дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Schlimmer gehts nimmer

    Schlimmer gehts nimmer

    Wenn das Realeinkommen fünf Jahre hintereinander fällt, dann sollte man den Chef der Statistikbehörde feuern – so höhnten einige russische Wirtschaftsexperten nach der Kündigung des Rosstat-Leiters Ende Dezember 2018. 

    Die Wirtschaft schwächelt; wegen Rentenreform, Inflation und Steuererhöhungen bleibt am Ende weniger in der Tasche. Und genau das trieb viele Menschen unlängst auf die Straße.

    Doch Reformen seien derzeit nicht zu erwarten, meint der Wirtschaftswissenschaftler Dimitri Trawin, da viel zu viele Amtsträger in den Sicherheitsstrukturen vom derzeitigen System profitieren würden. Wie ist der Wirtschaftsmisere also beizukommen? Oder, anders gefragt: Worauf hofft Putin noch? Diese Frage stellt The New Times mehreren Experten, unter anderem dem Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew.

    Worauf ist der Rückgang der Umfragewerte von Wladimir Putin wie auch der Regierungspartei Einiges Russland zurückzuführen? Auf den alles andere als glänzenden Zustand der heimischen Wirtschaft, die Anhebung des Rentenalters und die ständig steigenden Steuern und Preise. Das hat unter Experten erneut zum Nachdenken darüber geführt, worauf der Präsident eigentlich hofft, welche seine nächsten Schritte sein werden und was Russland „nach Putin“ erwartet.

    Die letzten Regierungsmaßnahmen unterscheiden sich deutlich von dem, was wir während der Krisen 2008/09 und 2011/12 beobachten konnten, so unterschiedlich diese Krisen auch gewesen sein mögen. 
    Bei der ersten Krise wurde aus Angst vor einem bevorstehenden wirtschaftlichen Kollaps mehr Geld in die Wirtschaft gepumpt als je zuvor in postsowjetischer Zeit. Dadurch wurden die Einkommen der Bevölkerung auf einem Vorkrisenniveau gehalten und sogar ein wenig angehoben, was in keinem der westlichen Länder gelang. Bei der zweiten Krise setzte der Kreml auf eine Reform des Wahlsystems und führte die Gouverneurswahlen wieder ein. Das war ein Versuch, die politische Situation unter Kontrolle zu behalten, was zugegebenermaßen auch durchaus gelang.

    Heute sehen wir ein entgegengesetztes Bild: Weder in der Wirtschaft noch in der Politik sind Zugeständnisse, ganz zu schweigen von einem Kurswechsel, abzusehen: Die Steuern werden weiter steigen (selbst bei Haushaltsüberschüssen), und unpopuläre Kandidaten werden auf einflussreiche Posten gehievt (obwohl oppositionelle Kandidaten nicht weniger verhandlungsbereit sind).

    Die harte Variante

    Warum wird dieses Mal auf eine harte Variante gesetzt? Hierfür gibt es meiner Ansicht nach eine Reihe von Gründen.
    Zum einen hat Putin zwar nicht direkt seinen Realitätssinn eingebüßt, ist aber meiner Meinung nach endgültig der Überzeugung, dass er kein Volk regiert, sondern eine amorphe Masse, die schon längst aufgehört hat, sich als Subjekt zu fühlen. Und da liegt er richtig, wenn man die Proteste gegen die Rentenreform mit den Ereignissen 1995 in Frankreich vergleicht, und die Reaktion auf die steigenden Preise und Steuern ebenfalls mit Frankreich, und zwar mit dem von heute. Widerstand gegen seine Politik hat er nicht zu erwarten, und Umfragewerte bedeuten nichts in einer Gesellschaft, in der es zwar Wahlen, aber keine Opposition gibt.

    Zweitens hofft der Präsident angesichts der sich verschärfenden Sanktionen, der instabilen Ölpreise und der stagnierenden Wirtschaft wahrscheinlich auf ein Wunder, wie es im Laufe seiner Regierungszeit nicht wenige gegeben hat. Er selbst und seine nähere Umgebung sind endgültig zu Ikonomen geworden in jenem Sinne, wie in folgendem bekannten Witz: „Was, denken Sie, sollen wir gegen die sinkenden Löhne tun?“, fragt ein Russe einen Amerikaner. Der antwortet: „Improve the investment climate – it’s only about economy. Just economy!“ „Oh, danke! Gut, mit Ikonen also!“. Daher ist der nächste Besuch des Präsidenten bei seinem Seelsorger alles, was wir als Antwort auf die  wirtschaftlichen Probleme erwarten können.

    Drittens muss berücksichtigt werden, dass der politische Kurs im Land heute von einer Sekte sogenannter Methodologen bestimmt wird, mit Sergej Kirijenko an der Spitze. Das Grundprinzip besteht, wie bei Rollenspielen,  darin, dass der Auftraggeber zunächst in eine immer kritischere Lage gebracht wird und dann einen Ausweg finden soll. 

    Derzeit befinden wir uns in der ersten Phase eines solchen Prozesses, in der alles hinreichend kontrollierbar erscheint. Bis zur eigentlichen Krise ist es noch weit.

    Viertens hat sich der Druck von Seiten der Außenwelt erschöpft – auf den viele in Russland als Beschleuniger eines Wandels gehofft hatten: Der Westen sieht keine Gründe, seine Interessen nur dafür zu opfern, um die Stabilität eines Regimes zu untergraben, gegen das die eigene Bevölkerung nur höchst unwillig aufsteht. Radikale Maßnahmen wie der Ausschluss Russlands von den internationalen Clearingsystemen für Finanzoperationen oder ein Embargo auf russische Energieimporte erscheinen da unrealistisch.

    Es wird schlechter, eine Revolution bleibt aber aus

    All das führt mich zu der Auffassung, dass sich die Situation in nächster Zeit weiter verschlechtern wird, wobei Putin wahrscheinlich noch nicht alle „Trümpfe“ aus dem Ärmel gezogen hat (so bleibt etwa eine Verfassungsreform, die ihm lebenslang die Macht sichern würde, weiter auf der Agenda).

    Allerdings sehe ich bislang keine Gründe, warum eine solche Verschlechterung irgendwelche revolutionären Änderungen hervorrufen sollte: Wenn wir uns die Geschichte sämtlicher postsowjetischer Länder anschauen, und seien es die schwierigsten dieser Momente und die ärmsten dieser Länder, so werden wir kein einziges Beispiel einer ernsten Destabilisierung finden, die durch rein wirtschaftliche Probleme ausgelöst worden wären. Selbst bei solchen, die alle Bürger betreffen – wie die Anhebung des Rentenalters, die Inflation oder die Steuererhöhung.

    Daher denke ich nicht, dass es der Präsident nötig haben wird, zur Aufbesserung seiner Umfragewerte Belarus zu besetzen oder irgendwo in Afrika einen Krieg anzufangen. Die größte Gefahr kommt für ihn derzeit nicht von seinen Untertanen, sondern von der Bürokratie: Denn der Anstieg der Aufwendungen für Bürokraten – eine Art Lohn für Loyalität – macht den Effekt jedweder Steuererhöhung zunichte. Die wachsenden Ausgaben für sie decken bereits einige Jahre schon nicht mehr die von ihnen produzierten öffentlichen Güter. Und dahingehend wird sich die Lage nur verschlechtern. Doch ob in genau diesem Bereich Änderungen erreicht werden können, davon wird letztendlich das Überleben des Putinismus abhängen. Eines Putinismus, für den die Bevölkerung immer unwichtiger wird.

    Das System bleibt bestehen

    Wird das derzeit in Russland bestehende System in nächster Zukunft auseinanderbrechen? Nein, und das aus zwei Gründen.

    Einerseits hat sich die Wirtschaft als erheblich stabiler erwiesen, als von vielen erwartet, und das sogar unter sehr schwierigen Bedingungen. Es wird noch lange eine Nachfrage nach Öl geben, und die Manipulierung des Rubelkurses bei stagnierendem Wachstum und geringer Inflation ermöglicht es, noch geraume Zeit die Finanzierung der Staatsausgaben zu gewährleisten. 

    Andererseits leben wir in einem Staat, der von einer Mafia gekapert wurde, für die es keinen Weg zurück zur Normalität gibt. Die russischen Gesetze, die im Interesse dieser Elite verabschiedet wurden, werden heutzutage erbarmungslos gebrochen. So wird die Mehrheit jener, die sich heute als Herren über das Leben vorkommen, einen Zusammenbruch des Regimes nicht unter Beibehaltung ihres gegenwärtigen Status überleben (wenn sich nicht ihre Bedeutung ändert, so doch zumindest ihr Vermögen). Ich bin daher überzeugt, dass die unterschiedlichsten Gruppierungen in der Elite einen Weg finden werden, sich zusammenzuschließen; und dass sie sogar bereit sein werden, ihre gegenseitigen Ansprüche auf die Reichtümer zu begrenzen, die sie dem Volk abgenommen haben. Schlichtweg, um die Gefahr einer politischen Explosion zu minimieren.

    Wovor sollte man sich heute noch fürchten? 

    Russland hat sich viele Male unter der Macht (und mitunter im Grunde auch im Besitz) kleiner Elitengruppen befunden. Doch ist es bisher kaum vorgekommen, dass die Gruppe, die über das Land verfügt, derart kriminell ist, und derart ungeeignet, die Aufgaben bei der Entwicklung des Landes zu bewältigen. Innerhalb von 20 Jahren hat sie die Gesellschaft von der Zukunft in die Vergangenheit umkehren lassen. Sie hat sämtliche Prinzipien sozialer Gerechtigkeit mit Füßen getreten und Russland an den Rand der internationalen Bühne manövriert.

    Das Regime ist heute imstande, diese Lage der Dinge für recht lange Zeit zu konservieren. Die nachfolgende Gruppe wird das aber wohl kaum fortführen können. Experten, die damit schrecken, dass Russland „nach Putin“ noch aggressiver, verschlossener und oligarchischer werde, übersehen eine Gesetzmäßigkeit, die sich konsequent in der russischen Geschichte zeigt: Nach einer Phase übergroßer Anspannung folgt eine Zeit der Lockerung, nach zunehmender Konfrontation mit der Außenwelt folgt die Suche nach Wegen der Zusammenarbeit.

    Wovor sollte man sich heute fürchten? Dass sich der Anteil des geraubten Gemeinguts erhöht? Das kann man sich nur schwerlich vorstellen. Dass noch weniger professionelle Führungskräfte ans Ruder gelangen? Wo sollen die nach zwei Jahrzehnten negativer Auslese noch herkommen? Dass sich Tschetschenien ein weiteres Mal von Russland loslöst? Ein solcher Schritt wäre meiner Ansicht nach nur zu begrüßen. Dass gegenüber dem Westen radikale Zugeständnisse gemacht werden? Angesichts der Liebedienerei gegenüber China wäre hier jede Konzession in höchstem Maße akzeptabel. 
    Je mehr ich mir die bestehende Situation genau anschaue, desto fester bin ich überzeugt: schlimmer als jetzt kann es nicht mehr werden. Ganz wie vom Nordpol jeder Weg nach Süden führt, so wird jede Variante eines Zusammenbruches des bestehenden Regimes einen Wandel zum Besseren bedeuten.

    Weitere Themen

    Vom Osten lernen

    Die Wegbereiter des Putinismus

    Was ist eigentlich im Nordkaukasus los?

    Die Verfassung der Russischen Föderation

    Demokratija

    Russische Journalisten in Afrika getötet

  • Bumm Bumm Bumm

    Bumm Bumm Bumm

    Heute beginnt das russische Militärmanöver Wostok 2018 (dt. „Osten 2018“) in Russlands Fernem Osten. Das russischen Verteidigungsministerium gibt an, dass allein 300.000 Soldaten daran beteiligt sein sollen. Damit wäre das Manöver größer als alle NATO-Übungen der letzten Jahrzehnte. 

    Militärexperte Alexander Golz jedoch traut diesen Zahlen nicht. Bemerkenswert an der Übung ist für ihn in seinem Kommentar auf The New Times dagegen etwas ganz anderes: Erstmals ist auch China beteiligt.

    Für die russischen Chefs gehört es zum guten Ton, den Rest der Welt ab und zu mit militärischer Stärke zu schrecken. Wir erinnern uns, dass der Präsident im März viel von phantastischen Atomraketen sprach, die durch die amerikanischen Raketenabwehrsysteme dringen wie ein Messer durch die Butter. Seine Worte wurden in animierten Videoclips bekräftigt, in denen unsere atomaren Sprengköpfe gen Florida flogen. 
    Nun hat Verteidigungsminister Sergej Schoigu das Manöver Wostok 2018 angekündigt, das im asiatischen Teil Russlands stattfinden soll. 

    Angeblich 300.000 Militärangehörige beteiligt 

    Dem Minister zufolge werden daran rund 300.000 Militärangehörige und über 36.000 Fahrzeuge und Waffensysteme aller Art beteiligt sein. Er erklärte, es seien die größten Kriegsspiele in der postsowjetischen Ära, und verglich Wostok 2018 mit dem berühmten Manöver Sapad-81 in der ausgehenden Breshnew-Zeit, wobei er hervorhob, dass das nun anstehende Manöver in gewisser Hinsicht sogar jene der Sowjetunion übertreffen würde.

    Wenn das alles ernst gemeint ist, dann haben jene, die Wladimir Putin mit zusammengebissenen Zähnen als seine „Partner“ bezeichnet, wirklich Grund zur Sorge. Eine führende Atommacht hält Manöver ab, die in ihrer Dimension mit den Kriegsspielen vergleichbar sind, die es auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges gegeben hat. Immerhin setzte die UdSSR, die seinerzeit über eine Truppenstärke von fünf Millionen verfügte, bei dem Manöver Sapad-81 nur 100.000 bis 120.000 Mann ein. 1981 war diese riesige Anzahl der beteiligten Soldaten durchaus erklärlich: Man bereitete sich auf einen globalen Vernichtungskrieg unter (wenn auch begrenztem) Einsatz von Atomwaffen vor. Heute jedoch, wo die Wahrscheinlichkeit eines Kampfeinsatzes von Millionen Soldaten nahe Null liegt, hält niemand Manöver von solcher Größe ab.

    Dimension wie auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges

    Außerdem fand Sapad-81 in einem klaren politischen Kontext statt: In Polen begann damals die Konfrontation zwischen der Solidarność-Bewegung und dem kommunistischen Regime. Es war kein Zufall, dass zu den Szenarien des Manövers damals zwei Luftlandeoperationen gehörten, eine unmittelbar in Polen, die andere in Belarus. Und es ist auch kein Zufall, dass es drei Monate später in der Volksrepublik Polen praktisch einen Militärputsch gab: Der unlängst ans Ruder gekommene General Jaruzelski befahl nicht nur die Internierung der Anführer des Widerstands, sondern rief darüber hinaus das Kriegsrecht aus – unter anderem, um eine sowjetische Intervention zu vermeiden. 

    Im Vorfeld Flottenübungen im Mittelmeer

    Heute jedoch sind im Osten keine plötzlichen Krisen zu beobachten. Und die russisch-amerikanische Konfrontation verschärft sich auf einem ganz anderen Teil des Planeten. 

    Im Vorfeld von Wostok 2018 haben im Mittelmeer russische Flottenübungen bislang ungekannten Ausmaßes begonnen, an denen über 20 Kriegsschiffe beteiligt sind. Das sind praktisch sämtliche Schiffe der russischen Flotte, die es bis nach Syrien schaffen können. Der militärische und politische Sinn des Seemanövers liegt auf der Hand: Die russischen Schiffe, die mit Lenkraketen großer Reichweite vom Typ Kalibr ausgerüstet sind, sollen die Unterstützung für die Streitkräfte von Assad absichern, die in den kommenden Tagen die Provinz Idlib unter ihre Kontrolle bringen wollen. Der Sicherheitsberater des US-Präsidenten, John Bolton, hat Nikolaj Patruschew, den Sekretär des russischen Sicherheitsrates, bereits gewarnt: Falls Assad erneut Giftstoffe einsetzt, werde Washington angreifen. 
    An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass der Einsatz von Chlorgas in letzter Zeit zu einer Art Visitenkarte der Angriffsoperationen syrischer Regierungstruppen geworden ist. Die Präsenz von 26 Kriegsschiffen soll Washington davon abhalten, sich erneut – wie im April dieses Jahres – für eine Antwort mit Tomahawks zu entscheiden, wenn Assad Giftstoffe einsetzt.

    3.000  chinesische Soldaten  und Offiziere beteiligt

    Aber irgendwie wirkt  das alles merkwürdig: Zu einem Zeitpunkt, da die Konfrontation im Mittelmeer zunimmt, plant die russische Armee im östlichen Teil des Landes Manöver von noch nie dagewesenen Ausmaßen – tausende Kilometer von den Kriegsschauplätzen im Nahen Osten entfernt. Das wäre ja noch alles nachvollziehbar, wenn es um den Wunsch ginge, die militärische Stärke Russlands China gegenüber zu demonstrieren, der einzigen militärischen Macht, die über das Potential verfügt, in den asiatischen Teil Russlands einzumarschieren. 

    Neben der Beteiligung von mongolischen Einheiten an den Manövern ist jedoch das Sensationelle an Wostok 2018, dass auch 3000 chinesische Soldaten und Offiziere teilnehmen werden. Seien wir ehrlich: Das dürfte die Entwicklung einer Verteidigung gegen eine chinesische Invasion erheblich erschweren.

    Das größte Geheimnis hinsichtlich der Manöver ist, warum überhaupt solche riesigen Manöver im Osten des Landes abgehalten werden. Glaubt man nämlich Verteidigungsminister Schoigu, wird an den Manövern ein Drittel aller Militärangehörigen des Landes teilnehmen, das ist mehr als die Truppenstärke der russischen Festlandstreitkräfte. Vermutlich ist es die Gesamttruppenstärke der Militärbezirke Ost und Zentrum, der Luftlandetruppen und der Nordmeerflotte.

    Zahlen verblüffen durch Ungereimtheiten

    36.000 Fahrzeuge und Waffensysteme – die Zahlen verblüffen durch ihre Ungereimtheiten. Nach Angaben des allseits geschätzten Nachschlagewerks The Military Balance gibt es im Militärbezirk Ost eine Panzerdivision und zehn mechanisierte Brigaden (das ergibt zusammen niemals mehr als 2000 bis 3000 Panzer, Schützenpanzer und Infanteriefahrzeuge). Im Militärbezirk Zentrum gibt es noch weniger: eine Panzerdivision und sieben Brigaden. Nehmen wir darüber hinaus einmal an, dass da auch sämtliche Automobile mit eingerechnet werden, dann kommen bestenfalls 8000 bis 10.000 hinzu. Wo kommen nun die unglaublichen 36.000 her? 
    Der Versuch, eine derartige Menge Kriegsgerät aus dem europäischen Teil Russlands zu verlegen – ich bezweifle, dass das Verteidigungsministerium überhaupt über eine derartige Menge einsatzfähiger Waffen verfügt – würde die Verkehrswege zwischen der Landesmitte und dem Osten des Landes für mehrere Wochen lahmlegen.

    Kriegsministerium kann hemmungslos lügen

    Das Rätsel um das Manöver Wostok 2018 ist leicht gelöst: Das Kriegsministerium hat ausgerechnet hier die Gelegenheit, hemmungslos auf die Pauke zu hauen und auch hemmungslos zu lügen. Der Umfang von Militärmanövern wird in Europa durch die Bestimmungen des Wiener Dokuments [über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmendek] beschränkt: auf höchstens 9000 Soldaten bei vorher anzukündigenden Manövern. Außerdem müssen ausländische Beobachter eingeladen werden. Im Osten jedoch haben unsere russischen Münchhausens mit ihren Generalsstreifen Platz zum Aufmarschieren. Sie können alle möglichen, selbst die unglaublichsten Truppenzahlen verkünden, die die militärische Stärke des Vaterlandes demonstrieren sollen – und keiner wird sie erwischen In Wirklichkeit dürften es 30.000 bis 40.000 Soldaten sein, die an den Manövern teilnehmen (und das ist schon viel). Die übrigen Einheiten werden den Befehl erhalten, zum Zielschießen auf ihre Übungsplätze auszurücken.

    Wenn nun der Verteidigungsminister dem Obersten Chef des Landes aufgeblasene Ziffern meldet, könnte man meinen: Lass ihm doch das Vergnügen. Allerdings besteht die Gefahr, dass Putin tatsächlich glaubt, er könne im Ernstfall ein 300.000-Mann-Heer gen Osten aufmarschieren lassen.

    Weitere Themen

    Wie Russland lernte, die Bombe zu lieben

    Exportgut Angst

    Sturm auf den Reichstag

    Geschichte als Rummelplatz

    Noworossyrija – Freiwillig für Assad in den Krieg

    100 Jahre geopolitische Einsamkeit

  • „Am stärksten ist die Selbstzensur”

    „Am stärksten ist die Selbstzensur”

    Der Anschlag auf Tatjana Felgengauer vor rund einem Monat war ein Schock für die unabhängige russische Medienlandschaft. Ein Mann war in das Redaktionsgebäude eingedrungen und hatte die Moderatorin schwer verletzt. In einem nach der Tat veröffentlichten Video machte der Attentäter wirre Aussagen, er sprach auch von einer „telepathischen Verbindung“ zu Felgengauer.

    Tatjana Felgengauer ist Moderatorin und stellvertretende Chefredakteurin von Echo Moskwy. Mehrheitsaktionär des Sender ist die staatsnahe Gazprom-Media Holding, zu der etwa auch der TV-Sender NTW gehört. Dennoch gilt Echo als kremlkritisch. Nicht zuletzt deswegen gab es zahlreiche Stimmen, die nach dem Anschlag die öffentliche Hetze gegen kritische Journalisten für das Attentat mit verantwortlich machten: Etwa durch den Fernsehmoderator Wladimir Solowjow, der in einer Radiosendung gefordert hatte, kritischen Journalisten „das Maul zu stopfen”.

    Einen Monat nach dem Attentat spricht The New Times mit Alexej Wenediktow, Chefredakteur von Echo Moskwy, über das Attentat, die Sicherheit von Journalisten in Russland, Selbstzensur und politische Umbrüche.

    Alexej Wenediktow, Chefredakteur von Echo Moskwy / © Valerij Ledenev/flickr.com
    Alexej Wenediktow, Chefredakteur von Echo Moskwy / © Valerij Ledenev/flickr.com
    The New Times: Nach dem Angriff auf Tatjana Felgengauer wurde in Sozialen Netzwerken viel darüber geschrieben, dass der Hass, den die staatlichen Sender und Moderatoren wie Kisseljow und Solowjow schüren, solche Straftaten befördere…

    Alexej Wenediktow: Lassen Sie uns das Ganze aus dem keck-publizistischen in den dröge-juristischen Diskurs übertragen. Ich habe den Ermittlern meine Überlegungen bezüglich Anstiftung mitgeteilt. Anstiftung fällt unter Paragraph 33 Strafgesetzbuch, sprich, es ist eine Straftat. Nun ist es an den Ermittlern zu ermitteln – oder auch nicht, das hängt wohl davon ab, wie überzeugend ich war. Wir haben denen alle nötigen Unterlagen zur Verfügung gestellt, die aus unserer Sicht belegen, dass es sich um Anstiftung handelt.

    Es gibt einige sehr ernsthafte Fragen, zum Beispiel: Woher kannte dieser Mistkerl [Boris Griz, der Attentäter Tatjana Felgengauers – Anm. d. Red.] die genaue Uhrzeit, wann Tatjana das nahe beim Wachschutz liegende Büro verließ und wann sie dorthin ging [in das Büro, wo das Attentat stattfand – Anm. d. Red.]? Weder Zeit noch Ort waren typisch für Tatjana. Dennoch ist dieser Mensch genau drei Minuten nach Ende meines Meetings hier hochgekommen. Diese Frage ist nicht geklärt und die Ermittler gehen dem nach.

    Unser Beruf geht in diesem Land mit einem ernsthaften Risiko einher

    Die Sache ist also nicht so einfach – es war nicht einfach irgendein Verrückter, der irgendwo hinkommt und jemanden in den Hals sticht, nein. Wir verlassen uns darauf, dass der Ermittler für äußerst wichtige Angelegenheiten diesen Fall auch wie eine äußerst wichtige Angelegenheit behandelt – wenn ihn schon Bastrykin [Leiter des Ermittlungskomitees der Russischen Föderation – Anm. d. Red.] höchstpersönlich damit beauftragt. Deswegen bleibt uns nur zu beobachten und abzuwarten. Ich möchte nochmals betonen, dass wir in jeder Hinsicht mit den Ermittlern kooperieren und dies auch weiterhin tun werden. Wir werden sehen, was letzten Endes in den Prozess Eingang findet.

    Vielleicht sollten die Journalisten geschlossen etwas unternehmen?

    Wir können nichts unternehmen, weil unser Beruf in diesem Land mit einem ernsthaften Risiko einhergeht. In den letzten 15 Jahren ist der Beruf des Journalisten in der Statistik der zivilen Berufsgruppen, was die Zahl der Toten und Verletzten betrifft, auf Rang zwei gerückt – gleich hinter den Bergarbeitern. Hinzukommt, dass Attentate auf Journalisten kaum aufgeklärt werden.

    Was passiert denn gerade? Ist es so etwas wie eine Systemkrise der Medien, die sich auch auf Russland auswirkt? Oder ist das eine spezifisch russische Situation?

    Selbstverständlich betrifft das nicht nur Russland. Dennoch ist, wie wir sehen, das Berufsrisiko in unserem Land wesentlich höher. Obwohl der Vorfall von Charlie Hebdo zeigt, dass unser Beruf in keinem Land geschützt ist. Denn ein Journalist rührt unweigerlich an Interessen von Machtstrukturen, wenn er Informationen oder investigative Recherchen veröffentlicht. Ganz egal, um welche Machtstrukturen es sich dabei handelt – ob Politik, Wirtschaft, Ballett oder Sport. Sind seine Informationen wahr, ist es umso gefährlicher. Denn hier gibt es nur eine Lösung: „Ihnen die verdammten Mäuler stopfen“, wie gewisse Personen beim staatlichen Radiosender gern sagen. Nun ja, jetzt hat sich einer gefunden – mit ’nem Messer in den Hals. Ganz einfach.

    Vielleicht sollten sich die Journalisten irgendwie selbst schützen?

    Das ist unmöglich. Wie hätte man Charlie Hebdo schützen können?

    Was ist zurzeit stärker, die Zensur oder der ökonomische Druck auf die Medien?

    Wissen Sie, ich denke, am stärksten ist die Selbstzensur. Denn die Bedrohung des eigenen Lebens, der Gesundheit, der Familie, die Angst, den Job zu verlieren – das alles zwingt Journalisten zur Selbstzensur.

    Vor allem nach dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs und der Sache mit der Krim ist bei uns die Luft geradezu vergiftet mit Hasstiraden. Es ist eine Atmosphäre, nicht des Krieges, denn einen Krieg gibt es scheinbar nicht, sondern einer Hysterie, die alle vergiftet – nicht nur diejenigen, die brüllen, sondern auch diejenigen, die sich dieses Gebrüll anhören.

    Ich denke, seriöse Journalisten sollten als Inhibitoren fungieren, sprich, diese Vergiftung eindämmen, indem sie die Situation analysieren, vernünftige Fragen stellen und die Situation von verschiedenen Standpunkten aus beleuchten. Das passiert kaum.

    Die Luft ist bei uns vergiftet mit Hasstiraden

    Wenn die Journalisten von Echo Moskwy früher einfach nur den schlichten Auftrag hatten zu informieren, aufzuklären und zu unterhalten, wie alle anderen Medien auch, so ist unser Auftrag nun, die Toxizität zu senken, die Vergiftung zu verzögern, denn auch auf uns wirkt dieses Gift. Wir existieren ja nicht im luftleeren Raum, laufen nicht mit Sauerstoffmasken durch die Gegend.

    Und natürlich ist es meine Aufgabe als Chefredakteur, die Journalisten an ihre berufliche Pflicht zu erinnern. Ich bin mir sicher, dass der Vorfall mit Tatjana viele Journalisten erschreckt hat, in unserer Redaktion und in anderen. Das ist eben jener Preis, den nicht jeder zu zahlen bereit ist – dafür, dass man das sagt, wozu man das Recht hat, wozu dir dein Beruf das Recht gibt und die Meinungsfreiheit.

    Deswegen denke ich, ist die Selbstzensur das größte Problem – zumindest für unseren Radiosender. Wir haben keine Zensur, keine ökonomischen Einschränkungen seitens unserer Aktionäre. Vor 17 Jahren hatte ich ein Gespräch mit unserem Aktionär, ich meine damals mit Gazprom. Wir haben damals ein Modell ausgearbeitet, demzufolge wir auch alles Negative über Gazprom senden, allerdings unter der Bedingung, dass wir uns zeitnah um Kommentare bemühen. Das ist die einzige Einschränkung, die aber inzwischen nicht mehr besonders relevant ist. Deswegen ist für mich die Selbstzensur das Wichtigste, wogegen ich hier kämpfe. Die gibt es, und gegen die kämpfe ich.

    Mich würde interessieren, wie das aussieht.

    Nun, ich kriege mit, wenn gewisse Nachrichten ausgelassen oder bestimmte Personen nicht eingeladen werden. In solchen Fällen bestelle ich den betreffenden Mitarbeiter zu mir und frage ostentativ: Erklären Sie mir, warum Sie diese Nachricht für unwichtig halten, obwohl sie mir ziemlich wichtig erscheint. Was ist das für ein Argument „Vielleicht sollten wir lieber nicht …“? Das passiert selten, aber es kommt vor. Und die, die damit nicht zurechtkommen, würden Echo verlassen müssen. Das sage ich ihnen ganz direkt. Aber bislang kommen alle damit zurecht. Jeder für sich. Das Wichtigste ist, mit sich selbst zurechtzukommen, seine Ängste zu überwinden, die eigenen Horrorszenarien loszuwerden. Angst darf hier kein Ratgeber sein.

    Angst darf kein Ratgeber sein

    Wie stehen Sie zu der Änderung des Mediengesetzes, den ausländischen Agenten? Wird es in Russland am Ende der Präsidentschaftswahlen überhaupt noch freie Medien geben?

    Streng genommen tangiert die Gesetzesänderung mit den ausländischen Agenten die russischen Medien überhaupt nicht, kein bisschen.

    Es ist aber so formuliert, dass es auf jeden angewendet werden kann.

    Nein, eigentlich nicht. Das Problem liegt woanders. Ich denke, das Agentengesetz ist eine Nebelkerze, um von einer ganz anderen Änderung abzulenken, über die bei derselben Abstimmung entschieden wurde. Eine Änderung, die der staatlichen Medienaufsichtsbehörde erlaubt, jede – wie es dort heißt – Organisation, die Informationen verbreitet, außergerichtlich zu schließen. Ich betone: außergerichtlich. Grob gesagt, kann es die Webseite vom Roten Kreuz sein oder die Site der bulgarischen Botschaft oder auch jeder Messenger … Das ist es, was gerade unter den Empörungsrufen zum Agentengesetz durchgewunken wurde.

    Passiert das alles nur, weil die Wahlen anstehen?

    Die Wahlen gehen vorbei, und wir alle wissen doch, wie sie in etwa ablaufen werden – unabhängig davon, wer zugelassen wird und wer nicht. Sehen Sie mal, die dritte – die formal dritte – Amtszeit von Präsident Putin war offenkundig reaktionär. Was kommt bei der vierten? Wie geht es weiter? In welche Richtung wird er sich bewegen? Doch wohl kaum in die liberale, vermutlich nicht einmal in die konservative. Vom Reaktionären gibt es nur zwei Wege: entweder zurück zum Konservativismus oder geradewegs in den Obskurantismus. So sieht’s nämlich aus.

    Für wie wahrscheinlich halten Sie militärische Umstürze in Russland?

    Von Umstürzen erfahren wir immer, wenn Menschen auf die Senatskaja Ploschtschad gehen oder wenn einer eine Tabakdose gegen die Schläfe kriegt oder wenn meinetwegen der 93-jährige Mugabe plötzlich erfährt, dass alle seine Mitstreiter gegen ihn sind. Aber man hat keinen Gradmesser, um die Wahrscheinlichkeit zu messen.

    Was mich betrifft, so bin ich der Meinung, dass Wladimir Putin im Augenblick trotz allem ein Garant für den Erhalt von Macht und Reichtum seiner Truppe ist, mehr noch: der ganzen Jelzin-Truppe. Deswegen sehe ich die Wahrscheinlichkeit für Umstürze als eher gering an. Aber vielleicht bin ich blind.

     

    Weitere Themen

    „Die Rhetorik derzeit ist komplett putinozentrisch“

    „ … sonst bleibt nur der Revolver“

    Dimitri Kisseljow

    Alles Propaganda? Russlands Medienlandschaft

    Wladimir Solowjow

    Debattenschau № 60: Medien als „ausländische Agenten“

  • Stone: The Putin Interviews

    Stone: The Putin Interviews

    Zwölf Mal haben sie sich getroffen, zwischen Juli 2015 und Februar 2017: Der russische Präsident Wladimir Putin und der US-amerikanische Kinoregisseur Oliver Stone. Nun wurden The Putin Interviews Mitte des Monats im russischen Staatsfernsehen gezeigt. Auch international war das Stone-Interview zu sehen, so im US-Fernsehen und für das deutschsprachige Publikum auch auf einzelnen Sparten des Bezahlsenders Sky

    Anschließend sorgte im russischen Web eine kurze Filmszene für Häme, in der Kreml-Pressesprecher Dimitri Peskow in unbequemer Haltung mit Mikrofon-Angel über der Schulter zu sehen war. Außerdem entfachte das Bildmaterial einiger Blogger Diskussionen: Ein Video, das Putin dem Regisseur auf dem Smartphone zeigte, dokumentiere nicht, wie behauptet, den russischen Kampf gegen Terroristen in Syrien, sondern US-Soldaten im Einsatz gegen Taliban in Afghanistan.

    Alexej Kowaljow, der den Medienblog Lapschesnimalotschnaja betreibt, hat sich die vier Stunden Putin-Interview für The New Times angesehen. 

    „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ – Oliver Stone und Wladimir Putin / Foto © Screenshot aus dem Film „The Putin Interviews“
    „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ – Oliver Stone und Wladimir Putin / Foto © Screenshot aus dem Film „The Putin Interviews“

    Putin und der Kreml haben ein ziemlich gravierendes Imageproblem. So absurd es auch klingen mag: Trotz eines nahezu unerschöpflichen Budgets und der vollen Kontrolle über alle Medien im Land fehlt es an Leuten, die Wladimir Putin loben.

    Selbstverständlich gibt es eine ganze Armee von Leuten, die nichts anderes tun. Aber wenn Putin wieder einmal von einem Experten oder Moderator gelobt wird, der sein Gehalt von Putin bezieht, noch dazu auf einem Sender, der ebenfalls Putin gehört, wirkt das sogar für den leidenschaftlichsten Anhänger wenig überzeugend.

    Deswegen ist der neue Film von Oliver Stone The Putin Interviews ein ungeheures Glück für hunderte von Menschen in den Büros der Agitprop-Kommandozentralen: Vier Stunden liebedienerische Propaganda, die auch noch vollkommen aufrichtig gemeint ist und das Budget gerade mal mit ein paar läppischen Millionen für die Verleihrechte belastet. Ein besseres Geschenk kann es für die Wahlkampagne gar nicht geben.

    So absurd es auch klingen mag: Im Land fehlt es an Leuten, die Wladimir Putin loben

    Kein Zweifel: Oliver Stones Film und nicht der alljährliche Direkte Draht mit Wladimir Putin hat den offiziell noch nicht eröffneten Wahlkampf eingeläutet. Es genügt ein Blick darauf, wie viel Aufmerksamkeit und Sendezeit diesem Film schon jetzt durch die russischen Staatsmedien zukommt. Wochenlang waren Hunderte von Mitarbeitern in Dutzenden von Redaktionen damit beschäftigt, aus buchstäblich jeder Sekunde des vierstündigen Films (vier Folgen à 60 Minuten) eine Schlagzeile zu machen. 

    Diese Propagandakampagne führt zu bemerkenswerten Szenen der Selbstentblößung. Die Schlagzeile „Putin erklärte, dass der Staat in Russland die Medien nicht kontrolliere“ erschien beispielsweise auf der Seite des staatlichen Medienunternehmens Rossija Sewodnja (dt. Russland heute), der ehemaligen Nachrichtenagentur RIA Nowosti, die durch einen Erlass Putins aufgelöst worden war.

    Oliver Stones Film hat den offiziell noch nicht eröffneten Wahlkampf eingeläutet

    Doch eine noch krassere Diagnose verdient der Macher von The Putin Interviews Oliver Stone. Der dreifache Oscarpreisträger und Regisseur steht politisch jenen Linken nahe, die man für gewöhnlich als „tankies“ beschimpft. Ein historischer Begriff, mit dem ursprünglich Mitglieder der britischen Kommunistischen Partei verspottet wurden, die 1956 den Einmarsch sowjetischer Truppen in Ungarn unterstützt hatten. Seitdem bezeichnet er Menschen, die autoritären Regimes anhängen, seien sie noch so blutig, solange sie nur antiwestlich oder antiimperial und so weiter sind.

    Ein Tankie kann also jeder Linke sein, der die Freiheiten und Privilegien im Westen genießt, wo er auch lebt, gleichzeitig aber als leidenschaftlicher Anhänger und Verteidiger irgendeines Saddam Hussein auftritt. Ganz nach dem Prinzip: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Diese Ideologie geht meist einher mit Verschwörungstheorien, Antisemitismus (Tankies vertreten fast immer radikal antiisraelische Positionen) und einem moralischen Relativismus im Sinne von: Egal was diese Regime tun, Amerika/der Westen ist schlimmer.

    Stone ist einer von ihnen. Hinter ihm liegt ein langer und konsequenter Weg zu The Putin Interviews. Kennedy wurde nicht von Lee Harvey Oswald ermordet, sondern fiel einer Verschwörung des CIA mit dem militärisch-industriellen Komplex der USA zum Opfer. Davon handelt JFK, einer der bekanntesten von Stones Filmen. Die jüdische Verschwörung in den Medien – darum ging es kürzlich bei einem Fernsehauftritt von Stone. Stones gesamte Filmkarriere der letzten zehn Jahre (Mein Freund Hugo, Ukraine on Fire) ist eine leidenschaftliche, aufrichtige und unkritische Apologie höchst zweifelhafter Regime.

    Stones gesamte Filmkarriere der letzten zehn Jahre ist eine Apologie höchst zweifelhafter Regime

    Deswegen ist The Putin Interviews auch keine Auftragsarbeit des Kreml, sondern ein folgerichtiger Ausdruck der politischen und künstlerischen Haltung eines Regisseurs, der zweifellos als einer der begabtesten und bekanntesten unter seinen amerikanischen Kollegen gelten kann. Und diese Haltung lässt den Hauptprotagonisten des Films, Wladimir Putin, sogar moderater und vernünftiger wirken als seinen Interviewer. Interviewer ist in der Tat zu viel gesagt. Als journalistische Gattung setzt das Interview gewisse Standards voraus, an die sich zu halten Stone erst gar nicht versucht.

    Tatsache ist, dass Oliver Stone den gesamten Film über nicht mit Putin spricht, sondern mit sich selbst. Stone hält ausschweifende Monologe wie: „Sie klingen so, als sei die Wall Street ihr Freund, dabei frage ich mich, ob die Wall Street Russland nicht vernichten möchte?“ Oder: „Viele gebildete Menschen sind der Meinung, das Ziel der USA sei, die russische Wirtschaft zu zerstören.“ Oder: „Gab es in der amerikanischen Geschichte denn je eine Zeit, in der Russland den USA nicht als Feind präsentiert wurde?“

    Wladimir Putin wirkt moderater und vernünftiger als sein Interviewer

    Willst du Putin dazu bringen, deine antiwestlichen Kampfreden zu korrigieren, braucht es dafür wirklich ein oscarwürdiges Talent. Putin war beispielsweise gezwungen zu erklären, dass es keinerlei formale Verpflichtung gebe, die NATO nicht nach Osten zu erweitern. Selbst wenn Stone Putin nicht mit seinem selbst für Putin allzu radikalen Antiamerikanismus irritierte, warf er ihm bestenfalls sogenannte Softbälle zu – unverfängliche und bequeme Fragen, die den Interviewpartner keinesfalls in eine Sackgasse führen. Wenn Sie wissen möchten, was eine Softball-Frage ist, sehen Sie sich ein beliebiges Interview mit Putin im Staatsfernsehen an. Sogar die angesehensten Moderatoren der staatlichen Sender werden nicht gebraucht, um Fragen zu stellen, sondern dienen zur Dekoration für Putins Monologe.

    Aber natürlich ist Stone viel talentierter als die meisten russischen Fernsehmacher. Außerdem würde niemand einem Kameramann von Vesti je erlauben, Putin aus einem Winkel zu filmen, bei dem seine Glatze oder sein Bäuchlein zu sehen sind, geschweige denn seine Finger, die nervös die Armlehne kneten. Deswegen wirkt Putin hier auch viel lebendiger, als der Cyborg aus dem russischen Fernsehen. Genau dafür wurde Stone in englischsprachigen Kritiken übrigens gelobt – die Authentizität des Streifens.

    Putin wirkt hier viel lebendiger als der Cyborg aus dem russischen Fernsehen

    Und natürlich würden dem Ersten Kanal bei der Montage niemals solche Fauxpas unterlaufen, die passiert sind, weil Stone tatsächlich rein gar nichts über Russland weiß, nicht mal auf Wikipedia-Niveau: Als sie auf das Thema internationaler Terrorismus kommen, liefert Stone Putin abermals eine enthusiastische Vorlage, woraufhin Putin erzählt, die CIA habe tschetschenische Kämpfer finanziert. Gleichzeitig laufen im Hintergrund Bilder vom Nord-Ost und aus Beslan ab. Offenbar hat niemand Oliver Stone erklärt, dass bei mindestens einem dieser tragischen Ereignisse der russischen Geschichte am Tod der meisten Geiseln nicht die Terroristen schuld sind. Völlig unabhängig davon, wer sie finanziert.

    Tatsache ist, Putin und Russland nehmen im Weltbild eines Oliver Stone und anderer anti-westlicher Linker eine untergeordnete Position ein, sie sind quasi Dekoration für ihren Hass gegen das Establishment der USA. Deswegen braucht Stone Putins Antworten auch gar nicht unbedingt, meistens ist die Antwort schon in der Frage enthalten.

    Letzten Endes ist aus einem epischen vierstündigen Streifen über den widersprüchlichsten, mächtigsten, weisesten und erfahrensten Politiker, der völlig zu Unrecht vom Westen verleumdet wird – so hatte sich der Macher das gedacht – eine selbstentblößende Autobiografie zweier in die Jahre gekommener verwirrter Menschen geworden. Beide haben sich hoffnungslos in einem Netz aus längst veralteten und widersprüchlichen ideologischen Dogmen verheddert.

    Oliver Stone wettert mit so viel Feuer gegen die ‚Hegemonie Amerikas‘, dass Putin sich genötigt sieht, ihn zu bremsen

    Oliver Stone wettert mit so viel Feuer gegen die „Hegemonie Amerikas“ (die auf jeden Fall alles andere als frei von Sünde ist), dass Putin sich genötigt sieht, ihn zu bremsen. Putin gibt solche Interviews schon seit 18 Jahren, sein Panzer ist kugelsicher.

    Alle Versuche von Reportern, seien sie noch so forsch und frech, ihn mit irgendeiner Frage zu kriegen, scheitern und enden mit Anfall von Untertänigkeit in den russischen Medien, nach dem Motto: „Da hat Putin es dem West-Journalisten aber gezeigt.“ Er vermag es, auf die direkteste Frage mit einer offenkundigen Lüge zu antworten, sodass seinem Gegner nichts anderes übrigbleibt, als mit offenem Mund dazusitzen.

    Denn Putin hat nichts zu befürchten. Es gibt niemanden, der „es ihm zeigen“ könnte. Seine Chancen bei der Wahl hängen nicht davon ab, ob er die Wahrheit sagt oder lügt. Wahrscheinlich weiß er sogar intuitiv um das ulkige Brandolini-Gesetz: Das Widerlegen von Unsinn erfordert erheblich mehr Energie als die Erfindung. Als Putin dann ganz unumwunden behauptet: „In Russland mischt sich der Staat nicht in die Arbeit der Medien ein“, sieht man, dass er wohl schon selbst daran glaubt. Und das ist der mit Abstand unheimlichste Moment des gesamten Films.

    Weitere Themen

    Fernseher gegen Kühlschrank

    „Die Rhetorik derzeit ist komplett putinozentrisch“

    Trump ein Agent Putins?

    Die Wegbereiter des Putinismus

    Triumph der Propaganda über den Journalismus

    Die Geburt des Politischen aus dem Geist der Propaganda

  • Umzingelt von Freunden?

    Umzingelt von Freunden?

    Mit Donald Trump als designiertem neuen US-Präsidenten betritt im Januar ein Mann die internationale Bühne, der schon vor der ersten Amtshandlung das Credo „Make America Great Again“ ausgab. Wie er die USA in den alltäglichen Regierungsgeschäften führen wird, ist bisher allerdings unklar. Ebenso, welche Rolle das Land innerhalb der Nato und im Verhältnis zu Europa einnehmen wird – und damit in Syrien-Krieg und Ukraine-Konflikt.

    Von Russland aus betrachtet sehe diese neue Situation schon klarer aus, glaubt Andrej Kolesnikow, politischer Analyst beim Carnegie-Zentrum Moskau. Zumindest ein bisschen. Denn neuerdings befinde sich Russland gewissermaßen unter Gleichgesinnten, schreibt er in dem oppositionellen Wochenblatt The New Times. Aber was hieße das für ein Land, das sich bisher eher als geächteter Außenseiter positionierte? Und was wird dann aus alten Feindbildern? Skizze eines komplizierten Ausblicks.

    Grafik © Chris Piascik/flickr.com (exp. background)
    Grafik © Chris Piascik/flickr.com (exp. background)

    Brexit, Sieg von Donald Trump, Erfolg des Putin-Freunds Francois Fillon bei den Vorwahlen (und höchstwahrscheinlich auch bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich 2017) – nach all diesen Ereignissen fühlen sich Putin und seine Eliten beinahe wie Trendsetter der neuesten Innen- und Außenpolitik: „Wir haben’s euch ja gesagt! Und ihr wolltet nicht auf uns hören! Also, bitte sehr, da habt ihrs!“

    Festung plötzlich ohne Feinde

    Einerseits hat sich das äußere Umfeld für Russland tatsächlich verändert. Andererseits lassen all diese Veränderungen völlig unerwartet eine grundlegende, ungeschriebene Doktrin erodieren. Eine, auf der die Post-Krim-Konsolidierung der Putinschen Eliten beruht: die Doktrin der belagerten Festung. Der Westen übt Druck auf Russland aus, führt einen Informationskrieg, die NATO nähert sich Russlands Grenzen, und wir verteidigen uns, sichern die belagerte Festung, erweitern ihre Grenzen, führen gerechte Kriege, ergreifen innerhalb der Festung Nationalverräter und rücken um den Kommandanten dieser Festung eng zusammen, sprich um den Anführer der Nation.

    Ein solches Modell, das noch zusätzlich mit geistigen Klammern und Mythen wie den 28 Panfilow-Helden umrankt ist, hat nicht nur für die Konsolidierung der Eliten, sondern auch für die Bereitschaft von 70 Prozent der Bevölkerung gesorgt, eine selbstzerfleischende Politik von Gegensanktionen zu unterstützen (laut Angaben des Lewada-Zentrums eine der stabilsten Zahlen in soziologischen Erhebungen).

    Doch wenn wir unterdessen selbst die Trends in der Weltpolitik setzen – vor wem soll man sich dann noch schützen? Die belagerte Festung wird von Moos bewachsen und der Festungsgraben wird zum Sumpf mit Seerosen.

    Zu Beginn des 21. Jahrhunderts bemühte sich Putin, in einer Reihe mit George Bush junior und Tony Blair zu stehen und nach ihren Regeln zu spielen. Aber weltpolitischer Anführer nach westlicher Art zu werden, klappte nicht. Mittlerweile ist er weltpolitischer Anführer auf seine Art. Und diese Art hat der Westen gekauft. Dort, im Westen, verkauft Putin erfolgreich Ängste – und im Inland Drohungen. Jetzt ist ausgerechnet er der Hügelkönig.

    Das für alle hässliche (aber für uns hübsche) Entlein Donald (Trump) passt perfekt zu den Bestrebungen von Russlands oberstem Politiker: #DonaldTrumpNasch, #FillonNasch, alle rechten (na, und die linken) Populisten gehören uns. Putin ist weltpolitischer Anführer. Was will man mehr? Mit wem soll man noch kämpfen?

    Trump kann Erwartungen auch verfehlen

    Nun ja, erstens hat sich die Post-Krim-Mehrheit nicht nur durch äußere Kriege konsolidiert. Innere Kriege mit der Fünften Kolonne, mit der Opposition, mit korrupten Liberalen (und Generälen ebenso – der Silowiki-Teil des Systems reinigt sich selbst) können genauso effektiv das eigene Ansehen heben. Zumindest bis zur Wahl 2018.

    Zweitens ist noch nicht völlig ersichtlich, ob sich die breit verkündete Trumpisierung der demokratischen Welt als stabiler Trend erweist, der das Putinsche Russland vom Geächteten zum Trendsetter macht.

    Sollte Trump dann mit einem Mal doch nicht die Erwartungen der russischen Führung erfüllen und Europa in seiner politischen Ausrichtung und in der Frage der Sanktionen solidarisch bleiben, sollte die Haltung der NATO für die westliche Welt weiterhin Konsens bleiben, dann wird die Frustration im Putinschen Russland äußerst heftig ausfallen. Es gibt nichts Schlimmeres als zu hohe Erwartungen. Trumps Amerika gegen Putins Russland – das wäre eine abenteuerliche Unternehmung mit offenem Ergebnis.

    Wenn wir nun über wirklich langfristige Trends sprechen, darf man außerdem nicht vergessen, dass alle Schlüsselländer der westlichen Welt Demokratien sind. Der Rechtspopulismus muss nicht von Dauer sein. Immerhin gehen Wahlen im Westen bisher noch nicht nach russischem Schema vor sich: Das Pendel des Wählervotums kann komplett in die andere Richtung ausschlagen. Wer weiß schon, wie lange sich dieser neue Politikertyp erfolgreich und stabil an der Macht hält.

    Muss Putin sich neu erfinden?

    Begehen wir nicht einen Fehler, wenn wir die aktuelle Tendenz der Trumpisierung auf die Zukunft hochrechnen? Selbst wenn man außer Acht lässt, dass die Faktoren, die diese Tendenz bedingt haben (das Verlangen nach Politikern neuen Typs, Migrationsströme, Terrorbedrohung), keineswegs verschwunden sind. Es ist ohne Zweifel ein Test für die Demokratie westlichen Typs, wobei ihre institutionellen Grundlagen stark genug sind, daher ist anzunehmen: Sie wird diese Regierenden al là Trump mittel- und langfristig verdauen.

    Kurzum, die Konturen der Außenwelt, in der sich die Putinsche Regierung fortan bewegt, beginnen gerade erst, sich abzuzeichnen. Bisher gibt es keine Klarheit darüber, worauf die Akzente des bevorstehenden Präsidentschaftswahlkampfes für 2018 gesetzt werden und wie es mit der Suche nach neuen und alten Feinden aussieht, mit denen gekämpft werden muss, damit sich die Massen stabil um ihren Anführer scharen. Klar ist nur, dass Putin den Eliten mögliche Antworten auf die neuen außenpolitischen Herausforderungen aufzeigen muss, um sie davon zu überzeugen, dass er die Situation unter Kontrolle hat. Sonst könnte man ihn aus innen- wie außenpolitischen Gründen nach 2018 als „lahme Ente“ wahrnehmen. Und dann jemanden suchen, der eine klare und deutliche Antwort auf die neuen Herausforderungen formulieren kann.

    Weitere Themen

    Trump ein Agent Putins?

    Presseschau № 42: Russland und die USA

    Exportgut Angst

    Presseschau № 43: Russland und die USA

    Presseschau № 44: Trumps Wahlsieg

    Russland – plötzlich im Spiegel der USA

  • Griechenland, Europa, Putin

    Griechenland, Europa, Putin

    In der Beziehung zwischen Russland und der EU nimmt Griechenland eine besondere Stellung ein: Die Verbindungen zwischen den orthodoxen Staaten sind traditionell eng, beide betrachten sich als Erben der byzantinischen Welt.

    Seit 2014 und den Ereignissen in der Ukraine sind Russlands Freunde in EU-Europa rar geworden. Wohl nicht ohne Grund erinnerte Putin nun, kurz vor seinem zweitägigen Besuch in Athen und dem russisch-orthodoxen Mönchskloster auf dem heiligen Berg Athos, in einem Gastbeitrag in der konservativen griechischen Tageszeitung Katherimini an die historische Verbundenheit der beiden Staaten: Moskau sucht den Schulterschluss mit Athen.

    In Griechenland ist das politische Spektrum stark polarisiert, sowohl linke wie rechte Parteien sind einflussreich, bei einer schwachen Mitte. Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch in anderen EU-Ländern beobachten. Umso aufschlussreicher kann ein Blick auf die griechisch-russischen Konstellationen sein, wie ihn Leonid Ragosin von The New Times unternimmt: Wie stehen die unterschiedlichen Strömungen der griechischen Politik zu Russland? Ist Athen wirklich der engste Verbündete Moskaus in der EU?

    Im Oktober 2015 versammelten sich in einem verqualmten und graffitibedeckten Hörsaal der Athener Technischen Universität Vertreter von 30 linken Organisationen aus 15 europäischen Ländern zum „antifaschistischen Forum" – European Forum for Donbass. Der Stadtteil, in dem das sogenannte Polytechnio liegt, war immer eine Hochburg der Linksradikalen gewesen: Noch vor kurzem wagte sich die Polizei, mit der die jungen Kommunisten und Anarchisten traditionell auf Kriegsfuß standen, kaum hierher. Die Versammelten einte der Wunsch, die Bewohner des Donbass in ihrem Kampf gegen die „ukrainischen Faschisten“ zu unterstützen.

    In breiter Front

    Auf dem Podium saßen, vor einer mit roten Hammer-und-Sichel-Fahnen behängten Wand, griechische Kommunisten, Gäste aus dem Donbass und ein junger Deutscher in einem grünen Trikot mit einer – russischsprachigen – „Pro Gaddafi“-Aufschrift.

    Der Headliner der Veranstaltung, Sergej Marchel, war ein ehemaliger IT-Mann aus Odessa, der die Ukraine verlassen hat und jetzt in ganz Europa Veranstaltungen zur Unterstützung des Donbass organisiert. Er erklärte, die Teilnehmer hätten sich darauf verständigt, ein internationales antifaschistisches Forum zu gründen.

    „Wir haben einen Beschluss darüber gefasst, dass weltweit in allen Ländern eigene Untereinheiten für den Kampf gegen den Faschismus aufgebaut werden sollen, damit alle freiheitsliebenden Menschen in Frieden leben können“, erläuterte Marchel.

    Der griechische Organisator Andreas Safiris war selbst im Mai 2015 im Rahmen einer humanitären Hilfsaktion in den Donbass gereist. „Dort werden einfache Menschen zu Helden“, erinnerte sich der von der Standhaftigkeit der Donbass-Bewohner begeisterte Safiris in unserem Gespräch. „Sechzigjährige Frauen erklärten uns, sie würden lieber hungern und sterben als unter die Herrschaft der ukrainischen Faschisten zu geraten.“

    Wir haben einen Beschluss darüber gefasst, dass weltweit in allen Ländern der Welt eigene Untereinheiten für den Kampf gegen den Faschismus aufgebaut werden sollen, damit alle freiheitsliebenden Menschen in Frieden leben können

    Die griechische Delegation hatte damals unter anderem den Lugansker Separatistenführer Alexej Mosgowoi getroffen – die Reise fand zwei Wochen vor dessen Tod statt. Die Mosgowoi-Brigade „Prisrak“ [Gespenst – dek] genoss bei den europäischen Linken Kultstatus, weswegen sich Spanier, Franzosen, Griechen und zahlreiche andere ihren Reihen angeschlossen hatten.

    „Ich war aber doch erstaunt, da ein Foto von Mosgowoi mit einem Porträt von Zar Nikolaus II. zu sehen. Ich hatte den Eindruck, der Mann ist Monarchist“, berichtete ein Teilnehmer, der anonym zu bleiben wünschte. Der griechische Donbass-Besucher ließ sich jedoch dadurch nicht weiter beirren, schließlich müsse man „in breiter demokratischer Front gegen den Faschismus kämpfen“, das sei seine Meinung.

    Die Frage ist nur: Wen bezeichnet man eigentlich als Faschisten? Diejenigen, die in Griechenland den dortigen Linken als Faschisten gelten, sind schließlich selbst ebenfalls Russland- und Putinfreunde.

    Der Goldenen Morgenröte entgegen

    Mit Ilias Kasidiaris treffen wir uns an seinem Arbeitsplatz – dem griechischen Parlament, wo er die rechtsextreme Partei Chrysi Avgi vertritt, die „Goldene Morgenröte“. Der zweite Mann in der Organisation (er selbst) sowie weitere Führungsfiguren der Goldenen Morgenröte sind derzeit in ein Verfahren verwickelt wegen Gründung einer kriminellen Organisation, die mit politischem Terror, mehreren Morden und der Verbreitung nazistischer Ideologie in Verbindung gebracht wird. Wobei er letztere auch schon auf seinem eigenen Körper verbreitet: Seine in griechischer Ornamentik gestaltete Hakenkreuz-Tätowierung geriet griechischen Fotojournalisten bereits mehrfach vor die Linse.

    Die Goldene Morgenröte ist aus der neonazistischen Subkultur aufgestiegen, und obwohl ihre Mitglieder heute die Verbindung ihrer Ideologie mit dem klassischen Faschismus leugnen, ist die Nachfolge in ihrer Rhetorik und ihren Attributen doch klar erkennbar.

    Kasidiaris hat umfangreiche Pläne zur Stärkung des russisch-griechischen Bündnisses. Unter anderem will er, dass Russland Gasleitungen durch griechisches Territorium verlegt und bei der Förderung von Erdgas im griechischen Schelf behilflich ist. Der Mythos von der möglichen Energie-Autarkie Griechenlands ist bei den griechischen EU-Gegnern populär, wird allerdings von Geologen nicht bestätigt.

    „Da ja die Amerikaner eine Militärbasis auf Zypern haben – was unseren (den griechischen) Interessen ganz und gar nicht förderlich ist – warum soll man nicht auf [der griechischen Insel] Syros auch eine russische Basis aufbauen, wenn von russischer Seite ein solches Interesse besteht“, sagt der Abgeordnete. Ihm zufolge gab es solche Überlegungen bereits unter der Regierung Kostas Karamanlis, der von 2007 bis 2009 griechischer Ministerpräsident war.

    Alle Schuld den Amerikanern

    Was den Ukraine-Konflikt betrifft, so gibt Kasidiaris alle Schuld den Amerikanern, die den Kiewer Maidan angezettelt und das Land in den Krieg getrieben hätten. In Russland, so Kasidiaris, arbeite seine Partei eng mit Shirinowskis LDPR und der Partei Rodina [Heimat – dek] zusammen, die ehemals vom heutigen russischen Vizepremier Dimitri Rogosin geführt wurde.

    Zwei Vertreter der Goldenen Morgenröte nahmen an einem Kongress politisch weit rechts angesiedelter Organisationen teil, den Rodina im Frühjahr 2015 in Petersburg ausgerichtet hatte. Die Veranstaltung verfolgte in erster Linie das Ziel, eine Koalition zur Unterstützung des russischen Vorgehens und der prorussischen Kämpfer in der Ostukraine zu bilden. So gesehen unterschied sie sich nur wenig von der weiter oben geschilderten Zusammenkunft der Linken in Athen, nur dass hier Leute teilnahmen, die in Fachkreisen für gewöhnlich als Neonazis gelten.

    Einer von ihnen war Alexander Miltschakow, Spitzname „Fritz“ – ein bekennender Petersburger Nazi, Anführer des im Donbass aktiven Diversions- und Sturmtrupps Russitschi, der sich aus seinen Nazi- und Neopaganisten-Freunden zusammensetzt.

    Ein weiterer extrem wichtiger Kontaktmann der Goldenen Morgenröte in Russland ist der Philosoph Alexander Dugin, eine Kultfigur in Neonazikreisen in ganz Europa. Die Partei teile – so Kasidiaris – seine Überzeugung, dass Russland (und nicht, zum Beispiel, das moderne Griechenland) der Erbnachfolger des Byzantinischen Reiches sei. Allerdings, sagt Kasidiaris, hätten die Goldene Morgenröte und Dugin unterschiedliche Meinungen zur Türkei: Der Russe Dugin betrachte das Land als Verbündeten, während es für die rechten Griechen ein Erzfeind sei.

    2014 hatte Dugin, Professor an der MGU, zwei hohe Mitglieder der Goldenen Morgenröte in der Universität empfangen, die zum Abschluss des Treffens erklärten, sie würden Russland als den wichtigsten Verbündeten im Kampf gegen die „amerikanische Expansionspolitik“ betrachten.

    Syriza hin …

    Dugin – ein Mann von aufgeschlossenem Charakter – ist dabei nicht nur mit den griechischen Neonazis befreundet, sondern auch mit deren Erzfeinden von der linken Partei Syriza, die aktuell in Griechenland die Regierung stellt.

    Dugin hatte 2013 auf Einladung von Nikos Kotsiatis, der heute das Amt des griechischen Außenministers bekleidet, einen Vortrag an der Universität Piräus gehalten. Allerdings ließen wiederum die griechischen Grenzbeamten Dugin am 18. Mai 2016 nicht ins Land – „auf ein Ersuchen Ungarns hin“.

    Ich verstehe nicht, wie eine Partei, die sich offen für Adolf Hitler begeistert, ein Freund Russlands sein kann, das dermaßen unter dem Nationalsozialismus gelitten hat

    Bei Vertretern von Syriza, unter denen viele ehemalige Kommunisten sind, rufen die herzlichen Beziehungen der Ultrarechten mit Russland Eifersucht und Ratlosigkeit hervor. „Ich verstehe nicht, wie eine Partei, die sich offen für Adolf Hitler begeistert, ein Freund Russlands sein kann, das dermaßen unter dem Nationalsozialismus gelitten hat“, sagt Panos Trigazis, Koordinator der Arbeitsgruppe für außenpolitische Fragen im Syriza-Parteivorstand.

    Als die Partei im Zuge der Wirtschaftskrise und der Enttäuschung der Griechen über die Europäische Union an die Macht kam, schien es klar, dass dies die russlandfreundlichste Regierung aller Zeit in Europa werden würde. Noch in der Rolle der Opposition war Syriza für eine Aufhebung der Sanktionen eingetreten, die die EU aufgrund des russischen Vorgehens in der Ukraine verhängt hatte. Kurz vor seiner Vereidigung als Premierminister traf sich der Parteichef Alexis Tsipras mit dem russischen Botschafter.

    Wenn wir sagen, die Beziehungen zu Russland müssen ausgebaut werden, heißt das nicht, dass wir unserer europäischen Orientierung den Rücken kehren wollen

    Den Posten des Verteidigungsministers in Tsipras Kabinett bekam Panos Kammenos, Chef der kleinen rechtspopulistischen Partei Unabhängige Griechen und ein persönlicher Freund des Unternehmers Konstantin Malofejew, der eine Schlüsselrolle bei der Angliederung der Krim durch Russland und der Organisation des bewaffneten Aufstandes im Donbass gespielt hatte.

    Informationen verschiedener europäischer und amerikanischer Medien zufolge war Kammenos in Moskau zu Gast bei der Hochzeit von Giannis Karageorgis – einem griechischen Reeder, mit dem Malofejew die Gründung einer TV-Senderkette in Griechenland und anderen Balkanländern plant.

    … Syriza her

    Doch das anfänglich herzliche Verhältnis zwischen dem Kreml und dem Vorstand von Syriza kühlte allmählich ab. Tsipras erhielt nicht die russischen Kredite und Verträge, mit deren Hilfe er gehofft hatte, das Land aus der Krise zu führen, und sah sich gezwungen, demütigende Kompromisse bei Verhandlungen mit den führenden Ländern der EU einzugehen.

    „Ja, die früheren Regierungen haben den Ausbau der Beziehungen mit Russland vernachlässigt“, bemerkt Panos Trigazis jetzt. „Aber wenn wir sagen, die Beziehungen müssen ausgebaut werden, heißt das nicht, dass wir unserer europäischen Orientierung den Rücken kehren oder Europa verlassen wollen.“

    Übrigens gibt es innerhalb von Syriza selbst höchst unterschiedliche Sichtweisen auf Russland. Der Anführer der prorussischen Fraktion, Panagiotis Lafazanis, hatte bis Juli 2015 einen Ministerposten in der Tsipras-Regierung inne, verließ dann jedoch die Partei und wechselte in die Opposition. Zur selben Zeit verabschiedete sich Finanzminister Yanis Varoufakis aus dem Kabinett, der – im Gegensatz zu seinem Parteikollegen – Putins Politik wiederholt kritisiert und von diktatorischen Tendenzen in Russland gesprochen hatte.

    Griechenland muss viele Faktoren berücksichtigen, unter anderem die Zypern-Frage

    Trigazis ist nicht einverstanden mit Varoufakis' Sichtweise. „Wenn Russland eine Diktatur wäre, dann säße die Kommunistische Partei nicht im Parlament“, meint er. Seiner Ansicht nach erfülle Russland die Kriterien eines demokratischen Mehrparteiensystems. Außerdem, fügt er hinzu, spiele Russland eine Schlüsselrolle im Kampf gegen das Bestreben der USA, eine unipolare, auf Washington zentrierte Weltordnung zu errichten.

    Die internationale Gemeinschaft muss sich ausreichend flexibel zeigen, damit in Bezug auf derart große Gefüge wie das Kosovo oder die Krim nicht das Gefühl von Rechtlosigkeit entsteht

    Im Hinblick auf das russische Schlüsselthema, die Ukraine, äußert Trigazis einen vorsichtig prorussischen Standpunkt: Syriza respektiere die Unabhängigkeit und territoriale Integrität der Ukraine, aber die müsse wiederum „die Gefühle von nationalen Minderheiten respektieren“. Und weiter: „Die ethnischen Russen in verschiedenen Regionen der Ukraine wollen mehr Autonomie. Ich denke, diese Frage kann auf demokratischem Wege gelöst werden.“

    Mit der Krim ist es noch vertrackter: Die Halbinsel, führt Trigazis aus, sei Teil eines föderalen Systems gewesen – so wie der Kosovo innerhalb Serbiens und des ehemaligen Jugoslawiens. „Die internationale Gemeinschaft muss sich ausreichend flexibel zeigen, damit in Bezug auf derart große Gefüge wie das Kosovo oder die Krim nicht das Gefühl von Rechtlosigkeit entsteht“, sagt er, und fügt hinzu, man müsse die „historischen Ungerechtigkeiten“ bedenken, unter denen die Krim in der Vergangenheit gelitten habe.

    Aber in jedem Fall werde die Syriza-Regierung, offenbart Trigazis, das Thema Krim nicht aktiv vorantreiben oder gar die Krim als Teil der Russischen Föderation anerkennen, denn: Priorität hat es nach wie vor, auf die territoriale Integrität der Insel Zypern hinzuarbeiten, die 1974 teilweise durch die Türkei annektiert worden war.

    Zudem erkennt Griechenland auch die Unabhängigkeit des Kosovo nicht an. Insofern tritt die Syriza-Regierung für einen umfassenden Ansatz ein, der sowohl den Zypern- als auch den Kosovo-Faktor zu berücksichtigen hätte.

    In der Praxis bedeutet das: Syrizas Unterstützung für die russische Position bezüglich der Ukraine wird sich auf reine Rhetorik beschränken. Bisher jedenfalls hat Griechenland keinen Versuch unternommen, von seinem Veto-Recht bei der Verlängerung der Sanktionen gegen Russland Gebrauch zu machen, und auch in Zukunft wird es das nicht tun.

    Der Grad der griechischen Loyalität wird von der russischen Polit-High-Society stark überzeichnet.

    Weitere Themen

    Was hat Moskau im Angebot?

    Gibt es Leben in Donezk?

    Ein neues Jalta auf den Trümmern Syriens?

    Produktion von Ungerechtigkeit

    Noworossyrija – Freiwillig für Assad in den Krieg

    Junge Talente

    Krasser Cocktail

  • Die kurze Geschichte der Demokratischen Koalition

    Im April 2015 war sie angetreten, um bei den Dumawahlen 2016 eine geeinte, breite Front gegen die Kreml-Partei Einiges Russland zu bilden. Doch nur knapp ein Jahr nach ihrem Entstehen zerbrach Russlands Demokratische Koalition wieder. Zu der hatten sich Parteien der nicht-systemischen Opposition zusammengeschlossen – also diejenigen Oppositionsparteien, die nicht in der Duma vertreten sind. Darunter waren auch einige Gruppen, denen bereits bei der offiziellen Registrierung als politische Partei immer wieder Steine in den Weg gelegt werden.

    Iwan Dawydow analysiert die Hintergründe in The New Times.

    Da lachen sie noch – Vertreter der Demokratischen Koalition im Dezember 2015. Am Mikrofon Alexej Nawalny, links daneben Michail Kassjanow (PARNAS), ganz links Wladimir Milow (Demokratische Wahl). Foto © Juri Martjanow/Kommersant
    Da lachen sie noch – Vertreter der Demokratischen Koalition im Dezember 2015. Am Mikrofon Alexej Nawalny, links daneben Michail Kassjanow (PARNAS), ganz links Wladimir Milow (Demokratische Wahl). Foto © Juri Martjanow/Kommersant

    Anfang Mai hat sich endgültig gezeigt: Die Demokratische Koalition um die Partei PARNAS ist gescheitert. Und daran sind keineswegs nur Intrigen des hinterlistigen Kreml schuld.

    Das Scheitern dieser Koalition hat natürlich Folgen: vermindertes Vertrauen der potentiellen Wähler in die nicht-systemische Opposition; verlorene Zeit, die die Kandidaten, die behindert worden waren, nun aufholen müssen, wenn sie im Wahlkampf noch irgendwie in Erscheinung treten wollen; schwindende Chancen, dass Abgeordnete mit einer vom Kreml unabhängigen Position in die siebte Staatsduma einziehen werden.

    Der Start

    Am 27. Februar 2015 wurde in Moskau Boris Nemzow, der Ko-Vorsitzende der Partei PARNAS, ermordet. Daraufhin unternahmen zahlreiche Oppositionspolitiker den Versuch, vor der anstehenden großen Wahlperiode die kremlkritischen Bewegungen in einer Koalition zu vereinen. Im Herbst 2015 standen Wahlen in elf Regionen an, im Herbst 2016 folgen nun die Wahlen zur Staatsduma.

    Als die Oppositionellen mit den Verhandlungen über die Bildung einer Koalition begannen, waren sie in einer Krisensituation: Die Demonstrationen in den Städten, die den Kreml 2011/12 so beunruhigt hatten, waren komplett abgeflaut. Putins Beliebtheitswerte wuchsen dank der Krim-Euphorie und weiterer „geopolitischer Erfolge“ unablässig.

    EINE CHANCE, DIE KRISE ZU ÜBERWINDEN

    Lässt man einmal die systemischen Oppositionsparteien außer Acht und auch die Partei Jabloko, die den Ruf hat, notorisch kompromissunfähig zu sein, dann hatte die Opposition „außerhalb des Systems“ Folgendes zu bieten: Parteien, bei deren Namen und Programmen selbst ihre Anhänger durcheinanderkamen sowie eine Handvoll landesweit bekannter Politiker.

    Die Bildung einer Koalition war eine Chance, die Krise zu überwinden. Und – allen russischen politischen Traditionen zum Trotz – gelang es den Oppositionellen, sich zu einigen.

    Am 17. April 2015 unterzeichneten die Partei PARNAS, mit Michail Kassjanow an der Spitze, und Nawalnys Fortschrittspartei ein Koalitionsabkommen. Am 20. April schlossen sich ihnen die Parteien Demokratische Wahl (Wladimir Milow), Bürgerinitiative (Andrej Netschajew) und auch die nicht-registrierte Partei des 5. Dezember und die Libertäre Partei an. Michail Chodorkowskis Offenes Russland gab seine Unterstützung der Demokratischen Koalition bekannt.

    Dabei sein ist alles?

    Unter den mit der Demokratischen Koalition sympathisierenden Politologen und Journalisten begann ein Streit: Sollten die Oppositionellen überhaupt an den Wahlen teilnehmen?

    Die Argumente derer, die gegen eine Teilnahme sind, brachte Fjodor Krascheninnikow für The New Times auf den Punkt: „An Wahlen sollte man nur teilnehmen, wenn eine Chance auf Erfolg besteht und wenn man Vertrauen in die Wahlkommission hat. Andernfalls spielt die Opposition durch die Teilnahme an den Wahlen nur den Machthabern in die Hände – sie legitimiert sowohl die Wahlen als auch das gewählte Machtorgan.

    Wenn man sich einverstanden zeigt, beim Hütchenspiel mitzumachen, macht man damit nicht nur den Hütchenspieler reich, sondern führt auch zufällige Passanten in die Irre: Sie sehen, dass da ein anständiger Mensch mitspielt, und schließen daraus, dass wohl alles rechtens zugeht.“

    DIE WAHLEN ALS HÜTCHENSPIEL

    Es gibt aber auch starke Argumente für eine Teilnahme an den Wahlen. Denn die Machthaber brauchen nicht nur einfach Oppositionelle, die an den Wahlen teilnehmen. Sie brauchen Oppositionelle, die verlieren.

    Und das bedeutet, dass die Machthaber während des Wahlkampfs alle nur denkbaren Verstöße zulassen werden, um eine Niederlage der Opposition sicherzustellen, einfach weil sie nicht anders handeln können.

    Ob nun aber solche Skandale dazu beitragen, den Wahlprozess zu legitimieren, darüber ließe sich streiten. Wichtiger ist, dass man selbst bei aussichtslosen Wahlen die Gelegenheit bekommt, größere Bekanntheit zu erlangen und das eigene Wahlprogramm an diejenigen Wähler heranzutragen, die nicht lesen, was die Opposition in den sozialen Netzwerken schreibt.

    VORWAHLEN: KOMPLIZIERTES PROZEDERE

    Unterdessen hat sich gezeigt, dass das Prozedere von Vorwahlen kompliziert und selbst für treue Wähler wenig attraktiv ist. Außerdem greift die Antikorruptionsagenda in den Regionen einfach nicht: Wie Ilja Jaschin, der stellvertretende Vorsitzende von PARNAS, nach mehr als einem Dutzend Treffen mit Bewohnern von Kostroma erzählt, hörten die Omas in den Höfen seinen Erzählungen über die Mehreinnahmen der Osero-Mitglieder zwar interessiert zu. Aber die Nachricht, dass Beamte und der Machtelite nahestehende Bürger in Russland stehlen, ist für Bürger, deren Leben sich fern der Machtzirkel abspielt, keine große oder besonders erschütternde Nachricht.

    Der Weg zum Scheitern

    Für die Mitglieder der Demokratischen Koalition selbst stellte sich die Frage nicht, ob sie an den Wahlen teilnehmen sollten oder nicht. Sie konzentrierten sich auf die Vorbereitung des Wahlkampfs.

    Ihre Listen sollten mit Hilfe von Vorwahlen aufgestellt werden. Im Dezember 2015 wurde bekannt, dass die ersten drei Plätze auf der Liste schon vergeben waren. Den ersten bekam der Vorsitzende von PARNAS, Michail Kassjanow, der zweite und dritte waren für „russlandweit bekannte Leute“ reserviert, deren Namen nicht genannt wurden.

    Ilja Jaschin verkündete damals, das sei eine „bewusste Entscheidung der ganzen Koalition“. Die Vorwahlen hätten am 23. und 24. April stattfinden sollen. Später verschob man sie „aus technischen Gründen“ auf Ende Mai.

    Ziemlich schnell stellte sich heraus, dass das Problem nicht Störungen auf der Vorwahlen-Website waren. Es war das geringe Interesse am Verfahren, auf das die Vertreter von PARNAS bestürzt reagierten.

    Man hatte in der Koalition damit gerechnet, dass rund 100.000 Personen an den Vorwahlen teilnehmen würden, doch nach Informationen, die The New Times vorliegen, hatten sich zwei Wochen vor Abstimmung nur rund 6000 Wähler auf der Website registriert.

    Es gab Gerüchte, PARNAS erwäge, die Liste doch nicht auf der Grundlage von Vorwahlen aufzustellen. Damals sagte Alexej Nawalny gegenüber The New Times: „Die Fortschrittspartei kann im Falle einer Nichtanerkennung der Vorwahlen nicht in der Koalition verbleiben.“

    Der letzte Schlag war der Film Kassjanows Tag, den NTW am 1. April ausstrahlte: Dass kompromittierendes Material über sie verbreitet und in ihrem Privatleben herumgeschnüffelt wird – daran sind Oppositionelle ja gewöhnt, sollte man meinen. Doch durch die scharfen Bemerkungen, die Natalja Pelewina, eine Parteigenossin Michail Kassjanows, in dem Film über andere Mitstreiter aus dem Bündnis machte, fühlten sich manche Mitglieder der Demokratischen Koalition ernsthaft vor den Kopf gestoßen.

    KLEINLICHER ZANK UND SCHULDZUWEISUNGEN

    Zunächst machte Ilja Jaschin von PARNAS Kassjanow den Vorschlag, er möge auf seinen ersten Listenplatz verzichten und gleichberechtigt mit allen anderen an den Vorwahlen teilnehmen. Kassjanow lehnte ab. „Als Zeichen des Protests“ zog Jaschin seine Kandidatur für die Vorwahlen zurück.

    Später wiederholte Alexej Nawalny die Forderung Jaschins. Darauf folgten lange und offenbar selbst für die Mitglieder der Koalition uninteressante Streitereien darüber, wer als erster welche Abmachungen verletzt hat. Demokratische Wahl und die Fortschrittspartei verließen die Koalition, die dann aufhörte auf zu existieren.

    Der vergessene Wähler

    Was bleibt übrig statt einem Wahlbündnis der Opposition? Kleinlicher Zank und eine Reihe gegenseitiger Schuldzuweisungen.

    Die Kleinlichkeit ist das Traurigste an der ganzen Geschichte. Es ist ja für niemanden ein Geheimnis, dass die PARNAS-Liste ohnehin nicht durchkommen wird. Falls jemand Chancen hatte, waren es die Abgeordneten aus einzelnen Einerwahlkreisen mit einer vornehmlich gebildeten städtischen Bevölkerung.

    Doch die Koalitionsmitglieder interessierten sich nicht für die Einerwahlkreise, sondern konzentrierten sich auf das Gefeilsche um die Listenplätze. Sie kämpften, als hätten sie bereits die Duma-Mehrheit inne, als wäre ihnen bei den kommenden Wahlen der Sieg sicher und es ginge nur noch darum, wie man die Mandate aufteilen soll.

    WAS ERFÄHRT DER WÄHLER DENN ÜBER DIE OPPOSITION?

    Was hat ein potentieller Wähler letztlich über die Opposition erfahren? Ein neuer Wähler, kein treuer, der ergeben die Blogs der Koalitionsleader liest? Nur das, was Pelewina in dem NTW-Film über ihre Kollegen gesagt hat und was man lieber nicht laut wiederholt.

    Die Mitglieder der Koalition, die beschlossen hatten, mit der Regierung Wahlen zu spielen, haben die wichtigsten Teilnehmer an diesem Spiel übersehen: die Wähler. Sie haben sich mit Fragen zur Vorgehensweise herumgeschlagen, statt den Wählern zu erklären, warum man eigentlich für die Opposition stimmen soll. Und zwar sowohl bei den Vorwahlen als auch bei den Dumawahlen.

    Dem Wähler ist doch egal, wer wen hintergangen hat und wer immer noch mit weißer Weste und stolzem Blick dasteht. Den Wähler interessiert, was ihm die Leute, die „in der realen Politik“ mitmischen wollen, neben Schockmeldungen über die Reichtümer der Brüder Rotenberg tatsächlich anzubieten haben.

    Der offizielle Wahlkampf hat noch nicht begonnen, noch bleibt Zeit, die Fehler auszubügeln. Aber dazu gilt es über den eigenen Schatten zu springen, die eigene Makellosigkeit in Frage zu stellen, den schmachvollen Erfahrungen Rechnung zu tragen.  

    Und es ist überhaupt nicht gesagt, dass das für die Anführer der nicht-systemischen Opposition eine lösbare Aufgabe ist.

    Weitere Themen

    Argument mit Sahne

    Russische Parallelwelten

    Die Kreml-Liberalen

    Nicht-System-Opposition

    Russland als globaler Dissident

    Gouverneurswahlen 2015: Themen, Methoden, Trends

    Die Vertikale der Gewalten

  • Argument mit Sahne

    Argument mit Sahne

    Tschetschenen-Oberhaupt Ramsan Kadyrow liefert sich derzeit einen Schlagabtausch mit der russischen Opposition: Nachdem er sie erst auf einer Pressekonferenz als „Volksfeinde“ bezeichnet hatte, sorgte er weiter mit Posts in Sozialen Medien für Aufruhr.

    Während der Kreml-Sprecher abwiegelt, reagierte die Opposition alarmiert. Zumal auch die Spuren zur Ermordung von Boris Nemzow im Februar 2015 nach Überzeugung der Opposition in die nächste Umgebung Kadyrows führen – PARNAS-Politiker Ilja Jaschin veröffentlicht seinen Bericht dazu am 23. Februar.

    Iwan Dawydow analysiert in der New Times, weshalb auch ein Tortenwurf eine Atmosphäre der Angst entstehen lassen kann.

    Anfang Februar gegen halb zehn Uhr abends nimmt der Vorsitzende der Partei der Volksfreiheit PARNAS, Michail Kassjanow, in einem Moskauer Restaurant sein Nachtmahl ein. Drei Unbekannte platzen herein und werfen dem Politiker eine Torte ins Gesicht. „Feind!“ schreien die Angreifer. Es waren „ungefähr zehn Personen“ von „nicht-slawischem Aussehen“, so steht es später in Kassjanows Anzeige bei der Polizei. Moskauer Polizisten nehmen in der Nähe des Restaurants drei ihrer Kollegen aus Tschetschenien fest, doch der Geschädigte identifiziert sie nicht als Täter.  

    Man könnte meinen, damit habe auch die Geschichte mit Ramsan Kadyrows Instagram-Video ein Ende gefunden, in dem Kassjanow im Fadenkreuz eines Zielfernrohrs zu sehen war.

    In den Social Media entflammte unter Oppositionellen sogar eine Diskussion: Darf man über den Vorfall scherzen oder nicht? Es handele sich ja schließlich um ein klassisches Motiv aus alten Schwarz-Weiß-Komödien: Ein Mensch kriegt eine Torte ins Gesicht. Direkter Verweis auf Charlie Chaplin und Buster Keaton. Ein unfehlbarer Gag, der noch immer funktioniert. Sie haben Blutvergießen erwartet? Wir servieren eine Farce!

    Kadyrow hat alle übertrumpft. Aber hat das überhaupt etwas mit Kadyrow zu tun? Komm, los, beweis erst mal, dass das mittlerweile gelöschte Video etwas mit dem Vorfall in Moskau zu tun hat. Sind etwa patriotisch gestimmte „Personen nicht-slawischen Aussehens“ in der Hauptstadt des Imperiums eine Seltenheit?

    Kadyrow selbst reagierte mit: „Schon wieder ich?“ und einem Schwarm lustiger Smileys. Um später ein Foto zu posten – wie immer, bei Instagram –, auf dem der Sänger Nikolaj Baskow bei einem Fest in Grosny eine Torte ins Gesicht kriegt. Und alle, inklusive Baskow, amüsieren sich prächtig. Eine liebenswürdige Tradition in den Bergen, muss man eben verstehen.  

    Dieselbe Muss-man-eben-verstehen-These äußerte Kadyrows Sprecher Alwi Karimow: „Ramsan Achmatowitsch hat einen sehr feinen Humor, äußerst tiefgründig. Der ist einfach einzigartig, basierend auf unserer Folklore, die schon über Jahrhunderte lebt. Leider hat nicht jeder Sinn für Humor. Selbst wenn er etwas im Spaß sagt, kommt es vor, dass Leute das ernst oder gar persönlich nehmen. Spaß muss man eben verstehen.“   

    Aber noch etwas muss man verstehen: Das Leben jedes Menschen, der es riskiert, das Regime zu kritisieren, ist transparent – wenn die wollen, finden sie dich. Sogar in einem feinen Restaurant. Und die Security schützt dich nicht.

    Wenn du ein bekannter Politiker bist, wird der Kreml natürlich reagieren. In diesem konkreten Fall etwa riet der Pressesprecher des Präsidenten, Dimitri Peskow, dazu, die Angreifer „nicht mit der Führung Tschetscheniens und anderer Regionen Russlands“ gleichzusetzen. Die Polizei wird sich tätig zeigen. Aber eben nur, wenn du ein bekannter Politiker bist.          

    Die schreckliche russische Geschichte des 20. Jahrhunderts hat uns gelehrt, dass es sich um Terror handelt, wenn getötet wird, und zwar massenhaft. Oder zumindest, wenn „lange Haftstrafen sich in endlosen Etappen dahinziehen“, ebenfalls zu Tausenden.

    Aber Terror, das ist, wenn man Angst hat. Drohungen in sozialen Netzwerken – sind Terror. Das Eindringen in die Privatsphäre und die Verfolgung wegen politischer Ansichten – auf ihre Art vielleicht lustig, mit Argumenten aus Sahne statt Blei – ist Terror. Anschläge auf Freiheiten, auf das Recht der freien Meinungsäußerung (übrigens nur innerhalb des gesetzlich vorgegebenen Rahmens, denn mit jenen Widersachern, die diesen Rahmen übertreten, geht der Staat schon lang nicht mehr zimperlich um) – all das ist Terror.       

    Und wenn sich der Staat nicht einmischt, heißt das, der Terror ist zumindest staatlich genehmigt. Und gut und nützlich für die Machthaber.

    Ach, wird etwa in Russland getötet? Bald jährt sich der Todestag von Boris Nemzow. Wird etwa verhaftet? Viele der Bolotnaja-Aktivisten haben ihre Strafen schon abgesessen nach völlig abstrusen Urteilsbegründungen, ein paar warten auf ihre Verhandlung, die Ermittler sind noch an der Arbeit …

    Selbst wenn es sich bei alldem nur um nationale Besonderheiten „basierend auf Folklore“ handelt – nein, das ist kein regionaler Trend, sondern ein staatlicher. Um staatlich genehmigten Terror auszuüben, muss man lange anstehen.

    Da stehen Mitglieder der Nationalen Befreiungsbewegung des Abgeordneten Jewgeni Fjodorow an, die es der Fünften Kolonne schon lange heimzahlen wollen (am 11. Februar bewarfen sie das Auto von Kassjanow mit Eiern, auch sehr witzig), da steht die Antimaidan-Bewegung. Und das jetzt, wo der Staat nicht direkt sagt: „Los, macht schon“, sondern lediglich durch seine Untätigkeit zu verstehen gibt: „Ist schon ok.“   

    Dass es Bedarf an Terror und an Terrorbereitschaft gibt, ist offensichtlich – und Nachfrage erzeugt Angebot.

    Gegenspieler mit Torten und Eiern zu bewerfen, damit rühmten sich einst Aktivisten der in Russland mittlerweile verbotenen Nationalbolschewistischen Partei. Doch die Nazboly überfielen seinerzeit die Großen dieser Welt und mussten für ihre Scherze bitter bezahlen.

    Die heutigen Tortenwerfer hetzen Menschen, die weder Polizei noch Justiz noch Staatsanwaltschaft stärkend hinter sich haben. Sondern nur ihre Sicht auf das Schicksal des Landes. Das ist, milde ausgedrückt, widerlich. Einfach widerlich.

    Ansonsten, klar, irre lustig. Eine Torte ins Gesicht – ganz wie bei Charlie Chaplin.          

    Weitere Themen

    Lektionen aus dem Zerfall eines Landes

    Die Schlacht ums Narrativ

    Ein Waffenstillstand ohne Chancen

    Jenseits der Fotos

    Der 50-Milliarden-Dollar-Prozess

    Junge Talente

  • Die Schlacht ums Narrativ

    Die Schlacht ums Narrativ

    Im Mordfall Litwinenko gibt es vom Londoner High Court herbe Anschuldigungen gegen den russischen Präsidenten. In ihrem 329 Seiten starken Bericht schlussfolgern die britischen Ermittler, dass der Mord „wahrscheinlich” von Putin gebilligt worden sei. Beweise dafür gibt es allerdings keine – so geht es nun vor allem um die Deutungshoheit. Und hier steht viel auf dem Spiel, denn zugleich wird in dieser Diskussion um das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen verhandelt. Juri Saprykin hat für The New Times die Erzählstränge im Fall Litwinenko entwirrt.

    Marshall McLuhans berühmter Ausspruch „The medium is the message“ ist nun schon über fünfzig Jahre alt, und allmählich dürfte seine Kernaussage jedem Erstklässler geläufig sein: Egal welches Kommunikationsmittel man benutzt, es verändert unmerklich die Aussage, die es transportiert, und beeinflusst deren Gewicht und Status. Geburtstagsglückwünsche klingen unterschiedlich, je nachdem ob sie in Form einer Postkarte, eines Telefonanrufs oder eines Postings in der Facebook-Chronik ankommen. Kadyrows Drohungen gegen die Opposition wären nicht weiter aufgefallen, hätte er sie in einem Nachrichtenbeitrag auf Grosny-TV geäußert, im warmen, gemütlichen Instagram-Umfeld dagegen wirken sie verheerend. Der Name des Präsidenten der Russischen Föderation direkt neben Schilderungen von Mordkomplotten und Drogenhandelsrouten hätte keinerlei Aufsehen erregt, wäre er in diesem Zusammenhang auf der Website Kavkaz Center aufgetaucht – in einer dicken Akte mit der Aufschrift British High Court dagegen machen derlei logische Verknüpfungen einen ganz anderen Eindruck, und die oft gehörten Worte sind auf einmal mehr als nur Worte.

    Aber das gewählte Kommunikationsmittel ist nicht das einzige, was den Kern einer Mitteilung verändert: Alles hängt davon ab, in welche Geschichte, in welches Narrativ sich eine Aussage einfügt. Schon in den ersten Stunden nach der Veröffentlichung des Litwinenko-Berichts begann in Russlands Medien die Schlacht ums Narrativ. Die Fakten wirken ganz anders, wenn man den Bericht von vorneherein als Polit-Farce oder einen weiteren aggressiven Akt des britischen Geheimdiensts darstellt oder zumindest den Namen „Putin“ weglässt. Doch all das sind Tricks für den Hausgebrauch. Für diejenigen, die den Bericht im Original lesen, ergibt sich aus den Dokumenten der Untersuchung natürlich eine ganz andere Geschichte. Diese Geschichte handelt nicht von einer Teekanne mit Polonium und auch nicht vom Schicksal der Person Litwinenko, sondern davon, wie Russlands Machtspitze politische Gegner umbringt, nicht zuletzt auch auf fremdem Staatsgebiet, und zumindest in einem Fall unter Verwendung von radioaktiven Stoffen. Und diese Geschichte kann nicht folgenlos bleiben. Natürlich, wir sind gewohnt, in einer Welt zu leben, wo auch die krassesten Statements der hochrangigsten Personen oft schon am nächsten Tag vergessen oder bedeutungslos geworden sind, doch der Status des Londoner Obersten Gerichts wird verhindern, dass diese Geschichte sich in Luft auflöst, als hätte es sie nie gegeben.

    Denkt man an die Folgen, sieht man vor dem inneren Auge zunächst ein Brainstorming in Downing Street oder in der Nähe des Oval Office: Wie ist zu reagieren auf die Ergebnisse der Untersuchung, was könnte man noch beschränken, verbieten, einfrieren, ohne dass es nach endgültigem Bruch und Trennung aussieht (zumal die Entwicklung derzeit eher in Richtung Aufhebung der wegen der Krim verhängten Sanktionen geht)? Doch das ist nur der erste und offensichtlichste Teil der Gleichung: Im nächsten Schritt, das haben uns die letzten Jahre gelehrt, entsteht eine Lawine gegenseitiger Kränkungen, die Gott weiß wohin rast. Selbst wenn nur personenbezogene Sanktionen gegen Andrej Lugowois und Dimitri Kowtuns unmittelbare Vorgesetzte verhängt werden, ist als Gegenmaßnahmen mit allem zu rechnen: von einem Ale- und Stout-Verbot in Russland über die Absage des P.-J.-Harvey-Konzerts bis hin zu Bomben auf Woronesh. Selbst wenn der Name Putin aus weiteren Prozessunterlagen verschwindet, bleibt die persönliche Kränkung in der Welt und kann sich in völlig unvorhersehbaren Formen äußern. Sollte es nicht irgendwann zu einem Gerichtsurteil kommen (was schwer vorstellbar ist), gibt es immer noch die westlichen Staatschefs, die Presse, die öffentliche Meinung, die mit diesem Wissen irgendwie leben müssen. Und wenn das nächste Mal ein gemeinsames Vorgehen an irgendeinem Krisenherd zur Debatte steht, wird es unweigerlich wieder hochkommen.

    All das – der gegenseitige Argwohn, die sich auftürmenden Kränkungen, der Wettlauf von Sanktionen und Gegensanktionen – ist im Grunde nicht neu. Na gut, wir treten noch zwei Schritte auf die Frontlinien des Kalten Krieges zu, aber ein Einreiseverbot und ein paar eingefrorene Konten mehr (genau wie der Vorwurf der Gegenseite, es gehe darum, in Russland einen Umsturz herbeizuführen) beeindrucken niemanden mehr. Und auch die beiden großen Geschichten, in deren Zusammenhang die Widersacher die jüngst veröffentlichten Fakten bringen, existieren nicht erst seit gestern. Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass es auf russischer Seite zum Fall Litwinenko nicht nur eine, sondern ganze drei Geschichten gibt.

    Die erste ist die offizielle Geschichte, verbunden mit dem Namen Maria Sacharowa: Es handele sich nicht um Untersuchungsergebnisse, sondern nur um haltlose Spekulationen, die den Beziehungen zwischen Russland und Großbritannien schaden sollen. Die zweite ist die geopolitische, die aus dem Volk, erzählt von Couchpublizisten auf Facebook: Ihr Engländer bringt doch selber weltweit heimlich Leute um, James Bond ist das beste Beispiel – warum sollen wir das dann nicht dürfen? Die dritte, unverhohlen menschenverachtende Geschichte erzählen die Organisatoren jener Kundgebung in Grosny, bei der der Dumaabgeordnete Adam Delimchanow erklärte: „Für jedes Wort, dass diese Leute gegen das Oberhaupt der Republik Tschetschenien oder gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin sagen, werden sie einstehen müssen! Vor dem Gesetz und ohne Gesetz werden sie einstehen müssen! Selbst wenn sie sich im Ausland aufhalten sollten, denn ausländische Gesetze erkennen wir nicht an!“ Und allein die Tatsache, dass diese drei Geschichten nebeneinander existieren, kann man als weiteren Beweis nehmen für die Seite der Anklage des Londoner High Court.

    Weitere Themen

    Die für den Westen sprechen

    Die Vertikale der Gewalten

    Mine im Livekanal

    Kontakt der Zivilisationen

    Stalins Follower

    Das Woronesh-Syndrom

    Sprache und das Trauma der Befreiung

  • Liebe ist …

    Liebe ist …

    Das russische Volk steht geschlossen hinter seinem Präsidenten – dieser Eindruck jedenfalls ist weit verbreitet. Nur selten macht man sich die Mühe weiterzufragen: Was bedeuten die fantastischen Ergebnisse der Umfragen? Olga Dimitrijewa von „The New Times“ ist in eine Kleinstadt bei Nowosibirsk gefahren und hat mit Menschen gesprochen, weit entfernt vom Moskauer Politzirkus: über ihr Leben und über ihr Verhältnis zum Präsidenten, über seine Politik. Wie sich zeigt, sind nicht alle begeistert von Putin und die, die es sind, können nicht immer sagen, warum.

    … wenn das Gute wichtiger ist als das Schlechte

    Wie wohlhabend die Siedlung Listwjanka im Bezirk Iskitim im Gebiet Nowosibirsk ist, lässt sich am Zustand der Straßen ablesen. Zwei Stunden vom Flughafen in Nowosibirsk entfernt, verlassen wir die Fernstraße Nowosibirsk-Barnaul, und sofort fängt unser Auto heftig an über die Trasse zu holpern.

    „Haben Sie gemerkt? Die haben die Straße gemacht.“, sagt der einheimische Fahrer stolz.
    „Nein“, antworte ich unhöflich, aber ehrlich.
    „Die haben natürlich nur die Löcher zugemacht, nicht neu asphaltiert“, verteidigt der Taxifahrer den Straßenbaudienst.

    Offenbar stellt der Umstand, dass die Schlaglöcher nicht mehr so tief sind wie früher („Immerhin reißt es einem nicht mehr die Räder ab“) bereits einen großen Erfolg der Kommunalverwaltung dar.

    Insgesamt sind die Erfolge nicht sehr zahlreich. „Die Straße wurde neu gemacht; ein Kindergarten wurde eröffnet – jetzt müssen die Eltern ihre Kinder nicht mehr mit dem Auto sonstwohin bringen. Der Bevölkerungszuwachs ist nicht groß, aber immerhin“, fasst Karina, eine Mitarbeiterin der Dorfverwaltung, zusammen. Karina mag ihren Job, sie pendelt für ein Gehalt von 13.000 Rubeln [195 EUR] sogar aus der Nachbarsiedlung nach Listwjanka. Überhaupt ist sie zufrieden: „Wir sind für Putin, für Einiges Russland. Ich bin Mitglied von Einiges Russland, wie der Rest der Verwaltung übrigens auch, wir sind alle in der Partei. Nicht weil wir irgendwelche Prämien dafür bekommen, sondern einfach so, wir sind von uns aus eingetreten, weil wir fanden, es ist nötig.“

    Iossif Dimitrijewitsch Sudakow, ehemaliger Deputierter des Dorfrats von Listwjanka, bildet die hiesige Opposition. Ein kleiner älterer Mann mit ordentlich gestutztem weißem Bärtchen. Mehrmals ist er schon verprügelt worden. Man hat Flugblätter gegen ihn aufgehängt. Ihn vor Gericht gezerrt. Doch er sagt, das kümmert ihn nicht.

    In der Wohnung der Sudakows wird renoviert – seit zwei Jahren schon, wegen der Krise. Im kleinen Zimmer sitzt die kranke Schwiegermutter vor dem Fernseher, in dem mit voller Lautstärke der Erste Kanal läuft. Im größeren Zimmer (15 m2), dem „Saal“, wie man hier in der Gegend sagt, tischt Iossif Dimitrijewitsch mir als Korrespondentin von The New Times Anekdoten aus dem Leben eines Dorfdeputierten auf, während seine Frau Tamara Wassiljewna einen Sauerkrautkuchen serviert.

    Der Krieg an der politischen Front von Listwjanka wird vor allem gegen die Misswirtschaft geführt. „Einiges Russland schickt die Deputierten laut Listenplatz zu uns – und hinterher gehen sie nicht mal zu den Sitzungen des Dorfrats“, klagt Sudakow. Die Beamten, auf lokaler wie auf Bezirks- und Gebietsebene, haben nur ihre eigenen Interessen: „Noch im kleinsten Dorf werden Mittel veruntreut“, erklärt Iossif Dimitrijewitsch.

    Das Budget von Listwjanka ist nicht groß, 20 Millionen Rubel [300.000 EUR]. Sieben Millionen davon bringt die Siedlung selbst auf, der Rest kommt vom Bezirk und der Gebietsverwaltung. Trotzdem „bedient sich, wer kann“: Man besorgt sich irgendwo umsonst Kohle, kassiert aber Geld für Heizkosten; Arbeiter, die das Klubhaus renoviert haben, werden nicht bezahlt; wieder woanders wird Holz geklaut …“

    Probleme auf Landesebene beschäftigen die Sudakows weniger. Was die Ukraine und die Krim betrifft, ist das Ehepaar sowohl untereinander als auch mit dem Kreml einig: „Das Gebiet gehört uns“, dort wohnen Russen, die Bergwerke im Donbass wurden schließlich von Russen gebaut. Zu Syrien befragt, meint die Frau: Wir werden den Islamischen Staat besiegen, und der Ehemann meint, wenn wir früher eingegriffen hätten, hätten wir bestimmt gesiegt.

    Schließlich kommen wir auf Putin und seinen jüngsten Rekord zu sprechen – 90 Prozent Zustimmung, den Umfragen zufolge.  

    „Uns hat keiner gefragt! Ich habe es im Fernsehen gehört – 1400 Personen sind befragt worden. Ist das etwa eine Zahl für so ein Viel-Millionen-Land?“, empört sich Tamara Wassiljewna.
    „Jetzt wirst du ja gefragt! Du bist die Nummer 1401. Also, was meinst du?“, foppt Iossif Dimitrijewitsch seine Frau.
    „Ich weiß nicht. Übrigens habe ich darüber auch noch nicht nachgedacht“, kontert Tamara Wassiljewna und denkt dann kurz nach: „ Nun, was er auf internationalem Parkett macht – also nicht innenpolitisch, sondern außenpolitisch – das finde ich gut. Dass wir nicht mehr vor Europa und Amerika einknicken.“
    „Und die Innenpolitik?“, fragt Sudakow nach.
    „Nun, die Innenpolitik – also, das sind ja wir, Russland.“ Tamara Wasiljewna wirkt traurig: „Innenpolitsch gefällt mir das nicht.“
    „Höret die Stimme des Volkes!“, schließt sich Iossif Dimitrijewitsch seiner Frau an. „Sie hat vollkommen recht.“

    Die Sache mit Putins einerseits guter Außen-, andererseits schlechter Innenpolitik werde ich im Gebiet Nowosibirsk noch öfter zu hören bekommen.

    … wenn man sich in Sicherheit fühlt

    „Bei mir kam ein junger Mann zum Vorstellungsgespräch, ein Psychologe – er hat keinen Dienstrang, keine Erfahrung, sein Gehalt beträgt fünfdreiachtzig im Monat (5380 Rubel, NT) [80 EUR]. Das ist das Gehalt eines Psychologen! Vielleicht kann ich noch ein halbes Monatsgehalt eines Sozialpädagoge drauflegen, das sind dann noch einmal dreitausend-irgendwas. Zehntausend – wird er dafür arbeiten? Kann er davon leben? Ich denke mir die Gehaltsstufen nicht aus! Das ist der allgemeine Tarif im Gebiet Nowosibirsk. Wie man davon leben soll, fragen Sie?“ Die Direktorin der Dorfschule erwartet keine Antwort auf ihre Frage. Albina Nikolajewna ist eine große, laute Frau, sie spricht wie auf einer Kundgebung. Ihre Stellvertreterin Marina Wiktorowna, in deren Raum das Gespräch stattfindet, ist ruhiger, meist nickt sie nur stumm. Ab und zu schauen Lehrer zur Tür herein.

    „Wir haben Besuch von einer jungen Frau, aus dem Ausland“, erklärt die Direktorin dann mit einem Kopfnicken in meine Richtung.
    „Nicht aus dem Ausland, nur aus Moskau!“
    „Moskau ist für uns Ausland! Ein Staat für sich“, stimmen die Lehrer ihrer Vorgesetzten zu.
    „Ja, das müsste in Moskau mal jemand in der Zeitung schreiben: wie die Lehrer hier leben“, sagt die Chemielehrerin Irina Petrowna träumerisch. „Man terrorisiert uns mit Inspektionen. Es bleibt keine Zeit, mit den Kindern so zu arbeiten, wie man gern würde. Und dann noch das Personalproblem: Wenn unsere Generation irgendwann aufhört, kommen keine Jungen nach. Es gibt keine Wohnungen, keine anständigen Gehälter. De facto sinken die Gehälter – man sollte da nicht lügen! Wenn man sich das anschaut, kommt man zu dem Schluss, dass den Staat die Zukunft unseres Landes überhaupt nicht interessiert.“  

    Dass der Staat sich stattdessen für die Zukunft anderer Länder interessiert, passt den Lehrern gar nicht.

    „Ukraine, Ukraine, ich kann es nicht mehr hören“, sagt Albina Nikolajewna. „Allmählich habe ich den Eindruck, das zeigen sie nur deshalb dauernd, damit ich nicht ans tägliche Brot denke …  Mir hat der Donbass zwar leidgetan, aber bei uns gibt es auch Leute, die unterhalb der Armutsgrenze leben, und das ist die Mehrheit … Manche Kinder in der Schule können sich nicht mal ein Brötchen kaufen. Es heißt, 78 LKW-Kolonnen hätten sie gerade wieder losgeschickt (in den Donbass – NT) – Medikamente, Lehrbücher und so weiter … Wie lange soll das noch so weitergehen? Brauchen die eigenen Leute etwa nichts? Wir haben das Gefühl, wir kommen zu kurz.“
    „Und was sagen Sie zu Syrien?“
    „Beängstigend ist das …“ Die Konrektorin flüstert fast: „Ich habe Afghanistan noch zu gut in Erinnerung …“

    Marina Wiktorownas Telefon klingelt alle fünf Minuten. Sie drückt die Anrufe weg: Es ist ihre Bank, es geht um die verspätete Rückzahlungsrate für einen Kredit. In diesem Gespräch kommt die These von der einerseits guten, andererseits schlechten Politik des Kreml nicht vor. Hier ist alles schlecht. Gleichwohl verleihen die Lehrer ihrer Unterstützung für Putin vehement Ausdruck.

    „Alle sind für Putin – es gibt keine Alternative. Wo ist die Alternative? Medwedew?“, ereifert sich Albina Nikolajewna, auch sie Mitglied von Einiges Russland. Den hatten wir schon. Und sonst? Es fehlt … an Stärke, sozusagen. Ich sehe nirgends eine starke Persönlichkeit. Außer Putin. Putin ist stark … Und wir sind an ihn gewöhnt.“

    Doch Dafür-Sein und Keine-Alternative-Sehen ist nicht dasselbe.

    „Ich bin wie alle für Putin – weil ich Frieden will. Nur Frieden, mehr brauche ich nicht!“, erklärt die Direktorin. „Denn wenn Krieg ausbricht, was habe ich dann von einem neuen Kleid und allem anderen?“

    In der Sicherheitspolitik, erklärt Albina Nikolajewna, sei die Position des Präsidenten richtig:

    „Es war gut, dass sie die Krim zurückgeholt haben, bravo! Das ist doch unsere Grenze! Die Schwarzmeerflotte! Von dort aus hätten uns die Amerikaner, die Japaner, weiß Gott wer noch alles gepiesackt … Bei einem Atomkrieg kriegen alle ihr Fett weg, das sage ich Ihnen als Physikerin. Uns wird jetzt beigebracht, wie man eine Gasmaske aufsetzt. Eine Gasmaske! Gegen Chemiewaffen oder Bakterien hilft die nicht. Wenn es so weit kommt, ist alles zu spät, wer sich da ansteckt, bleibt als Invalide zurück, als Krüppel. Davor habe ich Angst. Vor einer Provokation. Vor Biowaffen. So etwas ist wirklich schlimm. Unsere Aufgabe ist es, einen Krieg zu verhindern. Finanzprobleme sind dagegen nicht so wichtig.

    Davon, dass „uns Putin vor einem Krieg bewahrt“, sprechen die verschiedensten Menschen. Anfangs erscheint mir das als ein verzweifelter Versuch irgendwie zu erklären, worin eigentlich die Verdienste unseres Präsidenten bestehen. Aber wann immer ich nachfrage – „Haben Sie wirklich Angst davor, dass die Amerikaner uns angreifen werden?“ –, antworten alle, erstaunt über meine Naivität, mit einer Gegenfrage: „Ja! Sie nicht?“

    … wenn man trotz allem dafür ist

    „Ich kriege zum Beispiel rund 35.000 [525 EUR]“, erzählt Katja offenherzig. Sie ist hübsch, blond, 26 Jahre alt, knapp 1,80 groß und Oberleutnant der Polizei. „Alle glauben, wir Bullen kriegen zwischen 80 und 100.000 [1200–1500 EUR]. Woher nehmen die Leute das bloß? Und wenn wir wenigstens noch geregelte Arbeitszeiten hätten, ohne Wochenendschichten und Nachteinsätze wegen irgendeinem entlaufenen Schoßhündchen … 35.000 sind gar nichts heutzutage.“  

    Katja bekleidet den Rang eines Oberleutnants der Polizei. Dass sie bei den Sicherheitskräften arbeiten wollte, wusste sie schon während der Schulzeit. „Mein Traum ist wahr geworden … schön blöd“, sagt sie. Derzeit ist sie im Mutterschutz, und wahrscheinlich spricht sie deshalb so offen über die Lebensbedingungen der Mitarbeiter des Innenministeriums: gestrichene Vergünstigungen, niedrige Gehälter, steigende Preise wie überall. Katjas Sorgen kreisen ums Abnehmen nach der Schwangerschaft und um die Hypothek, die sie aufnehmen will. Alles andere kümmert sie wenig.

    „Ganz ehrlich, uns ist es sch…egal, was da unten in der Ukraine passiert. Schlimm ist nur, wenn unsere Kollegen dort hinfahren, diese Irren, und dann kommen sie in Zinksärgen zurück. Syrien interessiert kein Schwein. Wir haben mit uns selber genug zu tun. Unsere Jungs werden nach wie vor nach Tschetschenien geschickt, nach Dagestan, und das ist Inland! Man hört heute zwar nicht viel davon, aber da unten gibt es immer noch Unruhen, Tote. Aber Syrien oder irgendwelche anderen Länder – das tangiert uns nicht, wenn du mich fragst.“

    Doch auf die Finanzen der Polizisten wirken diese „uns nicht tangierenden“ außenpolitischen Aktivitäten Russlands sich ganz direkt aus:

    „Früher gab es Prämien bei uns, wenn das Innenministerium zum Beispiel eine bestimmte Summe eingespart hatte – das war immer gutes Geld. Zum Jahresende wurde das unter den Mitarbeitern der Polizei aufgeteilt. Dabei kamen oft Prämien um die 20.000 Rubel [300 EUR] zusammen. In einem Jahr gab es bei uns sogar 50.000 [750 EUR] pro Nase. Aber das ist vorbei. Erst wurde alles Geld in die Olympiade gesteckt, dann kam die Krim, der man helfen musste, dann der Donbass, und jetzt ist es Syrien …“

    Katjas kleiner Sohn unterbricht uns, er ist aufgewacht und weint. Seine Mutter freut sich schon auf die Zeit, wenn er in den Kindergarten kommt und sie wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren kann, „zu ihren Halunken“. Für heute beendet die junge Polizistin, die bald in den Rang eines Hauptmanns befördert wird, das Gespräch, ihr Kind hat Hunger.

    „Putin fand ich früher nicht gut und ich finde ihn heute nicht gut. Als Präsident“, sagt sie abschließend. „Schau dich doch um bei uns, gibt es irgendeinen Grund, für Putin zu sein?“  

    Andrej, der im Kohle-Tagebau arbeitet, vergleicht die Situation im Land mit der Lage in seiner Firma:

    „Wir hatte einen Chef hier beim Fuhrpark, der war fürchterlich, wir wollten ihn alle nur loswerden. Schlimmer konnte es gar nicht kommen. Inzwischen ist er versetzt worden, und sein Nachfolger ist zehnmal schlimmer! Und inzwischen denke ich, mit Putin ist es dasselbe.“

    Andrejs jüngste Kinder – zweijährige Zwillinge – gehen in den Kindergarten. Die ältesten sind schon fertig mit der Schule; seine Tochter studiert an der Universität, der Sohn an einer Fachschule für Verkehr und Technik. Zu Hause trifft man den Familienvater so gut wie nie an: Werktags fährt er seinen BelAZ-Muldenkipper, am Wochenende Taxi in Listwjanka. Mit seinem während der Krise auf 15.000 Rubel [225 EUR] gekürzten Gehalt kann Andrej seine vier Kinder nicht ernähren.

    „Aber was Putin macht – Hut ab. In der Außenpolitik zumindest. Innenpolitisch wird ihm allerdings keiner eine Träne nachweinen.“

    Der Gedanke kommt mir bekannt vor.

    „Und in der Außenpolitik, wofür schätzen Sie ihn da?“
    „Na ja, also die Krim, ich weiß nicht … das ist ja unheimlich teuer alles. Ich persönlich hätte das nicht gebraucht. Lauter unnötige Kosten! Am Ende sind es doch wir, denen das nach und nach abgeknöpft wird, wir haben ja auch eine Firma in Moskau, alles, was wir verdienen, fließt dorthin.“
    „Und dass Russland Flugzeuge nach Syrien schickt und dort bombardiert, was halten Sie davon?“
    „Genauso wenig. Das sind doch interne Konflikte dort, wieso mischen wir uns da ein? Wozu? Ich bin dagegen. Und das Geld dafür kommt ja auch wieder von uns. Im Fernsehen sagen sie das inzwischen ganz offen: Nachdem wir Syrien demoliert haben, werden wir es auch wieder aufbauen müssen.“

    Andrej schaut ständig auf ein mit Klebeband geflicktes Telefon – er fürchtet, einen Auftrag zu verpassen. Sein Tarif ist derselbe wie bei allen anderen: Eine Fahrt über die Schlaglöcher der instandgesetzten Straße in die Nachbarsiedlung kostet 200 Rubel [3 EUR], Fahrten im Dorf nur 50 [75 Cent] .  

    „Aber Sie haben doch gesagt, dass Sie Putins Außenpolitik gut finden …“
    „Na ja … irgendwie ist er schon klasse  … ich weiß auch nicht. Immerhin respektiert man ihn auf der ganzen Welt, das heißt, für irgendwas ist das alles schon gut. Aber dass er sich überall einmischt, das gefällt mir nicht.“
    „Trotzdem, noch einmal: Die Dinge, die Sie nicht gut finden, die Wirtschaftskrise, Syrien, die Ukraine – für all das ist doch Putin verantwortlich, aber auf die Zustimmung zu ihm wirkt sich das nicht aus …“
    „Ach, ich weiß auch nicht“, sagt Andrej verlegen. „Trotz allem … Es gibt zwar keinen richtigen Grund, für ihn zu sein, aber ich bin trotzdem für ihn. Mir gefällt er einfach als Mensch!“

    … nicht für alle Ewigkeit

    Zu den Sitzungen des Dorfrats und Treffen mit Regierungsbeamten nimmt Iossif Dimitrijewitsch Sudakow grundsätzlich ein Diktiergerät mit. Und sein altes Mobiltelefon zeichnet alle Anrufe auf. Sudakow ist stolz darauf, wie viele Beweise er für die Veruntreuung des kommunalen Haushalts gesammelt hat – keine Veruntreuung „in außerordentlich großem, aber schon in großem Stil“. Er glaubt, dass all diese Beweise ihm in nächster Zeit nützen werden, und dass es „viele Verhaftungen“ geben wird.

    „Mit diesem Syrien wird alles nur schlimmer“, versichert Iossif Dimitrijewitsch. „Die Leute werden bald genug haben, und dann geht es los.“

    Allgemein sind die Leute in Listwjanka sehr duldsam. Im Gespräch fällt jedem von ihnen ein Beispiel aus seiner persönlichen Erfahrung dafür ein, dass es auch schon schlimmere Zeiten gegeben hat, und die haben sie auch überstanden. Heute ist es „Gott sei Dank noch nicht so schlimm wie in den Neunzigern“. Der 53jährige Waleri allerdings rechnet mit tiefgreifenden Veränderungen, und er weiß auch schon, wann es so weit sein wird:

    „Die Leute finden sich so lange mit der Lage ab, bis die westlichen Geheimdienste eine neue politische Führungsfigur aufgebaut haben. Sobald das der Fall ist, wird es mit der Geduld vorbei sein. Die Leute haben es satt!“

    Waleri hat zwei erwachsene Töchter – die ältere lebt in Moskau, die zweite in der Nähe von Nowosibirsk, in der Forschungsstadt Kolzowo. Waleri und seine Frau hatten kurz vor Beginn der Krise eine Hypothek aufgenommen, um in die Nähe ihrer jüngeren Tochter umzuziehen. Jetzt wird die Familie ihre Pläne nicht schmerzfrei umsetzen können: Die Firma, in der Waleri arbeitet, ist mit den Gehaltszahlungen im Rückstand. An die Ewigkeit des derzeitigen Regimes glaubt er nicht.

    „Das heißt, sobald es irgendeine Alternative zu Putin gibt, werden die Leute …“ Waleri fällt mir ins Wort:
    „Sofort! Im Moment ist ja wirklich niemand in Sicht, aber sobald irgendeine Alternative auftaucht, werden die Leute sich dem anschließen, der für diese Alternative steht! Putin wird im Nu vergessen sein, keiner wird mehr etwas wissen wollen von ihm!“

     


    Vorspann der Autorin
    Die Hof-Meinungsforscher verkünden einen neuen Rekord: Wladimir Putins Zustimmungwerte liegen mittlerweile bei knapp 90 Prozent! Es dürfte demnach gar nicht einfach sein, in diesem Land jemanden zu finden, der die Politik der Staatsführung nicht gutheißt. Neun von zehn Menschen auf der Straße sind voll und ganz dafür.
    Skeptiker rufen dazu auf, die Zahlen der offiziellen Meinungsforschung zu ignorieren. Unabhängige Meinungsforscher erklären, über Zahlen zu streiten sei sinnlos, doch die offensichtliche Beliebtheit Wladimir Putins zu leugnen, wäre schlicht dumm. Russlands Bevölkerung sei damit beschäftigt, das überraschend schwere Trauma des Zerfalls der Sowjetunion zu verarbeiten, und sehe noch nicht den Zusammenhang zwischen dem sinkenden Lebensstandard und den außenpolitischen Erfolgen des Präsidenten. Politologen präzisieren: Wenn man nicht von einem abstrakten „Gutheißen“, sondern konkret von vergangenen und bevorstehenden Wahlerfolgen spreche, so gebe es für das Wunder der Liebe des Volkes zum Präsidenten auch eine prosaischere Bezeichnung: Wahlfälschung. Die Folge sei der Niedergang des politischen Systems. Psychologen wissen eine Antwort auf die Frage, wer die marginalen 10 Prozent sind, die noch immer nicht in patriotische Ekstase verfallen sind, und woher sie kommen.
    Russlands Bevölkerung indessen liebt ihren Präsidenten weiterhin, von allen Widersprüchen unbeirrt, wie es Liebende nun einmal tun. „Innenpolitisch gibt es dafür keinen Grund. Aber es gibt einfach niemand anderen. Und außenpolitisch … Syrien war natürlich ein Fehler. Und für die Krim zahlen wir einen hohen Preis. Aber klasse, dass man wieder Respekt vor der Großmacht hat. Den Amis haben wir es gezeigt. Auch wenn jetzt alles teurer geworden ist. Aber vor allem: Es gibt einfach niemand anders.“

    Weitere Themen

    Russland als globaler Dissident

    Das Begräbnis des Essens

    Wer lebt glücklich in Russland?

    Produktion von Ungerechtigkeit

    Banja, Jagd und Angeln …

    Symbolischer Wohlstand

    „Die Ukraine hat uns betrogen“