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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Aus Putins Sicht ist das Problem gelöst“

    „Aus Putins Sicht ist das Problem gelöst“

    Dass ein Vertrauter von Putin den Kreml direkt herausfordert und mit schweren Waffen auf die Hauptstadt zumarschiert, erschien am 23. Juni ungeheuerlich. Bei seinem „Marsch“ sagte Prigoshin Dinge, für die Oppositionelle in Russland viele Jahre Haft bekommen würden: Weder die Ukraine noch die NATO hätten eine Bedrohung für Russland dargestellt. Der Krieg sei nur begonnen worden, „weil ein paar Typen sich aufplustern wollten“. 

    Putin reagierte in einer Videobotschaft: „[…] womit wir es hier zu tun haben, ist Verrat. Unverhältnismäßige Ambitionen und persönliche Interessen haben zum Betrug geführt“. Am 29. Juni soll Putin offiziellen Angaben zufolge Prigoshin im Kreml empfangen haben.  

    War das nun ein Militärputsch? Еine Spaltung der politischen Elite? Ist Putin wirklich angezählt? The Bell hat mit dem Politikwissenschaftler Grigori Golossow gesprochen.

    Denis Kassjantschuk: Gleich nach dem Aufstand waren sich westliche Experten relativ einig, dass Putins Regime einen schweren Schlag erlitten habe. Ist das tatsächlich so? 

    Grigori Golossow: Ich weiß nicht, wieso sie das denken. Eigentlich hat Putin ein ernstes Problem, das ihm schon lange bewusst war, verhältnismäßig leicht gelöst – das Problem Prigoshin. Wie hätte Putin denn sonst erreichen können, dass sich die Wagner-Strukturen dem Verteidigungsministerium unterordnen, was ganz klar das Ziel der russischen Staatsmacht war. 

    Wie wird Prigoshin nun einen neuen Platz für sich finden? 

    Das ist die Frage. Aber Tatsache ist, dass jene, die am Aufstand beteiligt waren, nicht mehr wie früher Putins Vertrauen genießen werden (wenn sie es denn je genossen haben). Und insgesamt hat der russische Präsident infolge der jüngsten Ereignisse seine Kontrolle über die Sicherheits- und Machtstrukturen eher gestärkt. 

    In Russland wird oft von einem Kampf der Eliten gesprochen, von einem „Krieg zwischen unterschiedlichen Türmen des Kreml“​. Aber wirklich manifestiert hat sich dieser Kampf für das breite Publikum nie. Ist Prigoshins Aufstand eine solche Manifestation? Oder ist Prigoshin eine zufällige Erscheinung, eine Randfigur, deren Handlungen die Prozesse in den russischen Eliten nicht widerspiegeln?

    Ein Großteil dessen, was über die „Türme des Kreml“ gesagt wurde, war reine Phantasie. Was Prigoshins Handlungen betrifft, ist klar, dass er von der herrschenden Klasse ziemlich weit entfernt stand und dort kein sonderlich großes Vertrauen genoss. Mehr noch, er machte nie einen Hehl aus den tiefen Zerwürfnissen, die zwischen ihm und dieser Klasse bestehen. Prigoshins Aufstand lässt sich also nur im weitesten Sinne als Manifestation dessen interpretieren, was in den russischen Medien normalerweise als „Spaltung der Eliten“ bezeichnet wird. 

    Viele Beobachter fragten sich in den Monaten vor dem Aufstand: Warum stopft Prigoshin keiner das Maul? Warum lassen sie ihn vor aller Welt den Verteidigungsminister und den Generalstabschef grob beschimpfen? Und bedeutet das, dass die Situation für den Kreml außer Kontrolle gerät? War dem so?

    Das ist eine ziemlich naive Frage, wenn man bedenkt, welch kolossale Rolle die Söldnertruppe Wagner bis zuletzt auf dem Schlachtfeld spielte. Wie hätte man sie aus dem Weg räumen können, wenn doch sie es waren, die Bachmut eingenommen haben. Und das war die entscheidende Schlacht in der vorangegangenen Etappe der Kampfhandlungen.

    Genau das ist ja der Punkt, dass Prigoshin für Putin zum Problem wurde, weil man ihn nicht ausschalten konnte. Man musste ihn aber ausschalten, weil seine politischen Ambitionen offensichtlich wurden.  

    Wie kamen diese Ambitionen zum Ausdruck?

    Prigoshin strebte danach, als politische Figur in der Öffentlichkeit zu stehen. Er machte zutiefst politische Vorwürfe – die Regierung sei ineffektiv, deshalb sei die herrschende Klasse ineffektiv, korrupt und unfähig, die Interessen von Volk und Staat zu vertreten. Das ist eine populistische Position, die bei Wahlen gut funktioniert. Ich glaube zwar nicht, dass Prigoshin in nächster Zeit bei irgendwelchen Wahlen kandidieren wollte. Aber dass er schon begonnen hatte, sich nicht nur als militärischer Führer, sondern auch als Politiker einen Namen zu machen, das war ganz offensichtlich.

    Und ich nehme an, für Putin war das ein Teil des Problemkomplexes, der mit Prigoshins mangelhafter Loyalität zu tun hatte. Dieses Problem ist aus Putins Sicht jetzt gelöst. Und ich sehe das genauso.

    Es zeigt sich: Solange Putin an den Kontrollhebeln sitzt, hat Prigoshin keine Chance, in Russland eine politische Rolle zu spielen. Wenn sich die Situation grundlegend ändert und Prigoshin dann noch lebt und er sein in den letzten Monaten erarbeitetes politisches Kapital weiterentwickeln will, dann können sich für ihn durchaus realistische Perspektiven auftun. Sein politisches Kapital ist zwar nicht gerade groß, aber unter bestimmten Bedingungen durchaus ausbaufähig.

    Wahrscheinlich ist Putin die mangelnde Effektivität von Schoigu und Gerassimow bewusst, aber dafür sind sie so loyal

    Was meinen Sie, was war Prigoshins Ziel? Und warum hat er es nicht erreicht?

    Prigoshin hat klar gesagt, dass sein Ziel ein Führungswechsel im Verteidigungsministerium ist. Das glaube ich ihm. Wenn Prigoshin das gelungen wäre, dann wäre sein Einfluss nicht nur auf das militärische Establishment, sondern auch auf Putin kolossal gestiegen: Die Personen, die Schoigu und Gerassimow abgelöst hätten, hätten mehr in Prigoshins Gunst gestanden als unter der Kontrolle des Präsidenten. 

    Das ist der Grund, warum Putin sich darauf nicht einließ. Wahrscheinlich ist ihm die mangelnde Effektivität von Schoigu und Gerassimow bewusst, aber er schätzt sie für ihre Loyalität und glaubt, dass er sich rückhaltlos auf sie verlassen kann. Ich glaube, dass für ihn deshalb ein Rücktritt von Schoigu und Gerassimow nicht in Frage kam.

    Eine weit verbreitete Meinung über Putin ist, dass er Verrat nicht verzeiht. Bedeutet das, dass Prigoshin keine Ruhe mehr finden wird?

    Sobald Putin der Meinung ist, dass er seinen Teil der Abmachungen erfüllt hat und dass alle Fragen zu den Aktivitäten der Söldnertruppe Wagner in und außerhalb Russlands geklärt sind, kommt der Moment, von dem an Putin zu dem Schluss kommt, dass er mit Prigoshin nach eigenem Gutdünken verfahren kann. Und dann kann es durchaus sein, dass er sich an ihm rächen wird. Doch Prigoshin – der kann für seine Sicherheit sorgen. Was weiter mit ihm geschehen wird, ist also nochmal ein eigenes Thema.

    Wird es jetzt Säuberungen geben?

    Möglicherweise werden einige Offiziere mittlerer und sogar höherer Ränge ausgetauscht. Doch wenn es Umstellungen auf höchster militärischer Führungsebene gäbe, dann hieße das, dass Prigoshin sein Ziel erreicht hat. Deswegen sind solche Umbesetzungen nicht zu erwarten. 

    Im Westen ist die Meinung verbreitet, dass es für Putin schwer, wenn nicht sogar unmöglich sein wird, sein Ansehen bei den Russen wiederherzustellen. Was denken Sie darüber?

    In der politisierten Öffentlichkeit ist das Bild entstanden, die russische Führung sei geschwächt. Aber diese Vorstellung gab es auch früher schon. Sie wurde von einflussreichen Bloggern wie Girkin-Strelkow und anderen, die für den Krieg sind, kultiviert. Weit verbreitet war auch eine Skepsis gegenüber den Methoden, mit denen die Militäroperation geführt wurde. Diese Skepsis wurde auf die allgemeine Vorstellung von der Effektivität der russischen Regierung projiziert. 

    Wahrscheinlich hat sich diese Skepsis nach dem Aufstand ein wenig verstärkt. Aber man muss wissen, dass es sich da um eine vergleichsweise kleine Gruppe extrem politisierter Bürger handelt. Natürlich gibt es auch eine andere Gruppe von Bürgern, die Putin schon lange nicht unterstützt und seiner Regierung gegenüber immer skeptisch eingestellt war. Ich nehme an, dass sie zahlenmäßig größer ist als die der „Turbopatrioten“. Aber bezüglich jener Gruppe, die Putin nie unterstützt hat, hat sich ganz bestimmt nichts verändert: Sie waren früher nicht für ihn und sind es auch jetzt nicht. 

    Eine landesweite Unterstützung für Putin war während des Aufstands auch nicht zu sehen. Wie so oft musste der Kreml Staatsbedienstete mobilisieren, um Unterstützung vorzutäuschen. Was bedeutet das? Dass Putins Rückhalt übertrieben dargestellt wird?

    In Russland gab es nie eine Unterstützung für Putin, die in irgendeiner politischen Handlung hätte zum Ausdruck kommen können. Das liegt in der Natur des russischen Regimes, das darauf setzt, dass die Bürger sich aus der Politik heraushalten. Es wäre seltsam, wenn die Leute spontan auf die Straße gehen, eine Niederschlagung des Aufstands fordern und ihre Begeisterung für Putin zum Ausdruck bringen würden. Für Massenaktionen braucht es organisatorische Mechanismen. Doch das russische Regime ist so angelegt, dass unabhängig davon, wie viel Unterstützung Putin erfährt, derartige Demonstrationen gar nicht möglich sind. 

    Die Mehrheit der Russen hat ihren Schluss gezogen: Es ist noch einmal gut gegangen 

    Welche Schlüsse können die Russen aus den Ergebnissen dieses Aufstands überhaupt ziehen? Und bringt das die Staatsmacht ins Wanken?

    Die überwiegende Mehrheit der Russen hat meiner Einschätzung nach ihren Schluss gezogen: Es ist noch einmal gut gegangen. Das ist alles, was der großen Masse der Bevölkerung durch das Geschehen klar geworden ist. Ich glaube, viele haben diesen Aufstand als Bedrohung empfunden, vor allem die Moskauer. Aber es hat sich ja alles erledigt, na wunderbar.  

    Und die Eliten? Kommt es da zu einer Spaltung oder rücken sie jetzt noch näher um Putin zusammen?

    In der herrschenden Klasse herrscht schon lange eine negative Einstellung bezüglich Putins Handlungen. Die meisten in der russischen Elite fühlen sich von Putin hintergangen.

    Was lernen sie daraus? Die meisten neigen, nehme ich an, zu der Ansicht, dass Putin ihnen Probleme eingebrockt hat. Aber diese Probleme sind ihrer Meinung nach wiederum leichter unter Putins Mitwirkung zu lösen, wenn er an der Macht bleibt. Und sie glauben, dass das immer noch möglich ist. Und Putin nährt diesen Glauben natürlich nach Kräften. 

    Was ist jetzt Putins größte Herausforderung?

    Seine größte Herausforderung besteht darin, aus der Situation wieder herauszufinden, die er letztes Jahr im Februar geschaffen hat. Offenbar vor diesem Hintergrund schenkt Putin dem wachsenden Unmut in der herrschenden Klasse einiges an Aufmerksamkeit, er erwartet von seinen Sicherheitsdiensten, dass sie eventuell auftretende Unmutsbekundungen rasch unterbinden.

    In seiner Rede hat Putin den Westen beschuldigt, diesen Aufstand organisiert zu haben. Worin besteht die Logik dieser Vorwürfe, wenn wir doch genau wissen, wer der Organisator und die Hauptperson des „Marsches der Gerechtigkeit“ war?    

    Nun, hier gibt es keine Logik. Das ist die übliche Rhetorik: An allem Schlechten, was in Russland passiert, ist der Westen schuld

    An der Beziehung zwischen Putin und Lukaschenko hat sich nichts geändert

    Einige sagen, dass es für Putin die größte Erniedrigung war, sich auf Alexander Lukaschenkos Vermittlung verlassen zu müssen. Welche Rollen spielen die beiden jetzt füreinander ?

    Ich glaube nicht, dass Putin das als Erniedrigung empfindet. Er betrachtet Lukaschenko schon lange als seinen Juniorpartner. Wenn der Juniorpartner dem Senior bei der Lösung von Problemen helfen kann, dann ist das aus dem Blickwinkel der geschäftlichen und politischen Logik Russlands ein völlig normales Phänomen. Und da hat sich in der Beziehung zwischen Putin und Lukaschenko auch nichts geändert.

    Lukaschenko hat Putin einen wichtigen Dienst erwiesen und ist jetzt womöglich der Meinung, dass der russische Präsident in seiner Schuld steht. Aber die Balance ihrer Beziehung hat sich keineswegs verändert. Das ist eine ungleiche Partnerschaft mit Putin in der Führungsrolle.  

    Für den militärischen Aufstand und die Piloten, die dabei umkamen, wurde niemand bestraft. Was denken Sie, warum verzichtet die Staatsmacht hier auf Ermittlungen?

    Wegen diverser Umstände, die uns im Detail nicht bekannt sind, hat Putin beschlossen, sein Versprechen gegenüber Prigoshin zu halten. Dazu gehört, dass die Anschuldigungen gegen ihn fallengelassen werden und Prigoshin sich mit einem Teil seiner Anhänger nach Belarus absetzen kann. Aber das ist nur das, was wir wissen. 

    Vielleicht hat Prigoshin noch weitere Garantien bekommen. Tatsache aber ist, dass Putin ganz einfach Wort hält, und zwar jenseits jeder Rechtslogik, auf die Sie verweisen. Das sind in höchstem Maße politische Handlungen. Dass Justiz und Verwaltung in Russland politisiert sind, ist nichts Neues. Jetzt sehen wir ein weiteres Mal, dass politische Erwägungen weit über dem Gesetz stehen. 

    Prigoshins Aktion war kein versuchter Militärputsch. Es war ein Aufstand mit dem Ziel, konkrete Ziele durchzusetzen

    Sie haben bereits vor dem Aufstand geschrieben, dass eine militärische Revolte eines der Zukunftsszenarien Russlands sei. Sehen Sie das immer noch so? Oder werden jetzt die Schrauben angezogen, damit das so schnell keiner mehr versucht?

    Dass es eine militärische Revolte geben wird, habe ich nicht geschrieben. Allerdings musste man kein Prophet sein, um mit radikalen Aktionen von Prigoshin zu rechnen. 

    Was eine weitere Verschärfung der Sicherheitskomponente in der russischen Politik angeht, so folgt sie aus der Entwicklungsdynamik eines politischen Regimes, das sich unter Bedingungen des Krieges immer stärker auf die Streitkräfte und den Sicherheitsapparat verlassen können muss. Und wenn ein Land von einer solchen Dynamik erfasst wird, dann erhöht das generell die Möglichkeit einer militärischen Revolte.  

    Aber wie sieht eine solche Revolte aus? Das wiederum ist eine Frage, die von der Dynamik des Regimes abhängt. Militärische Revolten können ganz unterschiedlich sein. Es gibt Situationen, in denen die Sicherheitsstrukturen zusammen mit den Streitkräften die Macht an sich reißen und ein konsolidiertes Regime errichten, das ziemlich lange bestehen kann, wie das etwa in den 1970er Jahren in Chile der Fall war. Eine solche Wendung halte ich in Russland für extrem unwahrscheinlich.   

    Aber es gibt auch Situationen, in denen sich innerhalb der Sicherheitsstrukturen schwere Spannungen bemerkbar machen. Und dann kann eine unkonsolidierte Militärregierung entstehen. Solche Regimes halten nicht lange. Häufig lösen sie einander ab, ohne sich grundlegend voneinander zu unterscheiden. So etwas ist in Russland durchaus möglich, zeichnet sich aber derzeit nicht ab.

    Ich möchte aber noch einmal betonen, dass Prigoshins Aktion kein versuchter Militärputsch war. Es war ein Aufstand mit dem Ziel, konkrete Ziele durchzusetzen. Und selbst wenn die Aufständischen erfolgreich gewesen wären, hätten sie nicht ein Militärregime installiert, sondern einen Ausbau des Sicherheitsapparats in den Strukturen des russischen Regimes forciert. 

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  • Massenprotest in Chabarowsk: Worum geht es?

    Massenprotest in Chabarowsk: Worum geht es?

    30.000 Menschen – und damit rechnerisch rund jeder zwanzigste Einwohner von Chabarowsk – sind am Samstag auf die Straße gegangen. Eine so hohe Geschlossenheit hat es in der neuesten Geschichte Russlands noch nie gegeben. Auslöser des Protests war die Verhaftung des Chabarowsker Gouverneurs Sergej Furgal zwei Tage zuvor. 2004-05 soll der damalige Geschäftsmann mehrere Morde in Auftrag gegeben haben. 

    Slogans wie „Moskau, geh weg“ oder „Bringt Furgal zurück“ waren bei der Demonstration genauso allgegenwärtig wie „Putin ist ein Dieb“. Der Protest verlief insgesamt friedlich, offiziell gab es nur vier Verhaftungen. 

    Wird Chabarowsk nun zur „Wiege der Revolution“, oder war das bloß ein lokaler Protest, an den sich morgen niemand erinnern wird? Ist der Massenprotest spontan entstanden, oder hat ihn jemand organisiert? Wer ist überhaupt Furgal, und wie reiht er sich ein in das volle Dutzend russischer Gouverneure, die in vergangenen fünf Jahren festgenommen wurden? Diese Fragen werden derzeit kontrovers diskutiert. The Bell stellt sie verschiedenen Politikwissenschaftlern und Beobachtern.

    „Die Menschen treten nicht so sehr für Furgal selbst ein, vielmehr fordern sie Gerechtigkeit und überhaupt gehört zu werden“, sagt der politische Analyst Konstantin Kalatschew gegenüber The Bell

    „Furgal ist kein gewöhnlicher Beamter, die Menschen haben ihn selbst gewählt“, stimmt der Politologe Abbas Galljamow zu. „Deshalb hat jeder Einwohner der Region den Angriff auf ihn als sehr persönlich wahrgenommen – als einen Angriff auf die eigenen Persönlichkeitsrechte. Nachdem die Menschen bei der Wahl für ihn gestimmt hatten, wurde er für sie zu mehr als einer bloßen Figur. Er wurde zu einem Symbol – einem Symbol für ihren Mut, ihren Widerstand, ihre Freiheiten.“

    Vorbildlicher Politiker

    Er ist ein wirklich guter Gouverneur, sagt der Politologe Alexander Kynew. Furgal habe sich in der Region wie ein vorbildlicher Politiker verhalten, wie ein Politiker westlichen Typs: Er war offen, ist auf Menschen zugegangen, hat Ausgaben für Beamte reduziert, Unhöflichkeit und Grobheiten vermieden – im Gegensatz zu seinem Vorgänger Wjatscheslaw Schport. „Dass die Menschen ihn unterstützen, das ist absolut verdient“, sagt Kynew.

    Moskau habe sich in der Region aber plump und sehr unschön verhalten – angefangen nach der Wahl von Furgal, als die Hauptstadt des Föderationskreises demonstrativ von Chabarowsk nach Wladiwostok verlegt wurde. „Der Ferne Osten – das sind Menschen mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl. So starke Proteste hat es dort schon lange nicht mehr gegeben. Wenn wir das Russland der vergangenen Jahre betrachten, dann gab es schon Ähnliches in Irkutsk, Inguschetien und Archangelsk – allerdings in viel kleinerem Ausmaß“, erinnert Kynew.

    Es ist sicherlich die stärkste Protestwelle auf regionaler Ebene, die im Zusammenhang mit dem ruppigen Eingreifen der Hauptstadt [in eine Region] steht, sagt Grigori Golossow, Politologie-Professor an der Europa-Universität in Sankt Petersburg. Seiner Einschätzung nach hat es Derartiges in den russischen Regionen außerhalb von Moskau und Sankt Petersburg seit Jahrzehnten nicht gegeben.

    Vom Schrotthändler zum Gouverneur

    Der 50-jährige Sergej Furgal stammt aus der Amur-Region. In den frühen 1990er Jahren begann er mit dem Tschelnoki-Business, anschließend handelte er mit Holz. Schon damals hat Furgal an die LDPR gespendet. Seit den frühen 2000er Jahren hat er auch mit Metallschrott gehandelt. Im Zusammenhang mit dieser Tätigkeit wird nun auch der Mordvorwurf gegen ihn erhoben: Ihm wird angelastet, 2004 und 2005 mehrere Morde [an Konkurrenten] in Auftrag gegeben zu haben.

    Furgal hat nie die Partei gewechselt: 2005 wurde er Abgeordneter in der Region Chabarowsk, 2007 ist er über die LDPR-Liste in die Staatsduma eingezogen. Als eines der prominenteren Mitglieder der Fraktion hat er dort zentrale Ausschüsse geleitet, die der Partei von Wladimir Shirinowski überlassen wurden. Zuletzt saß Furgal dem Gesundheitsausschuss vor. 2013 kandidierte er bei der Gouverneurswahl, verlor aber gegen denselben Schport, den er fünf Jahre später vernichtend schlagen wird.

    Einziger Protestkandidat auf dem Wahlzettel

    Im Herbst 2018 wurde Sergej Furgal Gouverneur. An diesem Einheitlichen Wahltag scheiterten in den Regionen gleich vier Kreml-Kandidaten. Furgal gewann die Wahl mit 66 Prozent der Stimmen – ein besseres Ergebnis als das, was Wladimir Putin in der Region ein halbes Jahr zuvor bei der Präsidentschaftswahl bekommen hatte. Vor der Stichwahl versuchte der Kreml noch erfolglos, mit der LDPR und Furgal einen Deal auszuhandeln: Furgal sollte nachgeben und dafür den Posten des Ersten Vize-Gouverneurs bekommen, der LDPR wurde ein Gouverneursposten in der Oblast Kursk in Aussicht gestellt. 

    Furgal hatte nicht einmal eine aktive Wahlkampagne geführt, er selbst hatte nichts gegen das Amt des Vize-Gouverneurs unter Schport einzuwenden, erinnert Meduza. Doch Furgal war der einzige Protestkandidat auf dem Wahlzettel, den die Menschen kannten. Außerdem hatte seine Partei nicht die Rentenreform unterstützt – und das entschied den Ausgang der Wahl.

    Vom Strohmann zum populären Politiker

    Furgal hat seine Arbeit als Gouverneur mit einfachen, aber spektakulären Schritten begonnen: Er reduzierte die Zahl seiner Stellvertreter um die Hälfte, verbot den Beamten Businessclass-Flüge, verkaufte die teuren Dienstwagen und versuchte zumindest, die Jacht des Gouverneurs loszuwerden. Gleichzeitig kürzte er die Gehälter der Regierungsmitglieder und auch seine eigenen Bezüge: „Der Gouverneur kann nicht eine Million Rubel im Monat bekommen.“ Er hat nicht die Öffentlichkeit und auch nicht die neuen Medien gescheut: Unter den Regierungsvertretern hat er nach Ramsan Kadyrow die zweitgrößte Anzahl von Instagram-Abonnenten.

    Nach der Wahl gab es zwei Ereignisse, die man in der Region als Abschreckungsstrafen aus Moskau empfand: Die Hauptstadt des Föderationskreises Ferner Osten wurde nach Wladiwostok verlegt, das die Chabarowsker nicht mögen. Und gegen den ehemaligen Gouverneur der Region, Viktor Ischajew, der Furgal unterstützte, wurde ein sehr seltsames Verfahren eröffnet.

    Das führte unter anderem dazu, dass die LDPR ihren Erfolg bei den Regional- und Kommunalwahlen 2019 festigen konnte. Die Niederlage für Einiges Russland war einfach beschämend (13 Prozent und zwei Listenplätze im Regionalparlament). Furgal hat erneut die Wogen geglättet, hat keinen Wahlkampf betrieben und auch nicht die Liste der LDPR angeführt – dennoch war die Protestwahl nicht einzudämmen, schreibt Meduza.

    Furgals Aufmüpfigkeit haben die Machthaber [in Moskau] nicht vergessen. Letztendlich haben aber die Ergebnisse der Verfassungsabstimmung das Fass der Geduld zum Überlaufen gebracht. Der Wahlanalyst Sergej Schpilkin hat der Abstimmung insgesamt eine Rekordzahl von Fälschungen attestiert, die Region Chabarowsk nennt er jedoch als Beispiel für eine „saubere“ Region – mit Ergebnissen, die nahe an den „realen“ liegen: 62 Prozent Ja-Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 44 Prozent.

    „Das heißt, bei Furgal lag die Wahlbeteiligung 24 Prozentpunkte unter dem landesweiten Durchschnitt, die Unterstützung 15 Prozentpunkte darunter. Die Stimmen wurden dabei ehrlich ausgezählt, was aus Sicht der Staatsmacht einen blöden Präzedenzfall schafft. Ich denke, das hat das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht“, sagt der Politologe Dimitri Oreschkin gegenüber der Novaya Gazeta.

    Wie geht’s weiter?

    Die Demo vom Samstag wird sich nicht zu etwas Ernsthaftem auswachsen, doch die Proteste werden sich in Raum und Zeit ausdehnen, meint Kalatschew: „Das wird wie ein Moorbrand: Man kann ihn nicht löschen, und jederzeit kann er wieder ausbrechen. Wobei sämtliche Wahlen bis hin zur Dumawahl ein Auslöser sein können.“

    Dauerhaft lässt sich schwer mit erhitzten Emotionen leben, meint auch Galljamow: „Das bedeutet bloß, dass die Menschen mit ihrem Unmut hinterm Berg halten. Bei allen Wahlen in den kommenden Jahren werden sie ihn wieder hervorholen und für die Opposition stimmen.“

    Das Ausmaß des Protestes macht es Moskau unmöglich, ihn als gekaufte Veranstaltung oder als Spiel regionaler Eliten abzutun, glaubt Alexander Poshalow, Forschungsleiter der [kremlnahen] ISEPI-Stiftung. „Wie schon bei den Wahlen 2019 sind hier klare Anti-Moskau-Stimmungen zu erkennen und ein Eintreten für den Wert der eigenen Stimme, die 2018 in der Stichwahl abgegeben und 2019 bei lokalen Wahlen bestätigt wurde“, sagt Poshalow.

    Die Fortsetzung des Protestes wird unmittelbar davon abhängen, ob Moskau sich weiterhin hartnäckig zeigt und grob durchgreift, meint Alexander Kynew: „Je mehr Verleumdungen und Vorwürfe der Käuflichkeit aus Moskau kommen, desto mehr empörte Menschen werden auf die Straße gehen. Das ist in erster Linie eine Frage mangelnden Respekts gegenüber den Menschen.“

    Ohne Organisationsaufwand kann solcher Unmut schnell verstummen – doch nicht hier, meint Golossow: „In der Region Chabarowsk gibt es tatsächlich jemanden, der den Unmut mobilisieren kann: die LDPR. Die LDPR ist trotz allem eine echte Partei mit aktiven Ortsverbänden. Und eine Demo mit 35.000 Menschen zu organisieren ist für sie, wie sich herausstellt, kein Problem.“

    Wie lange der Protest andauert, bestimmt die LDPR, meint der Politologe: „Ich nehme an, dass Shirinowski auf Verhandlungen mit dem Kreml hofft, vielleicht kann er einige Zugeständnisse für sich rausholen. Oder der Kreml wird ihn dermaßen einschüchtern, dass er diese Position einfach aufgibt. Wenn die LDPR den Protest nicht weiter unterstützt, dann wird er natürlich abflachen.“

    „Ich sehe keinerlei Möglichkeit, dass hier ein Günstling Moskaus gewinnt“, sagt Alexej Worsin, Koordinator des Chabarowsker Stabs von Alexej Nawalny gegenüber Meduza: „Man wird sich irgendein cleveres Manöver ausdenken müssen, irgendwen von den lokalen Politikern einbinden. Aber einen FSB-Mann aus Moskau zu schicken, wie in einigen anderen Regionen – das wird nicht klappen. So ein Kandidat hätte hier überhaupt keine Perspektive.“

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  • Vedomosti: Ende der Unabhängigkeit?

    Vedomosti: Ende der Unabhängigkeit?

    Zensur kritischer Inhalte, sinnverfälschende Einmischungen und eine unverkennbare Nähe zum Kreml und zu Rosneft – die Vorwürfe gegen den neu eingesetzten Vedomosti-Chefredakteur Andrej Schmarow sind schwerwiegend. Zahlreiche Redakteure der Zeitung haben aus Protest inzwischen ihre Kündigung eingereicht. Viele Beobachter fühlen sich an das Schicksal von NTW, Lenta.ru oder RBC erinnert: Geht mit Vedomosti nun ein weiteres Flaggschiff der unabhängigen Presse in Russland unter? Pjotr Mironenko und Irina Malkowa berichten auf The Bell.

    Die Zeitung Vedomosti, so wie wir sie seit zwanzig Jahren kennen, wird es bald nicht mehr geben. Der vom neuen Eigentümer Iwan Jeremin einberufene Verwaltungsrat hat Andrej Schmarow, den Mitgründer der Zeitschrift Expert, zum neuen Chefredakteur von Vedomosti ernannt. Schmarow hatte im März 2020 den Posten kommissarisch übernommen und war bald in Konflikt mit der Redaktion geraten: Diese beschuldigte ihn der Zensur. Aus Protest reichten [am 15. Juni 2020] alle leitenden Redakteure die Kündigung ein.

    An der Ernennung Schmarows war laut Recherchen von Meduza, The Bell, Forbes und Vedomosti vermutlich auch Michail Leontjew, der Pressesekretär von Rosneft beteiligt. Seit 2017 hatte das Unternehmen, dem Vedomosti gehörte, einen riesigen Kredit bei einer Tochterbank von Rosneft laufen.

    Das ist passiert

    Der Verwaltungsrat von Vedomosti (Aktiengesellschaft Business News Media (BNM)) hat Mitte Juni in neuer Zusammensetzung getagt und Andrej Schmarow als Chefredakteur der Zeitung bestätigt. Es war der neue Vedomosti-Eigentümer Iwan Jeremin, der die Ernennung Schmarows initiiert hatte. Am 10. Juni hatte Jeremin dann bekanntgegeben, dass der Verwaltungsrat in Kürze tagen werde und die Journalisten ihrerseits einen Kandidaten vorschlagen sollten. Denn laut Gesellschaftervertrag muss der Verwaltungsrat des BNM neben dem Kandidaten des Eigentümers auch einen Kandidaten der Redaktion in Betracht ziehen. Die Redaktion schlug daraufhin eine Herausgeberin zahlreicher Co-Projekte von Vedomosti vor, die ehemalige Vedomosti-Redakteurin Anfissa Woronina.

    Der neue Verwaltungsrat besteht aus Jeremin, dem Geschäftsführer eines seiner Unternehmen Michail Neljubin, dem ehemaligen Chefredakteur von TASS und ehemaligen Leiter des Finanzressorts von Vedomosti Anton Trifonow, dem anfänglichen Kaufinteressenten Konstantin Sjatkow und dem Dozenten für Unternehmensrecht der Juristischen Fakultät der MGU Alexander Molotnikow. Mit drei zu zwei stimmten die Ratsmitglieder für Schmarow. Die vierte und entscheidende Stimme für Schmarow kam vom Vorsitzenden des Verwaltungsrats – Jeremin.

    Nach Bekanntgabe der Entscheidung reichten die fünf stellvertretenden Chefredakteure von Vedomosti [am 15. Juni 2020] die Kündigung ein: Dimitri Simakow, Alexander Gubski, Boris Safranow, Filipp Stepkin und Kirill Charatjan. Damit verlässt das sogenannte Aquarium die Zeitung – der Kreis der leitenden Redakteure, die für die operativen Entscheidungen bei Vedomosti verantwortlich waren.
    Alle fünf hatten bereits leitende Positionen inne, bevor die ausländischen Aktionäre 2015 zum Verkauf der Zeitung genötigt wurden. Mit ihnen gehen auch die komissarische Chefredakteurin der Online-Redaktion Alexandra Tschunowa und die Redakteurin des Wirtschaftsressorts Jelisaweta Basanowa. Etwa zehn Journalisten, einschließlich mehrerer Ressortleiter, haben Vedomosti schon vorher verlassen.

    Ihre Kündigung begründeten die Redakteure in einer öffentlichen Erklärung damit, dass Andrej Schmarow in den drei Monaten als Chefredakteur demonstriert habe, wie wenig er mit den Standards von Vedomosti übereinstimme; seine Ernennung zeuge davon, dass diese Prinzipien bei der Zeitung nicht länger gebraucht würden. „Alle Vermittlungsversuche sind gescheitert und die endgültige Entscheidung für Schmarow ist getroffen, damit bleibt uns nichts als zu gehen“, heißt es in der Erklärung.

    Nach dem Verkauf der Zeitung – Ernennung des neuen Chefredakteurs im März

    Schmarow war am 24. März kommissarisch zum Chefredakteur von Vedomosti ernannt worden – eine Woche, nachdem Demjan Kudrjawzew den kurzfristigen Verkauf der Zeitung bekanntgegeben hatte.

    Vom ersten Tag an gab es Konflikte mit der Redaktion: Schmarow erklärte, er lese Vedomosti nicht und sei mit deren Redaktionskodex Dogma nicht vertraut. Er änderte eigenmächtig Überschriften ins komplette Gegenteil und verkündete den Journalisten, er verbiete auf Bitte der Kreml-Administration hin, Artikel zu Umfragen des Lewada-Zentrums zu veröffentlichen. Doch das offensichtlichste Beispiel für Zensur war, dass ein schon publizierter, kritischer Online-Artikel über den Vorstandsvorsitzenden von Rosneft Igor Setschin wieder gelöscht wurde.

    Eine Quelle von Meduza, die Einblicke in den Verkauf von Vedomosti hatte, berichtet, dass an der Entscheidung, Schmarow zum Chefredakteur zu machen, auch der Pressesekretär von Rosneft Michail Leontjew beteiligt gewesen sei. Darauf angesprochen, stritt Schmarow dies nicht ab. Leontjew antwortete auf die Nachfrage von The Bell mit: „Was habe ich denn damit zu tun?“

    Als Kudrjawzew im März 2020 den Verkauf von Vedomosti bekanntgab, sollten zunächst Konstantin Sjatkow, der Herausgeber der Zeitung Nascha Werssija, und der Investmentbanker Alexej Golubowitsch, Vedomosti kaufen. Doch Golubowitsch und später auch Sjatkow zogen ihr Angebot wieder zurück. Ende Mai wurde Iwan Jeremin zum alleinigen Eigentümer. Die Vertragsdetails blieben unter Verschluss, über Abmachungen zwischen Jeremin und der WBRR oder Rosneft ist nichts bekannt. Allerdings hatte Jeremins Online-Portal FederalPress PR-Verträge mit Tochterunternehmen von Rosneft und veröffentlichte geringfügig redigierte Pressemeldungen, ohne sie als Werbung zu kennzeichnen.

    Die Folgen

    Der Satz, Vedomosti werde es bald nicht mehr geben, mit dem dieser Artikel beginnt, ist keine Übertreibung. In den letzten zehn Jahren wurden mindestens zehn große unabhängige Redaktionen zerschlagen. Mal geschieht das langsam und qualvoll, mal gelingt es einer Redaktion, einen Teil der Unabhängigkeit zu bewahren, indem sie auf besonders sensible Themen verzichtet. Nichtsdestoweniger beweist eine Vielzahl von Beispielen: Hat eine Zeitung ihre Unabhängigkeit verloren, ist es unmöglich, die Qualität der Redaktionsarbeit zu erhalten.

    Angenommen, das Ziel der ganzen Aktion war es, Vedomosti als Marke zu erhalten und bloß jenen Teil loszuwerden, der sich nicht per Telefonanruf steuern lässt, so ist dieser Plan doch zum Scheitern verurteilt. Das kann nicht funktionieren. Denn mit der redaktionellen Unabhängigkeit verschwinden nicht nur die kritischen Artikel über Politik oder die Aufdeckung von Korruption, sondern nach und nach auch die qualitativ hochwertigen Inhalte zu Wirtschaft und Finanzen. Vor allem aber verschwindet der Geist der Zeitung, der sie antreibt und den Leser an sie bindet.

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    Fall Golunow – hinter den Kulissen

  • Fall Golunow – hinter den Kulissen

    Fall Golunow – hinter den Kulissen

    Die Nachricht kam Dienstagnachmittag für viele völlig überraschend – umso größer war die Freude: Iwan Golunow ist frei!
    Der Investigativjournalist von Meduza stand seit Samstag unter Hausarrest, ihm war versuchter Drogenverkauf vorgeworfen worden. Sein Fall schlug hohe Wellen: So solidarisierten sich russische liberale wie staatsnahe Medien mit Golunow, außerdem Künstler wie der Regisseur Andrej Swjaginzew und die Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja, und auch die Zivilgesellschaft reagierte sofort, für den heutigen 12. Juni war ein Protestmarsch geplant. Die dekoder-Redaktion hatte noch am Dienstag einen offenen Brief veröffentlicht.

    Seine plötzliche Freilassung und das Fallenlassen der Anschuldigungen gegen ihn sorgten für großen Jubel. Hatten die Behörden dem Druck der Öffentlichkeit nachgegeben? 
    Auf The Bell erschien nun ein Text, der informiert, was seit dem Tag der Festnahme Golunows, dem 6. Juni, hinter den Kulissen geschah. Darin erzählt Dmitri Muratow, ehemaliger Chefredakteur der unabhängigen Novaya Gazeta, der an den Verhandlungen beteiligt war. Seine Schilderungen zeigen einmal mehr, dass es in Russland nicht unbedingt die Gerichte sind, die über eine Freilassung oder Verurteilung entscheiden.

    Im Fall Golunow hat es am Samstag ein Treffen in der Moskauer Stadtverwaltung gegeben – noch vor der eigentlichen Gerichtsverhandlung. Das berichtet Dmitri Muratow, Aufsichtsratschef der Novaya Gazeta.   

    Muratow zufolge waren [neben Muratow und Alexej Wenediktow, Chefredakteur des kritischen Radiosenders Echo Moskwydek] auch Natalja Sergunina (Leiterin des politischen Bereichs) und Alexander Gorbenko (Verantwortlicher für  Informationspolitik und Sicherheit) dabei, die beiden Stellvertreter von Bürgermeister Sergej Sobjanin.

    „Auf unsere Bitte hin war zu dem Treffen [der Moskauer Polizeichef] Generalleutnant Oleg Baranow eingeladen. 
    Wir haben lange Zeit Fragen gestellt, danach wurde den verschiedenen Seiten klar, dass die Argumente der Anklage völlig unhaltbar sind“, so Dmitri Muratow. „Genau dort in der Stadtverwaltung begann dann auch der Dialog, und es entstand die Idee, das Wanja freigelassen, ja zumindest in Hausarrest überführt werden muss. Die Anwälte stellten entsprechende Anträge und händigten unsere Bürgschaften aus. 
    Das Gericht hörte ihre Argumente an und bezog selbstverständlich in seine Überlegungen mit ein, dass die Öffentlichkeit nicht einfach nur kochte, sondern immer neue Unstimmigkeiten in der offiziellen Version aufgedeckt wurden. So traf das Gericht schließlich die erste richtige Entscheidung: Unter Berücksichtigung seines Gesundheitszustands und der Situation insgesamt wurde Golunow nicht inhaftiert.“ 
    Was mit ihm geschehen wäre, wenn er inhaftiert worden wäre, sei völlig unklar – denn niemand wisse, ob die Auftraggeber dieses Falls Kontrolle über die Untersuchungsgefängnisse hätten, fügt er noch hinzu. 

    Die politische Führung des Landes hat die richtige Entscheidung getroffen

    Den nächsten Schritt, fährt Muratow fort, habe man ab Montag besprochen. An der Entscheidung sei Wladimir Putin beteiligt gewesen. Die Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa habe Putin die Situation „ausführlichst“ dargelegt. Beim Rausgehen habe sie die Vermutung geäußert, dass womöglich mehrere zehntausend Urteile in Drogendelikten fingiert seien. 
    „Die politische Führung des Landes hat die richtige Entscheidung getroffen; sie hat richtig eingeschätzt, dass die Geheimdienste, so meine Vermutung, ihren Vertrauensbonus ausgenutzt haben, um bei der Führung Moskaus und der Staatsführung eine für sie [die Geheimdienste – dek] nützliche Sichtweise zu etablieren“, so Muratow.

    Im Grunde sei die Entscheidung schon am Vorabend getroffen worden, doch alles sollte auf gesetzlicher Grundlage vonstatten gehen, also habe man auf die Auswertungen der DNA-Proben gewartet. Diese seien am 11. Juni tagsüber gekommen, an dem beschlagnahmten Gut habe es keinerlei Spuren von Golunow gegeben. 
    „Es blieb nur eine Möglichkeit: Golunow in seinen Beruf zurückzulassen und den Journalisten und der Öffentlichkeit zu danken für ihre beispielhafte Solidarität“, sagt Muratow. Er glaubt, der Brief mit der Aufforderung, Golunow freizulassen, sowie die Bereitschaft tausender Menschen, am 12. Juni am Solidaritätsmarsch teilzunehmen, hätten die Situation entscheidend beeinflusst.

    Feiern statt Protestieren – ein Deal mit der Stadtverwaltung?

    Am Dienstag veröffentlichten Muratow, Meduza-Gründerin Galina Timtschenko, Meduza-Chefredakteur Iwan Kolpakow und The Bell-Gründerin Jelisaweta Ossetinskaja eine gemeinsame Erklärung, in der sie schrieben, dass die Verhandlungen mit der Stadtverwaltung über den Marsch am 12. Juni in eine Sackgasse geraten sei. „Unser Vorschlag: morgen ein bisschen was trinken, und dann in den nächsten Tagen die Genehmigung für eine Aktion im Zentrum von Moskau erreichen“, heißt es in der Erklärung. Jedoch zählen diese Vier nicht zu den Organisatoren des Marsches.  

    Wir [The Bell] haben Muratow und Timtschenko gefragt, ob ihre Gesprächspartner in der Moskauer Stadtverwaltung den Wunsch geäußert hätten, den Marsch nach der Freilassung Golunows abzusagen. Muratow hat bislang noch nicht darauf geantwortet. Timtschenko sagte, sie habe überhaupt nicht mit der Stadtverwaltung gesprochen, sondern lediglich mit dem Anwalt Golunows, Sergej Badamschin, der sie gebeten habe, sich in den nächsten Tagen Gedanken um die Sicherheit und Gesundheit Golunows zu machen.  
    „Ich bin weder Initiatorin noch Organisatorin. Ich hatte eine andere Aufgabe: Wanja mit Hilfe von Anwälten rauszuholen. Aber ich danke allen zum hundertsten Mal für die Unterstützung und wünsche mir sehr, dass wir nicht vergessen, wie viel heller, besser und wirksamer Solidarität ist als Streitigkeiten und Skandale“, sagte Timtschenko The Bell.

    Erlaubnis, solidarisch zu sein

    Das Online-Journal Projekt hatte am Montag mit Verweis auf zwei Kremlbeamte berichtet, dass die Präsidialadministration bestrebt sei, das Strafverfahren gegen Golunow bis zum 20. Juni zu schließen – wenn Putins Direkter Draht stattfindet. Den Quellen von Projekt zufolge war es der Vorsitzende der Präsidialadministration Anton Waino, der am 8. Juni die Entscheidung getroffen hatte, Golunow unter Hausarrest zu stellen. Und Wainos Stellvertreter Alexej Gromow habe schließlich den Fernsehsendern erlaubt, den Journalisten öffentlich zu unterstützen.

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  • „Du weißt nie, welche Risiken du eingehst”

    „Du weißt nie, welche Risiken du eingehst”

    Russland gilt nicht als attraktiver Investitionsstandort: Zwar sind die Personalkosten hier recht niedrig und die Qualifikation der Arbeitskräfte ist relativ hoch, doch bleiben notwendige Reformen zur Diversifizierung der Wirtschaft seit Jahren weitgehend aus. Mangelnde Rechtssicherheit erhöht die Investitionsrisiken, die Korruption belastet das Investitionsklima. Die rückläufigen Auslandsinvestitionen sind nicht zuletzt auch auf die westlichen Sanktionen zurückzuführen. 

    Vor diesem Hintergrund war es für manche Wirtschaftsexperten nicht überraschend, als im Mai bekannt wurde, dass Morgan Stanley sich Anfang 2020 vom russischen Markt zurückziehen wird. Und das, obwohl es schon seit fast 25 Jahren in Russland aktiv ist. Nicht einmal während der massiven Wirtschaftskrise 1998 zog das US-amerikanische Investmentbanking- und Wertpapierhandelsunternehmen die Reißleine. Morgan Stanley plante und begleitete unter anderem die Börsengänge der Giganten Lukoil und Rosneft, in erheblichem Umfang bildete und prägte das Unternehmen die russischen Finanzmärkte.

    Mit gewisser Wehmut schaut Rair Simonjan nun zurück auf das Vierteljahrhundert Geschichte von Morgan Stanley in Russland. Der langjährige Leiter der Investmentbank ist ein auch im Ausland bekannter und geschätzter Finanzfachmann. 

    Vor dem Internationalen Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg erklärt er im Interview mit The Bell die Gründe für den Rückzug und führt auf, was getan werden müsse, damit Russland zu einem attraktiven Investitionsstandort wird.  

    The Bell/Anastasia Stogney: Vor einigen Jahren haben Sie gesagt, dass die ausländischen Banken in Russland zwei Optionen hätten: bleiben und auf bessere Zeiten warten, oder gehen, ohne sich umzudrehen. Morgan Stanley, an dessen Spitze Sie 14 Jahre lang gestanden haben, hat vor Kurzem die zweite Option gewählt. Viele andere westliche Investmentbanken sind denselben Weg gegangen. Heißt das, dass niemand mehr an bessere Zeiten glaubt?

    Rair Simonjan: In diesem Jahr ist es 25 Jahre her, dass Morgan Stanley seine Vertretung in Russland eröffnet hat. Es ist ein Jubiläum mit Tränen in den Augen. Alles hat sich seither verändert. Damals war Russland ein Land, das für alle interessant war, eine Terra incognita. Allen war klar, dass da die große Sowjetunion war, die sich öffnet, und man schnell seine Positionen abstecken muss. Alle wollten ein Stück vom russischen Kuchen abhaben.

    Investmentbanken denken kurzfristig. Die Entscheidungsfindung läuft so: Lässt sich schnell Geld verdienen, eröffnen wir eine Niederlassung. Falls nicht, packen wir ein. Diese Art zu denken war vor allem bis 1998 typisch. Die Krise war eine kalte Dusche, und es war unklar – soll man bleiben oder gehen? Wir sind geblieben, weil der Optionswert [der Preis, den Standort angesichts einer ungewissen Zukunft zu behalten – dek] sehr gering war: Das Büro war nicht groß, die Kosten niedrig. Und als sich der Markt wieder öffnete, erwies sich das als richtig. 

    Die ersten Jahre nach 2000 waren eine Zeit der Chancen mit dutzenden, wenn nicht hunderten von Börsengängen (IPOs). Allein Morgan Stanley hat in jenen Jahren hunderte Milliarden Dollar durch Anleihen und dutzende Milliarden Dollar durch IPOs nach Russland gebracht. Man kann sagen, wir waren der Inkubator der Milliardäre.

    Was hat sich geändert? Warum glauben die Banken jetzt nicht mehr, dass man einfach abwarten muss?

    Nach der Krise von 2008 wurde Russland schnell zu einem marginalen Markt, das Geschäft schrumpfte. Dann kamen die Sanktionen, und die Investmentbanken hatten nun wirklich nichts mehr zu tun. Ihre Beteiligung an der Privatisierung verlor ihren Sinn, denn wegen der Sanktionen stellte sich die Frage: Wenn wir dem Staat dieses Geld in die Kasse bringen, wissen wir denn, was er damit anfangen wird? 

    Es wurde schwierig zu entscheiden, mit welchen Unternehmen man noch arbeiten kann und welche Papiere noch gefahrlos in der Bilanz auftauchen dürfen. Während die Amerikaner noch bei der OFAC oder ihrem Außenministerium nachfragen konnten, verfielen die Europäer schlicht in Starre. 
    Die Compliance-Kosten wurden so exorbitant hoch, dass es schließlich einfacher war, sich nicht auf russische Vermögenswerte einzulassen. 

    Es wurde schwierig zu entscheiden, mit welchen Unternehmen man noch arbeiten kann 

    Eine Formel zur Berechnung der Rentabilität zu erstellen ist derzeit unmöglich. Denn es gibt zu viele Unsicherheitsfaktoren, zu viele „uncertainties“. Man kann das nicht mit der Effizienz von Investitionen in anderen Regionen vergleichen. Das Länderrisiko ist nicht nur einfach hoch, sondern verboten hoch.

    Russisches Geld ist toxisch geworden, aber gleichzeitig steigen die Kapitalabflüsse. Wie passt das zusammen? Wohin fließt dieses Geld, wenn die Banken es nicht haben wollen?

    Kapitalabfluss ist ein ziemlich unklarer Begriff. Darunter fällt tatsächlich ausgeführtes Geld, aber beispielsweise auch Verrechnungen russischer Firmen mit ihren Offshore-Ablegern. Wie man den Nettoabfluss daraus ersehen soll, ist unklar. Natürlich gibt es den. Aber ich kann mit Bestimmtheit sagen, dass der Kundenstamm der Banken, die das Geld von Großkunden verwalten, schrumpft. Auch die verwalteten Summen und die Bedeutung der russischen Kunden sind rückläufig.

    Was glauben Sie: Sind Maßnahmen wie eine weitere Amnestie oder die Schaffung von Binnen-Offshoregebieten geeignet, um den Abfluss zu stoppen und zu erreichen, dass dieses Geld hier arbeitet?

    Die Finanzmärkte im Westen sind deutlich komfortabler, schneller und transparenter. In Russland ist die Geldzirkulation langsamer. Aber vor allem weißt du nie, welche Risiken du eingehst, was man dir vorwerfen und zu welchen Zahlungen man dich heranziehen wird. Es gibt keine klaren Spielregeln und keine verbürgten Rechte. 

    Es gibt keine klaren Spielregeln und keine verbürgten Rechte

    Einer meiner Bekannten, der Eigentümer eines der größten Unternehmen Russlands, hat sein Vermögen gemacht, aber egal wie viele Anlagemöglichkeiten man ihm präsentiert – er lagert dieses Geld beharrlich auf Sparkonten. Ich kann ihn verstehen. Wenn sich die wirtschaftliche Lage plötzlich ändert, ist jedes Investment mit einem erhöhten Risiko verbunden.
    Genau so denken auch die ausländischen Investoren. Ein ehemaliger Kollege von mir hat Ende 2012 einen Fonds aufgelegt, um in Startups zu investieren. Die Idee war einfach: in Produkte zu investieren, die es im Westen schon gibt, bei uns aber noch am Anfang stehen, wie Dienstleistungen, Internet und Hightech. Mir gefiel das, und ich habe dort eigenes Geld investiert. Dann kam 2014, der Rubel wertete um die Hälfte bis zwei Drittel ab, und alle Investments dieses Fonds in Rubel-Aktiva verloren einen Großteil ihres Wertes. 
    Heute hat der Fonds weniger russische Startups im Portfolio als finnische. Die Zahl der russischen Startups ist um 90 Prozent gesunken, und die Rendite auf das in Russland investierte Kapital hat sich als deutlich geringer erwiesen als erwartet.

    Zu den aktivsten westlichen Investoren in Russland gehörten die Fonds von Baring Vostok. Kennen Sie Michael Calvey? Was halten Sie von dem Fall?

    Ich weiß nicht, was die eigentliche Crux bei diesem unternehmensinternen Konflikt ist. Aber gegenüber einem Investor wie Calvey, der seit mehr als 20 Jahren am Markt aktiv ist und einen tadellosen Ruf genießt, hätte man derartige Maßnahmen nicht ergreifen dürfen. Calvey hätte vor vielen Jahren aussteigen und sich mitsamt allen Vor- und Nachfahren ein schönes Leben machen können. 
    Noch einmal: Ich weiß nicht, worum es bei dem Konflikt im Kern geht. Aber selbst wenn er einen Fehler gemacht hat, gibt es gesetzliche Wege, um damit umzugehen: die Gerichte in London und Russland. Aber doch nicht eine Verhaftung.
    Das hat dem Investitionsklima in Russland enorm geschadet. Da hat sich jemand dem russischen Markt verschrieben, erfolgreich in hunderte Firmen investiert und ihnen geholfen zu wachsen. Und alle sehen, was man mit ihm machen kann, und denken sich: „Das wird mir auch passieren.“ Wer will da noch investieren?

    Stimmt es, dass Investoren ein kurzes Gedächtnis haben? Was muss sich ändern, um zu garantieren, dass sie zurückkehren?

    Es ist alles möglich, und wir haben ja gesehen, was nach der Krise von 1998 passiert ist. Aber es muss neue Möglichkeiten geben. Dafür müssen die Sanktionen aufgehoben werden. Sonst kann man nicht arbeiten. 

    Glauben Sie persönlich, dass die Sanktionen aufgehoben werden?

    Früher oder später wahrscheinlich ja. Ich bin zu Sowjetzeiten aufgewachsen und wir haben sozusagen die ganze Zeit mit Sanktionen gelebt. Man kann in einem solchen Regime überleben, und das sehr lange.
    Aber aus Wachstumssicht ist ein autarker Weg zum Scheitern verurteilt. Bei Gefahr von außen beginnt sich eine Psychologie der belagerten Festung zu entwickeln. Du bist von Feinden umringt und nutzt alle Mittel der Mobilmachung. Das führt in die Sackgasse. Das ist die Sowjetunion Ende der 1970er Jahre

    Was die Integration in die globalen Prozesse in Wissenschaft und Technik betrifft, sind wir an diesem Punkt angelangt. Wobei die Versuche zur Lösung der Situation heute oft nicht so radikal sind wie Ende der 1970er, als klar war, dass das System zum Scheitern verurteilt ist.

    Im US-Kongress wird viel darüber gestritten, ob die Sanktionen gegen Russland gut funktionieren und ob sie überhaupt Wirkung haben. Wie beurteilen Sie das?

    Sie funktionieren nach dem Prinzip der Schlinge um den Hals: Das Atmen fällt schwer, aber man überlebt. Sanktionen helfen nicht, das ist schlicht unmöglich. Aber sie bringen niemanden um. Dafür gibt es einfach keine Beispiele – schauen Sie sich Kuba oder den Iran an. Selbst kleinere Staaten als Russland schaffen es, über Jahre trotz Sanktionen zu überleben. 

    Sanktionen helfen nicht, das ist schlicht unmöglich. Aber sie bringen niemanden um

    Überhaupt ist das für Russland typisch: mobil zu werden, wenn sich die Schlinge um den Hals legt. So sehen das offensichtlich diejenigen, die sagen, dass die Sanktionen unsere Entwicklung voranbringen.

    Die russische Regierung sagt seit Verhängung der Sanktionen gern, dass sie uns in gewisser Weise nutzen: In der Isolation könnten unsere Industrie und unsere Technologien wachsen. Finden Sie diese Logik falsch?

    Das ist sowjetische Rhetorik. Natürlich kann man in der Isolation etwas produzieren. Aber das Produkt wird teurer und die Qualität wahrscheinlich schlechter sein. Es wird viel davon gesprochen, dass das Importembargo sich günstig auf die Landwirtschaft auswirke. Vielleicht ist das in einigen Bereichen auch so. Aber die Kosten dafür trägt der Verbraucher. Er erhält entweder keine Waren, oder aber Waren von geringerer Qualität oder zu höheren Preisen. 

    Sanktionen können nicht helfen. Sie können Maßnahmen erzwingen, die man auch ohne sie hätte treffen können. Das ist das Prinzip „Not macht erfinderisch“. Das Ziel eines Staates besteht darin, ein transparentes Regelsystem zu schaffen, Bedingungen, unter denen sich die Menschen bemühen werden, etwas zu erreichen. 

    Der Wirtschaftsexperte Sergej Gurijew hat in einem Interview vor Kurzem zwei wichtige Faktoren genannt, damit die Wirtschaft des Landes insgesamt prosperieren kann: die Möglichkeit eines Machtwechsels und den Kampf gegen Korruption. Welche würden Sie benennen?

    Ich stimme Sergej zu, aber das klingt natürlich ziemlich abstrakt. Wenn die Wirtschaft wachsen soll, muss das Umfeld stimmen. Damit ein Mensch gewillt ist, zu investieren, muss er sich sicher sein, dass man ihn weder umbringt noch sein Geld wegnimmt. 

    Damit ein Mensch gewillt ist, zu investieren, muss er sich sicher sein, dass  man ihn weder umbringt noch sein Geld wegnimmt 

    Es muss ein unantastbares Eigentumsrecht und transparente Spielregeln geben mit einem funktionierenden Steuersystem, ohne unvorhergesehene Zahlungen und ohne lokale Kriminalität. Es läuft alles darauf hinaus, ob das Umfeld günstig ist oder nicht. Derzeit ist es nicht sehr günstig, aber das ist nicht tödlich.

    Morgan Stanley war ein wichtiger Personallieferant für russische Großunternehmen, beispielsweise für Rosneft. Braucht Russland denn jetzt von woanders her Arbeitskräfte?

    Die Arbeitskultur ist in der Tat komplett anders. Ich kenne russische Unternehmen ein wenig, und sie sind deutlich hierarchischer. Morgan Stanley hat eine flache Hierarchie – dort wirst du eingestellt, um Geld zu verdienen. Wenn du Unterstützung brauchst, wendest du dich an London oder New York. Aber du bestimmst selbst über die Deals. 

    In Russland funktionieren die Großunternehmen nach dem Prinzip einer One-Man-Show, wie Feudalstaaten. Die Russen glauben nicht an Institutionen, sie glauben an konkrete Personen und an die Möglichkeiten, Befehle zu erteilen und Kontrolle auszuüben. Dieses System unterdrückt die Initiative. Das Risiko etwas zu tun ist höher als das Risiko es nicht zu tun.
     


     

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  • „Anonymität ist eine Möglichkeit, zu sagen, was man denkt“

    „Anonymität ist eine Möglichkeit, zu sagen, was man denkt“

    „Ich heiße Alexander Gorbunow, und ich bin der Autor des Telegram-Kanals Stalingulag.“ Mit diesen Worten outete sich Anfang Mai der Betreiber des populärsten Kreml-kritischen Telegram-Kanals Russlands in einem Interview mit BBC Russian Service. Schon 2017 meinte der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny, dass der Autor von Stalingulag der wichtigste politische Kommentator des Landes sei, derzeit hat der Kanal auf Twitter über eine Million Follower, auf Telegram über 377.000 Abonnenten.

    Lange rätselte man in Russland über die Identität des anonymen Autors. Im Sommer 2018 lieferte das Investigativmedium RBC Hinweise darauf, dass der 26-jährige Alexander Gorbunow aus Machatschkala derjenige sein muss: Der 2013 gegründete Twitter-Account @StalinGulag hieß nämlich zuvor @algorbunov. 

    Vermutlich aufgrund dieses Anhaltspunktes bekamen die Eltern des Bloggers Ende April Besuch von der Polizei. Sie gaben vor, wegen „Telefonterrors“ zu fahnden: Irgendjemand soll aus der Wohnung der Eltern eine telefonische Bombendrohung abgesetzt haben. 

    „Wie erfinderisch, früher konnten die einem einfach Drogen unterjubeln“, witzelte Stalingulag einen Tag später, noch anonym. Doch kurze Zeit später entschied sich Gorbunow, seine Identität zu lüften und die Öffentlichkeit zu suchen: Er outete sich zunächst auf BBC und später auf The Bell – auch, um seine Familie zu schützen. 

    Seine Aktivität auf Social Media, so erzählte er der BBC, habe er eher aus Langeweile begonnen, und Politik habe ihn schon immer interessiert. Russland sei für ein Leben im Rollstuhl überhaupt nicht geeignet, so der Blogger, der spinale Muskelatrophie hat. Computer und Internet seien die einzige Möglichkeit mitzubekommen, was in der Welt passiert.

    Gorbunows Heraustreten aus der Anonymität erregte große Aufmerksamkeit, auch im Ausland. Gorbunow hat inzwischen einen neuen Telegram-Kanal gegründet. @Stalin_gulag_narodny versteht sich als Aggregator unterschiedlicher Meinungsposts.

    Die Biografie des in Moskau lebenden Bloggers hat etwas Inspirierendes, meint das Onlinemedium The Bell. Das Medien-Start-up hat entschieden, das Interview mit Gorbunow in Form eines Monologs zu veröffentlichen – in dem er auch erklärt, warum Anonymität in Russland überlebensnotwendig ist und weshalb er seine dennoch aufgab.

    Stalingulag war nur ein Twitter-Blog, um meine Gedanken zu äußern. Ich wollte nicht, dass er groß und viel gelesen wird. Ich habe nie Werbung geschaltet oder mit irgendwem kooperiert. Die erste gegenseitige PR habe ich gemacht, als ich auf Telegram 200.000 Follower hatte. Inzwischen kostet ein Post ab 150.000 [Rubel – ca. 2100 Euro, dek], je nach Format und Anzahl der Links.

    Dabei war die Werbung immer kommerziell, nicht politisch. Telegram-Kanäle verdienen sonst vor allem mit bezahlten Polit-Posts. Aber solche Anfragen blocke ich ab. Fast täglich bekomme ich Angebote, meinen Kanal zu verkaufen. Aber ich werde nicht verkaufen. Ich habe nie auch nur ansatzweise mit irgendjemandem darüber gesprochen.

    Meine Posts entstehen spontan. Ich blättere in Newstickern und sozialen Netzwerken und schreibe, wenn mich etwas bewegt. Jetzt wirft man mir fünf Jahre alte Tweets vor, die angeblich regierungsfreundlich waren. Aber das stimmt so nicht. 

    Ich könnte alles löschen. Sagen, dass es Fake ist. Aber das werde ich nicht machen. Stalingulag ist ein Teil von mir, warum sollte ich den löschen? Irgendwo habe ich vielleicht jemanden getrollt, falsche Schlüsse gezogen, war zu emotional – aber das war alles ich.

    Irgendwo habe ich vielleicht jemanden getrollt, falsche Schlüsse gezogen, war zu emotional – aber das war alles ich

    Ich bin in Machatschkala aufgewachsen und erhielt Hausunterricht, von einer ganz normalen Schule. Ich weiß nicht, wie es heute mit dem Hausunterricht läuft, aber damals lief alles so schlecht, dass die Lehrer manchmal nur fünf oder sechs Mal im Schuljahr bei mir waren. Sie kamen und sagten: „Hier hast du fünf Absätze zum Lesen, wenn ich wiederkomme, machst du mir eine Nacherzählung.“ Lernen und Unterricht oblag meinen Eltern, und im Grunde mir selbst.

    Meine Mutter war ständig mit mir beim Arzt, bei Spezialisten in verschiedenen Städten und konnte nicht arbeiten, mein Vater war Bauleiter und Alleinverdiener in der Familie. Sie bauten eine Start- und Landebahn in Kaspijsk, einen Flughafen in Dagestan, Krankenhäuser.

    Nachdem vor einer Woche die Polizei bei meinen Eltern aufgetaucht war, bekamen auch meine Cousins jeweils gegen ein Uhr nachts Besuch. Sie fragten sie ausschließlich nach mir: Wo ich sei, was ich tun und in welcher Beziehung ich zu ihnen stehen würde. Sie stellten ihre Fragen und gingen wieder. Meine Cousins sagten, sie wüssten von nichts.

    Ungefähr in der siebten Klasse wurde mir klar, dass ich selbst Geld verdienen muss

    Ungefähr in der siebten Klasse wurde mir klar, dass ich selbst Geld verdienen muss, weil es hinten und vorne nicht reichte. Eines Tages kam eine Bekannte vorbei und bot meinen Eltern einen Vitaminkomplex für mich an. Meine Eltern waren nicht sehr begeistert, aber ich begann sie nach ihrem Job auszufragen. Sie sagte, ich würde das auch können, da begann ich Handel zu treiben. Ausschließlich über Bekannte. 
    Ich versuchte es auch mit Kaltakquise, aber ohne Erfolg. Wenn ich jemanden auf der Straße ansprach, kramte der in der Hosentasche und hielt mir Kleingeld hin. Ich verdiente im Schnitt 100 bis 200 Dollar im Monat. Für Machatschkala war das richtig viel Geld. Staatsbeamte verdienten weniger. Bald konnte ich mir sogar Spontankäufe leisten – angesagte Klamotten, Café-Besuche.

    In der achten Klasse ließ ich das langsam bleiben und konzentrierte mich auf Zielgruppenwerbung, begann Websites zu erstellen. Mit ungefähr fünfzehn sah ich eine Online-Werbung für einen Poker Room, so wurde das Pokern zu meiner neuen Einnahmequelle. 

    Studieren wollte ich nicht unbedingt

    Studieren wollte ich nicht unbedingt. Um ehrlich zu sein, habe ich nie gerne gelernt und nie verstanden, was es mir nützen soll, wenn ich stattdessen auch im Internet surfen oder Counter-Strike spielen kann. Das Interesse an Büchern, an Geschichte und so weiter kam erst viel später. Damals hatte ich genug Geld, ich war selbständig und zufrieden mit der Situation. Aber meine Eltern mit ihrer alten sowjetischen Denke sagten: „Wie willst du denn leben ohne Hochschulabschluss? Das ist doch peinlich, alle haben einen, und du nicht?“ oder „Du machst da unseriöses Zeug, und morgen verlässt dich Fortuna, und dann stehst du mit leeren Händen da.“

    Also schrieb ich mich an der Uni in Machatschkala ein, am Institut für Wirtschaft und Recht und habe Jura studiert. Das ist eine kleine Uni, vor allem dafür bekannt, dass Ramsan Kadyrow dort studiert hat. Es war nicht schwer, dort angenommen zu werden. Ich hätte eigentlich auch überall anders studieren können, meine Noten waren ganz gut. 

    Ich dachte sogar daran, nach Moskau zu gehen. Ich rief an der Higher School of Economics an, aber man sagte mir, dass die Einrichtung nicht für Menschen mit Behinderung geeignet sei und ich nur einzelne Vorlesungen besuchen könne. Ich telefonierte dann noch ein Dutzend weiterer Hochschulen ab und merkte, dass es für mich nirgendwo möglich wäre, regelmäßig Seminare zu besuchen. 

    Was macht es dann für einen Unterschied, wo man studiert? In Machatschkala fuhr ich nur zu den Prüfungen zur Uni. Damit ich sie ablegen konnte, kamen die Dozenten extra ins Dekanat im Erdgeschoss.

    Nach meinem Abschluss begann ich, nach Moskau zu fahren, erst für drei, dann für sechs Monate. Das war ein schleichender Umzug. 

    Ich beschäftige zwei Fahrer. Das ist eine Notwendigkeit

    Am ersten jeden Monats bezahle ich 400.000 Rubel [ca. 5500 Euro – dek] – die Miete, zwei Fahrer und eine Haushaltshilfe. Ich habe zwei Fahrer, weil es ziemlich schwer ist, eine Anzeige für eine Personalagentur zu formulieren: „Ich suche jemanden, der mir beim Treppensteigen und Überwinden von Türschwellen hilft.“ So einen Beruf gibt es nicht. Also beschäftige ich zwei Fahrer. Das ist eine Notwendigkeit. Plus die Ausgaben für Essen, Freizeit, Benzin und so weiter.

    Heute besteht mein Arbeitsplatz aus Notebook und Smartphone – Steve Jobs sei Dank. Es gab Zeiten, da arbeitete ich am Computer mit mehreren großen Bildschirmen. Aber mit der Zeit kam ich hinter die Erfolgsformel: „Weniger ist mehr.“

    Ende der elften Klasse habe ich damit angefangen, mich mit dem Wertpapierhandel zu beschäftigen. Im Prinzip haben Poker und die Börse viel gemeinsam, weil man in beiden Fällen mit Wahrscheinlichkeiten arbeitet. Das Einzige, was du kontrollieren kannst, ist dein Risiko. Das ist die einzige Konstante.

    Das Einzige, was du kontrollieren kannst, ist dein Risiko. Das ist die einzige Konstante

    Zunächst habe ich auf dem US-Markt mit Aktien gehandelt. Beim ersten Mal habe ich 1000 Dollar investiert. Und sie glorreich in den Sand gesetzt. Beim zweiten Mal verlor ich nicht mehr, aber bis ich dort war, wo ich heute stehe, war es ein langer Weg. Eine schmerzhafte Suche nach der eigenen Strategie.

    Ich hatte die Idee, einen Fonds zu gründen – eine Infrastruktur, um nicht mit Privatvermögen zu handeln, sondern Handelskapital anzuhäufen und Investoren anzulocken. Ich beriet mich mit Fachleuten auf dem Gebiet, aber dann erschien der Artikel bei RBC, und man sagte mir, ich bräuchte es gar nicht erst zu versuchen.

    Ich weiß nicht, warum sie ausgerechnet jetzt bei meinen Eltern aufgetaucht sind

    Ich weiß nicht, warum sie ausgerechnet jetzt bei meinen Eltern aufgetaucht sind. Ich habe nichts Außergewöhnliches geschrieben, Verkaufsanfragen gab es vorher auch keine. Vielleicht ist der Kanal zu groß geworden und die Zeit einfach reif. Vielleicht hat es mit den neuen Gesetzen zu tun, die die Redefreiheit im Internet einschränken.

    Ich vermute, es ist zwecklos, das Vorgehen dieser Leute rational erklären zu wollen. Wenn man lange in seiner Blase lebt und nur die Informationen bekommt, die man hören will, entsteht ein verzerrtes Bild von der Realität. Wer weiß, was sie da durch ihre Lupe auf dem Bildschirm gesehen haben. Vielleicht ist irgendein Beamter oder General zufällig auf einen Screenshot mit dem Wort „Dachschaden“ gestoßen, das ich öfter mal benutze, und hat sich empört: „Wer ist das? Spinnt der? Sofort finden!“ Ich habe jedenfalls keine Ahnung, was passiert ist und warum.

    Die Leute laden mich nach Berlin, Paris, Kasachstan, in die Ukraine ein

    Aber mein plötzlicher Ruhm hat mir wieder einmal gezeigt, dass da draußen viel mehr gute als schlechte Menschen sind. Ich bekomme täglich Hunderte von Nachrichten aus dem ganzen Land. Ich versuche, jedem zu antworten. Die Leute bieten mir an, bei Ihnen auf der Datscha zu wohnen oder mir 300 Rubel [etwa 4 Euro – dek] zu überweisen, laden mich nach Berlin, Paris, Kasachstan, in die Ukraine ein und so weiter. Das ist schön und berührt mich. Der Kanal hat jetzt noch mal 40.000 Follower mehr.

    Andererseits gibt es auf Twitter auch eine Menge Hass und Nachrichten wie: „Du bist geliefert, pass gut auf, Genosse Major hält eine Flasche für dich bereit“ und andere Bullenspäße. Das ist ok. Jeder hat das Recht mich zu hassen und sogar zu beleidigen.

    Nicht okay sind die Leute, die ein Video mit den persönlichen Daten meiner Cousins und deren minderjährigen Kindern und Privatadressen auf YouTube hochgeladen haben. Das ist niederträchtig.

    Was hat meine Familie damit zu tun? Ich rede mit ihnen nicht mal über Politik. Meine Cousins wussten nix von Stalingulag, bis die Polizei bei ihnen vor der Tür stand (von dem RBC-Artikel haben sie nichts mitbekommen). Sie riefen bei mir an und fragten: „Was hast du denn wirklich gemacht?“, weil ihnen klar war, dass die Geschichte mit dem Telefonterror Schwachsinn ist. Erst da habe ich ihnen von dem Kanal erzählt. Sie lesen ihn seit einer knappen Woche. Sagen, dass er ihnen gefällt. Vielleicht wollen sie mich auch nur unterstützen. Genau deswegen wollte ich anonym bleiben – wegen meiner Familie.

    Die Anonymität ist eine Möglichkeit sich zu verstecken, aber zu sagen, was man denkt

    Anonymität erwächst aus der Ausweglosigkeit. Sie entsteht, wenn es keine andere Wahl gibt. Telegram-Kanäle entwickeln sich nur in Ländern, in denen es keine Meinungsfreiheit gibt. In den USA gibt es keine Kanäle mit hunderttausenden Followern, in Russland schon – weil die Presse sich heute nicht das erlauben kann, was sich anonyme Kanäle erlauben. Die Menschen können ihre Meinung nirgendwo äußern. Die Anonymität ist für sie eine Möglichkeit sich zwar zu verstecken, aber wenigstens zu sagen, was sie denken.

    In einem Land gegen die Anonymität zu sein, in dem es kein faires Gericht gibt und die Menschen wegen Likes, Reposts und Fotos eingesperrt werden, ist absurd. Ich werde mich nie für Entanonymisierung aussprechen, egal, ob ich mit der Position des Autors einverstanden bin oder nicht, ganz besonders, wenn er niemandem schadet.

    Gegen Anonymität zu sein, wenn Menschen wegen Likes, Reposts und Fotos eingesperrt werden, ist absurd 

    Im Moment verstehe ich überhaupt nicht, was passiert oder wie es weitergeht. Anonyme User schreiben mir: „Warte die Feiertage ab, dann wirst du sehen, wer die Befragungen angeordnet hat, wir leben doch im Land der Handsteuerung, irgendwer hatte ein Interesse daran.“

    Naja, wer auch immer dahinter steckt, der kann sich jetzt zurücklehnen. Aber vielleicht hat er auch ganz andere Sorgen. Noch ist nichts vorbei, irgendwas wird kommen.

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