist eines dieser mystischen Dinge – die ständig auftauchenden Zahlen zu Putins großer Popularität, und dabei ist es gar nicht so einfach, diese uneigennützigen Fans seiner Politik im wirklichen Leben zu Gesicht zu bekommen. Auch in meinem Umfeld gibt es Leute, die Putin unterstützen, allerdings – für Geld. Ich habe überhaupt den Eindruck, dass diese Unterstützung eine Scheinunterstützung ist. Wie viele Menschen bekommt Putin denn zusammen für eine Kundgebung, wenn er sie nur über das Fernsehen anspricht, ohne Administrative Ressource, ohne die ganzen Busse, die angeblich seine glühenden Anhänger herankarren! Ich vermute, gerade mal tausend.

    Aber was bezeichnen wir dann als Popularität? Bei uns ist die Popularität des Präsidenten eine sehr spezielle Popularität. Wenn die Soziologen bei uns einen Menschen fragen, ob er für den Präsidenten ist, dann antwortet er: Ja. Ansonsten ist er in den meisten Fällen gar nicht für ihn. Er beklagt sich über sein schweres Los. Schimpft auf die Beamten. Kann die Abgeordneten nicht leiden. Er ist der Ansicht, dass an der Macht sowieso alle stehlen. Kurz, im täglichen Leben sagt er durchweg „nein“, aber bei der Umfrage „ja“.

    Ich möchte aber noch etwas anderes zu bedenken geben. Die sehr wichtige Entscheidung über den Beitritt der Krim wurde ja in engen Kreis getroffen, ohne Beteiligung von Vertretern des Wirtschafts- und Finanzblocks. Das ist ein Merkmal einer Dysfunktion, eines Versagens im System der Staatsverwaltung. Infolge dieses Funktionsversagens befinden wir uns heute in einer äußerst schwierigen Situation mit einer fatalen inneren Entwicklungslogik.

    Wir haben faktisch eine Armee, die Kriegshandlungen durchführt, und dazu haben wir offenkundig noch einen Super-Überbau, der damit beschäftigt ist, diese Armee so aussehen zu lassen, als sei sie keine Armee. Eine gewaltige Menge von Menschen und eine noch gewaltigere Menge an Geld ist involviert in das, was sich im Osten der Ukraine abspielt. Und noch mehr sind mit der Vorbereitung auf irgendeinen fantastischen großen Krieg beschäftigt. Und wie wir aus diesem Schlamassel wieder herauskommen, ist völlig unklar.

    Nutznießer der Verhältnisse

    Es gab also ein Versagen im System der Staatsverwaltung. Warum hat man die Sache danach noch weitergetrieben? Ging es den Profiteuren des Regimes nicht auch ohne Krieg in der Ukraine bestens?

    Kurzfristig ziehen alle Leute, die in der Kriegsindustrie sitzen, Vorteile aus dieser Situation. Heute werden, so weit ich sehe, alle wesentlichen Entscheidungen von einer ganz kleinen Gruppe getroffen, in der die Silowiki und die Militärs absolut überproportional vertreten sind. Das heißt, anstelle eines Gremiums, in dem das größte Gewicht bei den Ministern für Wirtschaft und Finanzen liegt, wird heute alles von den Silowiki entschieden. Aber für einen Hammer sieht alles um ihn herum aus wie ein Nagel. So auch für die Silowiki – ihre Prioritäten bestehen einzig darin, dass der Krieg weiter finanziert wird. Und heute zu erwarten, dass von den Silowiki einer aufsteht und sagt: Nein, Leute, wir können nicht so viel für den Krieg ausgeben und die ganzen Mittel vom Konsum abziehen – das ist naiv.

    Die Militärausgaben führen unvermeidlich zu Abstrichen bei den sozialen Haushaltsposten, mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen – auch für die, die jetzt Putin applaudieren.

    Wenn wir in dieser Weise über den Haushalt sprechen, haben wir es mit Metaphern zu tun, aber in Wirklichkeit ist der Haushalt zum Teil ein Gummihaushalt, entscheidend sind die Prioritäten. Man kann noch mehr Panzer fabrizieren, noch weniger für Bildung und Gesundheit ausgeben und noch mehr für Propaganda, und die Militärausgaben noch einmal verdoppeln. Das Material wird sich widersetzen, aber es wird Rogosin nicht zwingen, den Weg freizumachen. Rogosin wird Druck machen. Zumal er die Folgen nicht ausbaden muss. So wie zum Beispiel der sowjetische Verteidigungsminister Ustinow. Er machte Druck und blieb stur, und die Folgen musste das ganze Land ausbaden, das dann in der Folge auch zusammenbrach. Heute kann man unseren Haushalt so straffen, Investitionsprojekte und die Ausgaben für Gesundheit und Bildung so sehr zusammenkürzen, dass man den Militärhaushalt verdoppeln kann. Verdreifacht man ihn, gehen die Lehrer auf die Straße, und in den Krankenhäusern geht das Licht aus – aber auch das ist möglich. Vervierfachen geht wahrscheinlich nicht. Aber diese Richtung kann man jedenfalls noch lange weiterverfolgen.

    Und dazu braucht man dann auch die Propaganda: der Feind steht vor den Toren.

    Genau. Darum liebe ich das Beispiel von Slobodan Milošević. Während er Präsident von Serbien war, schrumpfte das Land auf die Hälfte zusammen, der Lebensstandard der Serben halbierte sich, krasser als bei uns in den schlimmsten Momenten der 1990er Jahre. Bei seinen letzten Wahlen erhielt er fast 36 Prozent der Stimmen. Die Propaganda hatte ihr Werk getan. Die Ausbeutung nationalistischer Ambitionen kann Menschen dazu bringen, große Probleme zu beschönigen und gravierende Opfer zu rechtfertigen.

    Die Krim-Hysterie hat sich gelegt, das Projekt Noworossija wird offenbar langsam eingestellt …

    Das würde ich nicht sagen. Es gibt eine Menge Leute, die ein Interesse an der Fortführung des Projekts Noworossija haben. Seine Nutznießer sind die Militärs und der militärisch-industrielle Komplex, außerdem gibt es Leute, die damit ihre Popularität aufrechterhalten. Es ist ja unverkennbar, dass viele die Fortsetzung des Banketts wollen.

    Und trotzdem muss man nachlegen, damit das patriotische Feuer weiter brennt?

    Ich glaube, Sie überschätzen die Dimension der Absichten. Ich gehe davon aus, dass es innerhalb der Macht keinerlei Gedanken daran gibt, die Bevölkerung zu betrügen. Putin und seine Entourage glauben selbst daran, dass Russland von Feinden umzingelt ist und die NATO vor den Toren steht. Und nicht nur das, die Leute, die diesen Glauben nicht teilen, werden aus den höheren Machtetagen verdrängt. 

    Dazu kommt, je mehr sie sehen, dass sie von Feinden umgeben sind, desto mehr rechtfertigt dies den eigenen Verbleib an der Macht. Angeblich sitzen wir im Schützengraben, wir kämpfen gegen den Feind, und wenn wir den Schützengraben verlassen, werden die Feinde unser Territorium besetzen. Eben dieses Motiv rechtfertigt auch zehn Jahre Führung durch Staatskorporation. Es wird im großen Stil geplündert, alles ist entsetzlich ineffektiv, aber die Hauptsache ist, ich sitze im Schützengraben. Mit einer derartigen Argumentation kann ich alles rechtfertigen, was mit mir passiert, und hinsichtlich dessen, was ich über mich höre, eine kognitive Dissonanz zulassen. Und wenn ich gehe, bricht überhaupt alles zusammen. Das ist das Modell, das heute in Kraft ist.

    Wie wird das weitere Szenario aussehen?

    Wenn es nicht zu irgendwelchen außerordentlichen politischen Entscheidungen kommt, etwa Mariupol, Charkow und Kiew anzugehen, was vor zwei Jahren ausgeschlossen und heute bloß noch eher unwahrscheinlich erscheint, kann die Wirtschaft im heutigen Zustand noch fünf bis zehn Jahre so weiterbestehen – und zwar ohne besondere Probleme. Aber dann wird es erneut zu einer Krise wie 1991 kommen, d. h. einer Haushaltskrise und einer politischen Krise. Allerdings ein paar Nummern kleiner. Ich sehe keine besonderen Anhaltspunkte für einen Zerfall des Landes oder so etwas. Aber die ganze Sache wird mit Stagnation und dem Verfall des politischen Regimes einhergehen.

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  • Das Woronesh-Syndrom

    Das Woronesh-Syndrom

    Als Reaktion auf die europäisch-amerikanischen Sanktionen gegen die russische Führungselite wurden Maßnahmen ergriffen, unter denen die eigene Bevölkerung zu leiden hat, sagt der Journalist Juri Saprykin. Und sie treffen gerade die schwächsten Glieder der Bevölkerung und die schutzwürdigsten Initiativen. Dieser scheinbar paradoxe Mechanismus ist an mehreren Stellen zu beobachten, und das Internet hat sogar einen Namen für ihn.

    Der Ausdruck Bomben auf Woronesh tauchte im Netz unmittelbar nach der Verabschiedung des Dima-Jakowlew-Gesetzes auf. Ein Facebook-Spaßvogel schrieb damals: Wenn die Amerikaner mit ihren Sanktionen gegen russische Staatsbeamte fortfahren, lasst uns doch einfach einen draufsetzen und selber anfangen, unsere Städte zu bombardieren.

    Begreift man das Antiwaisengesetz als Reaktion auf die amerikanischen Sanktionen gegen die russischen Bürger, die auf der Magnitski-Liste stehen, so ist es ein wahres Grauen: Die Duma reagiert auf die Beschneidung von Handlungsfreiheiten der Führungselite mit einem Gesetz, das die Zukunft, die Gesundheit, ja sogar das Leben der am meisten benachteiligten russischen Staatsbürger gefährdet, nämlich das der Waisenkinder, darunter kranker und behinderter. Und all das wurde noch mit einer dicken Schicht Lügen bedeckt: dass man in den USA vorsätzlich russische Kinder quäle und wir sie nun selbst adoptieren und aufpäppeln würden. Genau das nennt man Bomben auf Woronesh: Als Antwort auf einen Schaden, den die Führungsklasse erlitten hat, schlägt man auf die eigenen Leute ein, noch dazu auf die schwächsten. Bei der Geschichte mit den Lebensmittel-Sanktionen gab es weniger offensichtlichen Schaden, dafür aber mehr Lügen: Bald schon ein Jahr lang will man uns weismachen, dass unter den Sanktionen nur die polnischen Bauern leiden würden sowie russophobe Kreativlinge, die vom Leben nur Serrano-Schinken und Parmesan wollen. In Wirklichkeit waren das wieder Bomben auf Woronesh: Als Reaktion auf die europäisch-amerikanischen Sanktionen gegen die Datschen-Kooperative Osero und die staatlichen Banken wurden Maßnahmen ergriffen, unter denen die eigenen Leute zu leiden haben, und wieder die schutzlosen – die, die jetzt gezwungen sind, qualitativ minderwertige Waren zu überhöhten Preisen zu kaufen.

    Auch gibt sich niemand große Mühe zu verbergen, dass die momentanen Probleme der gemeinnützigen Stiftung Dinastija gar nichts mit ihrer eigentlichen Stiftungsarbeit, sondern mit darüber hinausgehenden gesellschaftlich-politischen Aktivitäten ihres Gründers Dimitri Simin zu tun haben. Simin setzt den Verkaufserlös seines Anteils am Telekommunikationsunternehmen VimpelCom nicht so ein, wie es ihm höherstehende Kuratoren aufgetragen bzw. erlaubt hatten: Er bezuschusst die Arbeit unabhängiger Medien, sponsert Vorträge und Bildungsprogramme nicht ganz linientreuer Färbung, und vor allem verheimlicht er seine liberalen Überzeugungen nicht und auch nicht die Absicht, seine privaten Mittel weiterhin für die Stärkung dieser Überzeugungen einzusetzen. Solche Absichten im rechtlichen Rahmen zu bekämpfen, ist unmöglich. Folglich nehmen die Bombenflieger Kurs auf Woronesh. Die Aufnahme der Stiftung Dinastija in die Liste der „ausländischen Agenten“, was für sie das Aus bedeuten könnte, wird Simin sicher nicht davon abhalten, sein Geld in politiknahe Projekte zu stecken, doch die Förderung von exakten und Naturwissenschaften, von aufklärerischen Publikationen sowie die Finanzierung von Preisen und Vorträgen ihrer Autoren wird er aufgeben müssen. Als Reaktion auf Gefahren, die der Führungsklasse drohen – in unserem Fall sind sie sehr vage und vielleicht gar nicht existent –, werden somit wieder einmal Maßnahmen ergriffen, unter denen die Schwachen und Schutzlosen leiden werden.

    Die Vorkommnisse um Dinastija sind zweifelsohne ein Signal – in erster Linie für den Teil der Elite, der seine Entscheidungen immer noch relativ selbstbestimmt trifft (zumindest wenn es darum geht, in welche gesellschaftlich relevanten Projekte es sich lohnt, Geld zu investieren). Deuten kann man das unterschiedlich, und jede Lesart wird teilweise richtig sein. Dass die Finanzierung von oben missbilligter gemeinnütziger und politischer Projekte den direkten Weg in die Verbannung und Emigration bedeutet, weiß man seit dem ersten Yukos-Prozess nur allzu gut. Aber es kommen neue Bedeutungsnuancen hinzu: Die finanzielle Förderung von Wissenschaft und Bildung, die Publikation von Büchern darüber, was die Welt zusammenhält – das heißt doch der Freigeisterei Tür und Tor zu öffnen! Nach dem Motto: Ihr veröffentlicht hier Bücher von Richard Dawkins, da steht drin, dass es keinen Gott gibt, dass Natur und Evolution auch ganz gut ohne auskommen – wollt ihr etwa auch behaupten, wir bräuchten keinen Putin? Spendet euer Geld lieber für die Errichtung eines Fürst-Wladimir-Denkmals – und das Glück wird über euch kommen. Doch auch diese Interpretation ist am Ende vielleicht zu oberflächlich: Es geht gar nicht darum, dass das Justizministerium (oder die, die dem Justizministerium den entsprechenden Befehl gaben) der Wissenschaft schaden wollte, sie war einfach nur im Weg. Es ist vielmehr so: Wenn du einer von oben nicht sanktionierten gesellschaftlichen Tätigkeit nachgehst, dann ist nicht so sehr diese Tätigkeit in Gefahr, sondern das Selbstlose, Gute und Ungeschützte in deinem Leben. Diejenigen, die von dir abhängen, die dich brauchen. Nicht Kapital, Vermögen und Geldanlagen, sondern Verwandte, gegen die ein Strafverfahren in Gang gesetzt wird, Kinder, die man für eine Krankenhausbehandlung nicht ausreisen lässt, Wissenschaftler, die nicht mehr forschen dürfen, Bücher, die nicht gedruckt werden. Jeder – er muss nicht einmal gegen das Regime kämpfen, sondern sich einfach nur gesellschaftlich für etwas vom Staat nicht Sanktioniertes einsetzen wollen – muss darauf gefasst sein: Woronesh ist ins Visier geraten, seine Einwohner in Geiselhaft. Der Pilot zu allem bereit.

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  • Leviathan gegen Leviathan

    Leviathan gegen Leviathan

    Andrej Swjaginzews Film Leviathan, der als erster in der jüngsten russischen Geschichte mit dem zweitwichtigsten Hollywood-Preis, dem Golden Globe, ausgezeichnet und tatsächlich danach auch noch für den Oscar nominiert wurde, war diese Woche [Anfang 2015 – Anm. dekoder] Ziel einer regelrechten Hetzkampagne im eigenen Land. Der Kolumnist von The New Times glaubt, diese Kampagne war sorgfältig geplant.

    Schon möglich, dass die folgenden Ausführungen nur Vermutungen oder gar Verschwörungstheorien sind. Jedoch klingen diese Vermutungen ziemlich glaubwürdig. Es geht dabei um eine minutiös durchdachte Intrige der Machthaber nicht nur mit dem Ziel, Swjaginzews Werk in Verruf zu bringen (und Leviathan ist wirklich der beste russische Film seit Jahren), sondern auch die lang erwartete neue sozialkritische Richtung im russischen Film.

    Von Liebe zu Hass

    Nach der Nummer 1 aller Filmfestivals in Cannes letzten Mai, wo Leviathan den Preis für das beste Drehbuch bekommen hatte, schien es, der Film würde uns allen gefallen. Der Einzige, der ihn aktiv missbilligte, war der eigens zur Vorführung angereiste Kulturminister Medinski. Zum Teufel mit ihm! Welchen normalen Menschen interessiert schon Medinskis Meinung? Und so rutschten wir gut ins Neue Jahr: Leviathan als großes Kino! Und gleichzeitig für den Westen nicht in voller Breite und Tiefe verständlich. Lächerlich, dass unterdessen sogar echte Auskenner behaupten, Leviathan sei speziell für den Westen gemacht. Keineswegs! Der Westen, und ganz konkret Europa, hat das Wichtigste nicht verstanden: dass Leviathan nicht einfach nur eine persönliche Geschichte über himmelschreiende Ungerechtigkeit ist, sondern auch ein politisches Statement über den Wesenskern des modernen Russland. Über den schrecklichen Leviathan, den korrupten Staat bar jeglicher Ehre und jeglichen Gewissens, in dem die Kirche den Staat deckt und Jesus de facto von Kriminellen privatisiert wird. In Europa wurde Leviathan nicht ausreichend wertgeschätzt. Die Auszeichnung in Cannes für das beste Drehbuch ist natürlich toll, aber sie ist kein Hauptpreis. Im Dezember hat der in Europa für einige wichtige oscarartige Filmpreise nominierte Leviathan den Kampf gegen die polnische Ida klar verloren. Wladimir Medinskis besorgte Gedanken galten jedoch vor allem der englischsprachigen Welt, vor allem den USA. Wer in Russland kennt die europäischen „Oskars“? Nicht mehr als ein paar Tausend. Wer kennt den Golden Globe und den Oscar? Oh, das ist schon eine ganz andere Geschichte. Der derzeitige Kulturminister ist kein Dummkopf und er hat einen ganzen Trupp von Zuträgern. Und höchstwahrscheinlich hat er selbst aktiv den entsprechenden Stellen zugetragen, dass es – sollte Leviathan nun kurz vor dem offiziellen Kinostart am 5. Februar amerikanische Preise gewinnen und große Popularität beim breiten Publikum in der Heimat erlangen – ein herber Schlag wäre. Jedenfalls was das primitive russische Patriotismus-Verständnis eines Medinski angeht. Und den russischen Staat und die orthodoxe Kirche. Medinski wusste nicht ohne die Hilfe eben jener Zuträger, dass der Produzent des Films Alexander Rodnjanski, der seine hochkarätig besetzten Filme sowohl in Russland als auch in Amerika produziert, bei den Organisatoren des Golden Globe viel bessere Karten hat als bei der Europäische Filmakademie. Also hätte Leviathan den Globus durchaus gewinnen können. Offenbar wurde eben deshalb beschlossen, den Film kurz vor der Verleihung des Golden Globe, in den Augen der russischen Öffentlichkeit niederzumachen. Für die konzertierte Aktion brauchte es eine Woche. Und man darf annehmen, nicht ohne Beteiligung des Geheimdiensts.

    Russland, zurück – marsch, marsch!

    Am vorigen Wochenende wurde Leviathan nun illegal im Netz veröffentlicht. Es gibt die Vermutung, die Filmemacher hätten das selber getan, doch das widerspricht jeglicher Logik. Wozu sollte Rodnjanski den Film im Netz veröffentlichen, wenn er am 5. Februar ohnehin offiziell in die Kinos gekommen wäre und schon viele den Kinostart ungeduldig erwarteten? Ist ihm dafür nicht sein Geld zu schade? Und was hätte er davon? Swjaginzew ist Perfektionist. Er macht Filme für die große Leinwand. Leviathan besticht durch die fantastische Kameraarbeit des Großmeisters Michail Kritschman. Wozu hätte Swjaginzew seinen bis dato besten Film heimlich ins Netz stellen sollen, wo man ihn auf winzigen Bildschirmen, halbverdeckt von englischen Untertiteln, ansehen würde? Viel plausibler scheint die Annahme, dass der Film von unserem Geheimdienst ins Netz gestellt wurde. Erstens, um die Wirkung zu verderben (denn ausgerechnet die besten Filme rufen bei Zuschauern oft genau die gegensätzliche Reaktion hervor, wenn sie in schlechter Qualität gezeigt werden). Und zweitens, damit seine Agentenschaft in den sozialen Netzen sofort damit beginnen konnte, die öffentliche Wahrnehmung von Leviathan negativ zu beeinflussen. Wäre der Film dort nicht erschienen, hätten sowohl die Filmemacher als auch ich, der ich diese Zeilen schreibe, sagen können: „Was redet ihr Hohlköpfe da? Ihr habt den Film doch nicht mal gesehen!“ Und was bitteschön kann man jetzt erwidern? All die vom Geheimdienst engagierten Leute, die im Internet unter zwei- bis fünfhundert erfundenen Namen ihre Arbeit machen, verkündeten just am Vorabend des Golden-Globe-Triumphs von Leviathan in den sozialen Netzwerken: Der Film ist scheiße, Russlandschmäh und Schwarzmalerei. Das Unangenehmste ist, dass es funktioniert hat. Ich sage es noch einmal: Nach der Premiere in Cannes, wo der Film in guter Qualität gezeigt wurde, waren alle Russen dort begeistert. Mittlerweile aber schreiben sogar viele kluge Menschen, die etwas vom Film verstehen, im Internet: „Den Quatsch seh ich mir erst gar nicht erst an.“ So effektiv erweist sich die KGB-Propaganda eben nach wie vor! So ein Leichtes ist es ihr, sogar angeblich intelligente Leute aus dem Konzept zu bringen! Die Kampagne war angelaufen. Mit dabei die beiden wichtigsten offiziellen Fernsehsender, die besondere Instruktionen erhalten hatten. Als am Montag die Nachricht kam, dass Leviathan tatsächlich einen Golden Globe gewonnen hat, was eine nationale Sensation ist (der einzige russische Film, der den Preis bis dahin gewonnen hatte, war 1969 Bondartschuks Krieg und Frieden), präsentierten die beiden Fernsehsender das nicht nur nicht als Nachricht des Tages, es wurde nur knapp am Ende der Nachrichtensendungen erwähnt. Dabei listeten sie zunächst die anderen Golden-Globe-Gewinner auf, um dann in einem Nebensatz kurz zu sagen, dass Leviathan den Preis als bester fremdsprachiger Film bekommen hat. Das war‘s! Den Höhepunkt erreichte der Irrsinn am 15. Januar, als bekannt wurde, dass Leviathan auch noch für den Oscar nominiert ist. Das ist doch wohl ein großer „Sieg der russischen Waffe“, was denken Sie? Das ist die Nachricht des Tages! Nix da. In den Abendnachrichten des Ersten Kanals wurde die Nachricht ignoriert. Als gäbe es keinen Oscar und keinen Leviathan. Stattdessen wurde uns in allen Nachrichtensendungen freudig verkündet, dass unsere Biathlon-Männer bei einer Weltcup-Etappe Bronze geholt hätten. Schimpf und Schande.

    Wohin es führt

    Wohin wollen sie uns bekommen? Ins Ghetto. In ein politisches und kulturelles Ghetto, in dem es ein Leichtes sein wird, uns die Gehirne zu waschen und kein Platz sein wird für Filme wie Leviathan, in denen offen über die Verschmelzung von Staat und Kirche gesprochen wird. Erstaunlich ist ein Gedanke, der gerade durch eindeutig bezahlte Einflussagenten in den sozialen Netzwerken verbreitet wird: Medinski habe das Recht, von Leviathan politische Loyalität zu fordern, denn der Film sei mit Unterstützung des Kulturministeriums gedreht. Aber so gut wie alle russischen Filme in den letzten Jahren wurden mit Unterstützung des Kulturministeriums gedreht, warum sollte man da an Leviathan besondere Anforderungen stellen? Besonders, wenn man bedenkt, dass die Unterstützung mickrig ist und das Gros der Finanzierung aus anderen Quellen stammt. Ideale Verhältnisse bestehen in dieser Hinsicht in Frankreich, dessen Herangehensweise von unseren Entscheidungsträgern so gerne als Vorbild zitiert wird. (Dort wird gern davon gesprochen, dass es in Frankreich Verleihquoten für amerikanische Filme gäbe. Fakt ist: Es gibt in Frankreich keinerlei Quoten, es gab sie nie und es wird sie nie geben. Man verscheißert euch.) In Frankreich wird auf jedes Kino-Ticket eine Steuer von 11 Prozent erhoben, die in den Fonds des Centre National de la Cinématographie fließen, das dann wie unser Kulturministerium Zuschüsse an Produzenten vergibt. Dabei geht es um weit größere Summen als die, die unser Kulturministerium für diese Zwecke vergibt, doch keiner würde je auf die Idee kommen, die geförderten Filme einer ideologischen Kontrolle zu unterwerfen. Womöglich weil Frankreich – im Gegensatz zu Russland – ein freies Land ist. Vor dem Hintergrund der Geschichte mit Leviathan hat das Kulturministerium neulich einen Gesetzentwurf eingebracht, demzufolge kein Film eine Verleih-Lizenz bekommt, der „die nationale Kultur verleumdet, die nationale Einheit bedroht und die Grundlagen der Verfassungsordnung zerrüttet“. Man bereitet uns darauf vor, dass in den Kinos keine Filme mehr laufen werden, die die herrschende Macht in Russland kritisieren, und sei es nur indirekt. Man darf gespannt sein, wie lange sie mit ihren Restriktionsgesetzen durchhalten und ob ihnen bald Nürnberger Prozesse bevorstehen. Was Swjaginzew betrifft, tut unser Staat offenbar alles dafür, ihn aus dem Land zu bekommen. Wenn Abschaum an der Macht ist, wählt er sich immer freie, ehrliche, talentierte Menschen als Angriffsziel.

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