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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Man setzt darauf, dass die Europäer einknicken“

    „Man setzt darauf, dass die Europäer einknicken“

    Russland liefert derzeit deutlich weniger Erdgas nach Westeuropa, berief sich zwischenzeitlich auf „höhere Gewalt“ und mehrmals auf Wartungsarbeiten. Zahlreiche europäische Politiker halten das für Vorwände und Taktik mit dem Kalkül: Der Westen solle gezwungen werden, die wegen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine verhängten Sanktionen zurückzunehmen, um im Gegenzug im nächsten Winter nicht zu frieren. Seit diesem Dienstag gilt ein Notfallplan der EU, um Gas sorgsamer zu verbrauchen und für den Fall eventueller Lieferstopps vorzusorgen.

    Besonders abhängig vom russischen Gas ist und bleibt Deutschland. Entgegen der erhitzten deutschen Debatte, lässt sich eine schwere Gaskrise laut Experten für diesen Winter – jedenfalls mit rechtzeitigen Sparmaßnahmen – noch abwenden. Deutsche Gasspeicher sind im Moment mehr als 70 Prozent gefüllt, 90 sollten es werden, so das angestrebte Ziel.  

    Was auf der anderen Seite das Erdöl angeht: Die Preise sind schon massiv gestiegen, die EU will ihre russischen Importe bis Jahresende um rund 90 Prozent reduzieren. 

    Doch welche Folgen haben Sanktionen und Gas-Lieferstopps eigentlich für Russland selbst? Immerhin speist sich der russische Staatshaushalt größtenteils aus Rohstoffexporten, die wiederum größtenteils nach Westeuropa gehen. Wird diese Geldquelle wirklich versiegen? Verfolgt Russland Pläne, um das zu kompensieren? Wenn ja, wie erfolgversprechend sind diese Ansätze? Und woher kommt das Geld für den Krieg gegen die Ukraine?

    Darüber hat The New Times-Chefredakteurin Yevgenia Albats mit dem Öl- und Gasmarkt-Experten Michail Krutichin und dem Wirtschaftsjournalisten Wladimir Gurewitsch gesprochen. 

    Yevgenia Albats: Wie stark sinken die Staatseinnahmen durch das europäische Embargo auf russisches Erdöl?

    Wladimir Gurewitsch: Im Moment kommen etwas mehr als 50,3 Prozent unserer Haushaltseinnahmen aus dem Erdgas- oder Erdölgeschäft. Dieser Anteil ändert sich ständig durch Ölpreisschwankungen. Das ist ein wichtiger, doch nicht der einzige Indikator. Die Erdöl- und Erdgasindustrie hat eine viel größere Bedeutung für unsere Wirtschaft. Denn aus den Gewinnen der Erdöl- und Erdgasunternehmen und der erdölverarbeitenden Industrie (die Gewinnsteuer liegt bei 20 Prozent) fließen 17 Prozent in die Haushalte der Regionen. Wenn diese Unternehmen plötzlich weniger produzieren, dann ist klar, wohin das führt. Das ist Punkt eins. Punkt zwei: Das sind Unternehmen, in denen die Menschen, selbst die einfachen Arbeiter, ganz gut verdienen. In diesen Unternehmen arbeiten hunderttausende Menschen. Wenn ihre Löhne sinken oder ein Teil entlassen werden muss, führt auch das zu geringeren Einnahmen in den Haushalten der Regionen. Zudem gehen weniger Sozialversicherungsbeiträge ein.

    Der Erdöl- und der Erdgassektor sind die größten Auftraggeber für die inländische Industrie

    Punkt drei: Der Erdöl- und der Erdgassektor sind die größten Auftraggeber für die inländische Industrie – Metallverarbeitung, Maschinenbau, Transportwesen, Baugewerbe. Wenn sie da, mal angenommen, 150 Millionen Tonnen im Jahr weniger fördern, dann stagnieren auch die Aufträge in all diesen Branchen. Insofern geht es also bei weitem nicht nur um die Mindereinnahmen im föderalen Haushalt.

    Können wir diese Mindereinnahmen nicht wenigstens teilweise kompensieren? Der Export nach Indien soll sich um das Vierfache erhöht haben …

    Michail Krutichin: Indien reduziert die Importe aktuell bereits wieder.

    W.G.: China ebenfalls.

    M.K.: Und zwar gravierend, die Hoffnungen waren wohl nicht ganz gerechtfertigt. Daher sollten wir uns nicht an Indien orientieren. Zumal da Konkurrenz mit Saudi-Arabien und angrenzenden Staaten besteht. Das Erdöl aus Russland zu exportieren, zumal mit dem riesigen Rabatt von 30 Prozent, das bedeutet kolossale Anstrengungen, Aufwendungen, Ausgaben für Transport und so weiter. Auch besteht die Gefahr, dass das russische Erdöl und andere Flüssigtransporte aufgrund der Sanktionen nicht mehr versicherbar sind. Daher ist Indien so zurückhaltend bei Erhöhungen der Erdölimporte aus Russland. 

    Wir sollten uns nicht an Indien orientieren. Zumal da Konkurrenz mit Saudi-Arabien und angrenzenden Staaten besteht

    Für den Staatshaushalt gibt es verschiedene Überlegungen. Wenn die Erdölförderung um 56 Prozent fällt – die Förderung lag im vergangenen Jahr bei 524 bis 526 Millionen Tonnen, wenn also 250 bis 260 oder gar 300 Millionen verschwinden, dann ist das ein schwerer Schlag für die Einnahmen. Wenn wir sagen, dass 50 Prozent aus Erdöl- und Erdgaseinnahmen in den Staatshaushalt fließen, dann bezieht sich das auf drei Steuerarten: die Abbausteuer für Bodenschätze, die Ausfuhrsteuer und die Energiesteuer für Kraftstoffe. Und was ist mit den [Staatseinnahmen – dek] durch die Gewinnausschüttungen der Erdölunternehmen? Und mit dem erwähnten Einnahmerückgang  der Regionalhaushalte und mit dem sinkenden Steueraufkommen durch Rückgang der Lohnsteuereinnahmen? Und das ist noch nicht alles. Tatsächlich sprechen wir insgesamt von 70 Prozent des Staatshaushalts. Wenn wir die Erdölförderung also halbieren, was bleibt dann noch vom Staatshaushalt?

    Das genau zu beziffern ist unmöglich, weil wir weder die künftigen Preise kennen noch konkrete Zahlen, wie die Sanktionen wirklich umgesetzt werden und wie stark Russland die Erdölförderung zurückfährt. Aber es wird auf jeden Fall sehr viel.

    Und was geschieht mit den Erdölanlagen, wenn die Förderung derart stark reduziert werden muss?

    M.K.: Ja, das ist den Erdölunternehmen sehr wohl bewusst. Zunächst einmal wird kein Erdölunternehmen, ausgenommen das staatliche Rosneft, neue Vorkommen erschließen oder welche antasten, die erst kürzlich erschlossen wurden. Wer wird heute investieren, wenn der Gewinn erst in 10 bis 15 Jahren zu erwarten ist? Und wer weiß schon, was in diesen 10 bis 15 Jahren noch alles passiert? 

    Zunächst einmal wird kein Erdölunternehmen, ausgenommen das staatliche Rosneft, neue Vorkommen erschließen

    Erfahrung mit der Stilllegung von Bohrlöchern haben wir schon aus der Zeit, als die Förderung durch Vorgaben der OPEC+ eingeschränkt werden musste. Damals wurde vor allem die Förderung aus Quellen mit niedrigem Ertrag gedrosselt, also es wurden die ineffektivsten Bohrlöcher stillgelegt. Jetzt muss man aber weitergehen, sie schließen oder konservieren. Unter russischen Bedingungen ist das schwierig, denn ein Teil der Ölquellen befindet sich im hohen Norden. Dort sind die Bohrlöcher anderthalb bis zwei Kilometer tief. Wenn dieser Flüssigkeitspfahl einfriert, bilden sich gigantische Pfropfen, die man später nur unter Aufwendung hoher Kosten wieder entkonservieren kann, gegebenenfalls muss man komplett neu bohren.  

    Halten wir also fest, der Einnahmeausfall im Staatshaushalt durch das Öl-Embargo kann etwa 30 Prozent betragen – liege ich richtig?

    M.K.: Sogar mehr.

    Gut, also 30 bis 40 Prozent. Gleichzeitig lese ich letzte Woche in der Financial Times und im Economist, dass Gazprom die Gaslieferungen nach Europa reduziert, dass Europa in Panik aufkommt, weil es zu erfrieren fürchtet. Gibt es denn auf russisches Gas noch keine Sanktionen?

    M.K.: Auf Gas gibt es keine Sanktionen. Selbst im 7. Sanktionspaket, das die EU gerade vorbereitet, ist keine Rede von Gas. Der Gazprom-Konzern hat aber gegenüber vier europäischen Abnehmern höhere Gewalt geltend gemacht. Aus Gründen, auf die man keinen Einfluss habe, könne man die Verpflichtungen gegenüber den Kunden nicht erfüllen. 

    Europa wurde der Gaskrieg erklärt. Das ist eine Reaktion darauf, dass Europa unabhängig von russischem Gas zu sein plant

    Was bedeutet das? Ich habe versucht zu verstehen, ob es für solche außergewöhnlichen Umstände irgendwelche unüberwindbaren Faktoren im technischen oder wirtschaftlichen Bereich gibt. Ich habe keine gefunden.

    Europa wurde also der Gaskrieg erklärt. Das ist eine Reaktion darauf, dass Europa in zwei bis fünf Jahren unabhängig von russischem Gas zu sein plant. Nun läuft eine Art Wettlauf. Die russische Regierung meint: ‚Wenn ihr so mit uns umgeht, zeigen wir euch mal, wie es ohne russisches Gas aussieht. Und so drehen wir euch unter einem passenden Vorwand – in unserem Fall höhere Gewalt – den Gashahn zu.‘

    Wenn ich Sie richtig verstehe, dann zeigt Russland Europa den Mittelfinger: Ihr wollt uns drohen? Hier hast du die Granate, Faschist – wie wir in der Kindheit sagten. Dennoch berührt all das unsere Staatseinnahmen. Wenn wir Europa geißeln, ist das vermutlich schmerzhaft für Europa, doch was wird aus unserem Haushalt? Das Erdöl fließt nicht, und da begrenzen wir auch noch selbst den Gasexport? Und wohin soll all das Gas gepumpt werden, das durch alle diese unendlichen Pipelines fließt, Jamal, TurkStream und wie sie alle heißen. 

    M.K.: Das kommt dem Mord an Gazprom gleich: Kommt, wir wischen Europa mal eins aus und vernichten Gazprom als Gasexporteur. Es bleibt nur eine kleine Pipeline über die Türkei auf den Balkan, die aus politischen Gründen ebenfalls geschlossen werden kann. Nach China haben wir eine Rohrleitung, durch die vergangenes Jahr 10 Milliarden Kubikmeter Gas geflossen sind. Das ist die Sila Sibiri, die bis 2025 ihr Maximum erreichen und bis zu 38 Milliarden Kubikmeter liefern soll. Die Chinesen haben einer Mehrabnahme von 10 Milliarden Kubikmetern zugestimmt. Was mit den restlichen fast 20 Milliarden ist, ist unklar.

    Das kommt dem Mord an Gazprom gleich. Kommt, wir wischen Europa mal eins aus und vernichten Gazprom als Gasexporteur

    Ich habe den Eindruck, unser Präsident lebt in der Illusion, er könne heute oder morgen einen Traum verwirklichen, den er seit Jahren bei unterschiedlichen Anlässen erläutert hat. Nach dem Motto: Ich hab das alles durchkalkuliert. Er sagte, wir würden die Gasleitungen in den Westen mit denen im Osten verbinden und den Gasstrom von Asien Richtung Europa und von Europa Richtung Asien beliebig umschalten, je nachdem, was für uns vom Preis her gerade günstiger ist. Doch das funktioniert so nicht. Alle Rohre führen nach Europa, so viele Rohre, mehr als Europa benötigt. Es gibt aber keine Pipeline, die das Gazprom-Gas von der Jamal-Halbinsel, wo es neue Vorkommen und gute Fördermengen gibt, nach Asien transportieren kann. 

    Um diese Lagerstätten mit China zu verbinden, um eine Pipeline mit einer Kapazität von 100 Milliarden Kubikmetern im Jahr zu bauen, braucht es 10 bis 15 Jahre. Der Präsident denkt aber, wie es mir scheint, dass er das gleich morgen erledigen kann. Er hat Gazprom öffentlich angewiesen: ‚Ich habe Gazprom den Auftrag erteilt, umgehend die Infrastruktur für den Transport von Gas in die asiatische Richtung zu organisieren.‘ Wie soll das umgehend möglich sein? Wie lange wird ein solcher Bau dauern?

    Ich habe den Eindruck, unser Präsident lebt in der Illusion, er könne heute oder morgen einen Traum verwirklichen, den er seit Jahren bei unterschiedlichen Anlässen erläutert hat

    Zudem werden die Chinesen nicht so viel Gas abnehmen. Es hat so viele Gespräche mit den Chinesen gekostet, um sie von Sila Sibiri zu überzeugen und von den 10 Milliarden Kubikmetern aus den Förderstätten im Fernen Osten. Eine Erhöhung der Gasimporte aus Russland steht aber in keinem chinesischen Plan. In keiner Berechnung, in keinem staatlichen oder nichtstaatlichen chinesischen Plan gibt es diese Pipeline. Deshalb richtet seine Illusion großen Schaden an: Kommt, jetzt wischen wir Europa eins aus. Da geht dann allerdings auch Gazprom bei drauf  …

    W.G.: Wenn es keine Lieferungen mehr nach Europa gibt, dann bliebe letztlich nur China als Abnehmer von Pipeline-Gas, andere Möglichkeiten gibt es nicht. Eine weitere theoretische Variante ist die Umwandlung in Flüssigerdgas und die Verschiffung über den Arktischen Ozean. Dazu müsste man, ähnlich wie der Erdgasförderer Nowatek, eine große Menge an Flüssigerdgas-Fabriken wie Jamal LNG oder Arctic LNG 2 bauen. Und Absatzmärkte finden.

    Eine Erhöhung der Gasimporte aus Russland steht in keinem chinesischen Plan

    Allerdings ist es ein großes Problem, für solche Mengen an Flüssigerdgas Abnehmer zu finden. Zudem haben die bestehenden LNG -Terminals Probleme bei der Produktion. Das sind sehr große, komplexe und teure Anlagen, und das alles unter arktischen Bedingungen. Nach dem [sanktionsbedingten –  dek] Weggang der wichtigsten Zulieferer und vieler Beteiligter gibt es bereits heute Probleme mit der Fertigstellung des von Nowatek begonnenen Arctic LNG 2. Eine klare Antwort auf die Frage, wie die nicht gelieferte Technologie ersetzt und wie der technische Betrieb laufen soll, gibt es nicht. Das gesamte Gas aus den Pipelines in Flüssigerdgas umzuwandeln, ist also sehr problematisch, und ich sehe keine Lösung dafür. 

    Deshalb denke ich, man setzt letztlich die Hoffnung darauf, dass die Europäer einknicken. Wenn sie mit ihrer spärlichen Ration dasitzen und der Winter nicht so mild wird wie der letzte – dann werden sie bestimmt um Lieferungen bitten. Ich denke, das ist das Kalkül.

    Herr Gurewitsch, noch einmal: Putin geißelt Europa, gleichzeitig aber den russischen Staatshaushalt. Wie stark werden die Einnahmen im russischen Staatsbudget sinken, wenn neben Erdöl auch kein Erdgas mehr geliefert wird? Was wird stattdessen geliefert? Wir haben Phosphate, Düngemittel …

    W.G.: Wir haben Landwirtschaft …

    Ja, vielleicht Weizen. Wie stark reduzieren sich die Staatseinnahmen?

    M.K.: Ich kann das nicht zusammenzählen. Sehen Sie, auch auf den Kohleexport in den Westen wird ein Embargo eingeführt. Zwar würde China Kohle kaufen, doch wie soll sie dorthin kommen – mit Zeppelinen? Wir haben die Transsib und die BAM, das war’s. Waggons, Transportkapazitäten auf dieser Strecke – nichts … Sie ist komplett ausgelastet, da kann man nichts erhöhen. Irgendjemand sagte, man könne Öl auf der Schiene nach China befördern. Wie soll das gehen? Dort fährt schon Kohle und was sonst noch alles. Es ist völlig dicht.

    Wir haben die Transsib und die BAM, das war’s. Waggons oder Transportkapazitäten auf dieser Strecke – gibt es nicht … Sie ist komplett ausgelastet

    W.G.: Das betrifft auch die Getreidewirtschaft. Häfen und Terminals – nicht unproblematisch. 

    M.K.: Richtig, auch die Häfen kommen nicht nach. Und selbst wenn man aus den Häfen im Fernen Osten zusätzlich Erdöl oder Erdölprodukte nach China liefern möchte – wie kommen die in den Hafen? Auch auf der Schiene. Denn die Pipeline, die bis zur Kosmino-Bucht führt, arbeitet am Anschlag, da kann man nicht noch mehr durchleiten. 

    Es ist einfach ein absolut apokalyptisches Szenario. Denken Sie, Russland ist tatsächlich bereit zu einem Lieferstopp, nur um Europa zu bestrafen?

    M.K.: Ich denke das tatsächlich, bislang deutet alles darauf hin. Die Bestrebungen, Gazproms Marktstellung in Europa zu zerstören, gibt es ja nicht erst seit gestern oder vorgestern. Das hat alles viel früher begonnen. Die Ukraine war der größte Abnehmer für russisches Gas. Dieser Markt wurde schrittweise zerstört. Danach wurden weitere europäische Märkte für russisches Gas vernichtet. Und schließlich sind sie da angekommen, wo sie jetzt sind – bei der Berufung auf höhere Gewalt: ‚Wir werden euch überhaupt kein Gas mehr liefern.‘

    Der Krieg muss in Rubel, nicht in Dollar finanziert werden. Und Rubel muss man sich bei den Bjudshetniki holen, um damit die Armee und die Rüstungsfabriken zu versorgen

    Einen Moment, Herr Gurewitsch, aber auch der Krieg muss doch irgendwie finanziert werden. Laut Daten von Sergej Gurijew verdient die Russische Föderation eine Milliarde Dollar am Tag mit Erdöl, wovon sie die Hälfte für den Krieg ausgibt.

    M.K.: Das ist komplizierter, wie sich gezeigt hat. Wenn wir nämlich in Russland für Öl, Gas, Kohle und Diamanten ausländische Währung bekommen, muss mit dieser Auslandswährung ja etwas geschehen. Unser Import ist aber dermaßen gesunken, dass er nicht mal unter dem Mikroskop zu sehen ist. Wir können also nichts mit den Devisen anfangen. Daher ist die einzige Hoffnung, dass wir noch genug Rubel haben. Der Krieg muss in Rubel, nicht in Dollar finanziert werden. Und Rubel muss man bei den Bjudshetniki abziehen, um damit die Armee und die Rüstungsfabriken zu versorgen.

    W.G.: Wenn der Rubel fällt, füllt sich automatisch der Staatshaushalt. Denn dann bringt sogar eine geringere Menge an exportiertem Gas und Öl konvertiert in Rubel mehr Einnahmen als jetzt.

    Es gibt also zwei offensichtliche Schlussfolgerungen. Erstens, das russische Sozialsystem, das Gesundheitssystem und überhaupt die Bjudshetniki müssen auf spärliche Einkünfte vorbereitet sein, da nicht nur embargobedingt die Erdöleinnahmen fehlen werden, sondern auch Einnahmen aus dem Gasgeschäft. Zweitens können wir festhalten, dass Russland Europa den Gaskrieg erklärt hat. 

    M.K.: Außerdem darf nicht vergessen werden, dass nicht nur der Export von Erdgas und Erdöl, sondern auch der von Gold, Diamanten und Kohle den Bach runtergeht.

    Wir müssen also den Gürtel enger schnallen.

    W.G.: Ich würde es so formulieren: Wenn alles so kommt, wie wir es hier beschrieben haben, dann bedeutet das für uns tatsächlich einschneidende finanzielle Verluste und Verluste im Staatshaushalt. Wegen der aktuell anomal hohen Rohstoffpreise gibt es jetzt noch einen Puffer. 

    Das Technologieembargo ist auf lange Sicht, viel bedeutsamer. Da gibt es viel mehr Probleme

    Ein viel größeres Problem [als das mit den Rohstoffexporten – dek] sehe ich im Bereich Technologie [die sanktionsbedingt nicht mehr importiert werden kann – dek]. Das ist auf lange Sicht, auch strategisch, viel bedeutsamer. Und da gibt es viel mehr Probleme.
    Denn: Von den Erdöl- und Erdgasexporten nach China und Indien kann man natürlich leben, nicht im Wohlstand, aber es ist möglich. Wie wir aber mit dem technologischen Embargo überleben sollen, das wird uns in den nächsten Jahren sehr viel mehr beschäftigen.

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  • „Hinter den Vergiftungen gibt es ein System“

    „Hinter den Vergiftungen gibt es ein System“

    Der Giftanschlag auf Alexej Nawalny war kein Einzelfall. Hinter den (versuchten) politischen Morden steckt laut Recherchenetzwerk Bellingcat System. Es gebe zahlreiche Hinweise auf die Beteiligung des FSB, die Fäden für die Auftragsmorde führten jedoch ganz nach oben – und nur der erste Mann im Staat zahle den Preis für deren Erfolg oder Misserfolg.

    Zu diesen Erkenntnissen kommt der Investigativjournalist und Recherche-Leiter von Bellingcat Christo Grozev. Er ist der Mann hinter den Untersuchungen zum Abschuss von Flug MH17 und zu den Giftanschlägen auf Alexej Nawalny, Wladimir Kara-Mursa und Dimitri Bykow. Jede Recherche liefert neue Hinweise, legt Verbindungen zu älteren Fällen offen und zeigt Ähnlichkeiten in der Arbeit von FSB und seinem sowjetischen Vorgänger KGB auf.

    Wie ist das System der politischen Morde in Russland aufgebaut? Warum stehen nicht nur oppositionelle Politiker wie Nawalny, sondern auch Schriftsteller wie Bykow auf der Abschussliste? Wie hängen die verschiedenen Fälle zusammen? Und warum bindet dieses System Wladimir Putin nur noch fester ans Präsidentenamt?

    Auf diese Fragen antwortet Christo Grozev im Interview mit Yevgenia Albats – Chefredakteurin des Online-Mediums The New Times und Kennerin der FSB-Geschichte.

    Jewgenija Albats: Viele kennen Ihren Namen und wissen, dass Sie Teil des Recherchenetzwerks Bellingcat sind und unmittelbar an der Aufklärung von Morden und Mordversuchen arbeiten, die die Politische Polizei in Russland verübt. Sie untersuchten unter anderem die Anschläge auf Alexej Nawalny, Wladimir Kara-Mursa, Dimitri Bykow. Ich habe eine ganze Reihe von Fragen zu diesem Thema, aber vielleicht erzählen Sie mir zuerst: Wer sind Sie, Christo Grozev? Die russische Propaganda behauptet, dass Sie bei der CIA sind, oder dem britischen Geheimdienst MI-6 oder MI-5, vielleicht auch beim israelischen Mossad … Also, wer sind Sie?

    Christo Grozev: Die Behauptung, ich würde für westliche Geheimdienste arbeiten, gab es schon, bevor ich in Russland als Journalist bekannt wurde. Aber die Antwort ist ziemlich einfach: Ich wurde in Bulgarien geboren, bin gleich nach der Schule für eine Weile nach Europa gegangen – ich wollte Musikradio machen, das war gegen Ende des Kommunismus. Dann bin ich nach Bulgarien zurück, wollte dort den ersten Musiksender gründen. Das war damals noch verboten, also betrieb ich einen Piratensender. Danach habe ich in den USA Journalismus studiert. Gleich nach der Uni bekam ich einen Job: Ich sollte die ersten kommerziellen Rundfunksender in Russland aufbauen. Ein amerikanisches Unternehmen, das seine Erfahrung aus den USA nach Russland und Osteuropa bringen wollte. Dort machte ich Karriere, wurde zunächst Regionaldirektor, dann geschäftsführender Direktor der ganzen Radiogruppe. Dann habe ich in den Niederlanden investiert – das ist alles. Das war ein Selbstläufer, ich musste mich nicht jeden Tag darum kümmern. Und dann begann der Krieg. Der Dritte Weltkrieg, wie ich ihn nenne, der 2014 begann. Und ich fing an, meinen Blog zu führen …

    Heute ist es ein globaler Krieg mit dem Einsatz von Informationen als Waffe

    Sie meinen die Annexion der Krim? Und die Truppen im Donbass?

    Ja, das war der Anfang. Aber danach veränderte sich alles. Heute ist es ein globaler Krieg … Weder ein kalter noch ein bewaffneter, aber dennoch ein Krieg, an dem alle Seiten irgendwie beteiligt sind. Mein Blog widmete sich zunächst dem, was man „weaponization of information“ nennt, also dem Einsatz von Information als Waffe, damals durch Russland, aber nicht nur – zu Beginn des Krieges auch durch die Ukraine. Dann kam MH17, und das wurde mein Hauptthema, dadurch bin ich zu Bellingcat gekommen. Nach ein paar Untersuchungen übernahm ich die Recherche-Leitung.

    Wenn ich das richtig verstehe, haben Sie mit dem Radiosender viel Geld gemacht.

    Nicht viel nach russischen, also Oligarchen-Maßstäben. Aber für bulgarische Verhältnisse schon. Ich kann gut davon leben und meinem Hobby nachgehen. Ich kann sogar in mein Hobby investieren, was ich seit vier Jahren tue.

    Diese Recherchen bezahle ich

    Bellingcat zahlt Ihnen also kein Gehalt?

    Nein. Ich bestehe immer noch darauf, dass sie mich nicht bezahlen, damit die Frage, woher das Geld für die Recherchen kommt, ganz klar beantwortet werden kann. Bei Bellingcat ist zwar auch alles transparent, aber für mich ist es einfacher zu sagen: „Ich. Ich bezahle diese Recherchen.“ Deshalb garantiere ich mit meinem Namen: Niemand hat für mich diese Recherchen bezahlt, weder die Amerikaner noch die Briten noch sonst wer. Meine Finanzen lassen sich leicht überprüfen: Das sind die Dividenden aus dem kommerziellen Musiksender, mehr gibt es nicht.

    Sie investieren Ihr Geld, Ihre Zeit und Ihre Sicherheit – denn es ist klar, dass diese Arbeit gefährlich ist – in Untersuchungen, die mit Russland und russischen Politikern zu tun haben. Warum ist Ihnen das so wichtig?

    Das ist nichts, was ich vorher geplant hätte. Untersuchungen werden dort gemacht, wo Verbrechen verübt werden. Es gibt einen Krieg, das ist Fakt, und Russland ist eine der Kriegsparteien. Die offensichtlichsten grenzüberschreitenden Verbrechen, hinter denen der Staat steht, sind die russischen Verbrechen. Auch das ist ein Fakt.

    Als wir anfingen, die Katastrophe um den Flug MH17 zu untersuchen, wusste ich nicht, dass Russland für den Abschuss des Flugzeugs verantwortlich ist. In den ersten Stunden nach dem Vorfall hielt ich es für wahrscheinlicher, dass die Ukraine es versehentlich abgeschossen hatte. Ich hielt die Mitschnitte abgefangener Telefonate, die der SBU [Inlandsgeheimdienst der Ukraine – dek] im Internet veröffentlicht hatte, für eine Fälschung. Erst später dann verstand ich, dass sie nicht gefälscht waren. Wissen Sie, wie? Weil sie damals auch die Telefonnummern veröffentlicht haben, von denen diese Mitschnitte stammten. Ich fing an, diese Nummern anzurufen, und hatte tatsächlich Separatisten am Apparat, die mir alles erzählten. 

    Sie haben gezeigt, dass es ein System hinter den Vergiftungen gibt

    Aber nun zu Ihrer jüngsten Untersuchung, bei der mir das Wichtigste zu sein scheint, dass Sie gezeigt haben, dass es ein System gibt: nämlich die Kooperation zwischen der 2. Abteilung des FSB und dem NII 2 [Institut für Kriminalistik des FSB – dek]. Zur 2. Abteilung des FSB gehört der Verfassungsschutz, die sogenannte Dienststelle „S“. Sie ist die Nachfolgerin der 5. Hauptverwaltung des sowjetischen KGB, die gegen Dissidenten und Andersdenkende kämpfte, die Kirche, Profisportler, NGOs und so weiter überwachte. Wir wissen, dass es in der Geschichte der Politischen Polizei in der Sowjetunion immer Abteilungen gab, die für politischen Terror und Morde verantwortlich waren. So war es früher, vor den Verbrechen, die Sie jetzt untersuchen. Woher wissen Sie, dass es tatsächlich eine Kollaboration zwischen der politischen, ideologischen Spionageabwehr und einem Institut gibt, das sich auf Vergiftungen spezialisiert?

    Zunächst einmal möchte ich sagen, dass wir das nicht objektiv wissen. Das werden wir tun, sobald wir irgendein Dokument finden, das uns zeigt, wie alles organisiert ist. Im Moment können wir lediglich auf analytischem Wege Hypothesen aufstellen. Ich stelle alle Fakten zur Verfügung, die wir haben, und dann können Sie, wenn Sie möchten, eine Gegenhypothese aufstellen. Was wir sehen, ist, dass an jeder Vergiftungsoperation Menschen aus unterschiedlichen Abteilungen beteiligt sind. Wir haben lange gerätselt, aus welchen Abteilungen sie kommen. Wir hatten gedacht, das wären Ad-hoc-Gruppen, Brigaden aus Fachleuten mit unterschiedlichem Background. Aber dann wurde uns klar, dass es offenbar doch eine klare Arbeitsteilung gibt. Und der erste Teil – die Beschattung, während der die Entscheidung vorbereitet wird – wird ausschließlich von Leuten aus der 2. Abteilung des FSB übernommen, die General Sedow untersteht.

    Jede neue Untersuchung liefert uns auch zu älteren Fällen neue Erkenntnisse. Bei dem aktuellen Fall haben wir zum Beispiel gesehen, dass die Leute, die sowohl Nawalny als auch Bykow und Kara-Mursa beschattet hatten, alle aus Sedows Abteilung kommen. Aus seiner Abteilung kommen auch diejenigen, die im Ausland Menschen erschießen, wie zum Beispiel im Fall Khangoshvili.

    Der erste Teil wird vom FSB ausgeführt. Dann werden Chemiker, Ärzte eingeschaltet

    Das ist ein wichtiger Punkt. Sie sagen also, die Beschattung wird von Mitarbeitern der 2. Abteilung des FSB durchgeführt?

    Ja. Aber das ist keine „einfache“ Beschattung, über die alle Bescheid wissen. Diese Beschattung hat das Ziel, eine Handlung herbeizuführen. Anders als bei einer einfachen Beschattung wird hier nie etwas an die örtlichen Strukturen delegiert. Weder weiß der lokale FSB, dass diese Menschen kommen, noch sprechen sie mit jemandem vor Ort, mit Ausnahme der Region Stawropol und Tschetschenien.

    Der erste Teil des Auftrags wird also ausschließlich von Menschen aus der 2. Abteilung ausgeführt. Und dann, ab einem bestimmten Zeitpunkt, werden Spezialisten aus dem NII 2 eingeschaltet. Das sind dann Chemiker, Ärzte oder Fachleute für Chemiewaffen oder Chromatographie-Spezialisten, es gibt auch Fachleute, die wissen, wie man Spuren verschiedener Chemikalien findet, und so weiter und so fort. Aber die kommen erst in der letzten Phase dazu.

    So wurde uns die Arbeitsteilung klar. Und auch, dass die Beteiligten sich gegenseitig nicht unbedingt gut kennen. Kudrjawzew, zum Beispiel, der „Spurenbeseitiger“ aus dem NII 2, mit dem Nawalny telefoniert hat, kannte die Namen seiner Kollegen nicht … Er wusste zum Beispiel nicht, wie der Kollege aus der 2. Abteilung heißt, mit dem seine direkten Kollegen aus dem NII 2, Ossipow und Alexandrow, zusammen den Anschlag auf Nawalny verübten.

    Wer sind Ossipow und Alexandrow?

    Ossipow und Alexandrow sind zwei Chemiker und Ärzte, zwei Schlüsselfiguren aus dem NII 2. Sie arbeiten seit 2008 in diesem Dienst. Dem Vergiftungsdienst. Nach unserem Kenntnisstand sieht die Rangordnung folgendermaßen aus: Diese Ärzte führen Aufgaben aus, die ihnen die 2. Abteilung überträgt. Die 2. Abteilung wiederum steht in Kontakt zur politischen Führung.

    Das heißt, der Auftrag kommt von oben …

    Man könnte es so formulieren: Die Listen führt die 2. Abteilung des FSB.

    Haben Sie diese Listen jemals gesehen?

    Nein, wir selbst nicht. Ich habe schon vor langer Zeit von der Existenz dieser Listen gehört, schon 2014/2015. Von Menschen, die früher beim FSB oder in den Machtstrukturen tätig waren. Ich habe ihnen nicht geglaubt. Ich dachte, falls es sie gibt, dann eher im Wirtschaftsbereich, dass jemand [privat] Abschusslisten führt. Aber jetzt weiß ich, dass diese Listen doch über die 2. Abteilung erlassen werden. In der letzten Phase, wenn der Anschlag verübt wird, ist immer jemand aus der 2. Abteilung und ein oder zwei Vertreter der Chemiebrigade aus dem NII 2 involviert.

    Vielleicht wählen sie einen Kriminellen, der tut, was man ihm sagt

    Das heißt, das NII 2 ist eine rein ausführende Instanz.

    Sie sind Dienstleister. Und hier ist wichtig zu verstehen, dass die Leute aus der 2. Abteilung, die die Operation vorbereiten, sie nicht zwangsläufig mit den Händen des NII 2 zu Ende bringen. Vielleicht wählen sie auch ein anderes Mittel, eine Pistole zum Beispiel und einen Kriminellen, der einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist und tut, was man ihm sagt.

    Das war eine sehr beliebte Methode des KGB.

    Ja. Und einige von unseren zukünftigen Recherchen werden vermutlich zeigen, wie das gemacht wird. Das heißt, durch die 2. Abteilung des FSB, aber mit anderen Händen.

    Der KGB entließ für die Ausführung eines Auftrags gewöhnlich einen Häftling mit lebenslanger Haftstrafe aus dem Lager, oder jemanden, der in den Uranminen seine Strafe verbüßte.

    Etwas Ähnliches konnten wir in der Ukraine beobachten, als ein Oberst der ukrainischen Militäraufklärung eliminiert werden sollte, der offenbar russische Militärinteressen im Osten der Ukraine verletzt hatte. Der Mann, den sie dort hinschickten, reiste mit einem gefälschten Pass ein, einem tadschikischen oder kirgisischen. Aber der Anschlag missglückte, die Autobombe tötete ihn selbst. Wir haben uns daraufhin angeschaut, wer er war, welchen Background er hatte, wir konnten ihn identifizieren. Wie sich zeigte, war er ein ehemaliger Polizist, Ermittler beim Drogendezernat in Moskau. Er war der Erpressung einer sehr großen Bestechungssumme überführt und zu einer hohen Haft- und einer riesigen Geldstrafe verurteilt worden, fast eine Million Dollar. Und vier, fünf Monate nach der Verurteilung tauchte er plötzlich in Kiew auf – offenbar hatte man ihm angeboten, seine Probleme loszuwerden …

    Es gibt eine Arbeitsteilung: Morde im Ausland sind in der Regel Sache des Militärnachrichtendienstes

    Warum hat man mit der Beseitigung Litwinenkos in London Lugowoi beauftragt – der doch beim KGB gearbeitet hat, für die Nomenklatura zuständig war, zu Gaidars Personenschutz gehörte und so weiter?

    Ich habe diesen Fall nicht untersucht, aber logisch kann ich es mir so erklären, dass sie jemanden gebraucht haben, dem Litwinenko vertraute und den er treffen würde, obwohl er Angst vor einem Anschlag hatte. Übrigens erinnere ich mich, dass es wohl auch gegen Lugowoi zu jener Zeit oder schon früher ein Strafverfahren gab.

    Ja stimmt, Lugowoi hatte ebenfalls große Probleme mit den russischen Behörden. Und das Attentat auf Skripal und seine Tochter in Salisbury – da gilt es doch als bewiesen, dass die Killer aus dem Militärnachrichtendienst GRU kamen.

    Da gibt es eine Arbeitsteilung: Morde im Ausland sind in der Regel Sache des GRU. Nur die Morde an Tschetschenen übernimmt normalerweise der FSB. Das gilt als dessen Territorium, da werden die Grenzen Russlands sozusagen virtuell ausgeweitet. Deshalb war auch die Ermordung Khangoshvilis in Berlin 2019 Sache des FSB. Genau wie der Mord an einigen anderen Islamisten und Terroristen (die sie in deren Augen sind) 2014, 2015 und noch 2016 in der Türkei. Aber der Anschlag in Salisbury war ganz sicher Sache des GRU. Nicht nur, weil es das Ausland war, sondern auch, weil das Opfer ein Kollege war, jemand vom Militärgeheimdienst.

    Nur sehr wenige Leute sind in die politischen Morde eingeweiht

    Das sind also die Ausführenden. Und die Auftraggeber beziehungsweise diejenigen, die den Auftrag für die oberste Führung Russlands ausarbeiten, das sind die 2. Abteilung und der ihm zugehörige Verfassungsschutz. Die 2. Abteilung wird von General Sedow geleitet. Wo genau verorten Sie seine Rolle?

    Wir sehen nur eine Hierarchieebene zwischen General Sedow und dem ranghöchsten Mitarbeiter, der konkret an diesen Attentaten beteiligt war: Roman Mesenzew aus der 2. Abteilung, der Kara-Mursa bis zu dessen Vergiftung beschattet hat. Er steht in der Rangordnung ziemlich weit oben, ist entweder Oberst oder General. Dieser Roman Mesenzew steht in direktem Kontakt zu General Sedow, das heißt, seinem direkten Vorgesetzten. Deshalb glaube ich, dass der Weg vom Chef der 2. Abteilung zu den Todesschwadronen, wie man sie bezeichnen kann, recht kurz ist.
     
    Es ist doch aber erstaunlich, dass ein Oberst oder General die Beschattung übernimmt, da stimmt doch etwas nicht.

    Noch einmal: Das ist keine Beschattung, verstehen Sie? Das ist eine sehr verantwortungsvolle Arbeit. Nur sehr wenige Leute sind eingeweiht. Dieser Kreis darf nicht erweitert werden, sonst hätten wir das, was wir jetzt wissen, schon vor fünf bis zehn Jahren gewusst. Diese Art von Arbeit ist nicht nur illegal, sondern auch illegitim. Und nur Leute, die das bereits verinnerlicht haben, bleiben weiterhin eingeweiht. Sonst könnte es jemanden geben, auch innerhalb des FSB, der davon erfährt, dass sie politische Gegner beschatten, und der sich dann einfach besäuft, es seiner Frau erzählt und so weiter, und dann würde alles ins Rollen kommen. Deshalb wissen nur sehr wenige von der Existenz dieser Unter-Unter-Unterabteilung der Dienststelle S [Verfassungsschutz – dek]. Und das macht es manchmal erforderlich, dass auch jemand aus der Führungsebene mitarbeitet.

    Den Preis für den Erfolg oder Misserfolg eines politischen Auftragsmordes zahlt der erste Mann im Staat

    [Bellingcats Auswertungen von Passagierlisten russischer Linienflüge haben Bewegungsprofile von FSB-Mitarbeitern offengelegt und zahlreiche Hinweise auf Nawalnys Vergifter geliefert. – dek] Wohin ist General Sedow denn geflogen?

    Sedow ist recht viel geflogen, doch eine konkrete Überschneidung sehen wir mit Oberst Eduard Bernezki, der beispielsweise das Attentat auf Khangoshvili in Berlin unmittelbar koordinierte und überwachte. In Russland sind sie mehrmals zusammen geflogen, General Sedow und dieser Eduard Bernezki. Und einige Zeit später koordinierte Bernezki das Attentat auf eine der Zielpersonen. Daher ist Sedow mit Sicherheit eingeweiht, anders kann es nicht sein. Den Preis für den Erfolg oder Misserfolg eines politischen Auftragsmordes zahlt nämlich der erste Mann im Staat. Deshalb würde es dieser erste Mann niemals zulassen, dass jemand anderes die Entscheidungen fällt und absegnet.


     
    Ehemalige KGBler sagen Folgendes: Niemand lässt sich auf einen politischen Mord ein, wenn es keine Garantie gibt, dass er am Ende nicht der Dumme ist. Und der Einzige, der deinem Vorgesetzten diese Garantie geben kann, der wiederum dir einen solchen Befehl erteilt, ist der erste Mann im Staate – der Generalsekretär oder der Präsident.

    Aber glauben diese Leute – hier geht es um die Giftmischer und die Leute aus der 2. Abteilung –, glauben die ihrem General Sedow aufs Wort, dass diese Entscheidung auf höchster Ebene getroffen wurde? Ich würde an deren Stelle nicht darauf vertrauen, dass mich jemand im Falle des Falles rettet … 

    Da können wir nur Vermutungen anstellen. Jedoch wissen wir etwas durch die Aussagen von Sudoplatow und dessen Stellvertreter Eitington, die nicht an der Spitze des NKWD, der OGPU, des NKGB et cetera standen, sondern Abteilungsleiter waren. Sie wussten nämlich, dass der Befehl zur Beseitigung eines politischen Widersachers unmittelbar von Stalin oder von Stalin und Molotow kam. Sudoplatows Aufzeichnungen zufolge konnte es anders gar nicht sein.

    Der Fall Bykow: ‚Es gab eine Vergiftung, das haben Ärzte nachgewiesen, auch wenn sie nicht wussten, womit.‘

    Da ist noch eine wichtige Frage. Beim Fall Nawalny konnten Sie nicht nur aufdecken, dass er von Leuten des NII 2 beschattet wurde, es ist ihnen auch gelungen, einen der „Spurenbeseitiger“ zu kontaktieren: Kudrjawzjew, der in eben diesem NII 2 arbeitet. Wir haben keine Zweifel, wer den Mord mit dem Nervengift aus der Nowitschok-Gruppe in Auftrag gegeben hat. Was aber die Mordversuche an Kara-Mursa und Bykow angeht … Wir sehen, dass in beide Fälle Ossipow vom NII 2 verwickelt war. Woher wissen wir aber, dass Bykow vergiftet wurde? Dmitri Muratow, der seinerzeit unmittelbar Bykows Abtransport aus Ufa organisiert hatte, erzählte mir, dass Bykow sehr hohe Blutzuckerwerte hatte, und er starke Zweifel hat, dass es eine Vergiftung war. Welche Beweise haben Sie?

    Zum einen gab es eine Beschattung, und zwar eine vorbereitende, nach demselben Prinzip, das wir bei Nawalny gesehen haben. Zuerst war es nur die Dienststelle S, dann wurde ein Chemiker und Arzt hinzugeholt, Ossipow. Der verbringt einen Großteil seiner Arbeitszeit im NII 2. Eine Analyse seiner Telefon- und Verbindungsdaten zeigt, dass er ausgerechnet mit Fachleuten für Nowitschok zu tun hat. Das heißt, er steht im Wesentlichen in Kontakt mit Leuten aus dem ehemaligen 33. Institut [33. Zentrales Forschungsinstitut des Verteidigungsministeriums – dek] und mit jenen, die jetzt im Wissenschaftszentrums Signal tätig sind und dort an einer Weiterentwicklung des Nervengifts Nowitschok arbeiten. Das heißt, er ist nicht irgendein beliebiger Beschatter. Er machte sich unter falschem Namen auf, auch das ist wichtig. Denn die Beschattung wird oft unter dem Klarnamen durchgeführt. Wenn sie sich aber entscheiden aktiv zu werden, nehmen sie die zweiten Pässe, um keine Spuren zu hinterlassen (wobei sie damit meiner Ansicht nach nur noch mehr Spuren hinterlassen).

    Deshalb ist Ossipow unter dem Namen Spiridonow ausgerechnet nach Nowosibirsk geflogen, ohne Rückflugticket und mit einer zweiten Person, die am Tag der Vergiftung Nawalnys ebenfalls mit Nawalny in Tomsk war. Ihr Vorgesetzter Sucharew fliegt zur gleichen Zeit nach Sotschi, ebenfalls ohne Rückflugticket. 

    Und in der Nacht, nachdem Bykows Hotelzimmer ungefähr sechs Stunden lang leergestanden hatte (der ideale Zeitpunkt, um dort reinzugehen), da kauften sie sofort Tickets und kehrten am nächsten Tag nach Moskau zurück. Zwei Tage später fällt Bykow ins Koma.

    Es bleibt die Frage, ob das Koma durch eine Vergiftung ausgelöst wurde. Und als Antwort sollte man nicht die Worte oder Versionen von Herrn Muratow übernehmen, der Bykow seinerzeit sehr geholfen hat, der ihm wohl wirklich das Leben gerettet hat. Weil die Ärzte in ihrer Diagnose „Vergiftung durch unbekannte Substanz“ geschrieben hatten. Was von erhöhtem Blutzucker begleitet wird. Aller Wahrscheinlichkeit nach, weil er in einem prädiabetischen Zustand war. Man muss aber wissen: Eine Vergiftung mit organischen Phosphaten wird stets von einem erhöhten Glukosespiegel begleitet.

    Also, es gab eine Vergiftung, das haben die Ärzte nachgewiesen, auch wenn sie damals nicht wussten, womit. Der Giftmörder war ganz in der Nähe. Welche harmlose Erklärung wollen Sie mir da geben?

    Bykow glaubte aufgrund unserer Ergebnisse sofort, dass er vergiftet wurde

    Es gab den Anschlag auf Wladimir Kara-Mursa, die Gründe sind mehr oder weniger klar. Er ist ein Politiker, der ganz direkt den Magnitsky-Act vorantreibt, nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in anderen Ländern. Es liegt auf der Hand, wer sich warum an ihm rächen will. Bei Alexej Nawalny ist es noch offensichtlicher. Er ist Putins persönlicher Feind. Dann gibt es noch den Fall Pjotr Wersilow, bei dem man in der Charité keine giftigen Substanzen gefunden hat. Allerdings vermuten Angehörige, dass er ebenfalls mit etwas vergiftet wurde.

    Aber nun zurück zu Bykow. Er ist zweifellos sehr talentiert und hat hervorragende Romane geschrieben; einige seiner Vorlesungen sind einfach genial. Ein Dichter! Warum hätte man ihn vergiften wollen?

    Zu den Motiven weiß ich keine Antwort. Und der Umstand, dass es keine offensichtlichen Motive gab, hat mir noch mehr innere Überzeugung abgefordert, dass es sich um einen Vergiftungsanschlag handelte. Denn es ist sehr viel einfacher, den Leser zu überzeugen, dass jemand vergiftet wurde, wenn es ein offensichtliches Motiv gibt. Fehlt das, ist die Unsicherheit viel größer. Deswegen haben wir so lange für diesen Bericht recherchiert.

    Ich kann es Ihnen nicht sagen, ich habe Bykow einen Tag vor der Veröffentlichung gefragt. Er wusste auch keine Antwort, glaubte aber aufgrund unserer Ergebnisse sofort, dass er vergiftet wurde.

    Sie reden mit Pseudowissenschaftlern. Das ist die Art Berater, die sie haben

    Wir wissen nicht, wie es in ihren Köpfen aussieht, wie sie denken. Vielleicht haben sie irgendein Labor, in dem sie Risikomodelle erstellen. Ich weiß, dass diese Leute Pseudowissenschaft betreiben. Das sieht man an ihren Telefongesprächen, aus den Verbindungsdaten, den Gesprächen mit diversen Wahrsagern und Hellsehern.

    Sie reden mit Pseudowissenschaftlern … Das ist die Art Berater, die sie haben … Daher ist es durchaus möglich, dass sie irgendein virtuelles Labor haben, in dem ihnen jemand etwas prophezeit, wie in Minority Report, falls sie den Film gesehen haben …

    Könnte es sein, dass sie getestet haben, welche Dosis tödlich ist, welche nicht, bei Menschen mit unterschiedlicher Statur, mit unterschiedlichen Begleiterkrankungen?

    Das wäre zu grausam, sogar für sie. Kann ich mir nicht vorstellen. Das wäre zu viel.

    Ich denke, das Risiko, dass eine solche Operation scheitert, wäre zu groß, als dass sie an so zentralen Persönlichkeiten herumprobieren würden. Sie würden das bei irgendwelchen unbekannten Leuten machen.

    Mörder heranzuziehen ist ein besonderer Prozess

    In einem der Videoclips sagen Sie zurecht, dass wir von Fällen wissen, in denen ein Giftanschlag misslungen ist, dass wir aber nicht wissen, wie viele Menschen ermordet wurden. Rätselhafte Todesfälle hat es sowohl in London als auch in Moskau gegeben, und wohl auch an anderen Orten. Sie haben mir in einem der Interviews gesagt, dass es, wenn man all die Daten bei Gericht vorlegen würde, sehr schwierig wäre, sie zu leugnen, dass das Gericht genug Beweise hätte, um ein Verfahren wegen versuchten Mordes oder Mordes zu verhandeln. Was meinen Sie, würde so etwas die russische Staatsführung davon abhalten, mit dieser Praxis fortzufahren oder nicht?

    Ich denke, das würde den Staat nicht aufhalten. Es würde aber sehr viel schwieriger werden, diese Strukturen schnell zu regenerieren, sie überhaupt wiederherzustellen. Mörder heranzuziehen ist nämlich ein besonderer Prozess. Es gibt ein recht großes Kontingent an Leuten, die zu den Sicherheitsdiensten gehen, um ihre Heimat zu verteidigen. Im weiteren Verlauf sind sie bereit, sich ein recht breites Verständnis, eine weit gefasste Definition von Feind eigen zu machen. In keine dieser Definitionen passt für einen frischgebackenen FSBler aber ein Feind wie Nawalny, ein Feind wie Bykow.

    Am Anfang ist der Feind ein Terrorist, der während des Musicals Nord-Ost oder in einer Schule Geiseln nimmt oder Unschuldige mit einer Bombe umbringt und so weiter. Darauf sind sie vorbereitet, verstehen sogar, dass man einiges jenseits des Gesetzes machen muss, allerdings im Namen einer guten Sache. Aber nach einer Weile entfernen sich die Ziele von diesem Verständnis, es kommen Feinde hinzu, die nicht mehr ganz so offensichtlich Feinde sind – und das geht so weit, dass sie aufhören, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden und schließlich zu Geiseln ihrer eigenen Arbeit werden. Dieser Prozess braucht nach unseren Beobachtungen allerdings mindestens fünf, sechs, sieben Jahre.
     
    Das heißt also, die Todesbrigaden bestehen aus auserwählten Menschen, die sich längst nicht alle zu direkten politischen Morden bereiterklären, selbst auf Befehl nicht. Müssen General Sedow und die Führungsriege des NII 2 jetzt, wo viele von diesen Leuten durch Ihre Recherchen im Rampenlicht stehen, intensiv an den Personalressourcen arbeiten, um neue Todesbrigaden aufzubauen?

    Absolut richtig. Umso mehr, als es sehr viel schwieriger sein wird, neue Leute für etwas zu rekrutieren, bei dem es nicht mehr wie früher die Garantie gibt, dass alles auf immer geheim bleibt. Wie es aussieht, haben ein paar nichtsnutzige Journalisten es offenbar geschafft, sie zu enttarnen und ihr Privatleben zu zerstören, weil sie bereits von ihren Nachbarn gehasst werden, verstehen Sie? Und von ihren Verwandten. Ich denke, es wird sehr viel schwieriger werden, neue Leute zu rekrutieren.

    Nach dem, was er getan hat, kann er nicht von dieser Macht zurückzutreten

    Da wäre noch ein Punkt. Wir alle erinnern uns, wie US-Präsident Joe Biden die Frage eines amerikanischen Journalisten bejahte, ob er Putin für einen Mörder halte. Der Sender NBC, der Putin vor dem Treffen der beiden Präsidenten [in Genf] interviewte, fragte ihn ganz direkt: „Sind sie ein Mörder?“ Putin wird zum Gefangenen einer aus seiner Sicht schlecht erledigten Arbeit (aus unserer Sicht: Danke, dass sie nicht mal fähig sind zu morden). Wäre ich an Putins Stelle, würde ich mich fragen: Was nützen mir Vollstrecker, die nichts sauber hinkriegen und mich in eine so heikle Lage bringen? Umso mehr, wenn dann sogar die Kinder fragen: „Papa, hast du wirklich Morde genehmigt?“ Oder der engste Kreis sagt: Wie können wir einen Präsidenten akzeptieren, von dem die ganze Welt sagt, dass er ein Mörder ist? Da entstehen doch für Putin, was sein Überleben betrifft, ganz erhebliche Risiken, oder nicht?

    Ja. Ich denke, er ist Gefangener seiner eigenen Vergangenheit. Ich sage das nicht als investigativer Journalist. Das ist meine persönliche Analyse. Nach dem, was er getan hat oder aus guter alter Tradition weiterhin tat, obwohl es nicht mehr angebracht war, kann er es sich nicht erlauben, von dieser Macht zurückzutreten. Und garantieren, dass er nicht geht oder zumindest nicht auf normale Weise geht, kann er nur, wenn er diese Strukturen aufrechterhält. Weil sonst niemand weiß, was in ein, zwei Jahren bei den Wahlen passieren wird. Es ist unmöglich, sich auf sanfte Art von solchen Entscheidungen, von einem solchen Arsenal zu lösen.

    Er ist nicht mehr so sehr der Verteidiger und Förderer der Interessen der herrschenden Nomenklatura, sondern stellt für deren Kapital ein gewisses zusätzliches Risiko dar. Ich würde sagen: das ist ein Gefangenendilemma.

    Ich denke aber, was in diesem Dilemma überwiegen wird … Vermutlich wird sich eher die Elite von ihm lossagen als er sich von der Elite. Weil die Elite dann ihr Gesicht wahren kann, und sei es um der eigenen Verwandten und Kinder willen, indem sie erklärt: Ich habe ja nicht gewusst, dass er das getan hat.

    Es entsteht eine Mischung aus Adrenalin und dem Verlangen, die Ressourcen einzusetzen, die du in dir entdeckt hast

    Umso mehr, als dass niemand in der Elite sicher sein kann, dass er nicht morgen auch auf einer solchen Liste landen könnte, wie unter Genosse Stalin. Meine letzte Frage, Christo. Sie sind wohlhabend, Sie leben in Europa, Sie kommen aus Bulgarien, und nicht aus Russland. Wozu machen Sie das alles?

    Nun, das ist doch alles sehr ungerecht, und ich sehe, dass man es ans Tageslicht befördern und beweisen muss … Haben Sie mal den Film über diesen amerikanischen Chemielehrer gesehen, der zum Drogenhersteller wurde, Breaking Bad? Ich habe diesen Film vor anderthalb, zwei Jahren gesehen und dachte, dass ich diese Motivation zum Teil auch habe. Das heißt, du fängst an, etwas zu tun, was überhaupt nicht deine Aufgabe ist, und plötzlich stellt sich heraus, dass du es besser machst als die Geheimdienste. Und es entsteht eine Mischung aus Adrenalin und diesem Verlangen, die Ressourcen einzusetzen, die du in dir entdeckt hast … Es ist sehr schwer aufzuhören, wenn du das erstmal erkannt hast.

    Vielen Dank für Ihre Arbeit.

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    „Warum schweigt ihr, wenn ihr seht, wie ein kleines, stolzes Volk zertrampelt wird?“ Mit diesen Worten hat sich Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch am gestrigen Mittwoch an die russische Intelligenzija gewandt. In einem offenen Brief, veröffentlicht auf der Seite des belarussischen PEN-Zentrums, hatte Alexijewitsch darauf hingewiesen, dass sie das letzte Mitglied des von Tichanowskaja einberufenen Koordinationsrats ist, das nicht im Gefängnis sitzt oder zur Ausreise gedrängt wurde. Maria Kolesnikowa, die an der belarussisch-ukrainischen Grenze ihren Pass zerrissen hatte, um nicht unfreiwillig des Landes verwiesen zu werden, sitzt inzwischen in einem Minsker Untersuchungsgefängnis: Die Ermittler werfen ihr „versuchte Machtübernahme“ vor.

    Die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja, deren Werk ebenfalls in mehrere Sprachen übersetzt ist, antwortet Alexijewitsch in The New Times:

    Liebe Swetlana! 

    Belarus erlebt heute das, was aller Wahrscheinlichkeit nach auch Russland in einiger Zeit wird erleben müssen. Für uns alle sind die Ereignisse der letzten Wochen in Belarus ein Modell unserer nahen Zukunft. Und zwar ein gutes Modell. 
    Es hat sich gezeigt, dass ein ruhiges und, wie uns immer schien, recht träges Volk auf den unheilvollen Appetit des Regimes, verkörpert von einem völlig unfähigen Diktator, sehr wachsam reagiert. Es hat auf eine äußerst würdige Art und Weise seine Meinung kundgetan bei Demonstrationen von zigtausend Menschen auf dem Platz vor der Präsidentenresidenz. Friedlichen Demonstrationen, ohne zerschlagene Scheiben und brennende Autos.

    Diesem Protest liegt, wie mir scheint, ein Gefühl der eigenen Würde zugrunde, von Menschen, die sich nicht mehr abfinden wollen mit dem Regime eines vor unbegrenzter Macht Durchgedrehten – eines beschränkten und ungebildeten Mannes.

    Keine einzige Minute meines Lebens mochte ich Macht. Nicht die von Stalin, nicht die nach Stalin, nicht den Reigen der nachfolgenden Führer, nicht die postsowjetischen Regierungen, nicht die putinsche. 

    Doch die Erfahrung als sowjetischer Mensch, der den Großteil seines Lebens unter den Paukenschlägen schamloser Propaganda gelebt hat, machte mich umfassend immun. Schon oft habe ich gesagt: Ja, wir leben heute in goldenen Zeiten, wenn man unser Leben mit dem Leben unserer Eltern und Großeltern vergleicht. Der Eiserne Vorhang ist kollabiert, die Grenzen sind offen, Informationen aus aller Welt, die in sowjetischer Zeit immer unter Verschluss blieben, strömen nur so zu uns, und jeder, der sie bekommen will, schaltet einfach seinen Computer an. Verhaftungen sind akkurat und punktuell, ohne stalinsche Wucht. 

    Die Ereignisse in Belarus haben mein idyllisches Bild vom Leben zerstört: Es ist klar geworden, wie das Regime die Zähne zeigt, wenn es sich in seiner unbegrenzten und unrechtmäßigen Existenz bedroht fühlt.

    So erstaunlich es auch sein mag: Die belarussischen Bürger reagieren sensibler auf die Unmoral und die Schamlosigkeit des Regimes. Die eigene Würde überwiegt nun Trägheit, Angst und eben jenes soziale Faulenzen, das das Leben in weiten Teilen des gesamten postsowjetischen Raums prägt.

    Wir alle – ich spreche von meinen Freunden und Gleichgesinnten, von denen es nicht wenige gibt – verfolgen höchst gespannt alle Nachrichten, die derzeit aus Belarus kommen. Wir wissen von den Verhaftungen und von den neuen, wunderbaren Führungsfiguren. Und uns ist klar, dass in eurem Land ein Ereignis stattgefunden hat, das morgen auch in Russland stattfinden kann.

    Ich sende dir herzliche Grüße, wünsche Gesundheit und Kraft, wünsche dir, dass du in einem Land lebst, das frei ist von einem dummen und ekelerregenden Regime. Und mir, meine Liebe, wünsche ich dasselbe.

    Ich umarme dich, 
    Ljusja Ulitzkaja
     

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    Putin und der Weimar-Komplex

    Die wahren Lehren aus 75 Jahren Kriegsende – unter diesem Titel ist dieser Tage ein umfangreicher Gastbeitrag im National Interest erschienen, einem konservativen US-Fachmagazin für internationale Beziehungen. Der Autor: Wladimir Putin. Ein Artikel, der schon seit längerer Zeit angekündigt war und eigentlich schon zum Tag des Sieges erscheinen sollte.

    Die wohl größte Resonanz erfuhr der Artikel in Russland selbst: Historiker Alexej Miller schätzt in einem Interview auf Colta, dass Putins Text – verfasst in einer „Atmosphäre der Erinnerungskriege“ – eine „Bereitschaft zu einem respektvollen Dialog über komplizierte Fragen der Vergangenheit“ ausdrückt.

    Für Kritik sorgte unter anderem die Darstellung, wonach die „Inkorporation“ der baltischen Staaten in die Sowjetunion 1939 „in Übereinstimmung mit völkerrechtlichen Normen und den Staatsgesetzen jener Zeit“ geschehen sei. Historiker Ivan Kurilla schreibt dazu auf Znak: „[…] das erinnert gleich an die jüngste Geschichte der Krim. […] Es wäre ehrlicher gewesen, gleich zu schreiben, dass die Annexion des Baltikums nicht dem System des Völkerrechts, sondern den nationalen Interessen der UdSSR entsprach.“

    Der Soziologe Grigori Judin sieht in The New Times Parallelen zwischen Putins Blick auf Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg und auf Russland nach dem Kalten Krieg.

    In Putins Artikel über die Ursachen des Zweiten Weltkriegs (wo neben offenkundigem Unsinn und verantwortungslosen Ausfälligkeiten übrigens auch völlig vernünftige Sachen drinstehen) sticht eine Auslassung besonders hervor. Mehrfach werden dort die Schuldigen der Katastrophe benannt: England, Frankreich, Polen, Wlassow, Bandera, Lenin und so weiter und so fort, verklausuliert sogar Stalins UdSSR.

    Doch wer fast nicht genannt ist: Deutschland und der gesamte nazifaschistische Block.

    Putins zwischenkriegsdeutsche Position

    Das ließe sich natürlich so verstehen, dass Deutschlands Schuld offensichtlich ist; zu den Nazis gibt es keine Fragen, zu klären ist, warum man Deutschland derart wüten ließ. Doch das will Putin nicht sagen. Er nimmt von Anfang an eine [zwischenkriegs-]deutsche Position ein, eine Theorie, wonach der Zweite Weltkrieg vorbestimmt war durch die unehrlichen und erniedrigenden Bedingungen des Versailler Friedens nach dem Ersten Weltkrieg. An dieser Theorie ist natürlich beträchtlich viel Wahres. Jedoch ist Putin kein unbeteiligter Historiker, sondern der Präsident eines Landes, in dem Millionen ihr Leben gelassen haben, weil Deutschland sich entschlossen hatte, sich für die Kränkung und Erniedrigung an ganz Europa zu rächen.

    Es ist durchaus verständlich, dass Putin mit den Augen Deutschlands auf die Zwischenkriegszeit schauen möchte: wegen des Weimar-Komplexes, des Empfindens von „Russlands“ „Niederlage“ im Kalten Krieg als Erniedrigung, die Rache fordert. Über die Parallelen zwischen Weimar-Deutschland und dem heutigen Russland ist genug gesagt und geschrieben worden. Nun fügt Putin dem noch eine hinzu: Man hat Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg ungerecht erniedrigt, hat sich den Völkerbund untertan gemacht und die Nazis bekommen, „die geschickt mit den Gefühlen der Menschen arbeiteten“ und versprachen, „dem Land die einstige Stärke zurückzubringen“. Und nun hat man Russland nach dem Kalten Krieg erniedrigt, sich die UN untertan gemacht und es ist „bestens bekannt, wie das endete“ beim letzten Mal.

    Putin unterscheidet sich von der gesamten intellektuellen Tradition Europas

    Putin ist natürlich kein Nazi und hat kein Mitgefühl mit Hitler. Dennoch erscheint ihm das Auftauchen der Nationalsozialisten an der Macht und die Faschisierung der deutschen Gesellschaft als natürlich, vorhersehbar und nicht sehr interessant. Die Ursachen des Zweiten Weltkriegs müssen in der Architektur der globalen Politik gesucht werden: „Die deutsche Aggression gegenüber Polen war Ergebnis einer Vielzahl von Tendenzen und Faktoren der Weltpolitik jener Zeit.“

    Und darin unterscheidet sich Putin natürlich radikal von der gesamten intellektuellen Tradition Europas, die sich nach dem Krieg der Frage verschrieb, wie Derartiges mit Deutschland geschehen konnte. Es gibt meterweise Fachliteratur darüber, wie die präsidiale Weimarer Republik mutierte. Doch für Putin ist mit Deutschland überhaupt nichts ungewöhnliches geschehen: Eine Nation wurde erniedrigt, Radikale übernahmen die Macht und entschieden sich zur Rache. Das gab es und wird es noch öfters geben. Die Frage ist, wie die internationalen Beziehungen zu gestalten sind, damit derartige Folgen vermieden werden können.

    Wie immer ist für ihn die Innenpolitik nur eine Projektionsfläche für die Außenpolitik

    Vermutlich wird ihn deswegen in Europa auch niemand hören: All die 75 Jahre waren die Europäer damit beschäftigt, ihre politischen Systeme so zu regulieren, dass sie das Erwachen eines inneren Monsters verhindern (ob erfolgreich oder nicht, ist eine andere Frage), um einen Dritten Weltkrieg zu vermeiden. Putin interessiert das alles nicht: Wie immer ist für ihn die Innenpolitik nur eine Projektionsfläche für die Außenpolitik: Wenn es auf der Straße Krawalle gibt, muss ausländisches Geld dahinterstecken, wenn Faschisten an die Macht kommen, muss eine Kränkung der Nation dahinterstecken. 
     

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    „Hier gibt es keine Viren“

    Wodka und Banja – diese Heilmittel empfiehlt der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko den Bürgern gegen Covid-19. „Hier gibt es keine Viren“, sagte Lukaschenko in die Kamera bei einem Eishockeyspiel. Eishockey- und Fußballspiele finden in Belarus weiterhin statt, auch sonst werden kaum offizielle Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Experten wie Ryhor Astapenia von Chatham House sehen dahinter vor allem wirtschaftliche Gründe: Belarus könne durch eine Abriegelung in die Rezession schlittern. Dem Land würden aber die Ressourcen fehlen, dies wieder aufzufangen.

    Wie die Bürger mit der offiziellen Corona-Politik umgehen und wie stark ihr Verhalten dabei von einem tiefen Misstrauen gegenüber dem Staat geprägt ist, das schildert Denis Lawnikewitsch, Minsk-Korrespondent von The New Times.

    „Sehen Sie hier Viren? Hier gibt es keine Viren.“ Alexander Lukaschenko beim Eishockeyspiel am 4. April 2020 / Foto © president.gov.by
    „Sehen Sie hier Viren? Hier gibt es keine Viren.“ Alexander Lukaschenko beim Eishockeyspiel am 4. April 2020 / Foto © president.gov.by

    In Belarus wurden am Sonntag, den 5. April, 502 Fälle von Covid-19 registriert, 8 Menschen sind gestorben, 52 wieder genesen. Doch das sind nur die offiziellen Zahlen, denen in der Republik längst niemand mehr traut. Die Staatsmedien versuchen, so wenig wie möglich über die Epidemie zu berichten; die unabhängigen Medien sind mutiger, halten sich aus Angst vor Repressionen aber ebenfalls zurück. Dafür sind die Telegram-Kanäle voll von Fotos aus überfüllten Krankenhäusern und verzweifelten Hilferufen – sowohl von Ärzten als auch von Patienten.

    Am 1. April sagte Litauens Präsident Gitanas Nausėda gegenüber der Presse: „Wir können den Informationen, die wir offiziell aus Belarus bekommen, nicht trauen, denn ich finde, der belarussische Staatschef legt bei seiner Beurteilung der Lage eine gewisse Prahlerei an den Tag. Es ist durchaus möglich, dass die tatsächlichen Zahlen weit schlimmer sind, denn wir wissen von Infektionsherden im Land und von Todesfällen.“

    Die litauischen Behörden machten deutlich, dass nach dem Ende der europäischen Quarantänemaßnahmen die EU-Binnengrenzen wieder geöffnet würden – die Grenzen zu Belarus aber könnten dann möglicherweise geschlossen bleiben. Denn niemand kenne das reale Ausmaß der Epidemie im Land. Der belarussische Präsident antwortete in gewohnter Machomanier: „Wenn es irgendwo ein Feuer zu löschen gibt, dann werden wir es löschen. Und zwar viel effektiver als der litauische Präsident.“

    Belarus ist eines der wenigen europäischen Länder, die sich lange gegen jegliche Quarantänemaßnahmen gesperrt hatten. Mehr noch, in den ersten Wochen der Epidemie warnte Lukaschenko [angesichts der Anti-Corona-Maßnahmen – dek] vor einer „Psychose“ und empfahl, sich mit Wodka, Saunagängen und Feldarbeit zu kurieren. Später wurde die Liste der „Heilmittel“ um Eishockey, Spaziergänge an der frischen Luft und Butter ergänzt. Gesundheitsminister Wladimir Karanik wiederum riet den Bürgern, das Coronavirus mit „Frühlingsgefühlen und positiven Emotionen“ zu bekämpfen.

    Eishockey, Spaziergänge an der frischen Luft und Butter

    Als einzige Maßnahme ordnete die belarussische Regierung an, dass sich Rückkehrer aus den vom Coronavirus betroffenen Ländern vierzehn Tage lang zu Hause selbst isolieren sollen.

    Eine Quarantäne wurde nicht verhängt. Der Unterricht an den Schulen und Hochschulen ging bis Anfang April weiter. Dabei waren in vielen Klassen nur zwei oder drei Schüler anwesend, der Rest blieb zu Hause. Die Eltern kommunizierten über den Messengerdienst Viber und sprachen sich ab – mit dem Ergebnis, dass der Schulleitung manchmal Anträge auf Heimunterricht von den Eltern einer ganzen Klasse vorgelegt wurden.

    Erst Ende der letzten Woche kündigte Lukaschenko an, dass er den Schülern eine Woche Ferien geben werde. Das heißt, immer noch keine Quarantäne, nur verlängerte Frühjahrsferien.

    Schwerer haben es die Studierenden: Viele Hochschulen drohen damit, das Fernbleiben vom Unterricht als „Sabotage“ zu werten. Manche Institute sind allerdings aus einem anderen Grund leer: Die Studierenden wurden massenweise ins Krankenhaus geschickt oder sind in ihren Wohnheimen eingesperrt, weil sie Kontakt zu einem Corona-Infizierten hatten.

    Massenveranstaltungen werden hingegen nicht abgesagt. Die Vorbereitungen zur Siegesparade am 9. Mai sind im Gange. Am 19. März startete in Belarus die Fußballmeisterschaft, die Stadien sind für die Fans geöffnet.

    Am 14. und 28. März wurden im ganzen Land subbotniki durchgeführt. Die Vorbereitungen zum Musikfestival Slawjanski Basar laufen weiter. Kinos, Einkaufszentren, Cafés und Restaurants haben geöffnet. Die meisten Servicekräfte arbeiten ohne Mundschutz und Handschuhe. Inoffiziell geben sie zu, dass ihnen „dringend geraten“ worden sei, keinen Mundschutz zu tragen, um „keine Panik in der Bevölkerung auszulösen“ (in Turkmenistan kann man für das Tragen eines Mundschutzes sogar verhaftet werden).

    Ärzte unterzeichnen Geheimhaltungsvereinbarungen

    Ab dem 1. März wurde in Belarus erstmals das Bestattungsgeld gekürzt – um ganze 50 Euro, eine erhebliche Summe für das Land. Sofort machte das Gerücht die Runde, die Regierung würde sich auf ein Massensterben einstellen, besonders unter der älteren Bevölkerung, für die das Virus am gefährlichsten ist.

    Gleichzeitig werden Ärzte massenhaft gezwungen, „Geheimhaltungsvereinbarungen“ zu unterschreiben; der [belarussische Nachrichtendienst – dek] KGB und andere Sicherheitsorgane drohen mit Strafen, sollten Informationen über Corona-Patienten nach außen gelangen. Darüber reden wollen die Ärzte nur unter der Bedingung, dass sie anonym bleiben.

    Am 18. März starb in Witebsk eine Frau und wurde umgehend und ohne Aufbahrung im geschlossenen Sarg beigesetzt, an der Beerdigung durften keine Gäste teilnehmen. Einen Tag später gaben ihr Mann, ihre Schwiegertochter und ihre Nachbarin ein Interview, in dem sie mit unabhängigen Journalisten über das Coronavirus sprachen, das man bei ihr gefunden hatte. Am 21. März wies Lukaschenko den KGB-Chef Waleri Wakultschik an, „hart gegen Übeltäter vorzugehen, die Falschnachrichten über das Virus verbreiten“.

    Pressemitteilungen erinnern an Mathe-Aufgaben

    Das belarussische Gesundheitsministerium gibt keine vollständige Statistik der Covid-19-Erkrankungen nach Regionen und Städten heraus. Konkrete Zahlen sucht man auf der offiziellen Seite der Behörde vergebens. Über den Telegram-Kanal des Ministeriums werden Daten mit einer Verzögerung von zwei bis drei Tagen veröffentlicht. Die Pressemitteilungen des Gesundheitsministeriums erinnern dabei an Mathematik-Aufgaben, eine genaue Zahl der Erkrankten wird nicht genannt.

    Während es von offizieller Seite heißt, Schutzausrüstung sei im Überfluss vorhanden, herrscht vor Ort katastrophaler Mangel. Diagnostiziert werden akute Atemwegserkrankungen, Lungenentzündungen, Bronchitis und so weiter. Die Krankenhäuser in Minsk und Witebsk sind mittlerweile voll von Lungenpatienten – es sind um ein Vielfaches mehr als sonst. Jetzt werden Krankenhäuser in den Minsker Satellitenstädten für die Covid-Kranken geräumt.

    „Konnten Sie Witebsk verlassen?“

    Am schwersten betroffen ist die Stadt Witebsk und Umgebung. Die Region wurde sogar für die Polizei gesperrt: Polizeibeamte aus der Region dürfen nicht ausreisen, alle anderen nicht einreisen. Im Internet berichten Ärzte aus Witebsk, dass die Lage außer Kontrolle gerate.

    „99 Prozent derjenigen, die jetzt ins Krankenhaus eingeliefert werden, sind Patienten mit Lungenentzündungen und hohem Fieber. Wir nehmen kaum noch andere auf, sogar die Gynäkologen sind bei uns jetzt Lungenärzte“, sagte eine Ärztin gegenüber der New Times. „Die Krankenhäuser sind überfüllt, die Menschen liegen in den Fluren. Alle Ärzte sprechen untereinander vom Coronavirus, doch das örtliche Gesundheitsministerium will die Statistik nicht ruinieren. Aber diese Lungenentzündung unterscheidet sich deutlich von den bisherigen!“

    Witebsk wurde zu einem der Epizentren der Epidemie, nachdem eine größere Reisegruppe aus Italien zurückgekehrt war.

    Unterdessen musste selbst Lukaschenko eingestehen, dass die Situation in Witebsk besonders schwierig ist und dort bereits mehr als zehn Ärzte an Covid-19 erkrankt sind. Mehrfach tauchte im Internet das Gerücht auf, die Stadt selbst sei abgeriegelt, bislang konnte es nicht bestätigt werden. In den sozialen Netzwerken liest man dennoch weiterhin Fragen wie: „Konnten Sie Witebsk verlassen?“

    Flut von Lungenkranken

    Inoffiziell werden nun im ganzen Land massenweise Patienten aus Psychiatrien und anderen Fachkliniken sowie Fachabteilungen in Krankenhäusern entlassen. Die Ärzte sagen, man bereite sich auf eine Flut von Lungenkranken vor. Sogar die Präsidenten-Datscha Krupenino bei Witebsk sei entsprechend umfunktioniert worden.

    Am 29. März ordnete Lukaschenko an, bis zum 10. April einen Impfstoff gegen das Coronavirus zu entwickeln. Er betraute mit der Aufgabe seine rechte Hand Alexander Kosinez (einen ausgebildeten Mediziner) und versprach ihm einen Orden für die Entwicklung des Impfstoffs. Noch am selben Tag wurden inoffiziell alle Clubs und Diskotheken in Minsk geschlossen. Und am 30. März wurde das Verbot, das eigene Gebiet zu verlassen für die Polizei auf das ganze Land ausgeweitet.

    Unterdessen ist der Corona-Ausbruch in Belarus von dem Ausbruch einer anderen unangenehmen Seuche begleitet – der Schweineinfluenza [im Original swinoj gripp, wörtl. Schweinegrippe; der Autor verlinkt aber in dem Absatz auf diesen Telegram-Post, in dem von H1N1, der für den Menschen ungefährlichen Schweineinfluenza die Rede ist – dek]. Die Straßen in Minsk und anderen großen Städten werden desinfiziert. Privatunternehmen dürfen ihren Angestellten nicht mehr kündigen, die Supermärkte ihre Preise bis zum 30. Juni nicht erhöhen. Und zur wichtigsten Informationsquelle für die Belarussen ist nun endgültig Telegram avanciert.
     

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    Tiefer Riss in Zahlen

  • Tiefer Riss in Zahlen

    Tiefer Riss in Zahlen

    „Werden Sie bei der Volksabstimmung für oder gegen die Verfassungsänderung stimmen?“, so hatten die Lewada-Soziologen 1624 Personen gefragt. Am 27. März veröffentlichte das unabhängige Meinungsforschungsinstitut die Ergebnisse seiner Umfrage zur geplanten Verfassungsänderung. Diese sieht unter anderem eine Annullierung der bisherigen Amtszeiten Putins vor, so dass dieser bei der nächsten Präsidentschaftswahl wieder kandidieren kann.

    Die Umfrageergebnisse zeigen, wie gespalten die Gesellschaft in dieser Frage ist. Für viele Sozialwissenschaftler und Polittechnologen waren die Zahlen überraschend. Bisher hatte Putin in Umfragen immer noch auf relativ breite Unterstützung zählen können. Während der rasanten Ausbreitung des Coronavirus in Russland werden solche Zahlen zu einem wichtigen Gradmesser: für die Volksabstimmung selbst, die viele eher für eine „kosmetische“ Maßnahme halten, aber auch für die Bewertung des Seuchenmanagements durch den Kreml. 

    Wie hängt die Operation Amtszeitverlängerung mit dem Coronavirus zusammen? Warum kamen die Umfrageergebnisse erst zweieinhalb Wochen, nachdem die Duma einer Annullierung der Amtszeiten zugestimmt hatte? Und was bedeuten die Ergebnisse überhaupt? The New Times teilt einen vieldiskutierten Facebook-Kommentar des Soziologen Grigori Judin. 


    *Befürworten Sie die Entscheidung der Staatsduma, das Gesetz zur Verfassungsänderung zu verabschieden, auch die Änderung bezüglich der Annullierung der Amtszeiten des Präsidenten, die es Wladimir Putin erlaubt, nach Ablauf der jetzigen Amtszeit wieder an der Präsidentschaftswahl teilzunehmen?
    Zweieinhalb Wochen brauchte es, bis wir endlich diese Zahlen über die Reaktion der Bürger auf die unbefristete Präsidentschaft Putins bekommen haben. Und sie bestätigen genau das, was ich gesagt habe: Das Land ist in dieser politischen Schlüsselfrage gespalten. 

    1. In diesen Zahlen steckt noch viel mehr Interessantes. Doch erst einmal nur ein wichtiger Punkt: Es gibt nicht nur eine Spaltung in halb-halb. Es finden sich darin vielmehr alle Voraussetzungen für einen handfesten Gesellschaftskonflikt. Denn die Spaltung erstreckt sich entlang der Grenzen sozialer Gruppen: Die hypothetische „Partei der Veränderungen“ ist jünger, die „Partei der Angst“ ist älter (mit der Unterscheidung zwischen Moskau und Provinz wäre ich nicht allzu voreilig: Diese Effekte lassen sich leicht mit unterschiedlichen Ausschöpfungsquoten erklären). Ich bin fast überzeugt davon, dass diese zwei Parteien sich in der Mediennutzung unterscheiden. Insgesamt bildet sich in Russland gerade eine breite Schicht heraus (knapp die Hälfte der Einwohner), die eine progressive Politik fordert. Sie ist bislang überhaupt nicht repräsentiert.


    *Befürworten Sie die Entscheidung der Staatsduma, das Gesetz zur Verfassungsänderung zu verabschieden, auch die Änderung bezüglich der Annullierung der Amtszeiten des Präsidenten, die es Wladimir Putin erlaubt, nach Ablauf der jetzigen Amtszeit wieder an der Präsidentschaftswahl teilzunehmen? (Anteil nach Altersgruppen)

    2. Die Antworten auf die Schlüsselfrage sind sehr ungewöhnlich verteilt: Eine sehr deutliche Position (kategorisch ablehnend gegenüber einer unbefristeten Präsidentschaft) vertreten bedeutend mehr Befragte als eine „eher ablehnende“ Position. Das heißt, dass sich unter den Gegnern der Wahlmonarchie ein großer Kern gebildet hat, der nicht willens ist, über dieses Thema zu verhandeln. Es bedeutet auch, dass für einen erheblichen Teil der russischen Bürger die Annullierung der Amtszeiten eine wirklich wichtige Frage ist.

    3. Die Kremlmanager verfügen schon seit zweieinhalb Wochen über Zahlen. Sie hatten sogar noch weitaus mehr Daten. Deswegen müssen alle Handlungen der letzten Zeit als Handlungen unter Berücksichtigung dieser Zahlen gewertet werden – die Verschiebung der Abstimmung und die neue Besteuerung inbegriffen. Das, was als Maßnahmen im Kampf gegen das Virus verlautbart wurde, ist in vielerlei Hinsicht ein Versuch, ein sehr viel ernsteres politisches Problem zu lösen.

    4. Dieser Artikel [auf Vedomostidek] enthält sehr wichtige und richtige Kommentare von den Soziologen Lew Gudkow und Dimitri Badowski. Badowski sagt geradeheraus, dass die beiden Hauptmöglichkeiten, das Problem der Spaltung zu lösen, darin bestehen, 1) die Gegner einer lebenslangen Präsidentschaft einfach dazu zu bringen, ihre Position nicht zu äußern, 2) die lebenslange Präsidentschaft hinter anderen Verfassungsänderungen zu verbergen. Mit anderen Worten: Putins Schritt verursacht zu viel Gegenfeuer – er hat zu viele Gegner, und man kann mit ihnen nur fertig werden, wenn man sie nicht zu Wort kommen lässt. 

    Ich stimme Badowski nur in dem einen Punkt nicht zu, dass die Spaltung stark von der Qualität des Seuchenmanagements abhängen wird. Es geht um die viel grundlegendere Frage nach der Konservierung des Landes (Putin ist das Symbol dieser Konservierung) und ob man mit der absoluten, unbegrenzten Macht einverstanden ist.

    5. Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass es zweieinhalb Wochen keine Zahlen gab – und zwar gab es sie vor allem gerade deshalb nicht, weil sie die Spaltung zeigen. Gäbe es keine Spaltung, hätten Sie diese Zahlen schon längst gesehen. 
    Der Umfragesektor in Russland ist so beschaffen, dass der Gesellschaft Informationen über wirklich wichtige öffentliche Themen möglicherweise genau in dem Moment nicht zugänglich sind, in dem es darauf ankommt.


    *Welche Gefühle hatten Sie, als die Staatsduma die Verfassungsänderung hinsichtlich der Annullierung der Amtszeiten des Präsidenten annahm?

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  • Auf gut Glück

    Auf gut Glück

    Am Mittwoch, 25. März 2020, hat sich Wladimir Putin in einer Fernsehansprache an die russischen Bürger gewandt – zum ersten Mal seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Nachdem es noch wenige Tage zuvor aus dem Kreml hieß, dass Russland alles unter Kontrolle hat, die offizielle Zahl der Infizierten mit wenigen Hundert sehr niedrig war und die der Corona-Toten lange bei Null lag, kündigte er nun Maßnahmen an: Die Abstimmung über die Verfassungsänderung ist verschoben, die meisten Bürger bekommen ab dem 30. März eine arbeitsfreie Woche, mit Lohnfortzahlung.

    Nach der Fernsehansprache Putins beschlossen mehrere Regionen Maßnahmen gegen die Pandemie. Zuvor war vor allem Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin mit einzelnen Beschränkungen vorangegangen. Offiziell gibt es in dem rund 144-Millionen-Einwohner-Land gegenwärtig (Stand: 27. März) 1036 Corona-Infizierte (703 davon in Moskau), drei Menschen sind bislang an den Folgen einer Corona-Infektion verstorben. Staatsnahe Medien vermitteln derzeit den Eindruck, dass ein Ruck durch Russland geht. Iwan Dawydow glaubt dagegen, dass die Maßnahmen in der Gesellschaft eher Verwirrung stiften: Auf The New Times argumentiert der Journalist, dass der Kreml widersprüchliche Signale sendet – und damit Menschenleben riskiert.

    Die Fahrt des Präsidenten ins Infektionskrankenhaus – ein erstes Signal, dass auch in Russland eine echte Gefahr droht? / Foto © kremlin.ru
    Die Fahrt des Präsidenten ins Infektionskrankenhaus – ein erstes Signal, dass auch in Russland eine echte Gefahr droht? / Foto © kremlin.ru

    Nun denn, eine Woche Ferien also – mit Lohnfortzahlung (allem Anschein nach auf Kosten der Arbeitgeber), und als kleiner Trost für die Arbeitgeber Steuervorteile für kleine und mittlere Unternehmen, ein Schuldenmoratorium für das nächste halbe Jahr, Hilfe für Familien mit Kindern, Zahlungen an Veteranen, und die Verschiebung der Abstimmung über die Verfassungsänderung auf unbestimmte Zeit. Das ist der unvollständige Maßnahmenkatalog, den Präsident Wladimir Putin gestern in seiner Ansprache die Bürger genannt hat.

    Aber das Wichtigste an dieser Ansprache waren nicht mal die vorgeschlagenen Maßnahmen, sondern erstens die Tatsache, dass sie stattfand, zweitens ihr Kontext und drittens einige stilistische Besonderheiten am Auftritt des Präsidenten.

    Aufrichtiges Eingeständnis: Die Sache ist ernst

    Die ungeplante Ansprache (erst am Mittwoch wurde bekannt, dass Putin zum Volk sprechen will) ist ein aufrichtiges Eingeständnis: Die Regierung hat beschlossen, ohne Umschweife zu erklären, dass die Sache mit dem Coronavirus sehr ernst ist. Naja, zumindest fast ohne Umschweife. Ziemlich lang sah schließlich alles danach aus, als habe man entschieden zu lügen und zu versuchen, möglichst kein Aufheben darum zu machen – sei es, um Panik zu vermeiden oder um die berüchtigte Abstimmung über die Verfassungsänderung durchzuziehen.

    Es hatte geheißen, man habe eine Rekordzahl an Tests durchgeführt – gar mehr als in allen Ländern Europas zusammengenommen – und es gäbe nur einzelne Infektionsfälle. Allerdings gab es zunächst im ganzen Land nur ein einziges Labor, das die Proben überhaupt auswerten konnte – und zwar in Nowosibirsk.

    Die Stunde des Sergej Sobjanin 

    Die Lage änderte sich erst in den vergangenen eineinhalb Wochen. Die Zahl der offiziell Infizierten schnellte in die Höhe auf einige Hundert. Allerdings hieß es laut offiziellen Daten, dass in ganz Russland niemand am Coronavirus gestorben sei. Es wurde ein Kontrollgremium gebildet, das die Ausbreitung der Infektion überwachen soll und von Sergej Sobjanin geleitet wird. Und außerdem gibt es einen Koordinationsrat der Regierung unter der Leitung von Premier Michail Mischustin. 

    Glaubt man den Gerüchten, ist Sobjanin jetzt der Mann in der Regierung, der den Ernst der Lage besser verstanden hat als alle anderen. Einfach deswegen, weil er nicht zum Sündenbock gemacht werden will, wenn sich alles nach italienischem Szenario entwickelt. Er war es, der beim Treffen mit dem Präsidenten am 24. März erklärte, dass die „Ansteckung hochdynamisch“ verläuft, dass in den Regionen „keiner weiß, wie die Lage wirklich ist“ und die lokalen Behörden einfach keine Ahnung haben, was zu tun ist. Natürlich gewinnt Sobjanin an politischem Gewicht, wenn er als größter Alarmist der Regierung auftritt. Wenn alles vorüber ist, hat er die Chance als einer der einflussreichsten Politiker des Landes dazustehen, der alle Konkurrenten aus Putins engstem Kreis beiseite gedrängt hat.

    Plakative Unbedachtsamkeit

    Die Fahrt des Präsidenten ins Infektionskrankenhaus von Kommunarka am Montag – übrigens, in Begleitung von, genau, Sobjanin – war das erste Signal: Die höchste Staatsspitze ist – endlich – bereit anzuerkennen, dass in Russland, genauso wie in anderen Ländern, eine echte Gefahr droht. Davon schienen auch die Aufnahmen aus dem Krankenhaus zu sprechen: Der Präsident im gelben Schutzanzug (der US-amerikanischen Firma DuPont) hat klar erkannt, was er riskiert, und versucht, die Risiken zu minimieren. 

    Übrigens begrüßte er unmittelbar danach – dann ohne jeglichen Schutz – den Chefarzt der Klinik mit Handschlag. Nachdem alle die Schutzanzüge ausgezogen hatten, trug nur noch einer der hochrangigen Gäste seinen Mundschutz, nämlich der Pressesprecher des Präsidenten Dimitri Peskow. Diese plakative Unbedachtsamkeit, diese Halbherzigkeit ist zentral im Umgang mit Bedrohungen. Ich komme später nochmal darauf zurück.

    Kapitän, der vom Schiff flieht

    Doch zunächst eine weitere kleine Überlegung: Einer der Gründe für seinen Besuch im Krankenhaus könnte die am Vortag auf Telegram und in sozialen Netzwerken verbreitete Meldung gewesen sein, dass Putin angeblich aus Moskau in seine Residenz in Waldai evakuiert wurde, „mit seiner Familie und seinem geliebten Pony“. Es ist natürlich nicht klar, was für eine „Familie“ das ist, aber im Großen und Ganzen sind die Gerüchte ziemlich kränkend: Ein Kapitän, der vom Schiff flieht – das hat Geschmäckle. Der Besuch in Kommunarka war die wirksamste Widerlegung dieser Gerüchte.

    Und am Mittwoch hieß es ausdrücklich: „Als Ergebnis der vielen stundenlangen Sitzungen, die zuvor stattfanden“, musste sich der Leader an das Volk wenden.

    All diese Ereignisse bilden den Kontext der improvisierten Ansprache des Präsidenten an das Volk. Was sind die wichtigsten Schlussfolgerungen daraus? Erstens erkennt der Kreml den Ernst der Lage an. Keiner kann mehr so tun, als würde das globale Unheil Russland verschonen. Im weiteren Verlauf wird es noch schwieriger, und es wird ganz bestimmt nicht nur eine Woche so weitergehen. 

    Keiner kann mehr so tun, als würde das globale Unheil Russland verschonen

    Allein die Ankündigung, dass der Präsident sich an das Volk wenden wird, hat die Öffentlichkeit aufgewühlt. Genauso haben sie auch die Neuigkeit selbst aufgenommen: Es ist alles sehr ernst, und das ist nun auch offiziell. Der Präsident hat sich [mit der Ansprache – dek] traditionsgemäß um mehr als eine Stunde verspätet, was die Nervosität nur steigerte. Putin war in sozialen Netzwerken in und den Medien dafür gescholten worden, dass er keine offizielle Position verkündet hatte, obwohl sich bereits alle europäischen Staats- und Regierungschefs dazu geäußert haben. Wenn er sich nun doch vor die Kameras stellt, dann bedeutet dies, dass Herumdrucksen nicht mehr möglich ist.

    Zweitens geben die Behörden zwar zu, dass die Situation ernst ist, sie scheuen sich aber davor, dies ohne Umschweife zu sagen. Putin wählte äußerst schwammige Formulierungen, um den Grund seiner Ansprache zu verdeutlichen: „Dank der im Vorfeld getroffenen Maßnahmen sind wir noch immer in der Lage, sowohl die weite Streuung als auch die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Krankheit einzudämmen.“ Das Unheil herrscht weiterhin irgendwo da draußen, weit hinter den Grenzen Russlands, wir aber bereiten uns vor und nutzen den Vorsprung. Und selbst die eine Woche Quarantäne nannte der Präsident nicht Quarantäne, sondern Ferien.

    Als ob es bei uns keine Epidemie gäbe, sondern Feiertage. Übrigens, während die Leute auf die Ansprache warteten, sind schon ungeduldige Witze zu diesem Thema aufgetaucht: „Der Präsident im Fernsehen, aber irgendwie kommt keine Silvesterstimmung auf.“

    Zudem ist das auch keine Quarantäne: Schwer vorstellbar, dass die Russen in einer bezahlten Urlaubswoche zu Hause sitzen werden, auch wenn Cafés, Restaurants und andere Vergnügungseinrichtungen geschlossen werden. Die Sonne scheint, das Wetter wird besser, die Leidenschaft für Schaschlik hat noch keiner verboten, und auch die Liebe zur Disziplin hat uns bislang niemand eingeimpft. 

    Um Panik zu vermeiden, sendet der Staat – trotz Eingeständnis der Gefahr – dem Volk weiterhin widersprüchliche Signale. Er setzt weiterhin das Leben der Bevölkerung aufs Spiel und baut dabei auf das „russische gut Glück“ – wovon Putin noch dringlichst abgeraten hatte.

    Und Hand aufs Herz: Wir glauben doch wohl kaum, dass eine strenge Quarantäne po-russki so aussehen wird wie in den Videos aus europäischen Städten. Wohl kaum werden die Nationalgardisten – wie die spanischen Polizisten – improvisierte Konzerte für die Menschen in Quarantäne geben. Aber die Regelbrecher schlagen, einfangen, den Knüppel schwingen – das können sie (zumal sich die Duma gerade jetzt an eine Verschärfung der entsprechenden Gesetze gemacht hat) schon eher.
    Und dann überleg nochmal, was schlimmer ist: die Epidemie oder eine russische Quarantäne, sinnlos und erbarmungslos

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  • Verfassungsstreich im Eiltempo

    Verfassungsstreich im Eiltempo

    Nur fünf Tage nachdem Wladimir Putin die Verfassungsreform verkündet hat, präsentierte die dafür eiligst einberufene Arbeitsgruppe am Montag ihre Vorschläge: 14 Artikel der Verfassung sollen demnach geändert werden. Ebenfalls im Eiltempo wird nun auch die für den 12. April 2020 angepeilte Volksabstimmung durchgezogen. 

    Abgestimmt wird wohl über ein „Paket“ an Fragen, dessen Zusammensetzung allerdings noch nicht klar ist. Einige Beobachter in Russland witzeln, dass es folgendermaßen lauten könnte: „Sind Sie für kostenloses Schulessen an allen Grundschulen des Landes (und für die Verfassungsänderung)?“

    Ähnlich galgenhumorig nimmt es auch der oppositionelle Politiker und Journalist Fjodor Krascheninnikow. Für The New Times geht er der Frage nach, wie die künftige Verfassung Russlands aussehen wird – und warum das System Putin damit womöglich sein eigenes Grab schaufelt.

    Wladimir Putin, der die ersten 20 Jahre seiner Regierungszeit nicht müde wurde, die Sicherheit der geltenden Verfassung zu beteuern, hat nun entschieden, sie abzuändern. Und auf diese Weise zu ermöglichen, selber weiter zu regieren: nicht als ein vom Volk gewählter Präsident, sondern als ein von der Notwendigkeit irgendwelcher Wahlen losgelöster Autokrat, der einen wie auch immer gearteten, in der Verfassung verankerten Schlüsselposten einnehmen wird. So und nur so sind die am 15. Januar verlautbarten Thesen zu einer Verfassungsreform zu verstehen. Faktisch geht es um einen Verfassungsstreich, der in den nächsten Monaten in rasender Geschwindigkeit mit Hilfe des handgesteuerten Parlaments und aller übrigen Machtorgane durchgeführt werden wird. Die Änderungen werden eine vollkommen neue Verfassung schaffen, die eine prinzipiell andere Machtstruktur beschreibt.

    Faktisch geht es um einen Verfassungsstreich

    Bezeichnend ist, dass eine wirkliche Beteiligung der Bürger Russlands an diesem Prozess in keiner Weise vorgesehen ist – Putin selbst hat das Wort Referendum nicht erwähnt, nur die Verlautbarungen anderer Vertreter der Machtelite lassen auf nichts anderes schließen. Doch selbst wenn Wahlen den Austausch der geltenden Verfassung gegen ein grundlegend neues Dokument begleiten, so kann Status, Ehrlichkeit und Transparenz der Abstimmung schon jetzt bezweifelt werden – insbesondere wenn man berücksichtigt, auf welchem Ehrlichkeitsniveau und mit welcher Transparenz Wahlen und Wahlkämpfe in Russland normalerweise ablaufen.

    Um den Verfassungsstreich zu ermöglichen, wurde als Nebelkerze eine Hammerdosis Sozialpopulismus gezündet: Erziehungsgeld, kostenloses Schulessen, in der Verfassung verankerter Mindestlohn und Rentenausgleich und so weiter. Es ist keineswegs Fakt, dass all das im Endeffekt umgesetzt und das Leben der Menschen besser wird, doch einen Bonus und einen Zuwachs auf der Beliebtheitsskala wird Putin in jedem Fall davon haben. 

    Während die von den Staatsalmosen abhängigsten Bürger ihre zukünftigen Gewinne zusammenzählen, wird die Umstrukturierung des Machtsystems in ungeheurem Tempo durchgezogen – und danach wird alles egal sein: Man kann die Regierung einfach wieder für unfähig erklären, Sozialprogramme umzusetzen, und sie absetzen. Man kann die Duma auflösen und eine neue wählen und diese Tricks dann ein paar mal wiederholen. Wenn dann die Erwartungen schrittweiser sozialer Verbesserungen sowie die Verbesserungen selbst schwinden, wird alles getan sein: Die Bürger werden es mit einem völlig neuen Staat zu tun haben, bei dem nicht mal klar ist, ob in seinem Namen weiterhin das Wort „Föderation“ zu finden sein wird.

    Die Verfassung von 1993 ist schlecht – und alle, die das jahrelang bestritten haben, sollten еs zumindest jetzt einsehen. Sie war weder imstande die realen Rechte der Bürger noch sich selbst zu schützen.

    Erst jetzt ist klar geworden, dass der ganze Liberalismus und das Demokratische der Verfassung nur von einem garantiert wurde – dem guten Willen des ersten Mannes im Staat, ihres Garanten, des Präsidenten Russlands. Sobald ein anderer Präsident nicht mehr ihr Garant sein wollte und entschied, sich von ihrem Geist zu lösen, zeigte sich, dass dem nichts im Wege steht. Nachdem der liberale Geist der Verfassung vernichtet war, war auch ihr Wort verdammt.

    Die Verfassung wurde nur von einem garantiert: dem guten Willen des Präsidenten

    Die Verfassung von 1993 sollte den Präsidenten vor dem Parlament schützen. Doch die Autoren der Verfassung fürchteten nicht nur das Parlament, sondern auch die Bürger Russlands. Aus irgendeinem Grund schien ihnen, wenn man den Gemeinden und Regionen und – vor allem – den Bürgern zu viele Vollmachten gibt, dass dann automatisch die Rot-Braunen an die Macht kommen, die sowjetischen Revanchisten.

    Und sie sind tatsächlich gekommen, allerdings nicht von unten und nicht durch einen Sieg bei der Dumawahl, sondern von oben: aus der Masse des Beamten- und Silowiki-Apparates, aus den Eliten der 1990er Jahre. Und es hat sich gezeigt, dass die Verfassung keinen Schutz davor bieten kann.

    Die Vollmachten der regionalen Selbstverwaltung waren in der Verfassung nur sehr allgemein festgeschrieben, genauso die Verfahren zur Gouverneurswahl und zur Bildung solch wichtiger Institutionen wie dem Föderationsrat. Kurz: Es gab niemanden, der den von oben kommenden Impulsen etwas entgegensetzen konnte. 

    Schließlich sind wir da gelandet, wo wir gelandet sind: Ohne jegliche Verfassungsänderung wurde die regionale Selbstverwaltung praktisch vernichtet und der Föderalismus demontiert. Und es gab keine Mechanismen, um das aufzuhalten. 
    Die Gewaltenteilung erwies sich als Fiktion, die schwülstigen Worte über die unveräußerlichen Rechte und Freiheiten des Menschen erwiesen sich als Fiktion, die Stabilität der Verfassung erwies sich als Fiktion. Alles, dessen sich die gegenwärtige Verfassung rühmte, erwies sich als Fiktion. 
    Ihr eigentlicher Inhalt bestand letztendlich in den großen, unermesslichen, unveräußerlichen und unbestreitbaren Machtbefugnissen des Präsidenten. Nur hat noch der letzte Schritt gefehlt, das allmächtige Amt durch eine konkrete Persönlichkeit zu ersetzen – und der wurde nun vollzogen. Nach Putins Reform wird es völlig unerheblich sein, wer der Präsident ist, denn solange Putin an der Macht ist, wird Putin auch das Sagen haben.

    Nach der Reform wird es völlig unerheblich sein, wer der Präsident ist, denn solange Putin an der Macht ist, wird Putin auch das Sagen haben

    Bedauerlicherweise gibt es keinen Zweifel daran, dass Putin die Verfassung so umschreiben wird, wie er sich das vorstellt, und dass er sie letztendlich zu einer Garantie seiner lebenslangen Herrschaft machen wird. Die Zusammensetzung der Arbeitsgruppe für die schnellen Verfassungsänderungen lässt keinen Raum für Illusionen: Den juristischen Kern der Gruppe bilden genau die Leute, die persönlich verantwortlich sind für alle restriktiven Gesetze der letzten Zeit. Eiskunstläufer, Pianisten, Kosaken, Schauspieler und betagte Kosmonauten leisten ihnen Gesellschaft. Besonders wichtig ist zu bemerken, dass in der Arbeitsgruppe auch Personen sind, die ganz offen die ominösesten und menschenfeindlichsten Ideen vertreten und unterstützen. Allein schon der Donbass-Veteran Prilepin, der auch zu den Vätern der neuen Verfassung zählt!

    Wirkliche Checks and Balances wird es in der Verfassung per Definition nicht geben. Allein der Gedanke daran, dass man Putin beschränken oder ihm etwas entgegensetzen könnte, ist blasphemisch für die, die den Text des neuen Gesetzes ausarbeiten.

    Im Übrigen ist es denkbar, dass Putin gerade mit seinem Wunsch nach Erhalt der Stabilität die ihn dermaßen beängstigenden Veränderungen nur herbeiführt: Er selbst hat das Herrschaftssystem destabilisiert – und angesichts des vorgegebenen Tempos der Neuordnung kann es durchaus sein, dass viele wichtige Details versäumt werden. Dass viele unbedachte und irreparable Fehler gemacht werden, die schneller nach hinten losgehen, als man meint.

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  • Großmacht im Abseits

    Großmacht im Abseits

    Unerwartete Schützenhilfe für den Kreml: In einem Interview mit dem Economist hat Emmanuel Macron Anfang November 2019 die NATO für „hirntot“ erklärt. Auch mit seiner Charmeoffensive gegenüber Moskau sorgt der französische Präsident derzeit für Unmut unter vielen seiner europäischen Kollegen. So warnte der scheidende Präsident des Europäischen Rates Donald Tusk seinen „lieben Freund“ Emmanuel: „Unser harter und konsequenter Kurs gegenüber Russland war der erste klare und unmissverständliche Ausdruck unserer Souveränität. Wir müssen dies weiterverfolgen.“ 

    Es ist jedenfalls nicht nur das Interview von Macron, sondern vor allem auch Russlands Eingreifen in den Syrien-Krieg, das dem Kreml auf der internationalen Bühne derzeit wieder mehr Gewicht zu verleihen scheint. Manche russischen Analysten gehen vor diesem Hintergrund bereits so weit, Russland eine Schlüsselrolle in der globalen Sicherheitsarchitektur zuzuschreiben. Die Politikwissenschaftlerin Lilija Schewzowa nimmt all dies zum Anlass, um in The New Times zu fragen, um welche Art von Comeback es sich dabei überhaupt handelt.

    Russland hat sich erneut den Weg auf die Vorbühne der globalisierten Welt gebahnt. Hat sich mit Erdogan Syrien geteilt. Hat Kiew dazu gebracht, den Friedensbedingungen des Kreml zuzustimmen. Afrika wurde Putin frei Haus nach Sotschi geliefert. Doch das Wichtigste: Europa, repräsentiert von Macron, empfängt uns mit offenen Armen. 

    „Russland wird ein Garant für Stabilität“, so die Heerscharen aus dem Kreml

    Ist es etwa kein Grund zum Jubel, wenn die russische Regierung durch Großmachtgebahren ihre Selbstbestätigung findet?!  Andere Wege gibt es ja nicht mehr. Die begeisterte Heerschar aus dem Kreml hat laut aufgejault: „Russland wird ein fundamentaler Garant für Stabilität und Sicherheit in der Welt.“

    Doch warum hat dann der US-amerikanische Außenminister Mike Pompeo in seiner programmatischen Rede in New York (anlässlich seiner Auszeichnung mit dem Herman Kahn Award), als er von den Prioritäten in der US-amerikanischen Außenpolitik sprach, Russland kein einziges Mal erwähnt – weder als Dialogpartner noch als Gefahr? Nur über China hat Pompeo gesprochen. 
    Übrigens sieht auch der Rest der Welt nicht ganz ein, wieso es so wichtig sein soll, dass Russland wieder als Garant positiver Werte auftritt. Vielmehr wirken die russischen Erfolge wie dräuender Ärger. Sogar kremlfreundliche Beobachter geben das zu: „Russland hat einige prominente Gipfel in der internationalen Politik eingenommen und wird nun darum ringen, sie zu halten, besser gesagt: Es wird in einem Knäuel äußerst komplizierter Konstellationen versumpfen. Und es wird bereuen, sich darin verstrickt zu haben.“ 

    Russland als Verkörperung des Fremden und Gefährlichen 

    Und in der Tat: Sich im Nahen Osten – von wo die Amerikaner reißaus nehmen – in den Blutbrei einzumischen, das spricht eher für Torheit denn für strategische Kalkulation.
    Und was bedeutet bitte die Bereitschaft Selenskys, die russische Interpretation der Steinmeier-Formel anzunehmen? Die bittere Ironie besteht darin, dass Selensky zur sicheren Beute seines eigenen Maidans wird, wenn er das riskiert. Und die offenen Arme des schönen Macron? Auch nicht sehr vielversprechend: Der französische Präsident versucht, Moskau zu benutzen, um die Führungsrolle auf dem verwaisten Feld der Europapolitik einzunehmen. Womit er übrigens den Deutschen und dem restlichen Europa auf die Nerven geht. Und was bekommt Russland dafür, wenn es erstmal Sprungbrett für Macron geworden ist?
    Kann man überhaupt darauf hoffen, dass Russland den Dialog mit dem Westen wieder aufnimmt, wenn es für den Westen zu einer Verkörperung des Fremden und Gefährlichen geworden ist?
    […]  Wie kann man vor diesem Hintergrund zu dem Schluss kommen, dass Russland eine Schlüsselrolle für die globale Sicherheit und Stabilität einnimmt? 

    Inzwischen verliert die Weltgemeinschaft das Interesse an Russland

    Inzwischen verliert die Weltgemeinschaft das Interesse an Russland. Die, die über Russland schreiben, quälen sich im Bemühen, die Aufmerksamkeit an ihrem Thema zu halten. Selbst Putin regt die Phantasien nicht mehr an.
    Russlandexperten rackern sich ab, um die Bedeutung Russlands (und damit gleichzeitig ihre eigene) zu steigern. Während es früher Mode war, die Integration Russlands in die westliche Welt zu beweisen, so heißt es nun, seine Gefahr für die Welt zu begründen. Ende der Themenliste. Die ewige Leier der russischen Forderungen und das endlose russische Gejammer zum Thema „Wo bleibt denn da der Respekt!“ geht allen gehörig auf den Geist.

    Erniedrigend ist nicht, dass man uns nicht mehr respektiert und uns nicht glaubt. 
    Erniedrigend ist, dass man uns für einen hoffnungslosen Fall hält. Erniedrigend ist, dass die Welt unserer müde ist.
    Es gibt nicht mal mehr gesteigertes Interesse daran, sich mit uns auseinanderzusetzen. Eher im Gegenteil. Die westlichen Pragmatiker sagen: Die Russen kann man nicht ändern, doch es lohnt nicht, sich mit ihnen zu streiten. Wir tun einfach so, als würden sie uns interessieren, besprechen Pläne, die nie umgesetzt werden. Einfach, damit sie uns nicht ans Bein pinkeln.

    Die angewiderte Gleichgültigkeit ist das Erniedrigendste für den russischen Stolz

    Das Erniedrigendste für den russischen Stolz ist die angewiderte Gleichgültigkeit und dass man uns behandelt wie einen verdammten Anachronismus.
    Übrigens kann Russland den Westen sehr wohl beeinflussen. Wie? Indem es versucht, das eine oder andere westliche Staatsoberhaupt mit seiner Freundschaft zu beglücken. Wenn die liberale Welt Russland als genuin Böses betrachtet, ist das ein verlässliches politisches Mordinstrument. Ein erneutes Gipfeltreffen zwischen Putin und Trump könnte für Letzteren durchaus zum Anlass für ein Impeachment werden.
    Insofern: Wir können uns rächen. Rächen für die Nicht-Liebe, die Nicht-Wertschätzung, für die Gleichgültigkeit. Doch inwiefern wird diese Rache ein gerechter Preis sein für das verlorene Interesse an uns?

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    Am Mittwoch hat Präsident Putin einen Erlass unterzeichnet, wonach den Bewohnern der sogenannten Donezker und Lugansker Volksrepubliken die Annahme der russischen Staatsbürgerschaft erleichtert werden soll. In den Gebieten wird seit 2014 gekämpft.

    Kurz nach der Wahl des neues ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky, dem Putin zum Wahlsieg nicht gratuliert hatte, kam der Erlass sehr überraschend. Der noch amtierende ukrainische Präsident Petro Poroschenko warnte vor einer russischen Annexion der Gebiete. 

    Als aggressives Symbol kritisierten zahlreiche Beobachter das Handeln Putins, der ehemalige Jelzin-Berater Georgi Satarow etwa kommentierte auf Facebook: „Es ist ganz offensichtlich, dass diese kleine Schikane (statt einer Gratulation) das typische nervöse Zucken eines Mannes ist, der voller Schwermut erschreckt nach Luft schnappt vor Neid auf einen, der mehr als 70 Prozent der Stimmen bekommen hat, und zwar ohne den Einsatz einer riesigen Propagandamaschine, ohne Unterdrückung und Betrug.“

    Der Kreml dagegen betonte, man habe „nicht den Wunsch, der neuen ukrainischen Führung Probleme zu machen“. Der sogenannte Chef-Ideologe des Kreml Wladislaw Surkow sagte, der Erlass sei „eine Pflicht Russlands gegenüber den Menschen, die auf Russisch denken und sprechen und die sich wegen der repressiven Maßnahmen des Kiewer Regimes jetzt in einer sehr schwierigen Situation befinden“. Mit russischem Pass würden sich „die Menschen beschützter und freier” fühlen.

    Das russische Onlinemagazin The New Times veröffentlichte mehrere Blogbeiträge zum Thema, unter anderem den Facebook-Post von Mustafa Najem. Der einstige Journalist, der heute Mitglied der Rada ist, gilt als Initiator des Euromaidan 2013. 

    Wladimir Putin hat einen Erlass unterschrieben. Darin geht es darum, die Annahme der russischen Staatsbürgerschaft für Bewohner der besetzten Gebiete in den Oblasten Donezk und Luhansk zu erleichtern. Das Ziel dieser internationalen Sabotage ist offensichtlich: Seinerzeit ermöglichte die massenweise Vergabe russischer Pässe an die Bewohner Abchasiens und Südossetiens die russische Invasion im August 2008 nach Georgien

    Aber am ärgerlichsten ist dieser unglaubliche Unsinn über die russischsprachigen Menschen, mit dem das gerechtfertigt wird. „Wenn sie erst einmal [russische – dek] Pässe haben, werden sich die Leute sicherer fühlen“, sagt Wladislaw Surkow.

    Man fragt sich: Vor wem schützt ihr denn dort die russischsprachen Menschen?! Da gibt es keine ukrainische Staatsmacht. Da ist alles in der Hand eurer Freunde. Da rollt der Rubel. Der ganze offizielle Schriftverkehr ist auf Russisch. Und ein Sachar Prilepin rennt fröhlich durch die Schützengräben. Wen wollt ihr da vor wem beschützen?!

    Vor wem schützt ihr denn dort die russischsprachigen Menschen?!

    Wenn es schon so weit gekommen ist, denke ich, sollte man Herrn Surkow einfach anbieten, herzukommen und die russische Sprache zu schützen, etwa an der Frontlinie oder in einem beliebigen [ukrainischen – dek] Truppenteil, wo Tausende, die Russisch sprechen, ihren Dienst leisten. Ich fände das irre interessant. Oder kommen Sie doch hierher, nach Kiew, und schauen Sie mal im Barbakan oder bei Pizza Veterano rein – auch da gibt es eine Vielzahl russischsprachiger Ukrainer, die quasi nur darauf warten, dass man sie beschützt. Am besten noch, Sie schauen auch mal beim Asow-Bataillon vorbei und versuchen denen Ihre Hilfe anzubieten.

    Aber gut. 

    Hören Sie. Ich bin russischsprachiger Ukrainer. Ich habe nur eine einzige Amtssprache: Ukrainisch. Wie auch Millionen weitere russischsprachige Ukrainer, brauche ich nicht den Schutz eines Wladislaw Surkow, eines Wladimir Putin und weiterer Nachfahren unseres Kiewer Fürsten Juri Dolgoruki. Genau wie Englisch nicht Großbritannien, Französisch nicht Frankreich und Spanisch nicht ausschließlich den Spaniern gehört, so ist auch die russische Sprache nicht das Eigentum der Russischen Föderation.

    Gerade die Ukraine sollte meiner Meinung nach das Land werden, das dem Kreml das Monopol auf die russische Sprache entzieht sowie das alleinige Recht, russischsprachige Menschen zu schützen. Ich arbeite schon lange daran und werde bald meine Sicht auf die Situation in den besetzten Gebieten vorlegen. Ich weiß nicht, welche Ideen zu diesem Thema im Stab des neu gewählten Präsidenten besprochen und ob überhaupt welche besprochen werden. Doch ich bin bereit, meinen Plan vorzulegen und mit jeder Regierung zusammenzuarbeiten, die ihn für effektiv und umsetzbar hält.

    Und was die russische Sprache betrifft, so meine ich das ernst. Was ist das für eine teuflisch „humanitäre“ Leibeigenschaft? Russisch gehört unter anderem auch uns. Und es geht hier nicht um eine zweite Amtssprache, die meiner festen Überzeugung nach Englisch sein sollte; es geht darum, dass mit unseren Leuten, die von Russland als Geisel genommen wurden, nicht nur der Terroristen-Staat Russisch reden sollte.

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