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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Spiel mit dem Verwerflichen

    Spiel mit dem Verwerflichen

    Wegen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine wurden russische Fußballvereine und die Nationalmannschaft von allen europäischen und internationalen Wettbewerben ausgeschlossen. So durfte die Sbornaja auch nicht an der Qualifikation zur EM, die aktuell in Deutschland stattfindet, teilnehmen. Der russische Fußball ist also isoliert. Dennoch spielten über 50 ausländische Spieler in der abgelaufenen Saison in der höchsten Spielklasse des Landes (die mal wieder Zenit St. Petersburg für sich entscheiden konnte). 

    Das russische Online-Medium The Insider hat sich diese Spieler im Fußball (und im Eishockey) genauer angeschaut und recherchiert, dass Spieler aus dem Ausland bei russischen Clubs auch eine Anstellung finden, obwohl gegen sie ermittelt wird. 

    Orenburgs Jordhy Thompson feiert sein Tor gegen den FK Rostow. In seiner Heimat Chile ist er wegen häuslicher Gewalt angeklagt / Foto © IMAGO/ITAR-TASS/Erik Romanenko

    Ein Chilene, der seine Freundin brutal geschlagen haben soll

    Im Januar 2024 verpflichtete der Fußballclub FK Orenburg den 19-jährigen Linksaußen Jordhy Thompson vom chilenischen Verein CSD Colo-Colo. Der Fußballer wird in seiner Heimat des versuchten Totschlags beschuldigt. Im November 2023 hatte die ehemalige Partnerin Thompsons, Camila Sepúlveda, bei der Polizei Anzeige erstattet: Der Fußballer soll sie in betrunkenem Zustand aus Eifersucht grausam geschlagen haben. Auch soll er versucht haben, sie zu erwürgen. Das war nicht das erste Mal: Im vergangenen Frühjahr hatte Camila den Fußballer zwei Mal gewalttätiger Übergriffe beschuldigt. 

    Am 6. November 2023 wurden gegen den vielversprechenden Stürmer 45 Tage Haft verhängt. Die wurden nach einigen Tagen in Hausarrest umgewandelt. Am 19. Dezember erreichten Thompsons Anwälte, dass diese Sicherungsmaßnahme für ein halbes Jahr ausgesetzt wurde, wobei der Beschuldigte das Land gegen eine Kaution von 100 Millionen Peso (rund 105.000 Euro) verlassen konnte. Bereits am 3. Januar 2024 verkündete Orenburg, dass die Papiere über seinen Wechsel als Leihspieler unterschrieben sind.

    Im Januar, mitten in der Winterpause der russischen Premjer Liga, wurde der Fall Jordhy Thompson heftig diskutiert. Auslöser war ein höchst merkwürdiges Statement von Dmitri Andrejew, dem Sportdirektor von Orenburg. Der ehemalige Fußballer, der gleich nach seinem Karriereende 2019 zum Clubmanager aufstieg, wurde direkt gefragt, ob der Verein nicht von der Vorgeschichte des Chilenen irritiert sei.

    Das war aber keineswegs der Fall:

    „Eine dunkle Seite bei Thompson? Wer hat die nicht? Von den Problemen mit der Freundin haben wir gehört. Sie reden so, als ob er zwanzig Frauen plattgemacht hätte. Wir machen uns um das Ansehen von Orenburg keine Sorgen. Wem passiert das nicht? Wir haben ihn nicht unter die Lupe genommen. Uns war klar: Wenn es nicht die Probleme mit seiner Freundin gegeben hätte, hätten wir uns einen solchen Spieler nicht leisten können. Als er in diese Lage geraten war, haben wir alles drangesetzt, ihn zu bekommen“, führte Andrejew in einem Interview für Sport24 aus.

    Hätte es keine Probleme mit dem Gesetz gegeben, hätte sich Thompson sicher bei Colo-Colo weiterentwickeln können. Oder er hätte sogar mit dem Wechsel in eine stärkere europäische Liga liebäugeln können, wie sein ehemaliger Trainer Gualberto Jara meint, der mit Thompson im Jugendbereich des chilenischen Spitzenclubs gearbeitet hat. Im Gespräch mit The Insider bestätigte ein Experte, der in Spanien zum Staff von Racing Santander und Rayo Vallecano gehörte, dass Thompson dieses Potenzial hat.

    Jewgeni Jeremjakin, Präsident des Clubs und stellvertretender Generaldirektor von Gazprom Förderung Orenburg, räumte im Januar ein, dass ihm die Sache mit dem neuen Spieler trotzdem Sorgen bereitet: „Deswegen leihen wir ihn erstmal bis zum Saisonende aus. Und werden ihn erziehen.“

    Für den FK Orenburg, der die ganze Saison ums Überleben in der russischen Premjer Liga kämpfte, bedeutet Thompson zweifellos eine Verstärkung: Er stand bei allen Spielen in der Startelf und erzielte zwei Treffer (einen davon im russischen Pokal). The Insider hat beim FK Orenburg nachgefragt. Bis zur Veröffentlichung des Artikels ist keine Antwort eingegangen.

    Ein Niederländer, der bei einem Verkehrsunfall den Tod eines Kindes verschuldete 

    Rai Vloet, Legionär bei Ural Jekaterinburg, wurde im April 2023 in den Niederlanden zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, weil er angetrunken einen Verkehrsunfall verursachte, bei dem ein vierjähriges Kind starb. Sein Wagen hatte auf dem Weg zum Amsterdamer Flughafen Schiphol das Fahrzeug einer Familie mit zwei Kindern gerammt. Eines der beiden Kinder erlag seinen schweren Kopfverletzungen. Der Unfall ereignete sich am 14. November 2021. Vloet leugnete anfangs hartnäckig, dass er am Steuer saß (ein Freund war mit ihm im Wagen). Dann stritt er ab, dass er viel zu schnell gefahren war. Die Ermittlungen ergaben, dass sein Fahrzeug vor dem Aufprall eine Geschwindigkeit von 203 Stundenkilometern hatte. Der Alkoholpegel der beiden Männer lag beim Doppelten des Grenzwerts. Es stellte sich heraus, dass die beiden von einer Party zur nächsten unterwegs waren.

    Anfangs versuchte Vloets Bekannter, mit einer Falschaussage die Schuld auf sich zu nehmen. Letztendlich sagten aber beide wahrheitsgemäß aus. Die Verteidigung hob darauf ab, dass das getötete Kind nicht angeschnallt war. Vor dem tödlichen Unfall hatte Vloet, der bei PSV Eindhoven ausgebildet wurde, einem der erfolgreichsten Vereine des Landes, in der Eredivisie, der höchsten niederländischen Liga gespielt. Bei Heracles Almelo, das im Mittelfeld rangiert, war er einer der Führungsspieler. Nach dem Prozess gegen ihn meldeten sich aktive Fans des Clubs zu Wort: Sie bekräftigten, dass es beschämend und unmöglich sei, ihn aufs Feld zu schicken, als ob nichts gewesen wäre. Selbst, wenn die Berufung noch laufe. Danach nahm Heracles die gleiche Haltung ein. Vloet wurde vom Training suspendiert und verkündete im Januar 2022, dass er nicht mehr für die Mannschaft spielen werde.

    Um nicht ohne Spielpraxis und Gehalt dazusitzen, fand er einen neuen Job in Kasachstan: Astana FK verpflichtete ihn ablösefrei. Dort wusste man bestens über die Situation Bescheid. Innerhalb der Mannschaft war das Thema aber tabu, erläuterte der Sportdirektor von Astana FK, Igor Pawljuk, gegenüber The Insider. Er war seinerzeit leitend in der Verwaltung tätig. Für Ural Jekaterinburg, das den schillernden und umstrittenen Holländer im September 2022 für 250.000 Euro verpflichtete, spielten moralische Fragen überhaupt keine Rolle. Das hatte der Vizepräsident des Clubs, Igor Jefremow, seinerzeit eingeräumt. In der YouTube-Show Das ist Fußball, Bruder erinnerte sich der nun schon ehemalige Mitarbeiter von Ural:

    „Wenn du die Situation nicht kennst, stellt sich die Frage: Warum spielt dieser Spieler in Kasachstan? Wir haben uns mit der Situation beschäftigt und alles diskutiert. Als Vloet bei Ural unterschrieb, hatte es noch keine Entscheidung des Gerichts gegeben. Ich sage ganz ehrlich: Die moralische und ethische Seite wurde überhaupt nicht erörtert.“

    Auf die Frage der Moderierenden, ob das in Ordnung sei, bemerkte Jefremow: „Sagen wir mal so: Gibt es wirklich viele Leute, die in ihrem Leben immer nüchtern hinterm Steuer sitzen?“ Und er fasste zusammen: „Wir diskutieren diese Situation hier jetzt länger, als wir sie damals diskutiert haben.“ Der Anwalt des Fußballers Erik Thomas kommentierte die Lage, indem er das Offensichtliche aussprach: „Es ist nicht so interessant, in Kasachstan oder Jekaterinburg zu spielen, wenn du Europa gewohnt bist. Aber kein einziger europäischer Club wollte ihn bei sich sehen.“

    Sowohl der frühere Anwalt des Fußballers als auch der ehemalige Vizepräsident von Ural, Igor Jefremow, behaupteten: Sobald das abschließende Urteil nach der Berufung feststeht, wird sich Vloet nicht mehr verstecken und in den Niederlanden seine Strafe verbüßen. Ihren Aussagen zufolge ist der Spieler bereit für eine Gefängnisstrafe, wie lang sie auch sein mag. The Insider hat bei Ural Jekaterinburg nachgefragt. Bis zur Veröffentlichung des Artikels ist keine Antwort eingegangen.

    Ein Niederländer, der mit Kokain handelte

    Der aufsehenerregendste Kriminalfall im russischen Fußball steht allerdings nicht mit einer Verstärkung eines Clubs in Verbindung, sondern mit einem Abgang. Der Niederländer Quincy Promes, Führungsspieler bei Spartak Moskau, saß bis zuletzt noch in einem Gefängnis in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), und zwar wegen eines Auslieferungsantrags aus den Niederlanden. Im vergangenen Sommer war Promes dort zu anderthalb Jahren verurteilt worden, weil er seinen Cousin im Laufe eines Streits in der Familie mit einem Messer verletzt hatte. Im Winter kamen wegen Kokainschmuggels sechs Jahre hinzu. Zwischen diesen Verfahren besteht allerdings keine Verbindung. Die Ermittlungen wegen Drogenschmuggels hatten bereits 2018 begonnen, während der Konflikt mit dem Cousin erst 2020 erfolgte.

    Quincy Promes war schon 2014 zu Spartak gewechselt und wurde dort nicht nur zu einem Star, sondern zu einer echten Legende. Er war 2017 Mitglied der Mannschaft, die die Meisterschaft holte, zum ersten Mal nach 16 Jahren. Im Mai 2023 wurde er zum besten Stürmer des Clubs in der postsowjetischen Vereinsgeschichte. Und er wurde zum erfolgreichsten ausländischen Torschützen der russischen Ligageschichte.

    Es gab einen dritten Vorfall mit Promes, der an sich relativ unbedeutend war. Doch ohne diesen Fall wäre er wohl nicht hinter Gittern gelandet. In der Winterpause 2023-2024 flog Quincy in den Urlaub nach Dubai (in der Europäischen Union wollte er sich nicht sehen lassen, weil er in Abwesenheit wegen des Angriffs auf seinen Cousin verurteilt worden war). Dort hatte er mit einem Mietwagen einen Unfall mit einem Bus verursacht und war vom Unfallort geflüchtet. Bald darauf flog er nach Moskau, um danach mit Spartak ins Trainingslager in die Emirate zurückzukehren. Dem Verein hatte er dabei nichts von dem Unfall erzählt.

    Das Urteil von sechs Jahren Gefängnis wegen des Drogenschmuggels wurde am 14. Februar bekannt, als Promes sich mit Spartak in den Emiraten aufhielt. Zwei Wochen später wurde er nicht in den Flieger seines Vereins gelassen, der ihn zurück nach Russland bringen sollte. Das erfolgte aufgrund der Rechtsverletzung in den Emiraten. Der Grenzschutz der Emirate hatte die Informationen zur Flucht vom Unfallort erhalten. Bald schon wurde die niederländische Seite aktiv. In den Emiraten ging ein Auslieferungsantrag ein, und der Fußballer wurde festgenommen. Ende März berichtete De Telegraaf, Promes habe ein Gerichtsverfahren zu erwarten. Bis zu einer Entscheidung über die Auslieferung bleibe er unter gewöhnlichen Bedingungen in Haft. In seiner Zelle, die für sechs Personen ausgelegt ist, sitzen rund 20 weitere Häftlinge. Am 17. Mai wurde berichtet, dass der Fußballer auf Kaution freigelassen wurde, die Emirate aber nicht verlassen darf.

    Aus den niederländischen Ermittlungen geht hervor, dass für Promes zwei Lieferungen Kokain aus Brasilien im Hafen von Antwerpen eintrafen mit einem Gesamtgewicht von 1362 Kilogramm. Die Ware war als Meersalz in Säcken getarnt. Nach Angaben der Ermittler hatte der Spieler von Spartak 200.000 Euro investiert, um sechs Millionen herauszuholen. Promes hatte Komplizen (darunter seinen Onkel), stand aber an der Spitze dieser Miniorganisation. Daher wurde für ihn das höchste Strafmaß von allen gefordert. „Allem Anschein nach hält sich Promes für unantastbar, sei es in Russland oder in anderen Ländern. Mich würde interessieren, wie ein erfolgreicher Fußballer sich derart in Verbrechen verstricken konnte“, zitiert die NL Times den Staatsanwalt.

    Spartak verweist die ganze Zeit auf das laufende Berufungsverfahren und löst den Vertrag mit Promes nicht auf. RBK zufolge ist es für den Club juristisch möglich, den Vertrag zu kündigen: Als er 2021 unterzeichnet wurde und die Ermittlungen zum Angriff auf seinen Cousin schon bekannt waren, hatte Spartak eine Klausel darüber eingefügt, dass der Vertrag ohne weitere gegenseitige Ansprüche aufgelöst werden kann, falls der Spieler nicht mehr für die Mannschaft spielen kann.

    Höchstwahrscheinlich wird Promes nicht mehr für Spartak spielen, auch wenn der Vertrag bis Juni nächsten Jahres läuft. Wenn der Unfall mit dem Mietwagen nicht gewesen wäre, hätte er wahrscheinlich mit der Mannschaft nach Russland zurückfliegen und weiter in der Premjer Liga spielen können. Aus Russland hätte man ihn wohl kaum an die Niederlande ausgeliefert. Darauf wies gegenüber The Insider Andrej Morosow hin, ein Anwalt der Kanzlei Feokistow und Partner: „Die Entscheidung über eine Auslieferung trifft praktisch die Generalstaatsanwaltschaft. Das ist ein außerordentliches Verfahren, weswegen eine Auslieferung aus politischen Motiven erfolgen kann (oder eben nicht erfolgen kann).“

    Bereits vor seiner Inhaftierung in Dubai hatte Promes wohl versucht, sich durch eine russische Staatsangehörigkeit abzusichern. Vor einem Jahr wurde bekannt, dass ihm Spartak dabei half. Das russische Sportministerium verweigerte jedoch wegen des laufenden Gerichtsverfahrens seine Mitwirkung. Wenn der Niederländer die russische Staatsangehörigkeit erhalten hätte, wäre er auf russischem Hoheitsgebiet in Sicherheit gewesen, weil Russland seine Staatsangehörigen nicht ausliefert. Übrigens droht Promes auch in Russland ein Strafverfahren, nämlich wegen systematischer Nichtzahlung von Steuern. Dem Portal Mash zufolge schuldete er dem Finanzamt 397.000 Rubel, bevor er zum Trainingslager in die Emirate flog.

    Ein Amerikaner, der Polizisten angriff

    Im Sommer 2023 unterzeichnete SKA Petersburg, einer der Spitzenclubs der Kontinentalen Eishockeyliga (KHL), finanziert von Gazprom, einen Vertrag mit Alex Galchenyuk, einem US-Amerikaner belarussischer Herkunft. In seiner Jugend hatte er einen russischen Pass und eine Einladung in die russische Sbornaja. Galchenyuk lehnte jedoch sowohl eine Nominierung wie auch den Pass ab. Er war dann aber genötigt, über Angebote aus Russland nachzudenken, nachdem der gerade erst unterschriebene Vertrag mit den Arizona Coyotes aus der National Hockey League aufgelöst wurde.

    Mitte Juli letzten Jahres war Galchenyuk wegen eines Angriffs auf Polizisten verhaftet worden. Er war mit seinem Vater mit einem BMW in einen Unfall verwickelt. Der Wagen war gegen den Bordstein geraten und hatte ein Verkehrsschild und ein Auto daneben beschädigt. Als die Polizei am Unfallort eintraf, fand sie den Eishockeyspieler einige Meter vom Wagen liegend betrunken vor. Bei der Festnahme leistete er Widerstand, wurde grob und drohte den Polizisten. Auf einem später in Umlauf gebrachten Video der Polizeikameras ist deutlich zu hören, was Galchenyuk den Polizeibeamten sagte: „Ist dir klar, dass ich dich einfach absteche? Die Kehle schneide ich dir durch … Du weißt, dass ich Abramowitschs Nummer habe… Und ihr alle seid am *** … Lass mich aus dem Wagen, sonst werden alle eure Kinder, alle eure Frauen, alle eure Töchter sterben. Ein Anruf von mir, und ihr seid tot“. Darüber hinaus erlaubte er sich rassistische Äußerungen gegenüber einem der Polizisten.

    Der Spieler entschuldigte sich später öffentlich, doch gab es bereits keinen Weg zurück in die NHL. In solchen Fällen bieten die Clubs den Betroffenen gewöhnlich einfach keinen Vertag mehr an, zumindest bis zu einer Rehabilitierung. Galchenyuk erhielt nun Angebote aus Russland, wobei er sich für SKA Petersburg entschied. Roman Rotenberg, der Cheftrainer von SKA und gleichzeitig dessen Vizepräsident und stellvertretender Vorsitzender des Direktorenrats (sowie Sohn des Geschäftsmanns Boris Rotenberg), war begeistert, dass Galchenyuk sich für seinen Club entschied: „Wir sind froh, dass ein Hockeyspieler von diesem Niveau zu uns gestoßen ist. Wie man so sagt, ein Gottesgeschenk. Weil es ganz und gar nicht einfach ist, einen solchen Spieler zu bekommen.“ 

    Und bei der Vorstellung des neuen Spielers erklärte Rotenberg noch vor den Fragen zu dem Vorfall: „Alex passt rundum in unser System. Von den menschlichen Qualitäten her wie auch als Spieler.“ Auf Nachfragen von The Insider an SKA über die Vertragsunterzeichnung und die Zukunft von Galchenyuk gab es keine Antwort.

    Was die Sportfunktionäre sagen

    Der Fall Quincy Promes verlangt in Bezug auf den Zustrom von Spielern mit Reputationsproblemen nach einer Stellungnahme führender Vertreter des russischen Fußballs. Maxim Mitrofanow, Generaldirektor des Russischen Fußballverbandes erklärte auf die Frage nach dem Image der russischen Premjer Liga als einer Liga von Kriminellen, dass man die russische Meisterschaft so nicht bezeichnen könne und fügte hinzu: „Das ist eher eine Frage an die Arbeitgeber. Hier entscheidet jeder selbst, ob er bereit ist, mit einem Menschen zusammen zu arbeiten, der eine Straftat begangen oder nicht begangen hat.“ Und der Chef der Premjer Liga Alexander Alajew formulierte es nach einer Mahnung daran, dass bis zum Ende des Berufungsverfahrens niemand als Verbrecher bezeichnet werden dürfe wie folgt:

    „Wenn die Schuld eines Spielers bewiesen ist, kann er nicht mehr in der Premjer Liga spielen. Fußballer sind ein Vorbild für Kinder; für meinen Sohn ist Promes ein Heiliger. Wir verfolgen die Situation von Promes und von Vloet mit Hilfe von Juristen. Wir können ihnen nicht verbieten zu spielen. Wir werden verfolgen, wie die Sache ausgeht. Aber Menschen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, sollten kein Teil der Liga sein. Das ist meine Meinung.“

    Juristische Instrumente, um Verträge mit solchen Spielern zu verbieten, gibt es weder bei den Ligen (der Premjer Liga und der KHL), noch bei den Verbänden.

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  • „Nach einem Sieg der Ukraine befreien wir Tschetschenien“

    „Nach einem Sieg der Ukraine befreien wir Tschetschenien“

    Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow prahlt gern mit der Stärke seiner Armee, die formal zwar Teil der russischen Nationalgarde ist, faktisch aber auf seinen Befehl hört. Im Frühjahr 2023 behauptete Kadyrow, seit Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges gegen die Ukraine mehr als 26.000 Tschetschenen in den Kampf gegen die Ukraine geschickt zu haben. Sogar seine minderjährigen Söhne wollte er angeblich an die Front schicken. Kadyrows Kämpfer erlangten Bekanntheit, weil sie eifrig martialische Videos aus dem Kampfgebiet in den Sozialen Netzwerken verbreiteten. Eine Weile lang wirkte das, als lieferten sich der Wagner-Chef Jewgeni Prigoshin und das Tschetschenen-Oberhaupt einen Wettbewerb, wer die furchteinflösendste Truppe kommandiert. 

    Weniger bekannt sind die tschetschenischen Freiwilligen, die auf der Seite Kyjiws im Einsatz sind. Sie sehen sich als Truppen der tschetschenischen Republik Itschkerien, die ihrem Verständnis nach von Russland besetzt ist. Viele sind schon vor Jahren aus ihrer Heimat ins Ausland geflohen. Sie hoffen darauf, nach einem Sieg der Ukraine ihre Heimatregion von der Herrschaft Kadyrows zu befreien und die Unabhängigkeit der Republik von Moskau zu erkämpfen. Das russische Portal The Insider hat mit dreien von ihnen über ihre Motive, ihr Verhältnis zu Kadyrow und die Lage an der Front gesprochen.

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    „Ich bin hierhergekommen, um die ermordeten Kinder, Frauen und Alten in Tschetschenien, Inguschetien, Syrien und der Ukraine zu rächen.“

    Fatchi kämpft im Freiwilligenbataillon des Verteidigungsministeriums der itschkerischen (tschetschenischen) Exilregierung unter Achmed Sakajew. Teilnehmer am Vorstoß in das russische Gebiet Belgorod.

    „Wenn ich vor Kadyrow Angst hätte, wäre ich nicht hierhergekommen, um zu kämpfen.“ – Fatchi (rechts) kämpft im Freiwilligenbataillon der itschkerischen (tschetschenischen) Exilregierung / Foto © The Insider
    „Wenn ich vor Kadyrow Angst hätte, wäre ich nicht hierhergekommen, um zu kämpfen.“ – Fatchi (rechts) kämpft im Freiwilligenbataillon der itschkerischen (tschetschenischen) Exilregierung / Foto © The Insider
    „Ich bin aus zwei Gründen in die Ukraine gekommen: um mein Volk zu rächen, und um den Ukrainern zu helfen. Russland hat mein Land besetzt, Tschetschenien, und viele aus meiner Familie ermordet: meinen Vater, meine Brüder, meine Tante, meinen Onkel. Ich betrachte die Russen nicht nur als Feinde der Ukrainer und Tschetschenen, sondern als Feinde der gesamten Menschheit. Sie werden sich alles nehmen, was sie wollen, und niemals aufhören. Wenn wir zulassen, dass sie auf ukrainischem Boden siegen, werden sie weitermachen. Deshalb bin ich hier, um die Kinder, Frauen und Alten zu rächen, die in Tschetschenien, Inguschetien, Syrien und jetzt auch in der Ukraine umgebracht wurden.

    Ich bin 2022 gekommen. Über zwei Monate wurde ich hier ausgebildet. Dann beschloss ich, mich dem OBON anzuschließen, dem Selbständigen Bataillon für Spezielle Aufgaben. Wir haben viele erfahrene Männer, die in Tschetschenien und Syrien gekämpft haben.

    Ich habe seit meiner Kindheit davon geträumt, entweder Soldat oder Polizist zu werden. Ich wollte wie mein Vater werden [Arbi Barajew war Feldkommandeur; er wurde während des Zweiten Tschetschenienkrieges getötet und war einer der bekanntesten Anführer des Widerstandes im Krieg gegen die russischen Streitkräfte in Tschetschenien]. Mir gefällt es hier zu sein. Und wenn der Krieg vorbei ist, werde ich anderswo für Gerechtigkeit kämpfen.

    Während des Tschetschenienkrieges war ich acht oder neun Jahre alt, aber ich erinnere mich an Vieles. Meine Mutter floh mit uns aus Tschetschenien, Kadyrows Leute wollten uns umbringen. Das war Blutrache. Mein Vater war Brigadegeneral und hat Besatzer [gemeint sind Vertreter der russischen Streitkräfte und Spezialeinheiten der Polizei – dek] und Kadyrows Verräter getötet, die nachts Säuberungen veranstalteten und auf der Straße Leute umbrachten.

    Meine Mutter haben sie auch viele Male mitgenommen und verhört. Nach diesen Verhören war sie immer in einem Schockzustand und konnte nicht sprechen. Jetzt wird sie wieder eingeschüchtert, weil ich in der Ukraine kämpfe; sie will aber nicht fortgehen. Aber sie werden ihr nichts antun, weil meine Cousins in der russischen Armee dienen.

    Den Vater eines dieser Cousins haben Kadyrows Leute ebenfalls umgebracht. Sein Sohn dient aber trotzdem bei ihnen. Ich habe deshalb den Kontakt zu ihm abgebrochen.Wie kann es sein, dass jemand die gleiche Uniform trägt wie jene, die seine Familie getötet haben? Er hat mich dann einen Terroristen genannt, weil ich LGBT unterstütze und in Europa lebe. Ich lebte damals in Dänemark, und er in Tschetschenien. Ich kann nur ganz offen sagen: Wenn ich ihn hier in der Ukraine treffe, bringe ich ihn um.

    Ich habe als politischer Flüchtling in Europa gelebt, seit ich 17 war. Meine Mutter hat uns allein zurückgelassen, als ich zehn war, und ist nach Tschetschenien zurückgegangen. Ich mache ihr keinen Vorwurf, und auch meinem Vater nicht. Ich gebe allein Putin die Schuld, und jenen in der Bevölkerung in Russland, die alles unterstützen, was ihr Präsident macht. Ich habe alles zurückgelassen, als ich in die Ukraine kam: Freunde, Bekannte, meine Arbeit, und ich hoffe, dass wir bald siegen und nach Tschetschenien zurückkehren, um den ganzen Kaukasus zu befreien.
    In Tschetschenien bleiben jetzt nur die, die keine Möglichkeit haben, die Republik zu verlassen. Die Menschen haben Angst, offen zu sprechen, ihre Meinung zu sagen, oder einfach nur zu denken. Sie haben Angst, sich gegen das System zu stellen, weil man dafür in Tschetschenien ins Gefängnis wandert, oder man wird gefoltert oder umgebracht. Menschen werden einfach aufgrund von Kommentaren bei Facebook vergewaltigt und ermordet.

    Seit 25 Jahren lebt die Bevölkerung in Angst. Aber sobald sich die Möglichkeit ergibt, werden sich sogar Kadyrows Leute gegen ihn erheben. Es gibt natürlich Tschetschenen, die Kadyrow aufrichtig unterstützen. Die lieben ihn wegen des Geldes und der Macht. Es gibt aber auch welche, die einfach keine andere Wahl haben. Viele junge Leute haben keine Arbeit, und zur Armee zu gehen, ist eine einträgliche Sache. Sie hassen Kadyrow, schließen sich ihm aber wegen des Geldes an.

    Wenn ich vor Kadyrow Angst hätte, wäre ich nicht hierhergekommen, um zu kämpfen. Natürlich kenne ich das Gefühl der Angst, wie alle anderen Menschen auch, aber ich habe meine Angst im Griff. Wenn ein Soldat sagt, dass er vor nichts Angst hat, dann lügt er entweder oder hat einen psychischen Schaden.

    Die Kadyrow-Leute sind keine besonders guten Kämpfer, sie sind eher zur Show da. Es gibt Tschetschenen, die in der russischen Armee kämpfen und nicht Kadyrow unterstellt sind. Aber gerade die Kadyrow-Leute sind wie Polizisten: Die können nicht kämpfen. Die haben nur gegen Partisanen im Kaukasus „gekämpft“. Da haben sie etwa ein Haus umstellt, in dem nur ein Mann mit einer Maschinenpistole hockt. 200 Mann umzingeln einen einzigen Kerl. Die können nicht gegen die Luftwaffe Krieg führen oder gegen Artillerie; sie wissen nicht, wie man eine Stellung stürmt. Das sind Banditen, Putins Sklaven. Die können nur foltern, vergewaltigen und Leute in den Bergen jagen, die Sabotage betrieben haben.


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    „Nach einem Sieg in der Ukraine können wir nach Hause zurückkehren und unser Land befreien.“

    Bertan kämpft in der Einheit Bors des Freiwilligenbataillons OBON

    Angehörige des Freiwilligenbataillons OBON, in dem auch Bertan kämpft / Foto © The Insider
    Angehörige des Freiwilligenbataillons OBON, in dem auch Bertan kämpft / Foto © The Insider
    „Nach dem Beginn des großangelegten Krieges hat eine starke antitschetschenische Propaganda eingesetzt. Die ganze Welt hielt uns für Dämonen, die zusammen mit der russischen Armee einmarschiert sind, um Ukrainer umzubringen. Diese Haltung hat sich besonders nach den Ereignissen in Butscha verstärkt, nach den Gräueltaten, die Russen verübt haben. Das hatte starke Auswirkungen auf die Tschetschenen. Es wurde so dargestellt, als sei Tschetschenien ein Land, das aus eigenen Stücken zusammen mit Russland die Ukraine überfallen hat. Und da habe ich beschlossen, dass ich in der Ukraine sein muss, dass ich helfen muss.

    Ich bin im April 2022 in die Ukraine gekommen. Und als bekannt wurde, dass endlich ein Abkommen zwischen den ukrainischen Streitkräften (SKU) und den Streitkräften der Tschetschenischen Republik Itschkerien geschlossen wurde, fingen wir an, das Verteidigungsministerium der Republik Itschkerien zu kontaktieren, um in das OBON-Bataillon zu gelangen.

    Zu dem Zeitpunkt hatte unsere Führung die Aufstellung von Bataillonen beschlossen, die der Ukraine helfen sollten. Wir alle warteten auf offizielle Informationen. Als aber die Meldungen über die Ereignisse in Butscha und Irpin um die Welt gingen, fuhr ich in die Ukraine, um wenigstens irgendwas zu tun. Ich erinnerte mich an meine Kindheit, an den ersten Tschetschenienkrieg, dann den zweiten, als es den Massenmord an Zivilisten in Nowyje Aldy gab. Ich war 16 oder 17 Jahre alt und konnte nichts tun. Jetzt, nach vielen Jahren, wo ich die Willkür sehe, mit der die Russen in der Ukraine vorgehen, können weder ich noch meine Bekannten da tatenlos zusehen. Wir erinnern uns, wie sie Grosny zerstörten, wir erinnern uns an Samaschki und sehen, wie das alles in die Ukraine weitergetragen wird, allerdings jetzt in größerem Maßstab. Für mich selbst kann ich sagen, dass der Krieg niemals aufgehört hat.

    Da ich den Krieg schon kannte – ich war mehrmals unter Beschuss und habe Bombenangriffe erlebt –, habe ich mich hier recht schnell eingelebt.

    Alle Einsätze unseres Bataillons werden mit den ukrainischen Streitkräften abgestimmt. Unser Bataillon ist Teil der Internationalen Legion, und neben den Ukrainern kooperieren wir mit Kanadiern, Amerikanern und Jungs aus Georgien.

    Den Ukrainern ist klar, dass wir einen gemeinsamen Feind haben. Das wird auf allen Ebenen verstanden, von der Führung bis zu den einfachen Kämpfern des OBON. Jetzt verteidigen wir nicht nur die Ukraine, sondern auch unsere Ehre, die von Kadyrows Leuten befleckt wurde. Das Wichtigste ist, dass man mittlerweile weltweit versteht, dass nicht alle Tschetschenen auf der Seite Russlands stehen. 

    Kadyrow ist einfach ein Idiot. Er versteht den Islam nicht im Geringsten. Er kann nicht behaupten, dass der Krieg in der Ukraine ein Dschihad ist. Wir wissen sehr genau, was Kadyrows „Armee“ eigentlich darstellt. Wir sind, anders als sie, wirklich motiviert, weil wir nur durch einen Sieg in der Ukraine nach Hause zurückkehren können, um unsere Heimat zu befreien, nachdem wir gezeigt haben, dass die Tschetschenen und die Kadyrow-Leute nicht das Gleiche sind.

    In unserem Bataillon gibt es welche, die haben den ersten und den zweiten Tschetschenienkrieg mitgemacht. Die waren bis 2014 in Tschetschenien und haben Widerstand geleistet. Nachdem die Kräfte schwanden, blieb ihnen nichts anderes übrig als abzuwarten, bis sich die Lage ändert. Und jetzt hat sie sich grundlegend geändert. Wenn wir Tschetschenen vor zehn Jahren noch als Terroristen wahrgenommen wurden, so hat sich die Meinung über unser Volk jetzt gewandelt.


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    „Kadyrow zu beseitigen, würde nichts ändern. Unser Ziel ist es, den Kreml zu zerstören.“

    Mansur, Scheich-Mansur-Bataillon

    Nur Kämpfer, die in Tschetschenien keine Angehörigen mehr haben, zeigen offen ihr Gesicht. Zwei Angehörige des Scheich-Mansur-Bataillons, in dem Mansur kämpft / Foto © The Insider
    Nur Kämpfer, die in Tschetschenien keine Angehörigen mehr haben, zeigen offen ihr Gesicht. Zwei Angehörige des Scheich-Mansur-Bataillons, in dem Mansur kämpft / Foto © The Insider

    „Ich habe die Situation in der Ukraine schon 2014 verfolgt, als die Demonstrationen auf dem Maidan begannen. 2015 bin ich dann in die Ukraine gefahren. Damals schon war mir klar, dass Russland unter dem Vorwand der Friedenssicherung Gebiete besetzt, wie es in Georgien und Ossetien der Fall war. Als die Russen die Krim und die Gebiete Donezk und Luhansk besetzten, tauchten in den Medien Meldungen auf, dass es auch Tschetschenen seien, die die Ukraine überfallen haben. Damals lebte ich in der Türkei, und es hat mich sehr verletzt, solche Dinge über mein Volk zu hören. Diese Ansichten sind natürlich wegen Kadyrows Verrätern entstanden, die von den Kreml-Bonzen in die Ukraine geschickt wurden.

    Ich habe nicht lange überlegt und bin losgefahren, um jedem Ukrainer und auch den Medien zu zeigen, dass sich das tschetschenische Volk von diesen Verrätern unterscheidet. Der zweite Grund, warum ich hierhergekommen bin, war der Wunsch, dem gemeinsamen Feind aufs Maul zu hauen. Ich habe schon 1999 zur Waffe gegriffen und gehe seitdem gegen das System vor.

    Durch den Tschetschenienkrieg habe ich viel Kampferfahrung, deshalb trainiere ich jetzt selbst neue Rekruten und bringe ihnen die Kriegskunst bei. Für mich, wie auch für viele meiner Kameraden, ist dieser Krieg nichts Neues. Wir kämpfen gegen die gleichen russischen Truppen und gegen die gleiche russische Artillerie. Die ganzen Lügen und die Propaganda, die jetzt gestreut werden, die kennen wir auch schon.

    Die Kampferfahrung in unseren Reihen liegt bei mindestens zehn Jahren, aber meist sind es 20 oder 30. Junge Leute aus Tschetschenien holen wir nicht in die Ukraine, weil wir uns auf die Befreiung unseres Territoriums vorbereiten. Und wir brauchen sie dort, weil sie in Tschetschenien sehr viel mehr Nutzen bringen.

    Unsere Aufgabe ist Sabotage und Aufklärung mit einer „Bienentaktik“: losfliegen, stechen und abhauen. Die Methoden des Partisanenkrieges haben wir uns seit dem ersten und zweiten Tschetschenienkrieg bewahrt.

    Jeder Vorstoß von uns wird mit den ukrainischen Truppen abgestimmt, damit wir bei unvorhergesehenen Situationen Deckung durch die Artillerie bekommen.

    Unser verstorbener Präsident Dschochar Dudajew hat schon 1990 klar gesagt, was Russland an und für sich ist, und was es an Bösem in sich trägt. Heute werden wir alle Zeugen, dass seine Worte stimmen. Ich denke, wenn man Tschetschenien seinerzeit so geholfen hätte wie jetzt der Ukraine, dann hätten wir dieses russische Imperium längst schon bis auf die Grundmauern zerstört. Dann würde das ukrainische Volk in Frieden leben, und es gäbe schlichtweg keine Bedrohung für die baltischen Staaten und die NATO.

    Wenn wir in Tschetschenien freie Wahlen hätten, dann würden über 90 Prozent des tschetschenischen Volkes das herrschende Regime nicht unterstützen. Die Menschen bei uns werden stark unterdrückt. Seit 30 Jahren sind wir im Kriegszustand. Unsere Eltern erzählen uns von klein auf, was wirklich los ist. Mit Morden kann man uns keine Angst machen. Die Menschen fürchten sich aber vor öffentlicher Beleidigung und Erniedrigung, deswegen zielt Kadyrow auf die wundesten Punkte: Sie nehmen die Mütter, Schwestern, Frauen und Töchter und versuchen die Menschen zu manipulieren. Frauen sind für uns unantastbar, und die Menschen schweigen meistens. Tschetschenien zu verlassen ist für viele einfach nicht möglich, und viele wollen auch nicht in der Fremde leben.

    Wir verstehen, dass die Kräfte heute ungleich verteilt sind. Wenn wir jetzt einen Aufstand beginnen, dann würde Russland unter irgendeinem listigen Vorwand den Krieg in der Ukraine einfrieren und alle Kräfte gegen Tschetschenien schicken. Und wir stünden diesem Monstrum allein gegenüber. Selbst wenn man Kadyrow beseitigte, würde sich in unserer Heimat nichts ändern. Deshalb ist es unser Ziel, den Kreml zu zerstören, den Hort alles Bösen.

    Die jungen Menschen stehen jetzt stark unter dem Einfluss der Propaganda. Wenn sie in den Krieg geschickt werden, nimmt man ihnen die Telefone ab. Wenn sie es dann doch schaffen, mit ihren Verwandten zu reden, bitten sie uns um Hilfe, wie sie sich ergeben können – allerdings so, dass sie dann nicht ausgetauscht und zurück in Kadyrows System geschickt werden. Es gibt Hunderte solcher Fälle. Wir schicken ihre Koordinaten entweder an den zentralen Apparat des ukrainischen Sicherheitsdienstes SBU, oder an den militärischen Nachrichtendienst , und die kümmern sich dann um sie.

    Kadyrow lässt alle verfolgen, die auf der Seite der Ukraine kämpfen. Er versucht uns zu schaden, schickt Killer los. Wir sind aber auch nicht untätig. Bei all denen, die ihr Gesicht offen gezeigt haben, sind sämtliche Verwandten entweder umgekommen oder aus Tschetschenien ausgewandert. Bei mir auch, ich habe niemanden mehr.“

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  • Schebekino – Krieg im russischen Grenzgebiet

    Schebekino – Krieg im russischen Grenzgebiet

    In der Rhetorik des Kreml ist der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine bis heute bloß eine „militärische Spezialoperation“ – ein begrenztes Unterfangen, das irgendwo in der Ferne stattfindet, aber den Alltag der Menschen in Russland nicht weiter beeinträchtigt. Diese Erzählung verliert immer stärker an Glaubwürdigkeit, je mehr der Krieg auch in Russland zu spüren ist: sei es durch Drohnenangriffe auf Moskau oder Sabotageakte auf russischem Staatsgebiet. 

    Für die Menschen in der Oblast Belgorod ist der Krieg schon lange eine Realität, die sich nicht ignorieren lässt. Von dort rückten im Februar 2022 russische Besatzungstruppen auf die ostukrainische Stadt Charkiw vor, nahmen die Region unter Beschuss und provozierten entsprechend Gegenfeuer auch von ukrainischer Seite aus. Zum Brennpunkt auf russischem Gebiet entwickelte sich die grenznahe Kleinstadt Schebekino mit einst rund 40.000 Einwohnern, von denen viele die Stadt inzwischen verlassen haben. Die Region geriet jüngst in die Schlagzeilen, nachdem russische Freiwilligenverbände, die für die Ukraine kämpfen, die Grenze mit gepanzerten Fahrzeugen überquerten und Sabotageakte auf russischem Staatsgebiet verübten. Dazu bekannten sich die Legion Freiheit Russlands sowie das Russische Freiwilligenkorps (RDK) um den Neonazi Denis Kapustin, der auch in Westeuropa kein Unbekannter ist.

    The Insider war vor Ort unterwegs und berichtet von leeren Straßen, zerstörten Häusern und von Menschen, die sich von ihrer Regierung im Stich gelassen fühlen. Eine Reportage aus der russischen Grenzstadt Schebekino, wo der Krieg inzwischen in voller Wucht angekommen ist.

    1. „Jeder, der hier fotografiert, ist ein potentieller Spion der ukrainischen Armee!“

    „Wir wissen, was ihr in Moskau denkt. Ihr denkt, wir wären irgendein Dorf. Nicht mal den Namen der Stadt könnt ihr richtig schreiben!“, beschwert sich einer der Sicherheitsbeamten in der Grenzstadt Schebekino, mutmaßlich ein Mitarbeiter des FSB. „Wir kriegen hier alles ab, und bei euch kommen nicht mal gescheite Nachrichten darüber, was hier los ist!“

    Wir sitzen im Keller des Polizeireviers in Schebekino. Hier wurde ich hergebracht, weil ich die kaputte Fensterscheibe eines Schönheitssalons auf der zentralen Einkaufsstraße der Stadt fotografieren wollte. Das Geschoss hatte das Kulturzentrum getroffen, aber die Detonationswelle hat Fensterscheiben im Umkreis von zig Dutzend Metern bersten lassen. Die Soldaten tauchten aus dem Nichts auf. „Jeder, der hier fotografiert, ist ein potentieller Spion der ukrainischen Armee!“, sagten die bewaffneten Männer, nahmen mir Handy und Ausweis ab, setzten mich ins Auto, fuhren mich aufs Revier und brachten mich dann in den Keller. Vielleicht, um mich einzuschüchtern, vielleicht aber auch zum Schutz vor den Einschlägen: An jenem Tag wurde Schebekino vier Mal beschossen, es donnerte fast ununterbrochen über unseren Köpfen.

    Nach einem Einschlag irgendwo in der Nähe geht das Licht aus. Das Verhör wird im Dunkeln fortgesetzt. Keiner von den Polizisten hat sich mir vorgestellt. Sie suchen ukrainische Kontakte, scrollen durch die Fotos in meinem Handy, das entsperrt war, als sie es mir aus der Hand gerissen haben. Wollen DNA-Proben und Fingerabdrücke nehmen, aber die Technik macht nach dem Einschlag nicht mit. Der Ton wird weicher, als sie irgendwo in meinen Nachrichten eine Bestätigung dafür finden, dass ich wirklich Journalistin bin. Die Presse interessiert sie in dieser Situation weniger.

    Schebekino am Morgen / Foto © The Insider
    Schebekino am Morgen / Foto © The Insider

    „Solche Spielchen spielen wir hier nicht. Wir haben keine Zeit für einen Krieg gegen Journalisten, wir führen hier einen echten. Nur die bei euch in Moskau wissen nicht, was sie mit sich anfangen sollen“, sagt genervt der eine Mitarbeiter, der sich mir immer noch nicht vorgestellt hat. Er muss sich sichtlich beherrschen, keine direkte Kritik an der Zentrale zu üben, aber das gelingt ihm nur mäßig. Genau wie der Großteil der Bevölkerung der Oblast Belgorod sind auch die hiesigen Behörden empört über die Gleichgültigkeit des Kreml gegenüber den Ereignissen im Grenzgebiet und das Ausbleiben jeglicher Hilfe. Nach knapp vier Stunden darf ich den Keller verlassen.

    Auch die hiesigen Behörden sind empört über die Gleichgültigkeit des Kreml

    Mein Gesprächspartner ärgert sich, dass sie in der Oblast „nicht einmal den Kriegszustand“ ausgerufen hätten: „Offiziell war das hier nur eine Antiterroroperation, aber die wurde beendet. Jetzt gibt es hier gar keinen besonderen Status. Aber wir arbeiten immer noch genau so“, versucht mir der Polizist die Festnahme, Durchsuchung und Befragung zu erklären.

    Wir verlassen das Revier, der Mitarbeiter begleitet mich zu unserem Auto, das beim Krankenhaus von Schebekino in einer Seitenstraße wartet. „Schreiben Sie lieber was darüber, wie wir trotz der ganzen Sache hier versuchen zu arbeiten“, klagt der Polizist. Das Stadtzentrum hat sich während meiner Stunden im Keller verändert: Die Bürgersteige sind mit Glasscherben übersät, hinter dem Polizeigebäude steigen schwarze Rauchwolken auf. Drei Tage später wird auch das Polizeirevier getroffen, in dem ich gerade verhört wurde.

    2. „Unser russisches Donezk oder Mariupol“

    Die Folgen von Putins Krieg sind in Schebekino seit dem Beginn der „Spezialoperation“ spürbar. Nach dem 24. Februar stand der Landkreis regelmäßig unter Beschuss, aber es handelte sich dabei um einzelne Gegenschläge. Die Oblast Belgorod diente als Aufmarschgebiet für die Offensiven gegen Charkiw und Sumy, und auf den Feldern, Äckern und rund um die Ortschaften herum war regelmäßig russische Kriegstechnik stationiert. Auch solche, mit der die Ukraine beschossen wurde. Doch eine derartige Eskalation hat in Schebekino niemand erwartet. Noch am 25. und 26. Mai war es in der Stadt verhältnismäßig ruhig, nur gelegentlich donnerte es. „Das ist die Luftabwehr“, sagten die Bewohner und schenkten dem nicht allzu viel Beachtung. Die Kinder spielten weiter auf der Straße, die Rentnerinnen hatten es nicht eilig, ihre angestammten Plätze auf den Bänken zu verlassen. Am Morgen des 27. Mai heulten in der Stadt die Sirenen los. Die waren allerdings im Zentrum kaum zu hören – im Gegensatz zu den Explosionen direkt über den Köpfen. An diesem Tag wurde Schebekino vier Mal angegriffen. Mit jedem Tag nahm die Intensität der Beschüsse zu.

    „Etwas abseits bemerke ich ein paar Frauen, die eine Haustür aufhalten – der Hausflur ist offenbar der einzige Platz, wo man sich in diesem Hof vor den Einschlägen verstecken kann“ / Foto © The Insider
    „Etwas abseits bemerke ich ein paar Frauen, die eine Haustür aufhalten – der Hausflur ist offenbar der einzige Platz, wo man sich in diesem Hof vor den Einschlägen verstecken kann“ / Foto © The Insider

    Während wir die Lenin Straße entlangfahren, gibt es wieder Luftalarm. Wir halten an, steigen aus und laufen in einen Hof, in den Pfeile mit der Aufschrift „Schutzbunker“ weisen, aber wir finden nur eine abgeschlossene Kellertür. Wir warten ein paar Minuten, aber es kommt niemand, der uns aufschließen könnte. Etwas abseits bemerke ich ein paar Frauen, die eine Haustür aufhalten – der Hausflur ist offenbar der einzige Platz, wo man sich in diesem Hof vor den Einschlägen verstecken kann. Die Frauen winken uns zu, wir gehen rein. In diesem Moment ertönt direkt über uns ein lauter Knall, alle schreien auf.

    Wenn es pfeift, sind es die Ukrainer, wenn es Bumm-Bumm macht, dann schießen unsere Leute

    „Wer war das? Unsere Leute oder die anderen?“, fragt eine Frau in einer Mischung aus Russisch und Ukrainisch und späht aus der Tür. Viele ältere Bewohner der Oblast Belgorod sprechen Surshyk. „Wenn es pfeift, dann sind es die Ukrainer, wenn es einfach nur Bumm-Bumm macht, dann schießen unsere. Wenn es pfeift, ist es gefährlicher, dann ist was im Anflug.“

    „Unsere Leute“, so die hiesigen Bewohner, positionieren ihre Kriegstechnik am Stadtrand von Schebekino. Den Geräuschen nach zu urteilen, werden die Geschosse wenige Kilometer von uns entfernt abgefeuert. Vergangenen Sommer standen die Armeefahrzeuge mitten in der Stadt – Ural- und KamAZ standen auf dem Krankenhausgelände, das an eine große Militärbasis erinnerte. Die Einfahrten wurden von Bewaffneten mit Maschinenpistolen kontrolliert. Zutritt bekam man nur mit Genehmigung. Jetzt ist das Krankenhaus leer. Nach dem Beginn der massiven Beschüsse wurden die Patienten nach Belgorod verlegt. Geblieben sind nur ein paar diensthabende Ärzte.

    Am 28. Mai meldete Wjatscheslaw Gladkow, Gouverneur der Oblast Belgorod, 116 Einschläge im Stadtgebiet Schebekino, am 30. Mai waren es bereits 215, am 1. Juni dann der Rekord mit 850 und am 2. Juni 371. Unter den Beschüssen leiden neben der Stadt Schebekino auch die Grenzdörfer Nowaja Tawolshanka und Murom. Letzten Sommer hatte das russische Militär zwischen Murom und Archangelski eine große Reparatur-Basis für Militärtechnik aufgeschlagen. Als die Oblast Charkiw okkupiert war, konnte man hier Raketenwerfer und andere Kampffahrzeuge sehen.

    Fast alle Schaufenster wurden mit Sandsäcken gesichert, damit die Menschen nicht von Glassplittern getroffen wurden / Foto © The Insider
    Fast alle Schaufenster wurden mit Sandsäcken gesichert, damit die Menschen nicht von Glassplittern getroffen wurden / Foto © The Insider

    Ende Mai boten die Ladenflächen noch Schutz. Fast alle Schaufenster wurden mit Sandsäcken gesichert, damit die Menschen nicht von Glassplittern getroffen werden. Aber einige Tage später wurden die Geschäfte geschlossen. Jetzt besteht Schebekino aus leeren Straßen, zerstörten Häusern und brennenden Dächern. Von den Zerstörungen betroffen sind sowohl Hoch- und Einfamilienhäuser als auch Verwaltungsgebäude; ein Wohnheim, zwei Fabriken und zahlreiche Autos sind ausgebrannt. In der Stadt gibt es seit Tagen weder Strom noch Wasser, der öffentliche Verkehr und das Mobilfunknetz sind zusammengebrochen. Am 1. und 2. Juni bildeten sich an den Tankstellen Staus. Die Einfallstraßen in die Stadt sind in alle Richtungen gesperrt und werden von ganzen Militärbrigaden kontrolliert. Bis zum 1. Juni konnte man Schebekino noch durch die Ortschaft Titowka erreichen, dann wurde auch diese Straße gesperrt.

    „Die Stadt ist leer, alles brennt, Rauchsäulen, hungrige Hunde, die von ihren Besitzern zurückgelassen wurden, suchen nach Fressen. Ein furchtbarer Anblick“, erzählt eine Einwohnerin, die Schebekino am 2. Juni verlassen hat.

    „Unsere schöne, saubere Stadt ist jetzt quasi ein russisches Donezk oder sogar Mariupol. Sie haben sie ihren waghalsigen Abenteuern geopfert“, beklagt Wadim, der in Schebekino geboren und aufgewachsen ist.

    3. Die Geiseln von Schebekino

    Schebekino ist die erste russische Stadt, die die Bewohner wegen des von Putin entfesselten Krieges verlassen müssen, allerdings wurde keine offizielle Evakuierung ausgerufen. Aber weil die Stadt gesperrt ist, wird es für viele zur echten Herausforderung, hier rauszukommen.

    Am 1. Juni haben die Behörden Busse bereitgestellt, die die Menschen von Schebekino nach Belgorod bringen sollten. Aber zu den Sammelpunkten außerhalb der Stadt mussten die Menschen irgendwie selbst kommen. Manche legten mehrere Kilometer zu Fuß zurück. Ältere und gebrechliche Menschen waren tagelang dem Beschuss ausgesetzt. Auch ihre Angehörigen konnten sie nicht abholen, weil die Stadt gesperrt war. Die Einwohner von Schebekino richteten Selbsthilfe-Chats ein, in denen sie dringend jemanden suchten, der ihre Eltern oder Haustiere aus der Stadt bringt.

    „Wer kann, rettet sich auf eigene Faust“ / Foto © The Insider
    „Wer kann, rettet sich auf eigene Faust“ / Foto © The Insider

    „Bitte, holt uns hier raus, wir haben Kinder, unsere Mutter ist krank. Was sollen wir tun??? Helft uns bitte!!! Irgendjemand, bitte!!!“, schreibt eine Einwohnerin. Und solche Nachrichten gibt es Dutzende, wenn nicht Hunderte.

    „Die Menschen in Murom bei Schebekino haben seit acht Tagen keinen Strom, im benachbarten Siborowka seit vier Tagen“, kann man in den sozialen Netzwerken lesen. „Die Behörden haben es nicht eilig mit der Evakuierung – nehmen Anfragen entgegen und schweigen sich aus. Wer kann, rettet sich auf eigene Faust. In Murom bricht die Verbindung immer wieder weg.“

    Die Behörden haben es nicht eilig mit der Evakuierung. Wer kann, rettet sich auf eigene Faust

    In den Chats bitten die Menschen Freiwillige, ihre Haustiere zu füttern, die angeleint zu Hause geblieben sind. Manche warten nicht nur für Hunde und Katzen auf Hilfe, sondern auch für Hühner und Ziegen.

    „Familie, drei Erwachsene, ein Kind, 7 Jahre, Kreis Schebekino, Maslowaja Pristan. Mit Vieh: 14 Ziegen, 30 Hühner, 9 kleine, gutmütige Hunde, 2 Katzen. Suchen gezwungenermaßen ein neues Zuhause, ein Haus, mit Möglichkeit für Tierhaltung“, lautet eine Hilfsanfrage.

    Allerdings gibt es auch Personen, die weniger Schwierigkeiten haben, sich durch die Oblast zu bewegen, als die Belgoroder selbst, zumindest in den Grenzgebieten – und zwar ukrainische Diversionsgruppen und die Kämpfer des Russischen Freiwilligenkorps (RDK). Ihr Auftauchen sorgt kaum mehr für Verwunderung bei der einheimischen Bevölkerung.

    4. „Das ist keine Grenze, sondern eine offene Tür“

    „Unsere Grenze ist nicht nur löchrig, sie ist freizügig wie ein Stringtanga! Also schon eine Unterhose, aber alles offen. Genauso ist das bei uns“, – der Belogoroder Jewgeni versucht gar nicht erst, seine Emotionen im Zaum zu halten. Er ist vor 16 Jahren aus Norilsk hierher zu den Eltern seiner Frau gezogen. Die Region schien ihm das Paradies auf Erden: ein großes Haus, bestes Klima, 60 Kilometer bis ins ukrainische Charkiw. Er erzählt, dass sie früher oft hin- und hergefahren seien: Aus der Ukraine konnte man günstig und bequem nach Europa oder nach Asien fliegen. Jetzt geht das Ehepaar nach Pensa.

    „Unsere Eltern und die Kinder haben wir schon vorgeschickt. Ich musste unbezahlten Urlaub nehmen. Wir sind direkt von der Fabrik aus losgefahren. Ich habe zu viel Angst, um hierzubleiben, ich verliere lieber Geld als mein Leben“, sagt Jewgenis Frau.

    Schebekino liegt nur wenige Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt / Kartendaten © 2023 Google
    Schebekino liegt nur wenige Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt / Kartendaten © 2023 Google

    Wir stehen an der Ausfahrt von Schebekino an einer geschlossenen Gazprom-Tankstelle. Das ist reiner Zufall: In diesem Gebiet ist kein Empfang, das Navi spinnt und statt uns nach Belgorod zu führen, schickt es uns irgendwo Richtung ukrainische Grenze. Dorthin sind es von hier noch drei Kilometer, gleich hier ist die Kreuzung, wo man nach Woltschansk abbiegen muss, dort geht es dann zum Grenzübergang Schebekino. Und genau dort gab es laut Medienberichten am 1. Juni einen Versuch, von ukrainischer Seite aus die Grenze zu durchbrechen, und es kam zu einem Panzergefecht.

    Früher war hier offensichtlich ein Checkpoint, aber der steht jetzt verwahrlost da

    Die Abzweigung Richtung Grenzübergang Schebekino liegt verlassen da. Früher war hier offensichtlich ein Checkpoint, aber der steht jetzt verwahrlost da. Leere Befestigungen, eine offene Schranke, ein Schild „Zollkontrolle“ und ein Haufen riesiger Beton-Dreiecke, so genannte „Wagner-Zähne“. Solche wurden verwendet, um entlang der ukrainischen Grenze die „Wagner-Linie“ zu ziehen. Die ist von hier aus zu sehen. Als das Verhältnis zwischen der Söldnertruppe und dem Verteidigungsministerium schlechter wurde, hieß diese Linie in den staatlichen Medien übrigens nicht mehr Wagner-Linie, sondern wurde zur „Belgoroder Verteidigungslinie“.

    Leere Befestigungen, ein Schild „Zollkontrolle“ und ein Haufen riesiger Beton-Dreiecke, so genannte „Wagner-Zähne“ / Foto © The Insider
    Leere Befestigungen, ein Schild „Zollkontrolle“ und ein Haufen riesiger Beton-Dreiecke, so genannte „Wagner-Zähne“ / Foto © The Insider

    Diese Befestigungsanlagen aus Betonkegeln scheinen ein Eindringen auf russisches Gebiet allerdings nicht wirklich zu verhindern. Russische Freiwilligeneinheiten, die den ukrainischen Streitkräften angegliedert sind, posten fast täglich Fotos und Videos aus russischen Grenzdörfern. Normalerweise geben sie keine Adresse an, aber in vielen Fällen kann man diese über Google Maps zurückverfolgen, vor allem wenn die Aufnahmen mit Drohnen gemacht wurden.

    So ist etwa auf einem Video vom 1. Juni die Zerstörung von militärischem Gerät zu sehen, das russische Soldaten im Dorf Nowaja Tawolshanka versteckt hatten, in der Gegend um die Pestschanaja Straße. Ein Foto von einem Panzer mit weiß-blau-weißer Flagge hat die Legion Swoboda Rossii [dt. Freiheit Russlands] am Anfang der Saretschnaja Straße in demselben Dorf gemacht. Von dort sind es bis zur ukrainischen Grenze nur 500 Meter. Diese russischen Grenzdörfer, in denen das russische Freiwilligenkorps RDK herumspaziert, hat keiner evakuiert. Das Dorf Nowaja Tawolshanka zum Beispiel hat rund 5000 Einwohner – alles lebende Schutzschilde für die russischen Soldaten, klagen die Belgoroder in den sozialen Netzwerken.

    Die Bewohner von Nowaja Tawolshanka sind lebende Schutzschilde für die russischen Soldaten, klagen die Belgoroder in den sozialen Netzwerken

    Die Videos der Legion Freiheit Russland zeigen, wie sich in den Wohnhäusern russische Soldaten verschanzen, die ihre Schützenpanzer am Gartenzaun oder einfach direkt vor den Häusern parken. Beim RDK, dem russischen Freiwilligenkorps, heißt es, es sei das russische Militär, das grenznahe Dörfer beschießen würde, um die Positionen des RDK zu vernichten. 

    Den Sicherheitsmann an der Tankstelle wundern die Versuche, die Grenzübergänge zu stürmen, offenbar nicht. Ihm zufolge kommen regelmäßig Ukrainer ungehindert in die Oblast Belgorod und kehren genauso unbehelligt wieder zurück. Die russische Regierung habe es nicht eilig, die Grenze abzusichern.

    „Die gehen aus und ein, als wären sie hier zu Hause. Wieso auch nicht, die Grenze steht offen wie eine Tür“, ärgert sich der Mann. „Kürzlich schau ich über die Felder, und da seh ich, wie etwa einen Kilometer weit weg etwas in der Sonne glänzt. Ich seh genauer hin – ein Pickup. Er wendet und beginnt zu schießen, er hatte ein Maschinengewehr oder einen Granatwerfer montiert, keine Ahnung. Die standen da eine Weile und schossen, dann fuhren sie gemächlich wieder zurück. Ohne Angst vor einem Gegenschlag – sie wissen ja, dass da keiner kommt.“

    5. „Wir sitzen den dritten Tag im Keller – für das Land ist Donezk leider wichtiger“

    Ein schwerer Schlag war für die Belgoroder auch das Schweigen der staatlichen Medien zur Lage in ihrer Region. Während sich die Bewohner von Schebekino vor dem Beschuss versteckten, berichteten die Staatssender detailreich von den Erfolgen der russischen Armee rund um Awdijiwka in der ukrainischen Oblast Donezk. 

    „Wir sind denen allen scheißegal. Wir sitzen den dritten Tag im Keller, mein Kind hat schrecklich Angst, kann die ganze Zeit nicht raus. Aber für das Land ist Donezk offenbar wichtiger“, beschwert sich Tatjana aus Schebekino in den sozialen Netzwerken.

    Während sich die Bewohner von Schebekino vor dem Beschuss versteckten, berichteten die Staatssender von den Erfolgen der russischen Armee in der Ukraine

    „Seit dem frühen Morgen hagelt es Raketen, alles brennt. Aber die großen Sender wissen anscheinend nicht mal, dass Schebekino existiert“, empört sich der User Konstantin Seliwanow.

    Der erste russische Fernsehsender Perwy Kanal widmete dem heftigen Angriff auf die Stadt am 27. Mai gerade mal eine Minute. In den Kommentaren zum Social-Media-Auftritt des Senders begannen die Leute zu fordern, dass diese Situation nicht weiter vertuscht wird, aber die Reaktion der Senderleitung beschränkte sich offenbar darauf, das Wort Schebekino zum Tabu zu erklären. Kommentare zum Thema Schebekino wurden entfernt. Findige User fingen an, Schebekino in lateinischer Schrift zu schreiben, um den Filter zu umgehen, aber dann wurde die Kommentarfunktion komplett ausgeschaltet. 

    In den sozialen Medien von Belgorod wurde unter den Hashtags #SchebekinoistRussland und #fürSchebekino zu Flashmobs aufgerufen, um die Aufmerksamkeit der staatlichen Medien zu erregen. „Die halbe Stadt ist zerstört. Keiner will uns verteidigen. Russen, helft uns“, schreibt eine Bewohnerin im Chat und bittet um Verbreitung ihres Appells.

    Die Hartnäckigkeit der Belgoroder hat mittlerweile tatsächlich Früchte getragen. Die staatlichen TV-Kanäle berichten nun doch über Schebekino, widmen dem Thema mehr Sendezeit. Aber wie heißt es so schön – hätten sie doch lieber geschwiegen: Der russische Abgeordnete Andrej Guruljow rief in der Sendung Solowjow Live dazu auf, „anzugreifen und plattzumachen, auch Schebekino … wenn’s sein muss mit Gleitbomben“. Offenbar hält er Schebekino für eine ukrainische Stadt. Und in der politischen Talk-Show 60 Minuten auf dem Sender Rossija-1 konnten sich Putins „Experten“ mit ihren schlauen Gesichtern nicht einmal den Namen der Stadt richtig merken, von der sie sprachen – mal sagten sie Schmjakino, dann wieder Schimekino.

    Das demonstrative Desinteresse seitens der staatlichen Medien macht sogar Bewohner wütend, die der Regierung gegenüber ansonsten loyal sind, hier aber das Gefühl haben, die ganze Oblast würde im Stich gelassen, die Leute würden verarscht und als lebende Schutzschilde missbraucht. Wie sich das auf die Umfragewerte der Regierung in der Region auswirkt, wird man sehen. Aber wohl kaum positiv.

    Es sind jetzt merklich weniger Zetts zu finden – vor einem Jahr noch sah man sie auf Schritt und Tritt

    „Es war interessant zu beobachten, wie nach der Ankündigung der Mobilmachung plötzlich Autos mit Spuren von abgerissenen Z-Stickern zu sehen waren“, erzählt Kristina [Name geändert – The Insider], Journalistin bei einer Belgoroder Zeitung. Sie hat den Eindruck, dass die Mobilmachung die Stimmung in der hiesigen Bevölkerung beeinflusst hat. Belgorod, wo wir Kristina treffen, scheint sich im letzten Jahr tatsächlich verändert zu haben. In etlichen Freiwilligen-Chats beklagten die Administratoren im Frühjahr, dass die Spenden weniger geworden seien. Die hurra-patriotischen Billboards Für Putin und Für Russland wurden stellenweise durch Plakate ersetzt, die dazu aufrufen, Vertragssoldat zu werden. An den Türen der Geschäfte und in den Fenstern von Gebäuden im Zentrum und in der ganzen Stadt sind jetzt merklich weniger Zs zu finden – vor einem Jahr noch sah man sie auf Schritt und Tritt. Heute prangt dafür auf jedem Haus ein Wegweiser zum Schutzraum.   

    6. Schutzraum betreten nur mit Gasmaske

    Das Artilleriefeuer auf Schebekino hat die Frage nach der Verfügbarkeit von Schutzräumen in Belgorod aufgeworfen. Aufgrund der Menge der Hinweisschilder könnte man annehmen, die Behörden seien dieses Thema ernsthaft angegangen. Wie sich jedoch zeigt, blieb es bei den Wandmalereien. Ich suche in dem Wohnblock, in dem ich eine Wohnung gemietet habe, nach einem Schutzraum.

    „Sie schaffen es sowieso nicht bis zu einem Schutzraum, wenn die zu schießen anfangen“, sagt eine Nachbarin. „Wenn die Sirene heult, muss man im nächstmöglichen Haus über die Gegensprechanlage jemanden rufen, und der kommt dann raus und schließt den Keller auf.“ „Ganz ehrlich, mein liebes Mädchen“, mischt sich eine zweite Nachbarin ein, „diese Keller sind so verdreckt, daran sterben Sie schneller als von den Raketen!“

    Der untere Rand der Tür eines Schutzraums in Belgorod steckt in Erde und Geröll / Foto © The Insider
    Der untere Rand der Tür eines Schutzraums in Belgorod steckt in Erde und Geröll / Foto © The Insider

    Nach den Angriffen auf Schebekino hat sich die Situation mit den Belgoroder Schutzräumen nicht verändert, meint die Lokaljournalistin. Und tatsächlich, die Pfeile an den Häusern führen zu Kellern, die abgeschlossen sind.  

    Der „Schutzraum“ sieht aus, als hätte ihn lange keiner mehr geöffnet: Von der kaum anderthalb Meter hohen Tür steckt der untere Rand in Erde und Geröll. Aus dem verschlossenen Keller dringt ein ekelerregender Gestank.

    „Diese Keller sind so verdreckt, daran sterben Sie schneller als von den Raketen“, sagt eine Nachbarin / Foto © The Insider
    „Diese Keller sind so verdreckt, daran sterben Sie schneller als von den Raketen“, sagt eine Nachbarin / Foto © The Insider

    Ein Gemeindebediensteter hilft mir, doch noch in so einen Schutzraum zu gelangen, aber das bereue ich sofort. Die Nachbarin hatte recht: Ohne Gasmaske hält man es in dem Keller maximal eine Minute aus, genauso lang, wie man den Atem anhalten kann. Der Mann, der mir den Keller zeigt, ist vorsorglich draußen stehengeblieben.

    7. „Von Schebekino nach Schebekino evakuiert“  

    Belgorod hat die meisten evakuierten Einwohner von Schebekino aufgenommen. Erst mal in mehrere Auffanglager. In der ersten Nacht schliefen tausende Menschen Schulter an Schulter: Die Betten wurden ganz dicht aneinander aufgestellt, es gab keine Privatsphäre und zu wenig Hygieneartikel und Kindernahrung – die wurden von Freiwilligen gebracht. Jeder hatte eine Fläche von zwei Quadratmetern.  

    Dann wurden die Evakuierten in Wohnheimen der technischen Fachschulen und der Staatlichen Universität Belgorod untergebracht. Dafür wurden allerdings Studenten aus ihren Zimmern geworfen, noch dazu, wie Betroffene erzählten, um zwei Uhr nachts. Ihnen wurden Zimmer mit Kakerlaken und ohne jeglichen Komfort angeboten, und wer protestierte, dem wurde nahegelegt, auszuziehen.

    Viele aus Schebekino wollen nach wie vor nicht wegziehen – und dafür gibt es einen Grund: In so einer temporären Unterkunft kann man ein Jahr oder noch länger festsitzen, wie es Leuten aus dem Grenzdorf Sereda im Stadtgebiet Schebekino passiert ist. Das Dorf wurde gleichzeitig mit zwei anderen – Shurawljowka und Nechotejewka – gleich als erstes evakuiert im Frühjahr 2022. Die Menschen leben immer noch in Auffanglagern. Wegen der Artilleriefeuer können sie nicht nach Hause zurück, aber so viel Geld, dass sie sich eine neue Wohnung kaufen oder wenigstens mieten können, bekommen sie vom Staat nicht.

    Die Regierung tut weiterhin so, als hätte sie die Grenze unter Kontrolle

    Zudem ist es in den Auffanglagern nicht immer ungefährlich. Das Zentrum, in dem die Leute aus Sereda untergebracht wurden, befand sich in Grenznähe und stand daher genauso unter Beschuss. Ein Wachmann kam ums Leben. „Von Schebekino nach Schebekino evakuiert“, hieß es in den sozialen Medien verächtlich. Erst danach wurden die Menschen endlich an einen halbwegs sicheren Ort gebracht. Wobei natürlich niemand weiß, wie lange dieser Ort noch sicher sein wird: In Schebekino hatte auch keiner erwartet, einmal direkt an der Frontlinie zu wohnen.

    Das Auffanglager, in dem die Leute aus Sereda untergebracht wurden, befand sich in Grenznähe und stand daher genauso unter Beschuss / Foto © The Insider
    Das Auffanglager, in dem die Leute aus Sereda untergebracht wurden, befand sich in Grenznähe und stand daher genauso unter Beschuss / Foto © The Insider

    Die Behörden könnten die Situation für die Bewohner verbessern, indem sie in der Oblast den Notstand ausrufen. In diesem Fall bekämen kinderreiche Familien 15.000 Rubel [etwa 165 Euro – dek], alle anderen 10.000 Rubel [etwa 110 Euro – dek] für die Miete einer Wohnung. Aber noch kann davon keine Rede sein: Die Regierung tut weiterhin so, als hätte sie die Grenze unter Kontrolle und als gäbe es auf russischem Staatsgebiet keinen Krieg.

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    Seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine sind im Runet tausende Spendenaufrufe zur Finanzierung der russischen Streitkräfte erschienen. Neben Medikamenten und warmer Kleidung bitten die Verfasser dieser Spendenaufrufe auch um Geld für den Kauf von Drohnen, Nachtsichtgeräten, Helmen, Zielfernrohren und Zubehör für Handfeuerwaffen. 

    Wer sind diese Leute, die Geld für militärische Ausrüstung sammeln – und was treibt sie an? Eine Recherche des Internet-Mediums The Insider, unterstützt von dekoder (mit engl. UT).

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     „Durchgedrehter Drucker 2.0“ – so haben zahlreiche unabhängige Medien in Russland Ende 2020 die Staatsduma bezeichnet, nachdem sie wieder wie am laufenden Band eine Reihe repressiver Gesetze ausgespuckt hat. Die Bandbreite reicht von weiterer Einschränkung der Versammlungsfreiheit über weitere Restriktionen für NGOs bis hin zur Verschärfung des sogenannten Agentengesetzes

    In diese Atmosphäre platzte am gestrigen Mittwoch, 13. Januar, die Nachricht von Alexej Nawalny: Der Oppositionspolitiker kündigte an, am kommenden Sonntag nach Russland zurückzukehren. Nach einer Nowitschok-Vergiftung befindet sich Nawalny seit Ende August in Deutschland. Nun hat er sich ein Ticket gebucht und fliegt zurück mit der Fluggesellschaft Pobeda, deutsch: Sieg. 

    Solchen metaphorischen Optimismus kann Wladislaw Inosemzew nicht teilen. Für den Wirtschaftswissenschaftler ist die Überführung der mutmaßlichen Gift-Attentäter zwar das Ereignis des Jahres 2020, weil sie dem Kreml einen empfindlichen Schlag verpasst hat. In The Insider argumentiert Inosemzew, dass dies aber nur ein trügerischer Sieg gewesen sei. Und dass 2021 mit einer vernichtenden Niederlage der Opposition enden wird.

    Anfang 2021 stehen die Dinge ziemlich klar. Die russische Gesellschaft gliedert sich in drei Teile: Der erste sind die Dissidenten – Menschen mit einem modernen/europäischen Weltbild, die grundlegende humanistische Werte teilen, Gewalt und Rechtlosigkeit ablehnen und gegen die Einschränkung ihrer politischen Freiräume protestieren. 
    Momentan zeichnen sie sich einerseits durch ihre hohe Gesetzestreue aus (niemand ruft zum gewaltsamen Sturz der Regierung auf, ja nicht einmal zu nicht genehmigten Protestaktionen), andererseits durch ihr Vertrauen in die „virtuellen“ Kampfmittel (Postings, Videos, Likes, Aktivität in den Sozialen Netzwerken). Das verbindet sie mit den Dissidenten der 1970er Jahre. Die hatten von der Sowjetmacht gefordert, sich an die von ihr erlassenen Gesetze zu halten; allerdings ist offenkundig, dass solche Forderungen derzeit gar nicht aktuell sein können, da die gegenwärtige Regierung die Gesetze nach Lust und Laune ändert.

    Der zweite Teil der Gesellschaft, das sind die Machthaber, die übergeschnappt sind vor lauter Befugnissen, Reichtum und Gesetzlosigkeit. Dabei handelt es sich nicht nur um einen Einzelnen und sein engstes Umfeld. Das Land ist längst von einer großen Gruppe von Personen privatisiert worden, die es als ihr Eigentum betrachtet und nicht beabsichtigt, sich von diesem „Besitz“ zu trennen. Die Regierung stützt sich auf Massen von Menschen, die unfähig sind, etwas zu erschaffen, aber „ihren“ Teil des allgemeinen Reichtums einfordern, dafür, dass sie die Gesellschaft in Schach halten. Ein vergleichbares Ausmaß sehen wir im benachbarten Belarus, in Russland könnte es allerdings noch größer werden, bedenkt man, wie viel Vermögen von dieser mächtigen Gruppe kontrolliert wird.

    Ungeachtet des Spotts der Dissidenten und der Vorhersagen eines baldigen Zusammenbruchs hat die russische Machtriege im vergangenen Jahr viel erreicht: Sie hat die wesentlichen, formalen Hürden beseitigt und sich einen unbegrenzten Machterhalt gesichert, die Bürgerrechte signifikant eingeschränkt (wobei bis dato, so möchte ich Sie erinnern, eine Großzahl der kürzlich und vor längerer Zeit verabschiedeten Gesetze noch nicht einmal zur Anwendung kam), sie hat ihr Kapital in Sicherheit gebracht und musste keine Proteste der Bürger wegen der verschlechterten Wirtschaftssituation erdulden.

    Das einfache Volk: vor allem damit beschäftigt, zu überleben

    „Die Dissidenten“ und „die Macht“ sind zwei widerstreitende soziale Minderheiten. Die dritte Gruppe übersteigt sie in der Zahl beträchtlich – es ist das einfache Volk: Menschen, die vor allem damit beschäftigt sind, zu überleben (wir sprechen hier nicht zwangsläufig von Armut, denn das Überleben stellt in unserem Land nicht bloß für Arbeiter und Rentner eine Herausforderung dar, sondern auch für die meisten Unternehmer: Der angestrebte Lebensstandard kann unterschiedlich hoch sein, aber die Handlungstaktik ist stets dieselbe). 
    Dieser Teil der Gesellschaft nimmt selten am politischen Kampf teil – das war übrigens schon immer und überall so. Mit den wenigen Ausnahmen, wenn es darum ging, sich von einer Regierung zu befreien, die dem Volk im Kern fremd war (wie in den baltischen Staaten, als sie das kommunistische Regime stürzten), oder wenn die Regierung einem schlichten und nachvollziehbaren Ziel grundlegend im Wege stand (wie der Annäherung der Ukraine an Europa). Aber wenn es weder eine von außen oktroyierte Macht noch eine attraktive, greifbare Alternative gibt, ist eine Mobilisierung dieser Gruppe äußerst unwahrscheinlich.

    Zuckerbrot und Peitsche

    Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind sich die Machthaber dieser Tatsache bewusster als die Dissidenten. Sie urteilen nach den mickrigen Teilnehmerzahlen bei den Straßenprotesten, während die Dissidenten falsche Vorstellungen entwickeln aufgrund der Klicks auf YouTube, die von einer bequemen Couch oder einem warmen Bett aus gesetzt wurden. Daher wird der Kreml die Bevölkerung wohl in einem bescheidenen Ausmaß unterstützen (er weiß, dass die Ressourcen für viele Jahre ausreichen müssen und man dem Volk einmal zugesicherte Sozialleistungen nicht wieder entziehen kann) – gleichzeitig wird er mit maximaler Härte gegen dissidentische Bestrebungen vorgehen, um sie im Keim zu ersticken. 

    2021 wird in meinen Augen ein Jahr des erbitterten Kampfes zwischen den Dissidenten und der Macht. Und dieser wird leider nicht mit der Flucht entlarvter Staatsbeamter, einem Verbot des FSB, Amtsenthebungen der Silowiki und einer Auslieferung von Putin nach Den Haag enden, sondern mit einer kolossalen Niederlage der Dissidenten – weil die Daumenschrauben angezogen werden, ein wesentlich konservativeres Parlament zusammengesetzt, die Zensur verschärft und die Zahl der Auswanderer rapide zunehmen wird. Es fällt mir nicht leicht, diese Prognose zu machen, aber ich sehe keinen Anlass für eine andere. Durch die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit ist fast ausgeschlossen, dass die Eliten zurückrudern oder es zu einer internen Spaltung kommt. 

    2021 wird ein Jahr des erbitterten Kampfes zwischen den Dissidenten und der Macht

    Die russische Politik steuert seit 1993 geradewegs auf 2021 zu – nun plötzlich eine Wende nach „links“ oder „rechts“ zu erwarten, ist gelinde gesagt naiv. Die Dissidenten wurden ja nicht nur aus den Machtstrukturen verdrängt, sondern in vielen Fällen auch aus dem Land. 

    Offen ist die wichtige Frage, ob die russische Jugend, die in einem Zeitalter der totalen Kommerzialisierung großgeworden ist, die damit einhergehenden Wertvorstellungen auch im philosophischen und nicht nur im finanziellen Sinne teilt. Der Machtblock, seine fehlende Bereitschaft, Fehler einzugestehen, zurückzurudern und die absolute Unmöglichkeit, seine unzähligen Regionalfürsten in eine moderne Gesellschaft zu integrieren – das alles deutet auf einen Krieg hin, bei dem es nicht ums Leben, sondern um den Tod geht. 

    Unter diesen Umständen kann 2021 ein Jahr werden, in dem die Machthaber – nachdem die Gesellschaft die pandemische Erstarrung überwunden hat – über die Unzufriedenen das ganze in den letzten Jahren akkumulierte Arsenal an Maßnahmen schütten. Das Urteil gegen Julia Galjamina, die Nötigung der FBK-Aktivisten zum Wehrdienst auf Nowaja Semlja, die Geldstrafen und tagelangen Haftstrafen wirken dagegen geradezu niedlich. Zum Einsatz kommen dann das Gesetz gegen ausländische Agenten, Prozesse unter Ausschluss der Öffentlichkeit, Haftstrafen wegen Verleumdung und Beleidigung staatlicher Amtsträger und vieles mehr. Bedenkt man, wie viele rechtswidrige Urteile in den letzten Jahren gesprochen wurden, ohne dass eine Welle des öffentlichen Protests folgte, wird schnell klar, wie einfach es für die Regierung sein wird, den Druck auf die Dissidenten zu erhöhen.

    Keine Revolutionen

    Große Veränderungen fanden in Russland im 20. Jahrhundert nur in zwei Situationen statt. 

    Einmal begannen sie, als innerhalb der Machtelite ein Bewusstsein dafür entstanden war, dass Veränderungen notwendig waren, woraufhin sich eine legale Opposition herausbildete. Zur Februarrevolution von 1917 war es gekommen nach den ersten Duma-Wahlen, nach Einführung der Pressefreiheit und der Bildung verschiedener politischer Parteien. Zum Sommer von 1991 führte die Verkündung von Perestroika und Glasnost, die Durchführung demokratischer Wahlen 1989 und die Entstehung verschiedener „Plattformen“ innerhalb der KPdSU. Es lief stets unterschiedlich ab – doch die großen politischen Veränderungen waren stets „Revolutionen von oben“ und nichts anderes. Heute lässt sich „oben“ nichts Vergleichbares beobachten, im Gegenteil: Menschen, die einmal an die Macht gekommen sind, rücken trotz ziemlich unterschiedlicher Ansichten immer näher um den Herrscher zusammen.

    Außerdem gibt es die bekannte bolschewistische Praxis des „Widerstandsrechts“, doch diese ist heute aus zweierlei Gründen nicht anwendbar: Zum einen war die zweite Revolution von 1917 die Fortführung der „Wirren“ von 1905 bis 1907, und in der jüngsten Geschichte Russlands ist nichts Vergleichbares zu beobachten. Zum anderen – und das ist sogar wichtiger – hat sich beim Volk im Laufe des letzten Jahrhunderts eine Ablehnung von Massengewalt herausgebildet, deswegen ist es sinnlos, die Mittelschicht in den Großstädten auf die Barrikaden zu rufen. 
    Außerdem muss uns sehr bewusst sein, dass die Menschen heute über ein nie dagewesenes Ausmaß an Freiheit jenseits der Politik verfügen (man kann den Fernseher ausschalten, sich nur noch mit Gleichgesinnten treffen, Geld verdienen und notfalls sogar das Land verlassen), deswegen wird der politische Druck nicht als wesentlich empfunden und zieht keine Massenproteste nach sich. 

    Leere Portemonnaies trennen die Leute

    Relevant ist auch die spezifische Wirtschaftssituation. Manchmal stoße ich in Zeitungen oder Blogs auf die These, die wirtschaftlichen Probleme würden das Fass zum Überlaufen bringen (dort wird dann an die leeren Regale in der Sowjetzeit erinnert, die den endgültigen Zusammenbruch des Systems herbeigeführt haben, und man glaubt, heute würde die Armut dasselbe bewirken). Das ist illusorisch. Sowohl Anfang 1917 als auch Ende der 1990er waren die Geschäfte leer – und das war ein Beweis für den Bankrott des Systems. Doch 2020 bersten die Geschäfte vor Waren, und die Unfähigkeit, diese zu erwerben, beweist nichts als die Zahlungsunfähigkeit des Einzelnen. Leere Geschäfte verbinden die Menschen untereinander, leere Portemonnaies trennen sie. Aus genau diesem Grund gab es die letzten Proteste mit linken Losungen im postsowjetischen Raum in der ersten Hälfte der 1990er Jahre. 

    Keine Chance, die herrschende Clique loszuwerden

    Ich kann verstehen, wenn meine Position viele aufrichtige und mutige Menschen ärgert, die nicht schweigen, sondern für die Freiheit der Russen kämpfen, dafür, dass sich Russland in eine demokratische, europäische Richtung entwickelt. 
    Ich kann verstehen, dass sie in jedem diskreditierenden Fehltritt der Regierung, in jeder Entlarvung Putins, in jedem Sanktionspaket gegen seine Mittäter die Funken für Veränderungen sehen wollen. 
    Und doch bleibe ich bei meinem Standpunkt, den ich vor fünf, und auch schon vor zehn Jahren hatte, nämlich, dass es keinerlei Chancen gibt, die herrschende Clique loszuwerden – weder 2021 noch in den darauffolgenden Jahren. 
    Was immer wir hinter bestimmten Ereignissen zu sehen glaubten, die letzten zwanzig Jahre standen unmissverständlich im Zeichen eines Abrutschens in den Autoritarismus. Das Licht am Ende des Tunnels, das kurz in der Bloßstellung Putins durch Nawalny aufleuchtete, kann auch die Sonne von Austerlitz gewesen sein, die nach einem weiteren Sieg des kleinwüchsigen Diktators bald wieder über dem Schlachtfeld erstrahlt. 

    Vor sechs Jahren schrieb ich, dass die wirtschaftliche Stagnation und die politischen Probleme das Regime nicht zerstören werden, dass dieses erst abgelöst wird, wenn es für die Mächtigen nicht mehr profitabel genug ist, Russland zu beherrschen. Leider ist unser Land immer noch zu reich, um dies in naher Zukunft zu erwarten …

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  • Russland – coronaresistent?

    Russland – coronaresistent?

    Der Propagandaapparat der russischen Staatsmedien läuft in Corona-Zeiten auf Hochtouren: Der Virus, so heißt es oft, sei eine biologische Waffe der USA gegen China (oder Iran oder Russland). In der EU herrsche Chaos, die Menschen seien auf sich selbst gestellt, die aufziehende Wirtschaftskrise werde massive Opfer fordern. Insgesamt sei das liberal-demokratische System am Ende, die Ohnmacht der westlichen Politiker gleiche einer Bankrotterklärung.

    Laut Staatsmedien gibt es jedoch eine Lösung: Wenn der Westen seine Sanktionen aufhebt, dann könnten China und Russland die restliche Welt retten. China habe bereits eindrückliche Erfolge im Krisenmanagement nachgewiesen, und Russland habe sowieso alles unter Kontrolle: Offiziell gibt es keine Corona-Toten und auch die vergleichsweise niedrige offizielle Zahl von 438 Corona-Infizierten sei Zeugnis für die umsichtige Politik des Kreml.

    Viele russische Experten jedoch zweifeln sowohl diese Zahlen an als auch die Wirksamkeit der bislang beschlossenen Maßnahmen gegen den Coronavirus. Auch Wassili Wlassow gehört dazu: In The Insider fragt der Epidemiologe nach der Verlässlichkeit russischer Statistiken – und ob die Gesundheitspolitik des Landes tatsächlich gewappnet ist für die Pandemie. 

    Russische Statistiken sollte man weder für zutreffend noch für vertrauenswürdig halten. Sogar die Statistiken zu Geburten- und Sterberaten sind in Russland unzuverlässig. Russische Demographen, die im internationalen Vergleich zu den Bestqualifizierten auf ihrem Gebiet gehören, haben die Zuverlässigkeit der Statistiken zu Geburtenraten und Sterblichkeit untersucht und kamen zu dem Schluss, dass man lediglich den Ganzjahresergebnissen vertrauen könne. Die Quartalsergebnisse dagegen seien äußerst zweifelhaft und würden teilweise ganze Regionen aussparen. Und dies, obwohl wir es hier mit langsamen Entwicklungen und gut berechenbaren Ereignissen zu tun haben: Geburt und Tod. Doch sogar diese Daten schwanken, und es ist oftmals nicht nachzuvollziehen, wo der Fehler liegt. Darüber hinaus gibt es sogar hier Raum für Manipulation.

    Noch keine Corona-Routine

    Was die derzeitige Situation betrifft, so ist sie erstens viel weniger geregelt und sehr viel ungenauer einzuschätzen. Das liegt daran, dass jede Statistik auf entsprechenden Daten beruht. Diese statistischen Daten werden in regelmäßigen Abständen erhoben – einmal im Monat oder einmal in der Woche. Daten zu epidemischen Erkrankungen – wie Tuberkulose, Ruhr und so weiter – werden routinemäßig häufiger erhoben. Ich bin jedoch sicher, dass das Coronavirus nicht dazugehört und daher noch keine tägliche Routine besteht. Wahrscheinlich wissen die Menschen, dass sie jeden Tag berichten müssen, nur ist es noch keine alltägliche Routine. 

    Zweitens herrscht in allen Regionen ein Kampf. Und je nachdem, was im Kopf eines Funktionärs im Gesundheitsamt vorgeht, kann er den Informationsstrom verlangsamen oder die Dinge anders darstellen als sie sind. Es gibt viele Gründe, Meldungen zurückzuhalten oder Fakten absichtlich zu verzerren.

    Probleme mit der Diagnostik 

    Und schließlich drittens: Es gibt sowohl in Russland als auch in anderen Ländern Probleme mit der Diagnostik. Wenn sich eine Epidemie ausbreitet, so stellt man die Zahl der Erkrankten fest, indem man diejenigen Personen erfasst, die mit ihren Symptomen den „Normkriterien“ entsprechen. Zunächst fällt unter diese Definition ein Mensch, der sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort aufhielt und nun unter Fieber und trockenem Husten leidet – dann wird er statistisch erfasst. Mit dem Aufkommen neuer diagnostischer Mittel verändert sich die Definition der Normkriterien jedoch, und es kommt zu einer Neuberechnung. Wenn man sich die Grafiken über die Entwicklung in China anguckt, kann man sehen, dass die Zahl der Erkrankten um den 8. Februar herum einen Höhepunkt erreicht. Und warum? Weil die Chinesen ihre Normkriterien neu definiert haben, woraufhin Menschen, die mit ihren Symptomen am Tag zuvor der Definition der Krankheit noch nicht entsprachen, plötzlich ebenfalls in die Kategorie fielen.

    Die Fallzahlen sind noch nicht allzu hoch, aber um die Entwicklung einzuschätzen, schauen wir uns an, mit welcher Geschwindigkeit die Zahlen steigen. Derzeit erleben wir einen raschen Anstieg der Erkrankungsfälle, wir haben zur Zeit eine sehr hohe Wachstumsrate. Die Anfangsphase einer Epidemie ist durch exponentielles Wachstum gekennzeichnet. Während die Verdopplungszeit der Fälle bei den schweren Epidemien in Europa, in Italien und Frankreich, drei bis fünf Tage betrug, betrug sie bei uns in den letzten Tagen, in denen der Anstieg der Zahlen begann, weniger als zwei Tage. Das bedeutet, dass in zehn Tagen die Zahlen um das Tausendfache zunehmen werden.

    Manipulation von Meinung 

    Darüber hinaus möchte ich noch einmal unterstreichen, dass wir den Zahlen, die uns vorliegen, nicht uneingeschränkt vertrauen können. Kürzlich sagte der angesehene Politologe Waleri Solowei, man habe ihm zugetragen, dass bereits 1600 Menschen [in Russland – dek] am Coronavirus gestorben seien. Er verweist sehr oft auf unbekannte Staatsdiener, die ihm Informationen „zugespielt“ hätten. So auch diesmal. Wie können wir sicher sein, dass er nicht selbst Opfer von Fehlinformationen ist? Umso mehr, da die Situation im Land momentan so ist, dass man aus politischen Erwägungen die öffentliche Meinung gezielt manipulieren kann. 

    Als Beispiel für eine solche Manipulation kann man den Erlass sehen, am 22. April über die Verfassungsänderung abzustimmen. Dies ist auch eine Folge dessen, dass die Regierung so stark ist – in jedem beliebigen Moment kann sie sagen: „Kommt, wir verschieben es um einen Monat. Das kostet uns ein paar Milliarden, aber was soll’s.“ Den Obersten ist das egal, sie können die Dinge jederzeit ändern, wenn sie wollen.

    Ist der Virus in Russland weniger bösartig?

    Es ist unmöglich, Vorhersagen darüber zu treffen, wie sich die Situation in Russland entwickeln wird: ob so ähnlich wie in Italien oder schlimmer. Jeder, der sich darüber mit Überzeugung äußert, ist ein Schwachkopf. Erstens herrscht eine starke Ungewissheit hinsichtlich der Zahl der Erkrankten. Zweitens, wenn sich die Epidemie bei uns tatsächlich langsamer ausbreitet und die Daten stimmen sollten, kann dies zum Beispiel auch bedeuten, dass wir eine weniger bösartige Form des Virus haben. Der Virus mutiert schnell, seit November sind mehr als 20 Mutationen aufgetreten. Die Italiener haben möglicherweise eine besonders bösartige Form und die Koreaner vielleicht nicht.

    Das Problem ist auch, dass die Möglichkeit unseres Gesundheitssystems, Massen von schwerkranken Patienten zu behandeln, gegen Null geht. Darüber hinaus haben wir ein sehr schlechtes Verwaltungssystem. So befindet sich zum Beispiel das epidemiologische Kontrollzentrum beim Rospotrebnadsor, während die Gesundheitsversorgung dem Gesundheitsministerium untersteht. Dieses wird jedoch nicht gerade von Experten geführt.

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  • Putin, der geheimnisumwobenste Reiche auf der Welt

    Putin, der geheimnisumwobenste Reiche auf der Welt

    Ende Februar hat das Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten den sogenannten Vladimir Putin Transparency Act beschlossen. Die Aufgabe des Gesetzes H. R. 1404 besteht darin, mutmaßliche korrupte Machenschaften des russischen Präsidenten aufzudecken. Als Antwort auf russische Einmischung in US-Wahlen werden damit die Nachrichtendienste beauftragt, Vermögenswerte von Wladimir Putin zu durchleuchten, die er sich laut Verdacht gesetzeswidrig aneignete.
    In Russland wird schon seit Jahren gemunkelt, dass Putin sich seit dem Amtsantritt im Jahr 2000 märchenhafte Reichtümer angehäuft habe. Einige meinen, dass er sogar der reichste Mensch der Welt sei. Beweise für solche Thesen gibt es nicht. Dass die US-Nachrichtendienste sie nun durch das Gesetz H. R. 1404 erbringen werden, ist aber zweifelhaft. Das meint der Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew. Auf The Insider argumentiert er, warum der Transparency Act aber dennoch durchschlagend sein wird.

    Putin ist äußerst wohlhabend – daran zweifelt keiner, weder in Russland noch sonstwo auf der Welt. Und die finanziellen Mittel, die er nach Lust und Laune in Bewegung setzen kann, stehen in keinerlei Beziehung zu seinen offiziellen Einkünften. Die Schätzungen über Putins Privatvermögen liegen in den letzten Jahren zwischen 40 und mehr als 200 Milliarden US-Dollar. Doch keiner von denen, die diese Schätzungen abgaben, lieferte Informationen zur Methode oder nannte konkrete Vermögensgegenstände und zuständige Gerichtsstände. (Genau deshalb weigert sich die Zeitschrift Forbes konsequent, Putin in ihre Listen der reichsten Menschen der Welt aufzunehmen.) Wobei sogar offizielle Vertreter westlicher Regierungen offen gesagt haben, sie wüssten, dass Putin korrupt sei und würden diesen Umstand in ihrer Arbeit als gegeben sehen und berücksichtigen. Gleichzeitig bezweifle ich stark, dass die nun begonnene Untersuchung etwas Konkretes zutage bringen wird – vor allem angesichts der Fragestellung.  

    Putins Privatvermögen liegt Schätzungen zufolge zwischen 40 und mehr als  200 Milliarden US-Dollar

    In dem kürzlich erlassenen Gesetz des US-amerikanischen Kongresses heißt es, dass laut Meinung „externer Experten“ Putins Vermögen „im Milliardenbereich“ liege und maßgeblich von den offiziellen Zahlen über seine Einkünfte abweiche. Diese Behauptung wirkt schwach, denn sie ist nicht mehr als eine Hypothese. Die Suche und namentliche Auflistung „rechtmäßig oder widerrechtlich erworbenen Vermögens“, das „Putin und seinen Familienmitgliedern gehört“, ist, wenn man es wörtlich nimmt, nicht machbar.  
     
    Russlands Beamte haben in den vergangenen Jahren das letzte Bisschen an Vorsicht abgelegt – das unterstreicht auch ihre [dutzendfache – dek] Präsens in den sogenannten Panama Papers. Allerdings betrifft das nicht den Präsidenten Russlands. Seine angeborene Wachsamkeit hat sich wahrscheinlich nur noch verstärkt durch die Ermittlungen, die noch in den 1990ern in Russland gegen ihn liefen: Seinerzeit ging es um mutmaßliche Verbindungen zu kriminellen Strukturen sowie um eine enorme Zahl ihm persönlich ergebener Personen, die er in politische Ämter brachte und zu Superreichen machte. All das gibt Anlass zu der Annahme, dass Putins Vermögenswerte auf Privatpersonen und Firmen ausgestellt sind, die sich urkundlich nicht mit ihm oder seinen Verwandten in Verbindung bringen lassen. 

    Im Unterschied zu einem gewöhnlichen korrupten Beamten in Russland, der seine „blutig erkämpften Verdienste“ vor allem vor den russischen Silowiki zu verstecken sucht, geht es dem russischen Präsidenten in erster Linie um die Sicherheit seines Vermögens vor äußeren Mächten. Putin ist sich gewiss im Klaren darüber, welche Aufmerksamkeit seine Person erregt und wie angreifbar das westliche „Bankgeheimnis“ ist, wenn es um die Machenschaften eines korrupten Politikers seines Ranges geht. Was die Haltung ihm gegenüber in den Hauptstädten der Welt betrifft, hegt er, erst recht seit 2014, keine Illusionen. Putins Geld auf westlichen Banken zu finden, würde daher niemandem gelingen.

     Putin kann nicht davon ausgehen, im Ausland sicher zu sein

    Zweitens dürfen wir nicht vergessen, dass besonders diejenigen Politiker ihr Vermögen gern im Ausland ansparen, die sich Sorgen um den Fortbestand des eigenen Regimes machen und gleichzeitig keinen Zweifel an der Möglichkeit haben, selbst relativ sicher ins Ausland flüchten zu können (so war es etwa bei Mobutu, Ben Ali, Marcos und Reza Pahlavi). Das kann man im Fall von Putin nicht behaupten – in den letzten Jahren hat er in der Außenpolitik etliche abenteuerliche Schritte unternommen und kann daher nicht davon ausgehen, im Ausland sicher zu sein.  

    Das Gesetz H. R. 1404 lässt sehr viel Interpretationsspielraum, indem es US-amerikanische Amtspersonen anweist, Vermögensgegenstände zu untersuchen, die „unter W. Putins Kontrolle stehen, auf die er Zugriff hat oder die in seinem Interesse verwendet werden können“. Das und nur das kann in meinen Augen Gegenstand tatsächlicher Ermittlungen sein. Bestenfalls gelingt es also, nicht die Höhe des Vermögens zu messen, das dem russischen Präsidenten persönlich gehört, sondern das Ausmaß seines „wirtschaftlichen Einflusses“, der eine unbestrittene Tatsache ist. 

    Das Ausmaß von Putins wirtschaftlichem Einfluss

    Wird der Kongressbeschluss vom staatlichen Geheimdienst, dem Finanz- und dem Außenministerium ausgeführt, kann ein breites Bild davon entstehen, wie sich Russlands Präsident alle Staatskonzerne unterworfen hat. Binnen zweier Jahrzehnte hat er seinen Freunden und Vertrauensleuten Eigentum im Wert von zig Milliarden US-Dollar in die Hände gespielt, das früher dem Staat gehörte; er hat ein gewieftes System zur Verteilung staatlicher Mittel zugunsten seiner Vertrauensleute geschaffen, den Beschluss und die Anwendung von Gesetzen bewilligt, die „ihm nützlichen Personen“ eine grenzenlose Bereicherung ermöglichten; er hat Mittel aus der Staatskasse zu persönlichen Zwecken verwendet und um seinen Verwandten Annehmlichkeiten zu verschaffen, und er tut das weiterhin. Die Systematisierung dieser Informationen wird für Amerika keinen besonderen Aufwand bedeuten, das Ergebnis wird der naheliegende Schluss sein: Putin hat aus Russland ein Werkzeug gemacht, mit dem er für sich und die Seinen ein Leben im Wohlstand sicherstellt. Jedoch werden zwei grundlegende Probleme dadurch nicht von der Tagesordnung gestrichen.  

    Russland als Werkzeug zur Wohlstandssicherung 

    Einerseits hat in Russland das Thema Korruption meiner Meinung nach längst seine Aktualität eingebüßt. Kaum jemand bezweifelt, dass Putin einer der reichsten Menschen im Land ist – als etwas Unerhörtes wird das nicht wahrgenommen. Putins Kontrolle über gigantische Finanzströme werden die Russen immer mit den Besonderheiten der Verwaltung ihres Landes rechtfertigen. Und selbst wenn jemand beweist, dass der Präsident über Mittelsmänner zum Beispiel eine Kontrollmehrheit über den geheimnisvollen Konzern Surgutneftegas innehat, so wird dieses Aktiv als „Airbag“ für das Land als Ganzes angenommen. 

    Meiner Einschätzung nach werden Informationen aus dem Ausland über die Reichtümer des russischen Präsidenten in keiner Weise seine Legitimität innerhalb Russlands beeinträchtigen. 

    Das westliche Establishment wird die Wichtigkeit der Beziehungen zum Kreml zusätzlich begründen müssen

    Andererseits kann der Westen auf weitere Beweise für Putins Korruptheit stoßen – obwohl diese auch jetzt nicht bezweifelt wird. Und trotzdem wird weiterhin Kontakt zum russischen Staatschef gehalten und das wird mit der wichtigen Rolle erklärt, die Russland in der internationalen Politik spiele. Ich kann mir schwer vorstellen, dass sich nach der Analyse des vom Nachrichtendienst gesammelten Materials der Umgangston westlicher Politiker mit Putin ändern wird. Eher umgekehrt: Wenn die Erstellung dieses vom Kongress geforderten Berichts jemandem das Leben schwer macht, dann dem Establishment Amerikas und Europas, das die Wichtigkeit ihrer Beziehungen zum Kreml zusätzlich wird begründen müssen. Und es wird sie begründen, da bin ich persönlich ganz sicher.  

    Ich komme also zu dem Schluss, dass das Ergebnis dieser Untersuchung Licht auf die Geschäfte von Putins nächstem Umfeld werfen wird und darauf, wohin die daraus erzielten Gewinne fließen und/oder wohin sie konvertiert werden. Es werden massenhaft mit Geldwäsche betraute Mittelsmänner auftauchen (in letzter Zeit spricht man auch ohne spezielle Untersuchung von ihnen, wie im Fall von Troika Dialog), und es werden die nominellen Halter von milliardenhohen Summen festgestellt werden, deren Herkunft auf die eine oder andere Art Russland zu verdanken ist. Aber mehr werden die Amerikaner nicht erreichen. Putin ist und bleibt der geheimnisumwobenste unter den reichsten Menschen des Planeten … 

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  • „Die Tschechoslowaken waren selbst schuld“

    „Die Tschechoslowaken waren selbst schuld“

    Im August 1968 haben die Truppen des Warschauer Pakts dem sogenannten Prager Frühling, Reformbestrebungen in der Tschechoslowakei, ein jähes Ende bereitet. Wie das russische Staatsfernsehen Rossija 1 zum 50. Jahrestag am 21. August 2018 darüber berichtete, das analysiert Alexander Morosow auf The Insider.

    Zu [Prag] 1968 ist viel publiziert worden: Die Dokumente des Politbüro und des KGB, Erinnerungen, Foto- und Videosammlungen, jeder kann die Mitschriften der langen Telefonate zwischen Breshnew und Dubček nachlesen, auch sie wurden veröffentlicht. 
    Womöglich ist die Geschichte dieses Einmarsches das für die breite Leserschaft am besten dokumentierte und offen einsehbare politische Ereignis des 20. Jahrhunderts, jedenfalls auf russischer Seite. Und voilà, es kann sich nun jeder, der sich den neunminütigen Beitrag des wichtigsten russischen Fernsehsenders zum „Jubiläum“ anschaut, selbst davon überzeugen, wie einfach es ist, das Puzzle der einzelnen Episoden derart zu verschieben, dass ein völlig neues Bild entsteht.

    Die Tschechoslowaken sind selbst schuld

    Dabei kann man sehr grob vorgehen, wie das Autoren kleinerer Veröffentlichungen tun, oder dezenter, wie der Chef des Europa-Büros von Rossija. Aber das Ergebnis geht in dieselbe Richtung: Die Tschechen [Tschechoslowaken – dek] sind „selbst an allem schuld“. 
    Sei es Dubček, der die Kontrolle verloren hatte, seien es die Dissidenten, die ja auf Weisung des CIA gehandelt haben, seien es die Tschechen insgesamt, die zu große Veränderungen gefordert haben – der Reformprozess hätte langsamer eingeleitet werden müssen (dazu wird in dem Beitrag ein kurzes Interview mit der tschechischen Journalistin Procházková gebracht), sei es die Atmosphäre 1968 in Europa – auch die habe sich negativ ausgegewirkt.
    Schiebt man beim Legen dieses Puzzles bestimmte Teile weit weg, etwa den Entscheidungsprozess in Moskau, die Reformideen, die in der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei erörtert wurden, die gleiche militärische Einmischung in Budapest im Jahr 1956 und lässt – last but not least – die historische Perspektive (sprich, die Samtene Revolution des Jahres 1989) völlig außer Acht, dann ergibt sich ungefähr jenes Bild, das der Kreml und seine Medien heute präsentieren:
    Schauen Sie: eine tragische Episode in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, die Tschechen haben das selbst zu verantworten, wollen das aber nicht zugeben, ja mehr noch, sie „verhöhnen die Erinnerung“: Seht nur, sie haben einen Panzer der Befreier rosa angemalt! Ihr Verhältnis zur Geschichte ist ein postmodernistisches, unseres ein trauerndes, heldisches, und wir bedauern, dass das Brudervolk so auf dem Holzweg ist.

    Jeder weiß, selbst bei einer Unterhaltung in der Elektritschka wird der Gesprächspartner gerne zugeben, dass in dieser Interpretation einige historische Fakten nicht ganz korrekt dargestellt sind. Gleichzeitig wird er jedoch abwinken und sagen: „Wenn wir nicht eingegriffen hätten, dann wären Soldaten der NATO gekommen.“ Dieses Argument hat sich mittlerweile auf die Geschichte insgesamt ausgebreitet, es dient als schlussendliche Rechtfertigung jeglicher Handlungen jeglicher russischer Herrscher.

    Um eine Aggression zu rechtfertigen, muss man Grenzen als bedingt denken

    Hier sind vier Positionen zu differenzieren: das Bewusstsein der breiten Bevölkerung, revisionistische Historiker, die Medienmacher des Kreml, und der derzeitige Kreml selbst. 
    Für den normalen unpolitischen Menschen sind solche Beiträge eine große Versuchung. Nach der Krim ist das Leben in der Geschichte unbequem geworden. Eine militärische Intervention in das Leben eines anderen Volkes zu heroisieren, fiel der Bevölkerung sogar in der Sowjetzeit schwer – das galt für die Zeit des Finnischen-Sowjetischen Kriegs und für Afghanistan. Es musste eine Erklärung gefunden werden, die einen mit der Realität versöhnt.
    Heroismus zum Schutz der eigenen Grenzen wird nicht in Frage gestellt. Ein Truppeneinmarsch, um andere zu erobern oder Unerwünschtes zu unterdrücken, stößt hingegen auf inneren Widerstand. Um eine Aggression zu rechtfertigen, muss man Grenzen als bedingt denken, und erklären, dass sie nicht mit denen auf der Landkarte übereinstimmen. 
    Genau das geschieht derzeit: Die imaginierte Grenze verläuft wieder nicht so wie auf der realen Karte, und überall, wo die imaginierte Russki Mir (dt. „Russische Welt“) liegt, stößt sie mit der imaginierten NATO zusammen.

    Revisionistische Historiker konstruieren bekanntermaßen häufig jahrelang alternative Beschreibungen der Realität, einfach in dem Bestreben, dem Mainstream etwas entgegenzusetzen.
    Solange das nicht von Propagandamachern aufgegriffen wird, bleibt diese alternative Geschichte eine Randerscheinung. Jetzt aber fallen die Interessen des Kreml und der Alternativler zusammen. „Reptiloide verüben einen Anschlag auf den Code der russischen Zivilisation.“ So lautet das wichtigste Thema der aktuellen geopolitischen Forschung.

    Alternative Geschichtssschreibung

    Der Bruch des so genannten „zivilisatorischen Codes“ ist keine Metapher. Diesen Begriff verwenden sowohl Wladimir Putin als auch Patriarch Kirill. Dadurch entsteht ein stabiles Schema, in das sich jedes Ereignis einfügt, eben auch die Operation Donau: Die Tschechen und Slowaken werden schlicht zu Geiseln in der großen Schlacht zwischen den „Russen“ und den „Reptiloiden“: 1968 haben Soldaten der NATO in Tschechien die Russische Welt angegriffen, und mit ihnen haben auch Kräfte angegriffen, deren Ziel es ist, unseren „zivilisatorischen Code“ zu zerstören.

    Das Problem ist, dass im Rahmen des zweiten „Aufstands der Massen“, nämlich während des explosionsartigen Wachstums der Internetkommunikation, jeder, der Inhalte produziert – und seien sie auch noch so irrsinnig – ohne Weiteres seine eigene Sekte bilden kann. Gleichzeitig werden die klassischen Institutionen zur Wissenserzeugung geschwächt und verlieren in der Gesellschaft insgesamt an Autorität. Die Schüler werden nicht bei den Positionen der Lehrbücher verharren – sie werden leicht in Sekten hineingezogen, die alternative Interpretationen verbreiten. Und ein junger Putinscher Karrierist wird gern bereit sein, ein neues Geschichtsschema zu vertreten, in dem überall auf der Welt „undankbare Völker“ den imaginierten Umfang eines „unendlichen Russland“ säumen. 

    Der Chef des Europastudios von Rossija wie auch Russia Today verfügen heute über riesige Möglichkeiten, nach Belieben und vollkommen ungestraft die Figuren auf dem Schachbrett der Geschichte umzustellen und anstelle der Konstellation, die sich aus jahrelanger Forschungsarbeit qualifizierter Historiker ergibt, eine neue herzustellen. Können die Historiker heute – als akademische Institution – dem zweiten „Aufstand der Massen“ und der Revolution der Internetmeinungen etwas entgegensetzen?

    Was können Historiker den Internetmeinungen entgegensetzen?

    Der Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968 ist in der politischen Geschichtsbetrachtung der Russen und Tschechen längst abgehakt und wird von der Samtenen Revolution von 1989 überdeckt. Bis zur Krim, die alle Sinnkonstruktionen des Innenlebens der Russischen Föderation deformiert hat, ist jedwede Revision der sowjetischen Epoche sinnlos gewesen: In postsowjetischer Zeit wurden die Beziehungen der Völker auf der Basis derjenigen Wege wiederhergestellt, die die jeweiligen Länder des ehemaligen Ostblocks und die ehemaligen Republiken der UdSSR selbstständig einschlugen. 

    Nun aber, nach der Annexion, gedenkt der Kreml in dieser [revisionistischen – dek] Weise nicht nur des Einmarsches in die Tschechoslowakei, er wird 2019 auch die Samtene Revolution in diesem Sinne interpretieren. Sie muss – wie jeder andere Protest – als „Orangismus“ und „äußere Einmischung“ verstanden werden.
    Die Hauptlinie dieses Gedankenschemas lautet: Soldaten der NATO greifen von allen Seiten an, und mit ihnen Reptiloide, die unsere Identität zerstören. Diese Linie ist unendlich. Auf ihr kann man keinen Punkt setzen. Und nicht – jedenfalls nicht allein Kraft des Verstandes – zu einem gesünderen Geschichtsverständnis zurückkehren.

    Die Angliederung der Krim hat einen fürchterlichen Dienst geleistet

    Wenn du im Kopf erst einmal ein „Veteran“ dieses Krieges bist, wirst du ihn auch mit 80 Jahren noch führen. Die Krim hat einen fürchterlichen Dienst geleistet: Seine Strahlung wird noch lange Zeit junge Leute zu Veteranen eines imaginierten globalen Krieges machen. 

    Sämtliche Puzzles der Geschichte werden neu angeordnet, alle realen Kontexte zerstört, alle Fragen von Schuld und Verantwortung durcheinander gebracht – und alle Völker werden dastehen als feige Verräter oder naive Dummköpfe, die den eigenen Vorteil nicht begreifen, den ihnen die brüderliche Hilfe des Kreml bringt. Das ist das Fazit des Jubiläums der Operation Donau, wenn man sich den Beitrag des staatlichen russischen Senders anschaut.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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    Tanz der freien Bürger

    In Unterhosen, sonst gerade mal mit Pilotenmütze, einer Krawatte oder Hosenträgern bekleidet – so lassen die Pilotenschüler aus Uljanowsk die Hüften kreisen, zu den Klängen von Satisfaction des italienisches DJs Benny Benassis. Das Video stellten die Kadetten im Netzwerk Vkontakte ein. Was sie sicher nicht ahnten: Ihre Parodie auf das Musikvideo Satisfaction ging viral.

    Ähnliches hatten britische Soldaten bereits 2013 gemacht. Doch in Russland löste das Video einen Sturm der Entrüstung aus, Politiker, Medienschaffende, alle mischten sich ein: Sergej Krasnow, Rektor der Hochschule für zivile Luftfahrt in Uljanowsk, drohte zunächst gar, die beteiligten Kadetten (deren Gesichter man im Video nur schwer erkennt) von der Schule zu schmeißen. Von einer „Schande“ sprachen manche, andere stuften die Aktion als „pervers“ ein.

    Doch mit der Empörung kam auch eine Welle der Solidarität: Das Katastrophenschutzministerium, die russischen Biathletinnen, Rentnerinnen aus St. Petersburg … es ist eine lange Liste von Namen, die sich am virtuellen Flashmob beteiligten und ebenfalls Satisfaction-Parodien ins Netz stellten, die mitunter ebenfalls viral gingen.

    Warum ein harmloses Vergnügen von Jugendlichen dem Staat Angst macht, das analysiert Andrej Archangelski auf The Insider.

     

     


    Pilotenschüler aus Uljanowsk lassen zu Satisfaction die Hüften kreisen – das Video ging viral

    Die vorliegende Geschichte hat mich als Autor rund eine halbe Stunde Recherche im Netz gekostet – für einen Journalisten ein ganz gewöhnlicher Aufwand. Doch diesen Aufwand muss, wie es aussieht, mittlerweile jeder Mensch leisten. Das Internet ist eine Parallelwelt, außerdem ist es eine Welt der Postmoderne – und um die Zitate, Parodien und Parodien der Parodien dieser neuen Welt zu verstehen, muss man ihre Sprache lernen.

    Es ist allerdings nur schwer vorstellbar, dass die folgenden Personen sich die Mühe gemacht haben zu recherchieren: 1) Sergej Krasnow, Rektor der Hochschule für zivile Luftfahrt. Er verglich die Studenten mit „Pussy Riot, die in der Kathedrale ihren Spott getrieben hatten“ und versicherte, dass „diese jungen Männer keinen Platz in der zivilen Luftfahrt finden werden“, erst recht diejenigen nicht, die „Fünfen haben und im Rückstand sind“. 2) Andrej Beljakow, der stellvertretende Vorsitzende der Rosawiazija [Föderale Agentur für Lufttransport dek], der die Prüfung des Instituts eingeleitet hat. Seine Behörde sprach im Zusammenhang mit dem Ereignis von „empörenden Filmaufnahmen“, einem „hässlichen Vorfall“, „frivolen Tänzen“ und einer „Beleidigung aller Mitarbeiter der zivilen Luftfahrt“. 3) Sergej Morosow, Gouverneur der Region Uljanowsk. Er stufte das Ganze als „äußerst pervers“ ein und sandte eine weitere Kommission in die Hochschule; er hatte befunden, das Video beleidige nicht nur die Region, sondern auch die Veteranen.

    Das Fernsehen spricht von „schwulem Feuerchen“

    Es ist nicht mal sicher, dass jene diesen Rechercheaufwand betrieben haben, die den Tanz zu einem Ereignis von nationaler Bedeutung aufbauschten – die Mitarbeiter des staatlichen Senders Rossija 24, wo das Video als „schwules Feuerchen“ bezeichnet und wo behauptet wurde, die „Jungsparty in Lack und Leder“ habe mit der Exmatrikulation aller geendet, die mit Vorliebe andere Körperteile in die Kamera strecken als ihre winkende Hand. Was die Exmatrikulation betrifft, war der Sender zum Glück etwas voreilig.

    Der Satz „Das Video sorgte bei den Nutzern der Sozialen Netzwerke für Empörung“ ist ein Paradebeispiel für Propaganda. Diese Floskel wird später sicher mal im Unterricht beim Thema „Geschichte der russischen Propaganda“ durchgenommen. Wenn die Propaganda Präsident Poroschenko oder die Regierungschefs Frankreichs, Deutschlands, der USA oder anderer Feinde Russlands verspotten will und keinen triftigen Grund dazu hat, hält die „Meinung der Nutzer Sozialer Medien“ als Informationsquelle her. Es ist ein Versuch im Namen einer nicht existenten sozialen Gruppe zu sprechen, die nicht einmal gemeinsame Merkmale aufweist. Dieser „Empörung der Nutzer Sozialer Netzwerke“ liegt eine Sowjetformel zugrunde, die so alt ist wie die Welt: „Empörung des arbeitenden Volkes“. Unter Bezugnahme darauf war beispielsweise 1937 möglich.

    Doch mir geht es nicht um die banale Tatsache, dass es überhaupt keine einheitliche „Meinung der Netzwerke“ geben kann. Sondern darum, dass jedes unschuldige virtuelle Ereignis in Russland erschreckende reale Konsequenzen nach sich zieht und Anlass für alle erdenklichen Kontrollen, Kommissionen und Exmatrikulationen bietet – und das noch im besten Fall.

    Eine Kluft zwischen den Generationen

    Am meisten verblüfft natürlich die gesellschaftliche Kluft zwischen zwei Generationen, die, wie man meinen könnte, gar nicht so weit auseinanderliegen: den 17-jährigen Studenten und den 30-,40-, und 50-jährigen Leitungspersonen. Da prallen zwei Welten aufeinander, die in unterschiedlichen Dimensionen existieren und einander absolut nicht verstehen.

    Auf der einen Seite ist da die Satisfaction-Welt, eine Welt sich kreuzender Parodien und Zitate mit all ihren ästhetischen Kontexten und Subtexten; auf der anderen die Welt der Kommissionen, Behörden und verletzten Gefühle. Das ist ein echter Konflikt zwischen Moderne und Archaismus, ein Konflikt der Kulturen – zwischen der Welt der Freiheit und des Drills.

     

     


    Am virtuellen Flashmob beteiligten sich auch die russischen Biathletinnen

    Wenn staatliche Kommissionen extra losfahren, um einen Tanz junger Männer zu untersuchen (!), dann sieht das Ganze selbst wie eine noch bösere Parodie des Musikvideos Satisfaction aus.

    Was hat ein staatlicher Sender – und somit auch der Staat – mit dieser Geschichte am Hut?

    Regierungsfreundliche Sender benutzen solche Dinge gern für Verallgemeinerungen wie: „Wir haben die Jugend nicht im Griff“ sowie für obligatorische Aufrufe, „zu bewährten sowjetischen Erziehungsmethoden zurückzukehren“, denn „damals hätte es so etwas nicht gegeben“. Letzten Endes liegt der Schluss nahe, dass all diese Skandale aus dem Nichts wohl nötig sind, um Emotionen anzuheizen mit dem Ziel, die Gesellschaft  durch „abschreckende Beispiele“ zu einen und so eine neue Verhaltensnorm für alle zu etablieren.

    Jedes Mal, wenn sich die Propagandisten auf ein Thema stürzen, das angeblich alle Gemüter erhitzt, müssen sie feststellen, dass sich überhaupt kein Konsens schaffen lässt

    Das Verblüffende daran: Jedes Mal, wenn sich die Propagandisten auf ein Thema stürzen, das angeblich alle Gemüter erhitzt, müssen sie feststellen, dass sich überhaupt kein Konsens bezüglich Verhaltensnormen schaffen lässt, nicht einmal bei echt skandalträchtigen Fällen. Also müssen sie vom Gas gehen und etwas Versöhnliches sagen. Jeder dieser Versuche endet in der Sackgasse, zugegebenermaßen dann, wenn das Publikum – so loyal es auch sein mag – seine Meinung einigermaßen frei äußern kann. Denn es kann keine „einheitliche Anstandsnorm“ in einem Land geben, dass formal immer noch ein demokratischer Staat ist. Es wird auch keine gesamtgesellschaftliche Verurteilung nach sowjetischem Vorbild geben, denn die Sowjetzeit ist nun mal vorbei, das Land ist kein einheitlicher Körper mehr, der sich synchron zum Staat bewegt und atmet.

    Im Grunde genommen sind all diese Versuche, den Tanz zu verurteilen, ein unbewusstes Aufbegehren gegen das Selbst, gegen Individualität. Versuche, den Menschen zu verbieten, sie selbst zu sein und das zu haben, was man Persönlichkeit nennt. Im weitesten Sinne betrifft das jede kollektive oder individuelle Feier – sei es der Sieg, der Schulabschluss oder einfach der Spaß an der Freude. Im Jahr 2016 waren zwei Gruppen solchen Angriffen ausgesetzt: Die Absolventen der Akademie des Föderalen Sicherheitsdienstes, die einen Autokorso in Geländewagen veranstalteten, und die Fußballspieler der russischen Nationalmannschaft, die ungeachtet ihrer Niederlage Sekt tranken und draußen in der Natur Spaß hatten. Auch an diesen beiden Fällen war nichts Kriminelles, und auch hier gab es keine Argumente außer der „Ehre der Uniform“.

    „Ehre der Uniform“: Menschen als Staatseigentum

    Hinter all den Versuchen, einen universellen Anlass zur Empörung zu finden, steht nur eines: eine archaische, nicht einmal sowjetische, sondern imperiale Vorstellung von allen Menschen, die wie auch immer, Hauptsache irgendwie, mit dem Staat in Verbindung stehen, als Soldaten, Hörige, Knechte, Leibeigene. Als Menschen ohne Persönlichkeitsrechte und somit ohne Recht auf Ausdruck ihrer Individualität. Dann wird davon ausgegangen, dass jeder, der eine Uniform anlegt, a priori Staatseigentum ist. Wenn er also tanzt, dann nur kollektiv und authentisch volkstümlich.

    Die Tatsache, dass sogar angehende Piloten und Offiziere ein Privatleben, Hobbies und allgemein Spaß haben, jenseits ihrer Staatspflicht, geht den Bewachern im Fernsehen, die sich selbst als Staatsdiener begreifen, schwer gegen den Strich. Dabei sind die angehenden Piloten einfach nur jung. Sie haben dieselben Interessen wie ihre Altersgenossen weltweit, wie der Flashmob zu ihrer Unterstützung beweist. Darin liegt kein Widerspruch mehr: Auch wenn du im öffentlichen Dienst arbeitest, hast du ein Recht auf Privatleben, dieses Recht ist durch die Verfassung verbürgt.

    Wenn er also tanzt, dann nur kollektiv

    Genau das ruft bei den Hütern der staatlichen Moral unkontrollierbaren Zorn hervor. So handelt es sich also jedes Mal um einen Angriff gegen die Individualität und im weitesten Sinne gegen die Persönlichkeit. Der Staat möchte nicht, dass Menschen zu Persönlichkeiten werden, er reagiert energisch auf jeden solchen Versuch, doch er findet keine hinreichenden Argumente für ein Verbot. Diese Inkongruenz zwischen den erklärten fundamentalen Werten und dem praktischen Leben ist Russlands Hauptproblem.

     

     


    Auch Petersburger Rentnerinnen parodieren Satisfaction

    Auch im 27. Jahr des Bestehens eines formal demokratischen Staates sind die demokratischen Lebensnormen nicht in eine zugängliche, allen verständliche Sprache übersetzt. Ein Rädchen der totalitären Gesellschaft hat nur ein Recht auf Leben, wenn es jederzeit bereit ist, fürs Vaterland zu sterben. In einer Demokratie ist es erlaubt, für sein eigenes, individuelles Glück zu leben – das scheint sehr einfach. Solange ein Mensch sein individuelles Glück sucht, ohne gegen die Gesetze zu verstoßen, hat niemand das Recht ihn daran zu hindern. Im Grunde ist das auch die normale nationale Idee: für sein eigenes Glück zu leben. Würde dieses Konzept als legitim anerkannt und laut ausgesprochen, würde es auch zum nationalen Konsens und zum perfekten Mittel, um derartige Konflikte zu lösen.

    Menschen freuen sich? Haben Spaß? Feiern? Ohne jemandem zu schaden? Das ist ihr gutes Recht. Doch diese simple Idee gilt heutzutage wahrscheinlich auch schon als Beleidigung von Heiligtümern. Der wichtigste offizielle Maßstab für moralisches Verhalten ist nach wie vor die Kriegserfahrung. Aber das Leben in Friedenszeiten sollte sich nicht auf Kriegserfahrung stützen, und sei dieser Krieg noch so gerecht. In Friedenszeiten sollte man nach Gesetzen des Friedens leben, nicht nach denen des Krieges oder Arbeitslagers. Eben dieser Widerspruch führt zu einer Spaltung der Gesellschaft, wo der eine Teil zu Satisfaction tanzt und der andere zu den Worten: Kommission, Behörde, Kontrolle.   

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  • Aus der Filmfabrik

    Aus der Filmfabrik

    Wo Russlanddeutsche gegen Flüchtlinge protestieren, hat oft auch das russische Staatsfernsehen seine Hand im Spiel. So berichten russische Medien derzeit ausgiebig über den Fall einer vermissten 13-Jährigen aus Berlin und behaupten, das Mädchen sei von Flüchtlingen entführt und vergewaltigt worden. Die Polizei sieht dafür allerdings keine Anhaltspunkte.

    Nachdem der russische Außenminister Lawrow deutschen Medien Vertuschung vorgeworfen hatte, schaltete sich schließlich auch Außenminister Steinmeier in die Debatte ein. Er warnte Russland davor, mit den Medienberichten über die angebliche Vergewaltigung Unfrieden zu stiften und die Migrationsdebatte unnötig anzuheizen.

    Etwa 1,2 Millionen Russlanddeutsche leben in Deutschland, einige Hundert von ihnen sind jeweils auf den Demonstrationen vertreten.

    The Insider, ein Portal für investigativen Journalismus, macht sich auf die Suche nach den Protagonisten der TV-Sujets, die derzeit für Aufruhr sorgen.

    Am 14. Januar hat der Kanal Swesda eine Erzählung von der Apokalypse der EU ausgestrahlt, wie sie derzeit typisch ist. Der Titel lautete: „Europa. Das Paradox der Toleranz“. Einen der Schlüsselkommentare liefert darin eine gewisse „Viktoria Schmidt“, die mit zitternder Stimme von durch Flüchtlinge begangenen Willkürakten in Deutschland berichtet. Sie erzählt, dass sie ein Abwehrspray bei sich tragen müsse und dass sie und ihr Mann planten, nach Russland zurückzukehren, weil das Leben in Deutschland immer gefährlicher werde.

     
    Reportage des Fernsehsenders Swesda über Russlanddeutsche, die von angeblichen Belästigungen durch Flüchtlinge erzählen

    In Wirklichkeit heißt diese „Viktoria Schmidt“ Natalja, tatsächlich lebt sie in Hannover, und ihre Tätigkeit besteht darin, russischen Fernsehsendern – darunter auch den großen staatlichen Kanälen – dabei zu helfen, Geschichten dieser Art gegen eine kleine Summe (rund 500 Euro) zu fabrizieren. Ein Korrespondent von The Insider nahm Kontakt zu Natalja auf, indem er sich als Produzent einer dieser Fernsehsender vorstellte und fand heraus, wie dieses einträgliche Geschäft funktioniert.

     
    „Ich spreche Ihnen jeden Text, den Sie wollen“ – „Viktoria Schmidt“ im Gespräch mit dem Insider-Redakteur, der sich als Produzent eines staatlichen Senders ausgibt

    „Horrorgeschichten“ aus der EU

    Natalja ist natürlich keinesfalls die Einzige in Deutschland, die „Horrorgeschichten“ über Europa fabriziert. Es gibt mehr als genug Leute, die sich mit Fakes schnelles Geld verdienen wollen. The Insider konnte mühelos einen anderen, ebenso erfolgreichen „Organisator“ solcher Geschichten für das Staatsfernsehen finden – den Kameramann Oleg T. Es beirrt ihn nicht, als ihn der Insider-Korrespondent, der sich als Produzent eines Fernsehsenders ausgibt, darauf hinweist, die Geschichte über Belästigungen seitens der Flüchtlinge müsse nicht den Tatsachen entsprechen. Und Oleg T. stellt eine bescheidenere Rechnung aus: 200 Euro. Was ja logisch ist, denn Natalja bietet ihre Storys, ihre Protagonisten und letztlich auch sich selbst an, Oleg T. dagegen nimmt die Geschichten nur auf Video auf.

    Ein Kameramann erklärt sich bereit, ein Interview zu filmen, unabhängig von dessen Wahrheitsgehalt

    Was aber soll man von den zwar vereinzelten, aber dennoch das ganze Land überziehenden Kundgebungen gegen Flüchtlinge halten? Solche Massen können doch nicht von russischen Journalisten mobilisiert sein? Doch, können sie. Und das geht ziemlich einfach, wie The Insider recherchierte. Zuerst wird ein Anlass gefunden – dieses Mal war es der Fall eines 13-jährigen russischen Mädchens: Russlands Medien verbreiten massiv Falschmeldungen über eine „Entführung und Vergewaltigung“, würzen das Ganze mit Kommentaren über die angebliche „vollkommene Tatenlosigkeit“ der deutschen Ordnungskräfte und das Verschweigen der Situation in den deutschen Medien, und dann verkünden die Protagonisten in ihren Geschichten, dass man „auf Gewalt mit Gewalt“ antworten solle.

    Die russische Diaspora in Deutschland (es handelt sich um rund sechs Millionen Menschen) schaut russische Fernsehsender und wird zum Zielpublikum deutscher Rechter. The Insider hat bereits über Kundgebungen der NPD berichtet, die mit einer russischen Nachrichtenkampagne „synchronisiert“ werden. Aber in Deutschland gibt es noch eine weitere rechtslastige Randbewegung: PEGIDA, die seit 2014 existiert und sich erweitert, indem sie auch Vertreter der russischsprachigen Diaspora zu ihren Agitatoren macht.

    Neuer Aufschwung für PEGIDA

    Bereits ein Jahr nach ihrem Erscheinen schien PEGIDA kurz vor dem Verschwinden, nachdem Lutz Bachmann, der Gründer der Bewegung, zurückgetreten war. Auslöser war ein Skandal um Fotos, auf denen er als Hitler zu sehen ist, sowie sein Posting auf Facebook, das einen Menschen in Ku-Klux-Klan-Kluft zeigte und mit dem Slogan „Three K’s a day keeps the minorities away“ betitelt war.

    2016 hat die Bewegung nun neuen Aufschwung erfahren – überraschenderweise durch die russische Diaspora. Bei Kundgebungen in vielen Städten in Deutschland, als deren Anlass der Fall um das 13-jährige Mädchen diente, bezog man die russische Diaspora ein und machte russische PEGIDA-Funktionäre zu den Hauptrednern, die bei ihrem Auftritt auf Russisch sprachen. So gab ein Zeuge einer solchen Kundgebung in Hannover, der anonym bleiben will, The Insider folgenden Einblick:

    „Zuerst gab es einen Aufruf bei Facebook und per SMS, zur Kundgebung zu kommen. Ich erhielt sechs Mal solche Mitteilungen.
    In Hannover kamen ungefähr 500 Menschen zusammen. Und irgendwelche Kosaken und Nationalisten redeten irgendeinen unglaublichen Blödsinn. Eine Frau trat auf und stellte sich als ‚Verwandte und enge Bekannte der Familie des Opfers‘ vor. Eine ihrer Bekannten verriet zufällig, dass die Frau in Wirklichkeit eine PEGIDA-Funktionärin sei. Von den sechs Leuten, die auftraten, waren drei von PEGIDA. Außerdem trat noch ein kleiner Mann mit Cowboyhut auf, er war jüdischer Abstammung und kam aus der deutsch-russischen Gemeinde. Zuerst lief sein Auftritt wie geschmiert, aber dann hörte er nicht mehr auf zu reden und begann von einem Freund in Israel zu erzählen, der die Araber hassen würde. Dann verkündete er, dass wir hier alle Deutsche seien, dass wir eine deutsche Ordnung bräuchten, eine deutsche Kultur und ein deutsches Gesetz. Die Leute, die auf diese Kundgebung kamen, waren durch die ganzen Nachrichten verängstigt, und sofort wurden sie hier bearbeitet. Direkt von der Bühne herunter agitierte man, sich PEGIDA anzuschließen.“

    Dieser Aufruf an die „russischsprachige Bevölkerung“ sich auf wichtigen Plätzen und vor Rathäusern zu Protestkundgebungen zu versammeln beginnt mit den Worten „Achtung! Es ist Krieg!“
    Dieser Aufruf an die „russischsprachige Bevölkerung“ sich auf wichtigen Plätzen und vor Rathäusern zu Protestkundgebungen zu versammeln beginnt mit den Worten „Achtung! Es ist Krieg!“

    The Insider liegt ein Video von dieser Kundgebung vor, darin ruft tatsächlich eine russischsprachige Frau zur Unterstützung von PEGIDA auf. Es ist deutlich, dass sie schlecht Deutsch spricht.

     
    PEGIDA-Kundgebung in Hannover

    Die deutschen Behörden suchen den Dialog mit der russischen Diaspora. Auf einer ähnlichen Demonstration in Lahr (rund 40.000 Einwohner) versucht der Bürgermeister mit den Versammelten zu sprechen und kann die Menschenmenge kaum übertönen: „Jetzt fragen Sie, wie man in unser kleines Lahr tausend Flüchtlinge schicken kann. Ich möchte Sie daran erinnern, dass ich früher immer wieder gefragt worden bin: Wie sollen wir denn 9.000 Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion aufnehmen? Ja, es war schwierig, es hat Jahre gebraucht, bis die Leute diese Situation annehmen konnten. Aber wir haben es geschafft und ich finde es richtig, letztlich haben wir alle davon profitiert.“

     
    Rede des Bürgermeisters der Stadt Lahr

    Viele russische Emigranten sind von diesen Ereignissen nicht minder geschockt als andere in Deutschland lebende Menschen. Wo Russen früher stolz darauf sein konnten, Deutschland von den Nazis befreit zu haben, befürchten sie nun, in den Augen der Deutschen mit rechtsextremen Randgruppen assoziiert zu werden. Das wäre ungerecht, denn PEGIDA-Kundgebungen gibt es nur vereinzelt und sie versammeln einige Hundert Menschen – wohingegen an einer Kundgebung zur Unterstützung von Flüchtlingen allein in Berlin mehrere Zehntausend teilnahmen, darunter auch viele Russen.

    Russisches TV als Informationsquelle

    Wie sich die Situation weiterentwickelt, hängt zu einem großen Teil von den russischen Fernsehsendern ab. „Das russische Fernsehen ist zurzeit die wichtigste Quelle der chauvinistischen und fremdenfeindlichen Propaganda für einen ziemlich großen Teil des russischsprachigen Publikums“, erläutert der in Berlin lebende Künstler Dimitri Vrubel gegenüber The Insider.

    Aber was die Fernsehnachrichten bringen, ändert sich sowieso ständig. Ging es noch vor kurzem bei zwei von drei Meldungen der staatlichen russischen Fernsehsender um die „Greueltaten der Faschisten in Noworossija“, gefolgt von der „Zerstörung der IS-Hauptquartiere in Syrien“, so widmen sich die Nachrichten heute ausschließlich den „unter dem Flüchtlingsjoch leidenden EU-Bewohnern“. Viele hoffen, dass dieses Thema sich früher oder später auch wieder erschöpft und die rechtsextreme Bewegung ihre Unterstützung verliert.

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