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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Aus der Tiefe

    Aus der Tiefe

    „Szenen aus der Tiefe“ – so lautet der Untertitel von Maxim Gorkis berühmtem Theaterstück „Nachtasyl“ (1902). Gorkis Helden sind allesamt einmalige, einprägsame Charaktere, die unter fürchterlichen Bedingungen am Rande der Gesellschaft ein Leben ohne Zukunft führen. Auch heute sind Außenseiter und Obdachlose im russischen Alltag sehr präsent. Maria Tarnawskaja tauchte in St. Petersburg an den Grund und spürte ihrem Schicksal nach.

    Es ist drei Uhr nachmittags an einem Dienstag, ich stehe in einem kleinen Park bei der Metrostation Tschkalowskaja. Vor mir hocken zwei Männer gekrümmt auf allen Vieren und übergeben sich direkt auf meine Schuhe.

    Das sind Wladimir Leonidowitsch und Dima, sie sind 56 und 27 Jahre alt, vor einer Stunde haben wir uns zum ersten Mal im Leben gesehen und vor fünf Minuten die Kantine verlassen, wo ich sie zum Mittagessen eingeladen habe.

    Wladimir Leonidowitsch und Dima sind obdachlos. Wladimir mit zehnjähriger Erfahrung: Er ist gebürtiger Moskauer, wuchs im Viertel um die Patriarchenteiche auf, die Eltern starben, er heiratete ein junges Mädel, reiste für längere Zeit dienstlich nach Sibirien, die Frau war, wie sich herausstellte, ein Luder und brachte es während seiner Abwesenheit irgendwie fertig, ihn aus der Wohnung abzumelden, sie zu verkaufen und sich in unbekannte Richtung abzusetzen.

    Dima ist erst im Januar zu Wladimir Leonidowitsch gestoßen, als dieser sich dank einer glücklichen Fügung mit seinen Leuten zerstritten und beschlossen hatte, lieber komfortabel im Wartesaal des Moskauer Bahnhofs zu übernachten – dank Beziehungen brauchte er ein paarmal im Monat nur die Hälfte oder überhaupt keinen Eintritt zu bezahlen. Dima war ihm sofort aufgefallen: Er war der einzige, der nicht lag, sondern saß. Aber er saß so kerzengerade da und riss die Augen so unnatürlich auf, dass Wladimir Leonidowitsch sich erkundigte, ob alles in Ordnung sei, worauf er zur Antwort bekam: „Ich weiß es nicht, ich weiß gar nichts.“

    Der Mann konnte weder seinen Namen noch sein Alter noch seine Herkunft nennen. Und so gab ihm Wladimir Leonidowitsch den Namen Dima

    Das erwies sich als die reine Wahrheit – der Mann konnte weder seinen Namen noch sein Alter noch seine Herkunft nennen und nicht einmal seine Lieblingsfarbe oder sein Lieblingsessen. Er hatte keinerlei Papiere, Fahrscheine oder sonstige Dinge bei sich. Und so gab ihm Wladimir Leonidowitsch den Namen Dima, „nach dem einsamen Mammutkind aus dem Zoologischen Museum, über das sie sogar einen Trickfilm gedreht haben“, und beschloss, dass Dima 27 ist.

    Sie waren auf der Polizei, wo man allerdings noch nie etwas von einer Suchdatenbank gehört hat; Foto und Fingerabdrücke einer Person werden mit einem lokalen, ebenfalls unvollständigen Fahndungskanal abgeglichen – und da sollte man besser gar nicht auftauchen, weil der hauptsächlich für die Suche nach flüchtigen Verbrechern gedacht ist.

    Jetzt bleiben die beiden immer zusammen: Dima hat Angst, sich zu verlaufen und sein neues Gedächtnis zu verlieren, und Wladimir Leonidowitsch hatte in seinem früheren Leben zwar Literatur unterrichtet, wollte aber immer Psychologe werden. Dima ist sein idealer Gefährte – es sei hochinteressant, zu entschlüsseln, wer er sei, und gleichzeitig aus ihm einen neuen Menschen zu machen. „Dima ist meine Galateia, Tscheburaschka, mein Sancho Panza, mein Freitag und Doktor Watson“, sagt Wladimir Leonidowitsch stolz über seinen Freund.

    Die Notschleshka (ru. für „Nachtasyl“) bietet Chancen, Gemeinschaft und ein Bett – Foto © Alexej Loschtschilow
    Die Notschleshka (ru. für „Nachtasyl“) bietet Chancen, Gemeinschaft und ein Bett – Foto © Alexej Loschtschilow

    Und jetzt reiern mir die beiden auf die Schuhe. Ich hoffe, dass sie einfach zu viel gegessen haben. Denn Wladimir Leonidowitsch hat zwei Suppen, Hering im Pelzmantel, Frikadellen mit Kartoffelpüree, Teigtaschen und ein Stück Sandkuchen genommen, und Dima hat ihm alles nachgeplappert. Ich hatte noch gedacht, es könnte in Anbetracht ihrer körperlichen Konstitution zu viel des Guten sein – beide sind eher klein, dünn, hager –, sagte aber nichts, um nicht als geizig dazustehen, und ich wollte sie auch nicht in Verlegenheit bringen. Wladimir Leonidowitsch hatte mich gestern angerufen: „Ich habe Sie neulich gesehen, Sie suchen Obdachlose, weil Sie sehen wollen, wie wir leben – ich bin bereit, mich mit Ihnen zu treffen.“

    Als er nicht mehr erbricht, blickt mich Wladimir Leonidowitsch von unten an, wischt sich den Mund mit einem Papiertaschentuch ab und sagt: „Der Sandkuchen war zu viel. Dafür darfst du mich jetzt Wolodja nennen.“

    Vor ein paar Tagen habe ich mich tatsächlich nach Obdachlosen umgesehen und damit im Nachtasyl der 1990 eröffneten Wohltätigkeitsorganisation Notschleshka begonnen. Die städtische Liegenschaftsverwaltung KUGI vermietet ihnen das baufällige Gebäude zu sozialen Sonderkonditionen, das ist ein Fünftel des eigentlichen Preises, aber auch noch durchaus beträchtlich. Die Energie- und Wasserversorger Lenenergo und Wodokanal gewähren keinen Rabatt. Renoviert hat man selbst: Das Baumaterial wurde von hilfsbereiten Organisationen gebracht, was noch fehlte, kaufte man, und nicht nur Profis, sondern auch die Bewohner waren aufgefordert, das Dach neu zu decken und die Zimmer zu streichen.

    Kleines Päuschen im Hof der Notschleshka nach getaner Arbeit – Foto © Alexej Loschtschilow
    Kleines Päuschen im Hof der Notschleshka nach getaner Arbeit – Foto © Alexej Loschtschilow

    „Es ist überaus wichtig, dass man Leute von der Straße in einen sozialen Kontext einbezieht. Obdachlose verlieren ziemlich schnell ganz normale Fähigkeiten: Verantwortung für etwas zu übernehmen, etwas zu vereinbaren – sie brauchen das nicht. Auf der Straße sind andere Fertigkeiten gefragt: Wichtig ist, dass man sich bei Minus zwanzig richtig anzieht und mit zwei Stunden Schlaf am Tag auskommt“, erzählt der Leiter der Notschleshka Grigori Swerdlin.

    Grischa ist 36 und arbeitet schon ein Drittel seines Lebens hier. Sein Arbeitstisch steht in der Mansarde des Heims neben denjenigen der Fundraiser und Geschäftsführer. Insgesamt sind sie zusammen mit den Sozialarbeitern, Psychologen, Juristen, Verwaltungsmitarbeitern und Fahrern zwanzig Leute. Alles angenehme, lächelnde, charmante Menschen mit höherer Bildung, allesamt um die dreißig. Ihre Schützlinge sind durchschnittlich fünfundvierzig, zwei Drittel von ihnen männlich.

    Die Obdachlosen kommen jeden Tag ins Haus an der Borowaja. Die Sozialarbeiter hören jedem zu und versuchen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu helfen: Der eine braucht einen einfachen Rat, ein anderer juristische Hilfe, und manche sind es einfach müde, auf der Straße zu leben. Mit letzteren stellen die Sozialarbeiter eine Art Betreuungsplan auf, in dem sie Punkt um Punkt vereinbaren, was in den nächsten Monaten zu erledigen ist: einen neuen Pass besorgen und sich temporär in der Notschleshka anmelden, eine Arbeit finden, ab dem zweiten oder dritten Gehalt ein Bett in einem Wohnheim oder ein Zimmer mieten – langsam, Zentimeter um Zentimeter, wieder hochkommen.

    Ins Obdachlosenheim kommen außerdem oft ehemalige Häftlinge, die in der Regel ins Gefängnis zurückwollen – dort ist alles verständlicher

    „Obdachlose lassen sich in drei Hauptgruppen einteilen“, sagt Grischa. „Am häufigsten hängt die Obdachlosigkeit mit Familienangelegenheiten zusammen: eine Wohnung wurde nicht aufgeteilt, ein Mann verlässt seine Frau ins Nichts, dazu kommen schauderhafte Geschichten von herangewachsenen Kindern, die ihre eigenen Eltern rauswerfen. Die zweite Gruppe sind Abgänger aus Waisenhäusern. Die haben gesetzlichen Anspruch auf Wohnraum, viele werden aber betrogen oder haben einfach keine Ahnung, wie man Geld verdient oder einen Haushalt führt, sie kennen die Preise von Dingen nicht. Wir hatten hier einen Jungen, der sein Zimmer verspielt hat, an Spielautomaten , weil er davon ausging, dass man ihm nach dem ersten auch ein zweites Zimmer geben würde, wie vorher. Die dritte große Kategorie sind Opfer von Wohnungsschwindlern. Eine Wohnung wiederzubekommen, gelingt uns höchstens fünfmal im Jahr, meistens ist alles so verworren, dass es unmöglich ist, die Immobilie zurückzukriegen.“

    Ins Obdachlosenheim kommen außerdem oft ehemalige Häftlinge, die in der Regel ins Gefängnis zurückwollen – dort ist alles verständlicher. Oder Leute aus der Provinz, die zum Geldverdienen in die Großstadt fahren, und dann geht etwas schief, die Papiere kommen abhanden, es gibt keinen Ort zum Schlafen und man schämt sich, nach Hause zurückzukehren oder wenigstens anzurufen und zu sagen, dass man in Not geraten ist.

    Ein Leben auf zwei Quadratmetern: Mit ihren wenigen Habseligkeiten richten sich die Obdachlosen ihre Schlafstatt in der Notschleshka ein – Foto © Alexej Loschtschilow
    Ein Leben auf zwei Quadratmetern: Mit ihren wenigen Habseligkeiten richten sich die Obdachlosen ihre Schlafstatt in der Notschleshka ein – Foto © Alexej Loschtschilow

    „Ja, merkwürdigerweise schämen sich die Leute vor ihrer Familie über ihren Misserfolg.“ Die Sozialarbeiterin Valentina Marjanowa sieht aus wie eine Absolventin des Smolny-Instituts für höhere Töchter: graues Haar, Hochsteckfrisur, aufrechte Haltung, Anstand, Brosche. „Sie kennen nicht mal ihre Grundrechte. Doch leider sind wir gezwungen zu wählen: Wenn wir ein freies Bett haben, wählen wir zwischen einem Anwärter, der vor fünf Jahren auf der Straße gelandet ist, und einem, der seit drei Monaten auf der Straße lebt, den letzteren – die Wahrscheinlichkeit, dass er zu einem normalen Leben zurückfindet, ist sehr viel größer.“

    Sie helfen auf jede erdenkliche Weise, geben einen Platz in einem Gemeinschaftszimmer, Kleidung, Essen, schicken die Leute zum Arzt, holen zusammen Stempel und Unterschriften ein, sorgen für Unterhaltung: Einmal im Monat gibt es einen Ausflug in die Eremitage, Konzerte werden organisiert, in der Bibliothek gibt es viele gute Bücher, und dort stehen auch drei Computer und ein Fernseher mit einer Filmsammlung.

    Es gibt tausende von Geschichten, aber – der Bettenzahl entsprechend – nur 52 aktuelle

    Durchschnittlich bleiben die Leute fünf Monate in der Notschleshka – das ist gewöhnlich lange genug, um in jeder Hinsicht zu Kräften zu kommen. Wer keinen Umbruch seiner Situation herbeizuführen versucht und das Heim stattdessen als Umschlagplatz missbraucht, wird mehrmals ermahnt und schließlich weggeschickt, damit ein Platz für einen motivierten Obdachlosen frei wird.

    An solchen mangelt es nicht. Einer von ihnen kam vor vier Jahren in miserablem Zustand zu einer der Aufwärmestellen, die die Notschleshka den Winter über an mehreren Stellen in der Stadt einrichtet. Er meldete sich im Heim an. Besorgte sich neue Papiere, fand Arbeit, mietete sich eine Schlafstatt, sparte genug für einen kleinen LKW. Begann, Transporte durchzuführen, heiratete eine Ärztin aus der staatlichen Übernachtungsstelle Dom notschnowo prebywania. Unterdessen haben sie mit einem Kredit eine Wohnung gekauft.

    Es gibt tausende von Geschichten, aber – der Bettenzahl entsprechend – nur 52 aktuelle.

    Witali ist 28, er kommt aus dem Verwaltungsgebiet Nishni Nowgorod. In St. Petersburg fand er Arbeit als Schießtrainer und lebte in einem Hostel. Dann stahl man ihm die Tasche mit Geld, Sachen, Papieren – und Witali landete auf der Straße. Am Bahnhof warb ihn eine Organisation an, die ihm versprach, bei der Besorgung neuer Papiere und einer Arbeit zu helfen.

    Letztlich arbeitete Witali ein paar Monate als Lastenträger. Nach der Trillerpfeife aufstehen, nach der Trillerpfeife schlafengehen, zum Frühstück Brei, zum Mittagessen eine dünne Suppe, zum Abendessen eine Kinderportion von etwas Undefinierbarem. Weder Geld noch Papiere, nur Versprechen. Als er gehen wollte, bedrohten sie ihn. Und als er sich schwer am Bein verletzte, jagten sie ihn weg.

    In der „Notschleshka“ ist er seit zwei Tagen: Er war schon beim Arzt, hat einen Pass beantragt und sich in der Bibliothek Anna Karenina, Die Stechfliege und Das Ende einer Utopie: Aufstieg und Zusammenbruch der Finanzpyramide ausgeliehen.

    Katerina ist von ihren Cousins aus der Wohnung geworfen worden

    Katerina ist von ihren Cousins, mit denen sie viele wunderbare Erinnerungen an Sommer, Erdbeeren und frischgemolkene Milch verbindet, aus der Wohnung geworfen worden. Die Großmutter, bei der Katerina von klein auf gelebt hat, hatte zwei Testamente hinterlassen: die Wohnung war für Katerina, das Haus und Grundstück außerhalb der Stadt für die Cousins. Ins Testament für die Cousins hat sich das Wort „sämtlich“ eingeschlichen, statt „Hausbesitz“ hieß es dort „sämtlicher Hausbesitz“. Und die Cousins konnten beweisen, dass sich „sämtlicher Hausbesitz“ auf das ganze unbewegliche Vermögen bezog, also auch auf die Wohnung. Katerina schubsten sie einfach zur Tür hinaus.

    Laut Statistik gab es im letzten Jahr in St. Petersburg 60.000 Obdachlose. Mit jedem Jahr werden es mehr. Und jedes Jahr ändert sich die Belegschaft – das bedeutet, dass Menschen sterben, verschwinden, und an ihre Stelle treten andere. Dieser gruselige Umstand fällt besonders Igor, dem Fahrer des Busses der Notschleshka, auf: Jeden Abend fährt er zusammen mit Freiwilligen warme Mahlzeiten in die vier Bezirke, mit deren Verwaltungen Vereinbarungen getroffen werden konnten, und versorgt dort Obdachlose mit Essen.

    Der Bus heißt zwar Nachtbus, eigentlich ist er aber abends unterwegs: Die erste Station ist um sieben Uhr am Rangierbahnhof, die letzte um halb elf am Bahnhof Nowaja Derewnja. Das Essen wird von Kantinen, Cafés und Restaurants kostenlos zubereitet. Jeden Tag gibt es einen Eintopf auf Fleischbasis, süßes Gebäck und Tee.

    Während wir herumfahren, erzählt Igor Geschichten. Wie sie im Winter neben Essen auch warme Mützen verteilten und ein junger Kerl gleich mehrere unterschiedliche haben wollte, um in dem Haus, das er sich zum Überwintern gesucht hatte, nicht die Aufmerksamkeit der Wachfrau zu erregen. Wie manchmal Verlage der Notschleshka Bücher spenden und sie immer sofort weg sind – nicht um Papirossy zu drehen, sondern wirklich zum Lesen. Wie ein sehr bescheidener Obdachloser plötzlich Nachschlag wollte und sich herausstellte, dass er drei Kätzchen zu sich genommen hatte, die auch etwas zu essen brauchten.

    Während wir herumfahren, erzählt Igor Geschichten

    Das Publikum unterscheidet sich von Haltestelle zu Haltestelle. Am Rangierbahnhof sind es größtenteils Alkis. Im Bezirk Ligowo kommen nicht nur Obdachlose, sondern auch Rentner, die zwar eine Wohnung haben, aber unterhalb der Armutsgrenze leben.

    Auf der Wassiljewski-Insel gibt es viele Punks und Alternative – sogenannte Neformaly. Und in Nowaja Derewnja Kranke, Behinderte und Heimkinder. Überall geht das Abendessen äußerst höflich vonstatten: Man bildet eine Schlange, lässt die Frauen vor, führt gepflegte Gespräche, bedankt sich für das Essen, sammelt die gebrauchten Teller in eine Tüte und bringt sie zum Müllcontainer. Betrunkene gibt es zwar, aber nicht sehr viele, und die verhalten sich ruhig. Im Grunde sehen alle so aus, dass sie in einer Menschenmenge nicht sehr auffallen würden – wie ganz normale Menschen.

    Bei der Suppenküche trifft sich ein buntes Völkchen – Foto © Alexej Loschtschilow
    Bei der Suppenküche trifft sich ein buntes Völkchen – Foto © Alexej Loschtschilow

    In Nowaja Derewnja hält der Bus an einer Nachtunterkunft mit einem Malteser-Zelt davor. In einem kleinen Raum hängt ein strenger männlicher Geruch, hier wohnen sechs oder sieben Menschen, zwei von ihnen haben keine Beine. Der Zimmer-Chef ist Wassili, ein sehr sympathischer Mann, der Anfang der 1990er im Gefängnis landete, und als er rauskam, war es, als hätte es ihn nie gegeben: Er tauchte in keiner Datenbank auf, keinem Dokument, weder beim Standesamt noch bei seinen ehemaligen Arbeitgebern noch in der Poliklinik – nirgends. Seitdem versucht Wassili zu beweisen, dass es ihn gibt, doch die Sache läuft schleppend.

    Von Beruf ist Wassili Schneider, aber jetzt beschäftigt er sich mit etwas ganz anderem: Zusammen mit den Obdachlosen hat er eine Genossenschaft zur Herstellung von Birkenwaren gegründet. Er ist sehr geschickt darin, Ikonen, Ausweishüllen und märchenhaft verzierte Schatullen aus Birkenrinde zu fertigen. Wassili ist verantwortlich für Gestaltungskonzept und Ästhetik, seine Kumpel für die kleineren, aber wichtigen Arbeiten – Igor, einer der Invaliden kann zum Beispiel sehr gut kleben, ist schnell im Flechten. Igor hat seine Beine unlängst im Donbass verloren, doch darüber will er nicht reden.

    Ich gebe allen einfach so meine Telefonnummer, vielleicht entschließt sich jemand, in einem anderen Rahmen mit mir zu sprechen. Und ein paar Tage später bekomme ich tatsächlich einen Anruf – von Wladimir Leonidowitsch, der nun mit dem gedächtnislosen Dima im Park an der Metrostation Tschkalowskaja vor mir kniet. „Wir sollten uns erst mal ausschlafen“, sagt Wladimir Leonidowitsch. „Wir können uns dann morgen treffen.“ Geld für das Ticket lehnen sie ab und verschwinden in der Metro.

    Die eine betrachtet die Leute voller Abscheu, die andere mit Nachsicht und Geduld

    Am nächsten Morgen gehen wir ins Botkinski-Krankenhaus, wo es eine Erste Hilfe eigens für Obdachlose gibt. Hier ist alles wie im Bilderbuch: Es versammeln sich Obdachlose, auf die schon eher der Begriff Penner, Bomsh, passt – mit eingeschlagenem Schädel, faulenden Gliedern, pilzschwarzen Nägeln, ausgeschlagenen Zähnen, eingedrückten Augen und umgeben von schwerem Gestank nach billigem Sprit, Dreck und Fäkalien. Diese Patienten machen etwa die Hälfte aus, die andere Hälfte – Obdachlose, die aussehen wie der Durchschnittsrusse – gehen in dieser Menge lebender Bruegel-Figuren schlichtweg unter.

    Die eine Krankenpflegerin betrachtet die Leute voller Abscheu, die andere mit Nachsicht und Geduld. Sie geht zwischen ihnen hin und her, trägt bei dem einen eine Salbe auf, gibt einem anderen eine Tablette. In der hintersten Ecke sitzt ein schmächtiger Jugendlicher mit blutverschmiertem Gesicht. Wladimir Leonidowitsch steuert geradewegs auf ihn zu.

    „Hier, eine Geschichte für Sie“, sagt er und deutet auf den jungen Mann. „Darf ich vorstellen – Wladik, desertierter Soldat.“ Vor Entsetzen werden Wladiks graue Augen schwarz, er springt auf, will die Flucht ergreifen, aber Wladimir Leonidowitsch packt ihn geschickt am Kragen und flüstert ihm ins Ohr: „Keine Angst, du Depp, hat doch niemand gehört, wir verraten dich nicht, ist für die gute Sache.“ Nicht sofort, aber bald, entspannt sich Wladik, kommt mit uns nach draußen, bittet uns, ihn weder bei seinem Namen noch reale Orte zu nennen und auch sein Äußeres nicht zu beschreiben.

    Das Reden fällt Wladik schwer, er ringt mit den Worten: „Vor vier Jahren hat mich der Kompanieälteste im Suff vergewaltigt und mir befohlen zu schweigen, dann hat er mich nochmal vergewaltigt und mich gezwungen, ihm die Stiefel zu lecken. Ich hab’s nicht ausgehalten, bin weggerannt. Hab mich im Wald verlaufen, Wölfe und Bären gesehen, einmal habe ich die abgefressene Leiche eines Jägers gefunden und mir sein Gewehr geschnappt, ging sofort leichter mit der Essensbeschaffung. Dann bin ich auf eine Bahnstrecke gestoßen, durchs ganze Land bis nach Petersburg gefahren. Habe immer davon geträumt, es einmal zu sehen. Jetzt bin ich hier, was ich tun soll, weiß ich nicht, wahrscheinlich buchten sie mich ein als Vaterlandsverräter. Zum ersten Mal seit zwei Jahren habe ich meine Mutter angerufen, die ist am anderen Ende in Ohnmacht gefallen. Dann kam meine Schwester ans Telefon, ich sag zu ihr: ‚Ljuba, ich bins, ich bin am Leben.‘ Sie hat geweint und geantwortet: ‚Ich rufe gleich die Polizei! Wir haben Wladik vor zwei Jahren in einem geschlossenen Sarg beerdigt. Er ist bei Übungen umgekommen! Wer bist du?!‘ Wobei ich gehört habe, dass sie mich an der Stimme erkannt hat. Aber am meisten mache ich mir Sorgen, dass ich jetzt schwul bin.“

    Dima hört mit offenem Mund zu. Genau wie ich. Wladik verstummt. Wladimir Leonidowitsch holt aus seiner Tasche ein iPhone 5 und schaut nach, wie spät es ist. Als er meinen verwirrten Blick bemerkt, sagt er: „Ach das … Komm, ich zeigs dir. Ich hab es ehrlich gegen eine Uhr getauscht, und die Uhr habe ich gefunden.“

    Das ganze Böse steckt in den kleinen Leuten, die bloß ihr Häkchen unter eine Bescheinigung setzen und sie von einem Ordner in den nächsten sortieren

    Wir gehen über den Apraschka, und ich verliere inmitten dieses orientalischen Basars vollkommen die Orientierung: Gassen, Korridore, Lagerräume – nie im Leben würde ich den Ort, zu dem wir jetzt gehen, wiederfinden. Wladimir Leonidowitsch scheint sehr zufrieden: „Gut, dass du dir nichts merken kannst, dann bleiben wir heil. Überhaupt, sei vorsichtig beim Schreiben. Keine Namen, Adressen, Behörden, und versuch gar nicht erst Fotos zu machen. Dir ists egal, aber wir müssen so leben. Irgendeine kleine Beamtin Anna Iwanowna könnte ihren Namen in deinem Artikel entdecken und wütend werden. Das ganze Böse steckt in den kleinen Leuten, die bloß ihr Häkchen unter eine Bescheinigung setzen und sie von einem Ordner in den nächsten sortieren. Aber wegen diesen kleinen Häkchen führen sie sich auf wie die Lenker des Schicksals. Und wenn sie morgens Streit mit ihren Mann hatte, diese kleine Sadistin, kann ich meine Bescheinigung erstmal vergessen.“

    Wir bleiben vor einer Tür zu einem Halbkeller stehen. Wladimir Leonidowitsch sagt: „Den Mann hier nennen wir mal Hasan“, und klopft ein Geheimzeichen an die Tür. Ein paar Sekunden später macht uns ein orientalisch aussehender Mann auf. Die Szene gleicht eins zu eins der Episode mit dem Nazi im Film Brat-2. Der Orientale sieht mich ohne zu blinzeln an und fragt: „Wer ist das?“ „Sie gehört zu uns“, entgegnet Wladimir Leonidowitsch. Der Orientale zieht eine Augenbraue hoch, wiegt den Kopf, aber gibt die Tür frei und lässt uns herein.

    Im flackernden Licht trüber Glühbirnen öffnet sich vor mir Ali Babas Höhle 2.0. Berge von iPhones und Tablets, ausgeschüttete Ray-Ban-Brillen, die coolsten Bikes – das verlorene, oder besser: das gestohlene Hipster-Paradies. Irgendwo hier steht mit Sicherheit auch das Fahrrad meines Bekannten, das ihm vor ein paar Tagen vor der Tür einer angesagten Bar geklaut wurde. Hasan hält mir ein iPhone mit einem holographischen Kätzchen-Aufkleber hin: „Hier, gehört dir, wenn du willst. Dreitausend.“ Ich will nicht, aber Wladimir Leonidowitsch streckt Hasan eine kleine Tüte entgegen. Der wirft einen Blick hinein und gibt ihm zum Tausch ein iPad.

    Ein Jüngling im roten Trainingsanzug ließ die getönte Fensterscheibe ein Stück herunter und erklärte mir, er sei ein Hirte Gottes und wolle als Christ den Menschen helfen

    Am nächsten Tag laufe ich mit Wladimir Leonidowitsch und Dima durch die Randbezirke. Wladimir Leonidowitsch erzählt mir von den vielen Obdachlosen, die in die Fänge von Zigeunern, Dagestanern, Landwirten und Organisationen geraten, die sich als „Rehabilitationszentren“ ausgeben. Die kenne ich bereits: In Igors Nachtbus habe ich Dutzende Visitenkarten gesehen, bedruckt mit orthodoxen Kreuzen und hübschen Stadtansichten, und auf jeder von ihnen ein Spruch wie: „Dein Weg in die Freiheit!“, „Werde ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft!“, „Arbeit, Wohnung, Zukunft!“, „Der Beginn deines Siegeszugs!“

    Die Namen der Organisationen unterscheiden sich nur unwesentlich von den Slogans: Lebenslinie, Perspektive, Land der Zukunft – Dutzende gibt es davon. Ihre Autos warten direkt an den Haltestellen des Nachtbusses. Als ich mit Igor unterwegs war, bin ich einmal hingegangen, um mit einem von ihnen zu sprechen. Ein Jüngling im roten Trainingsanzug ließ die getönte Fensterscheibe ein Stück herunter und erklärte mir, er sei ein Hirte Gottes und wolle als Christ den Menschen helfen.

    „Die Rechnung ist simpel“, klärte Igor mich danach auf. „Sie sammeln Hunderte von Leuten ein, stecken sie wie die Schweine in Scheunen oder Baracken und fahren sie jeden Tag zum Bau, zum Verladen und zu anderen Arbeiten. Sie füttern sie mit Versprechungen über Pässe und Geld, aber nichts davon passiert, sie kassieren nur das Geld von den Auftraggebern. Die Arbeit eines Menschen bringt im Durchschnitt 1.000 Rubel pro Tag. Du kannst dir selbst ausrechnen, wie viel das zusammen macht, wenn in einer Baracke rund 500 Menschen leben. Kein schlechtes Business, oder?“

    An einem der nächsten Tage gehe ich zu einer der vielen Banjas, die im Branchenbuch für Obdachlose aufgeführt sind. Heute ist ermäßigter Eintritt – Baden zum Preis von zwanzig Rubel. Die nette Frau am Telefon sagt mir, sie verstehe natürlich, dass es in der Stadt viele Mittellose gebe, und wer in annehmbarem Zustand komme, den lasse man nicht nur sich, sondern auch seine Wäsche waschen.

    Ich begleite sie nach Hause – auf einen Friedhof, wo sie sich in einer schönen Grabkammer aus dem 19. Jahrhundert eingerichtet hat

    Am Abend des ermäßigten Tages wird der Waschraum von oben bis unten desinfiziert. Ich setze mich auf die Bank am Eingang und beobachte die Leute. Aus der Tür kommt eine reizende kleine Alte, ich habe sie schon an der Nachtbus-Haltestelle auf der Wassiljewski-Insel gesehen. Reingewaschen, rotwangig und mit frisch hennagefärbten Haaren. Ich komme leicht mit ihr ins Gespräch, offenbar freut sie sich über jedes Gramm Aufmerksamkeit. Ich begleite sie nach Hause – auf einen Friedhof, wo sie sich in einer schönen Grabkammer aus dem 19. Jahrhundert eingerichtet hat.

    Nicht nur Galinas Sohn wurde auf dem Friedhof in Kolpino bestattet - täglich werden hier Unbekannte beerdigt — Foto © Alexej Loschtschilow
    Nicht nur Galinas Sohn wurde auf dem Friedhof in Kolpino bestattet – täglich werden hier Unbekannte beerdigt — Foto © Alexej Loschtschilow

    Die Geschichte der alten Frau ist die herzzerreißendste, die ich in der letzten Zeit gehört habe. Die Frau heißt Galina, hat früher als Buchhalterin in Jekaterinburg gearbeitet, lebte mit ihrem Mann und den Söhnen in einer Dreizimmerwohnung. Ihr Mann, ein passionierter Wettangler, starb an einem Herzinfarkt, kurz vor Silvester 2006, direkt über seinem Eisloch. „Alle haben dagesessen, auf Fische gewartet, und niemand hat mitbekommen, dass er tot ist. Erst am nächsten Tag, als sie wiederkamen und sahen, dass er immer noch dasaß.“

    Ein halbes Jahr später, im Sommer, verschwand der jüngste Sohn, Galinas Liebling. Hatte gesagt, er würde für ein paar Tage zu Freunden fahren, und kam nicht wieder. Mehrere Monate suchte Galina nach ihm, lag mit einem Nervenzusammenbruch im Krankenhaus, schickte eine Suchanzeige in die Sendung Warte auf mich, ging zu Hellsehern – vergebens. Dann erinnerte sie sich, dass er immer von St. Petersburg geträumt hatte, aber sie ihn nie hatte gehen lassen. Sie ließ alles stehen und liegen, kam hierher, klapperte sämtliche Polizeireviere und Leichenschauhäuser ab und fand ihn schließlich auf einem Foto, das den stark verstümmelten, verwesenden Körper eines „Unbekannten, etwa zwanzig Jahre alten Mannes“ zeigte, mit einer Nummer darauf, wie bei allen nicht identifizierten Toten. Ihr Sohn hätte eine charakteristische Narbe gehabt, „wie Harry Potter“ – daran habe sie ihn erkannt. Auf der Bescheinigung aus der Pathologie stand, dass er an einer schweren Vergiftung gestorben war, und dann, als er bereits tot war, von einem Auto, dessen Halter nicht ermittelt werden konnte, angefahren wurde.

    Galina machte sich auf die Suche nach dem Grab, das diese Nummer trug. Der Friedhof in Kolpino ist übersät mit gleichförmigen nummerierten Hügeln. Täglich werden hier Unbekannte beerdigt – Bomshi und solche, deren Identität aus irgendwelchen Gründen nicht festgestellt werden konnte. Am nächsten Tag sah sie, wie irgendwelche Eltern buchstäblich mit bloßen Händen die gefrorene Erde aufkratzten, um zu einem Sarg vorzudringen. Eben diese Menschen riefen den Krankenwagen, als Galina dort in Ohnmacht fiel. Nach einer Weile im Krankenhaus wurde ihr klar, dass sie keine Kraft hatte, ihren Sohn noch einmal zu bestatten. Sie rief ihren Ältesten in Jekaterinburg an, der sagte: „Oh, hallo Mama! Hast du mich doch nicht ganz vergessen! Übrigens, ich habe dich aus der Wohnung abgemeldet“, und legte auf.

    Der Friedhof ist ihre Sommerresidenz. Im Winter wohnt sie in der obersten Etage des Treppenaufgangs eines benachbarten Hauses

    Galina blieb in St. Petersburg, ihr Pass ging verloren, sie zog auf den Friedhof – das ist ihre Sommerresidenz. Im Winter wohnt sie in der obersten Etage des Treppenaufgangs eines benachbarten Hauses. Die Bewohner haben Mitleid mit ihr und vertreiben sie nicht.

    In der Grabkammer ist es auf ganz eigene Art heimelig: In einem Glas stehen ein paar Blumen, auf der Grabplatte ist eine verhältnismäßig frische Tischdecke ausgebreitet, darauf alte Ausgaben der Zeitschriften Sem dnej [Sieben Tage] und Cosmopolitan. In der Ecke liegt eine ordentlich zusammengerollte Matratze.

    Galina schlägt vor, auf „den Seelenfrieden der Entschlafenen“ zu trinken, ich lehne so delikat wie irgend möglich ab. „Rate mal, wie alt ich bin?“, fragt Galina zum Abschied. Ich will ihr ein Kompliment machen und sage „60“, obwohl ich sie auf knapp 70 schätze. Galina seufzt traurig: „56.“

    Am Tag darauf ruft mich ein gewisser Fjodor an, ein paar Stunden später Sinaida, dann Roma, Shanna und noch jemand. So geht das einige Tage lang weiter. Alle wollen mir ihre Geschichte erzählen, laden mich ein zum Besuch auf eine Müllhalde, zu einer geheimen Abtreibung, zum Angeln oder zur Erdbeerernte. Jemand weint und schreit in den Hörer: „Versteh doch, wir sind auch Menschen! Nicht alle verstehen das! Versteh du es bitte!“ Ich stehe da und schweige.      

               

     

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    Igor Sashin, Vorsitzender der Menschenrechtskommission Memorial in der Republik Komi, Syktywkar

    Wir sind keine „ausländischen Agenten“, wir sind Menschenrechtsaktivisten, und wir wollen als Menschenrechtsaktivisten überleben. Dieses ganze Theater mit den „ausländischen Agenten“ ist ein Versuch, uns anzuschwärzen und durch den Dreck zu ziehen. Wir finden das abscheulich, ekelhaft. Die haben versucht, uns  diesen Stempel aufzudrücken, wir finden das ungeheuerlich.1 Laut dem Gesetz, seinen Implikationen und sämtlichen gängigen Anwendungspraktiken hätten wir nicht darunter fallen dürfen. Vor diesem Hintergrund haben wir dann die Organisation geschlossen. Wir haben alle dafür nötigen Papiere eingereicht, eine Auflösungskommission eingesetzt und sämtliche Konten aufgelöst. Das sind Dinge, die parallel laufen, all so Zeug eben, soll das laufen, wie es will. Aber sämtliche Menschenrechtsaktivitäten, die mit konkreter Hilfe zu tun haben, führen wir unverändert fort.

    Wir gehen in die Gerichte, haben immer noch Sprechzeiten und unterstützen Menschen, indem wir sie beraten und unsere Öffentlichkeitsarbeit fortsetzen. Wir machen weiter mit unseren Monitorings und Nachforschungen, treffen Vertreter verschiedener Institutionen und versuchen sie zu überzeugen, dass sie etwas ändern müssen. Wir machen weiter, Arbeit gibt es genug.

    Es gibt immer Menschen, die leiden. Menschen, die den Handlungen Stärkerer zum Opfer fallen, und die müssen verteidigt werden. Daran kommen wir nicht vorbei. Die Welt geht kaputt, die Starken fressen die Schwachen. Da muss sich jemand dazwischen stellen.

    Der Rest muss einem echt total egal sein. Es wird immer Leute geben, die einem zuschauen, wie man etwas Gutes tut, und einen dann dringend mit Dreck bewerfen und ins Gesicht spucken wollen. Die werden einen ständig besudeln und stören, aber das ändert gar nichts, tut mir leid. Unsere Aufgabe bleibt es, Menschen zu helfen, egal was passiert und welche Bedingungen man uns aufzwingt. Denn es gibt sonst niemanden, der den Schwachen hilft und ihnen zur Seite steht – auch den Allerschwächsten und selbst dann, wenn es ganz üble Gestalten sind.

    In Komi haben sie zum Beispiel gerade Gajser und seine Seilschaft verhaftet. Die werden jetzt von jedem als Fußabtreter benutzt, aber man muss sich trotz allem für sie einsetzen, weil zwei von ihnen schwer krank sind. Man muss klären, warum sie inhaftiert sind – einer aus der Truppe ist schwerbehindert und ein anderer ist totkrank, er hat Krebs. Das gehört zum Leben, aber das geht so nicht.

    Wioletta Grudina, Aktivistin der regionalen Initiativgruppe Maximum, Murmansk

    Unter Menschenrechtsorganisationen wird inzwischen schon gewitzelt: Wenn du nicht auf der Liste der „ausländischen Agenten“ stehst, hast du nichts erreicht.

    Uns hat man vor etwa einem Jahr als „ausländische Agenten“ eingestuft, im Februar. Wir waren die zweite schwul-lesbische Organisation, die so eingestuft wurde – die andere ist Rakurs. Bei der Überprüfung unserer Organisation wurden ein paar Kalender von Rakurs gefunden, und das wurde dann als ein Kriterium genannt, dass wir ein „ausländischer Agent“ sind – dass wir Kalender eines anderen „ausländischen Agenten“ haben!2 Das war alles an den Haaren herbeigezogen und unglaubhaft. Selbst ganz normale Postings unseres Leiters Sergej Alexejenko im sozialen Netzwerk Vkontakte wurden als politische Aktivitäten gewertet. Das Gesetz ist so unscharf formuliert, dass es beliebig ausgelegt werden kann, und entsprechend läuft das alles auch ab.

    Wir wurden gezwungen, eine gewisse „politische Tätigkeit“ einzugestehen und erhielten eine Geldstrafe von 300.000 Rubel. Wir haben die Strafe bezahlt und unsere Organisation ist jetzt aufgelöst. Erst vor wenigen Wochen wurde die letzte Auflösungphase im Justizministerium abgeschlossen. Jetzt sind wir nur noch eine Initiativgruppe. Natürlich hat das auch Vorteile: Weil wir jetzt keine juristische Person mehr sind, kann der Staat auch keine Vorwürfe aufgrund des „Agentengesetzes“ und anderer absurder Gesetze mehr gegen uns erheben.

    Unsere Organisation kümmert sich um die psychologische und rechtliche Unterstützung in der LGBT-Community. Und ich würde nicht sagen, dass wir uns wesentlich verändert haben, abgesehen davon, dass wir offiziell aufgelöst wurden. Klar bedeutet es einen großen finanziellen Verlust und das hat uns schwer getroffen. Tee und Kekse kosten Geld, die Leute wollen ermutigt werden, die Mitarbeiter müssen ihr Gehalt bekommen.

    Wenn eine Organisation als „ausländischer Agent“ eingestuft wird, ist da sofort das Klischee „Die werden doch alle vom US-Außenministerium bezahlt“ – und so weiter und so fort. Wir wurden auch zur Zielscheibe von Provokationen. Die Leute wollen nicht hören, was wir zu Menschenrechtsverletzungen oder der weit verbreiteten Diskriminierung zu sagen haben. Sie interessieren sich nur für das Geld, das wir angeblich aus dem Ausland bekommen. Die Organisation erhält auch Geld aus dem Ausland, weil die Regierung und die Staatsorgane in Russland solche Aktivitäten nicht unterstützen, obwohl sie sich in nichts von denen der regierungsfreundlichen Organisationen unterscheiden und wir einfach nur die Idee einer demokratischen Gesellschaft fördern.

    Mit diesem Gesetz soll ganz grundsätzlich Druck auf das Engagement und die Initiative von Bürgerseite ausgeübt werden. Als wir als „ausländische Agenten“ eingestuft wurden, gab es viele öffentliche Veranstaltungen. Wir haben uns laut und deutlich zu uns selbst und zu den Rechten und Freiheiten in der Region allgemein geäußert. Ich denke, dass wir den Behörden mit unseren Aktivitäten im Weg waren und sie uns einfach vom Feld genommen haben.

    Kirill Korotejew, Anwalt des Menschenrechtszentrums Memorial, Moskau

    Wir arbeiten weiter wie bisher. Die Verwaltungsentscheidung des Justizministeriums beeinflusst unsere Tätigkeit in keiner Weise. Die Arbeit hat sich nur in einer Hinsicht verändert: Wir haben jetzt mehr damit zu tun, uns selbst zu verteidigen. Jetzt gerade zum Beispiel sprechen wir beide ja nicht über meine eigentliche Arbeit. Wir reden weder über die Opfer des Terroranschlags in Beslan oder die der Bombardierung von Katyr-Jurt noch über das Verschwinden von Personen noch über die Versammlungsfreiheit in Moskau. Wir sind gezwungen, uns selbst zu verteidigen – manchmal übrigens recht erfolgreich. Zum Beispiel haben wir den Prozess am Verfassungsgericht zu Beginn dieses Jahres gewonnen.3  Aber das Verfassungsgericht hält sich nicht gern an die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, und die übrigen russischen Gerichte halten sich nicht gern an die Entscheidungen des Verfassungsgerichts.4 Deshalb schreibt das Samoskworezki-Bezirksgericht auf die direkte Anweisung des Verfassungsgerichts, unser Verfahren zu revidieren: „Das ist doch nicht wichtig genug.“

    In diesem Jahr gab es die üblichen juristischen Schikanen, außerdem fand das Justizministerium auf der Website der Internationalen Gesellschaft Memorial „eine Aussage von Mitgliedern und Mitarbeitern des Menschenrechtszentrums Memorial zum Bolotnaja-Prozess, in der diese das Urteil kritisieren.“ Daraus wird gefolgert, dass wir „die verfassungsmäßige Ordnung untergraben“.

    Auch die Entscheidung des Justizministeriums, uns in die Liste der „ausländischen Agenten“ aufzunehmen, kam auf ziemlich lächerliche Weise zustande. Im April 2013 gab es einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der besagte, dass wir mit der Kritik an der russischen Gesetzgebung und den Informationen zu den Festnahmen in Moskau eine politische Tätigkeit ausüben. Im Februar 2014 führte das Justizministerium eine Überprüfung durch, die keinen Hinweis darauf ergab, dass wir gegen das „Agentengesetz“ verstoßen. Im Juni 2014 trat ein Gesetz in Kraft, das dem Justizministerium erlaubte, Organisationen durch eigene Entscheidung in die Liste „ausländischer Agenten“ aufzunehmen. Und da wurden wir plötzlich in das Register eingetragen, und zwar unter Berufung auf den Antrag der Staatsanwaltschaft von 2013, dessen Gültigkeit eigentlich bereits im gleichen Jahr abgelaufen war.

    Die Akten des Justizministeriums taugen also zu nichts, und wenn man ein entsprechendes Ziel hat, kann man sie auch ignorieren. Die Prüfungsakte des Justizministeriums aus dem Jahr 2014, in der kein Verstoß gegen das „Agentengesetz“ festgestellt wurde, musste dem überholten Antrag der Staatsanwaltschaft weichen. Das Justizministerium hatte die Wahl zwischen zwei Akten – einer veralteten und fremden und einer eigenen und aktuelleren. Und es hat sich für die fremde und veraltete Akte entschieden. Da fragt man sich, wozu wir eigentlich überhaupt ein Justizministerium brauchen? Das alles ist im Grunde natürlich zum Lachen – das Justizministerium hat seine eigene Belanglosigkeit bestätigt. Wenn hier jemand die Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung untergräbt, dann natürlich das Justizministerium. Zu diesen Grundlagen der Verfassungsordnung gehört gemäß Artikel 13 der Verfassung zum Beispiel der weltanschauliche Pluralismus.


    1.Die Menschenrechtskommission Memorial wurde im Juli 2015 in die Liste des Justizministeriums aufgenommen – Takie Dela
    2.Die schwul-lesbische Hilfsorganisation Rakurs aus Archangelsk wurde im Dezember 2014 in die Liste aufgenommen – Takie Dela
    3.Im Februar hat das Verfassungsgericht anerkannt, dass das derzeitige Verfahren zur staatsanwaltschaftlichen Überprüfung von NGOs verfassungswidrig ist und das Verfahren der antragstellenden Organisationen in die Revision überwiesen – Takie Dela
    4. Mittlerweile wurde in Russland mit einem am 4. Dezember 2015 von der Duma verabschiedeten Gesetz entschieden, dass die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nur noch umgesetzt werden, wenn der Verfassungsgerichtshof zuvor geklärt hat, dass diese nicht gegen das russische Grundgesetz verstoßen – dek

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  • Das besondere Theater

    Das besondere Theater

    Der freie Spielraum auf Russlands Theaterbühnen ist in den Nach-Perestroika-Jahren zu einem sozial-poetischen Spiegel für zivilgesellschaftliche Entwicklungen geworden. Die Bolotnaja-Bewegung hat im Bereich des Theaters Energie freigesetzt, so die Theaterkritikerin Jelena Kowalskaja. Körperliche Berührungen geben Anstöße zu sozialem und menschenfreundlichem Miteinander – geht das auch im Großen?

    „Lena, suchst du mal die Musik für das Trio raus?“

    Lena drückt auf eine Taste der Anlage, und plötzlich erklingt in dem Zimmer mit Aussicht auf einen Plattenbauwohnblock der sanfte, beseelte Gesang von Bono. Drei junge Frauen verschmelzen zur Musik in ein Knäuel, ihre Körper werden eins. Sie gleiten, türmen sich übereinander, geben einander Bewegungsimpulse, fangen die Partnerin mit ihren Körpern auf, wenn die das Gleichgewicht verliert.

    Das Trio besteht aus einer stützenden Basis und einem fragilen Element. Die Basis – das sind Lena und Wika, Natalja Popowas Mitarbeiterinnen. Und Miriam nimmt Tanzstunden in Natalja Popowas Studio. Sie hat eine schwer auszusprechende psychiatrische Diagnose. In ihrer Improvisation agiert sie mit den beiden anderen zusammen, aber geschehen tut das alles hier um ihretwillen.

    In einer Ecke des Zimmers sitzt Natalja Popowa, die Gründerin und Leiterin des Studios Krug [dt. Kreis], auf einem Stuhl. Neben ihr, auf den Matten entlang der Wand, verfolgen Katja, Klawa, Sascha, Ljoscha, Anton und die anderen Schüler und Mitarbeiter des Studios die Improvisation.

    Körperbewusstsein ist der erste Schritt. Und dann entsteht allmählich eine Komposition

    „Die jungen Leute müssen das Gewicht ihres Gegenübers spüren, seine Bewegungen vorausahnen, sie steuern“, erklärt mir Popowa leise. „So entwickeln sie ein Körperbewusstsein. Das ist der erste Schritt. Und dann entsteht allmählich eine Komposition. Das Gefühl für die Komposition ist ein soziales Gefühl. Durch die Übungen lernen sie, sich in eine Gemeinschaft zu integrieren, Menschen anhand ihrer Körperreaktionen zu verstehen. Diese Fähigkeit kompensiert ihre intellektuellen Schwächen, sie fangen an, sozial adäquat zu reagieren. Oft zeigen sie dann sogar ihren Angehörigen, wie man richtig kommuniziert. Sie sagen zum Beispiel: ‚Du verstehst mich nicht, so muss man das machen.‘ Das kommt alles durch ihre Erfahrungen mit der Improvisation.“

    Foto © Valeria Glagoleva
    Foto © Valeria Glagoleva

    Heute sind die älteren Tänzer des Studios hier versammelt. Jeder hat seine eigene Diagnose, jeder war bereits in Therapie. Alle sind jenseits der Zwanzig. Am meisten Erfahrung hat Sascha, der bereits seit elf Jahren tanzt. Ein sympathischer junger Mann, der lächelt, als hätte er ein Geheimnis. Fast alle hier habe ich schon in dem Stück Slash gesehen, als es im Meyerhold-Zentrum aufgeführt wurde.

    Außer den Studioschülern sind auch ein paar Jüngere anwesend. Sie leiden an psychischen Problemen, ohne eine Behinderung zu haben: Serjosha kann sich nicht konzentrieren, Lena ist derart schüchtern, dass sie im Leben schlecht zurechtkommt.

    Die Mitarbeiter des Krug sind ehrenamtlich tätig. Sie verdienen ihren Lebensunterhalt an anderer Stelle, verbringen aber bis zu zwanzig Stunden die Woche im Studio. Viele von ihnen – so wie Lena – waren früher selbst Schüler im Krug.

    Auf eine Übung folgt die nächste. Insgesamt wirkt das Ganze wie ein Abend mit zeitgenössischem Tanz – ziemlich professionell und ausgefeilt.

    „Ist Ihnen klar, welch Grazie hier geweckt wird?“ Nataljas Augen leuchten. „Sehen Sie? Das sind denkende Bewegungen! Sie denken, während sie sich bewegen. Fühlen und Denken im selben Moment; sie erforschen ihre Körper, die Beziehung zum Partner, neue Bilder entstehen. […]“

    Das Ganze findet im Kinder-Kreativ-Zentrum im Moskauer Bezirk Strogino statt, in einem leuchtend blau gestrichenen umzäunten zweistöckigen Gebäude. Die Mütter schlendern durch den Hof, während sie auf ihre Kinder warten. Am Eingang ein Wächterhäuschen und ein Drehkreuz. Ein Junge mit zerebraler Kinderlähmung hat sich mit seiner roten Jacke im Drehkreuz verfangen und lacht. Die Mutter ruft ihn sanft: „Sascha, wart mal, ich will dir noch die Schnürsenkel zubinden!“

    ***

    Natalja Popowa, die Gründerin und Leiterin des Krug, ist eine herausragende Persönlichkeit. Ihre Organisation heißt in voller Länge Regionale gemeinnützige Gesellschaft künstlerisch-sozialer Rehabilitation für Kinder und Jugendliche mit Entwicklungsstörungen sowie ihre Familien. In Natalja Popowa fließen die Bewegungen des inklusiven und besonderen Theaters des Landes zusammen. Sie und ihre Kollegen organisieren Proteater, das wichtigste Festival für das besondere Theater in Russland.

    Die besten inklusiven Theater Europas werden dazu nach Moskau eingeladen. Sie bringen theoretisch und praktisch Arbeitende zusammen, organisieren wissenschaftlich-praktische Konferenzen, publizieren Literatur, veranstalten Workshops, Sommerschulen und vieles mehr. Dabei leitet Popowa seit einem Vierteljahrhundert tagtäglich Kurse für Kinder und junge Erwachsene mit gesundheitlichen Einschränkungen.

    Foto © Valeria Glagoleva
    Foto © Valeria Glagoleva

    Hier, im Innersten ihres Kreises, ist auch das unter Theaterleuten wohlbekannte Krug II entstanden: das Andrej-Afonin-Theaterstudio, das mit dem wichtigsten Theaterpreis des Landes, der Solotaja Maska, ausgezeichnet wurde. Erhalten hat das Theater diesen Preis für das Stück Entfernte Nähe, das Afonin in Zusammenarbeit mit seinem Kollegen Gerd Hartmann, dem Leiter des Berliner Thikwa-Theaters, inszeniert hat.

    Ich erinnere mich noch, wie ich das Stück vor zwei Jahren […] im Zentrum für Dramaturgie und Regie an der Begowaja-Straße sah. Ihrer Form nach war die Inszenierung modern, und zugleich war sie erfüllt von echter Menschlichkeit. Es gab darin etwas, wonach man sonst bei hellichtem Tag mit Fackel auf der Bühne vergeblich sucht, das, wovon Stanislawski, Artaud und Grotowski geträumt haben: den eigentlichen Menschen, den Menschen an sich.

    Dann entdeckte ich, dass Entfernte Nähe nur die Spitze des Eisbergs war. Es stellte sich heraus, dass im Land Hunderte von inklusiven Theatern aktiv sind. Die einen arbeiten, wie das Krug, mit geistig eingeschränkten Menschen. Andere, so wie der Petersburger Zirkus Upsala, mit Straßenkindern. Die nächsten wiederum nehmen sich Menschen mit Bewegungseinschränkungen an – so das Shest [Geste] in Nishni Nowgorod. Tausende von weiteren inklusiven Theatern arbeiten in ganz Europa.

    Das war im Jahr 2014. Die darstellende Kunst erlebte einen Aufschwung. Zwei Jahrzehnte nach der Perestroika waren die Grenzen des Theaters sehr weit über den Sozialistischen Realismus hinaus erweitert worden. Im Zuge der Bolotnaja-Proteste begann sich das Theater nicht bloß als Kunstform, sondern auch als öffentliches Forum, zivilgesellschaftliches Institut und soziales Instrument zu begreifen. Schon seit einem guten Jahrzehnt riefen das zeitgenössische Drama und junge Regisseure den Wohlsituierten die Existenz derjenigen in Erinnerung, die weniger Glück hatten. Das inklusive Theater ging noch weiter: Es zeigte die Probleme nicht nur, es packte sie auch an.

    In jenem Jahr leitete ich den Expertenrat der Goldenen Maske, und dabei stellte sich heraus, dass die Experten, bei allen unterschiedlichen Vorlieben in Sachen Ästhetik, sich in einem Punkt einig waren: bei der Begeisterung für soziales Theater. So kam es, dass 2014 in der Kategorie „Experiment“ das soziale Theater in allen seinen möglichen Formen vorgestellt wurde. In Entfernte Nähe tanzten besondere Darsteller im Duett mit Laiendarstellern ohne Behinderung, sie trugen Monologe vor und kochten gemeinsam Suppe, die im Finale unter den Zuschauern verteilt wurde. Auf dem Programm standen außerdem das Meyerhold-Zentrum mit dem Bildungsprojekt Alice und der Staat, das Liquid Theatre mit einem nonverbalen Stück über Alkoholabhängigkeit und das Stück Akyn Opera des Teatr.doc, in dem vier Tadshiken von ihren Abenteuern in Moskau erzählen und auf traditionellen Instrumenten spielen. Nicht unbedingt außergewöhnlich, aber erkenntnisfördernd: Diese Menschen in orangefarbenen Westen, die einige der Zuschauer, wenn man mal ehrlich ist, nicht einmal für Menschen halten, sind in Wirklichkeit Nachfahren einer großen Kultur, die um ein Vielfaches älter ist als unsere.

    Foto © Valeria Glagoleva
    Foto © Valeria Glagoleva

    Etwas ganz Bestimmtes hob Akyn Opera und Entfernte Nähe von den anderen sozialen Theaterstücken ab: die ungekünstelten, echten Menschen auf der Bühne. Und genau die wurden zu den Siegern gekürt: Das Teatr.doc erhielt den Jurypreis für Akyn Opera, und Afonin konnte die Goldene Maske in der Kategorie „Experiment“ mit nach Hause nehmen – die Theaterwelt hatte das besondere Theater als Teil der großen Kultur anerkannt. […]

    ***

    Das besondere Theater als solches gab es schon in der UdSSR, es war aber nie dem Kulturamt unterstellt, so wie dies z. B. beim Gehörlosen-Theater der Fall war. In den 1960er Jahren wurde dank der Förderung des Komponisten Solowjow-Sedoj, dessen Tochter gehörlos war, das Mimik- und Gestik-Theater in Moskau gegründet. Die Darsteller des russland- und weltweit ersten professionellen Gehörlosen-Theaters lernten an der Schtschukin-Schauspielschule bei Boris Sachawa. Finanziert wurde das Theater aus dem Budget des Allrussischen Gehörlosenverbands und hatte in den ersten zehn Jahren einen dermaßen durchschlagenden Erfolg, dass es nahezu unmöglich war, an Karten zu kommen.

    In den 90er Jahren, nachdem der Gehörlosenverband eine ganze Reihe von Privilegien erhalten und kriminelle Züge angenommen hatte, verkam das Theater zu einer Art Diebesnest. Die Legende von einer Liebschaft zwischen der Schauspielerin Swetlana Wakulenko und dem Banditen Lewoni Dshikija, die später als Vorlage für den Kinofilm Land der Gehörlosen diente, machte die Runde. Es heißt, er hätte sieben Mal um ihre Hand angehalten und sie sieben Mal abgelehnt. Und als sie endlich einwilligen wollte, erfuhr sie, dass er bei einer Schießerei ums Leben gekommen war.

    Das Mimik- und Gestik-Theater existiert auch heute noch, aber es ist unwiederbringlich im Verfall begriffen. Dafür hat das Sachawa-Studio an der Schtschukin-Schauspielschule die Staatliche Spezialisierte Kunstakademie in Moskau hervorgebracht. Und die Akademie hat wiederum zwei bedeutende Theater hervorgebracht: das Sinematograf und das Nedoslow. Beide werden finanziell von der Akademie getragen. Mit dem Theater Piano von Wladimir Tschikischew an der Internatsschule für gehörlose Kinder gibt es in Nishni Nowgorod ein weiteres erstklassiges Gehörlosen-Theater.

    ***

    Der Aufschwung des sozialen Theaters in Russland kam mit den Bolotnaja-Protesten, als das zivilgesellschaftliche Selbstbewusstsein erwachte und einzelne Künstler erkannten, dass sie der Gesellschaft gegenüber eine Verpflichtung hatten. Denn Fakt ist: Vier Prozent der russischen Bevölkerung gehen regelmäßig ins Theater, finanziert wird es aber zu hundert Prozent durch den Steuerzahler. Was bekommen diejenigen zurück, die nicht die Möglichkeit haben, ins Theater zu gehen, oder die es einfach nicht gerne tun? Was kann Theater für diese Menschen leisten? Das junge Theater fand in ganz unterschiedlichen sozialen Projekten Antworten auf diese Frage. Den Anfang machten die freien Theater: Hier brachte Jelena Gremina, die Gründerin und Leiterin des Teatr.doc, den Stein ins Rollen. Sie rief das Projekt Theater plus Gesellschaft ins Leben und berichtete darüber im Jahr 2011 bei einem Treffen des damaligen Präsidenten Medwedew mit Kunstschaffenden. Im Kern ging es um staatliche Unterstützung für nicht-staatliche Theater im Gegenzug für verschiedene soziale Aufgaben. Medwedew reichte das Projekt ans Kulturministerium weiter und die Idee nahm Gestalt an. Neun Theater in ganz Russland arbeiteten drei Jahre lang mit Menschen, die auf die eine oder andere Weise vom kulturellen Leben ausgeschlossen sind. In Komsomolsk-am-Amur nahm sich Tatjana Frolowa alter Menschen mit Alzheimer an, im Zentrum für zeitgenössische Choreografie Dialog Dance in Kostroma unterrichteten professionelle Tänzer modernen Tanz für gehörlose Kinder und deren Eltern; das Liquid Theatre führte in einer Beratungsstelle einen Therapiekurs für Drogen- und Alkoholabhängige durch, das Rostower Theater 18+ brachte Intensivtätern szenisches Schreiben bei, das Teatr.doc selbst ging in eine Strafkolonie für Jugendliche etc. Nach den freien Theatern begannen bald auch die staatlichen, sich sozialen Projekten zu widmen. So ist ganz ohne staatliche Einflussnahme in Russland ein Theatermodell entstanden, bei dem das Künstlerische und das Soziale sich nicht widersprechen, sondern ergänzen. […]

    Foto © Valeria Glagoleva
    Foto © Valeria Glagoleva

    „Womit wir uns hier beschäftigen?“, sagt Natalja leise, während die Tänzer bei der nächsten Übung sind. „Nicht so sehr mit den Grundlagen der Schauspielkunst. Eher mit dem, was Grotowski als Präexpressivität bezeichnete. Wir erarbeiten ein ästhetisches, außeralltägliches Verhalten, lernen, das eigene Verhalten zu kontrollieren. Auf diese Weise bekommen die Schüler einen Zugang zu kultiviertem Sein, und zwar über die Sprache der Symbole, darüber, dass sie das primäre Symbol zu verstehen lernen – ihren Körper. Normalerweise geschieht das in der Kindheit, noch bevor man schreiben, malen etc. lernt. Unsere jungen Leute haben in der Kindheit keine Methode an die Hand bekommen, die ihnen beim Verstehen der Welt geholfen hätte. Man erklärt dir etwas, obwohl du nicht siehst, nicht hörst, nicht verstehst. Und hier eröffnet sich dir plötzlich ein Instrument, die Fähigkeit, die Welt auf anderem Wege als dem des Verstandes zu begreifen.“

    „Ich möchte noch einmal herumgewirbelt werden!“, bittet Klawa zum x-ten Mal.
    „Ok, aber nicht kreischen.“
    „Ich versuch’s!“
    „Klawa übt Hebefiguren“, erklärt mir Natalja beiläufig.
    Alexej hebt Klawa behutsam auf seine Schulter und dreht sich langsam im Kreis.
    „A-a-a-a!“, ruft Klawa.
    „Sie kreischt schon wieder!“, rufen die anderen.
    „So wird eine Nummer geboren“, lacht Natalja. „Aus Fehlern, Problemen, Zufällen. Jedes mal wenn ich zuschaue, denke ich: Wie schön sie doch alle sind. So organisch. Dieses Organische muss bewahrt und gefördert werden – dann entsteht das besondere Theater und besondere Symbole. Dann wird es auch für die große Kultur interessant. Das ist doch wie ein Naturschutzgebiet, in dem alles gerade erst entsteht. Ein Naturschutzgebiet der Kultur.“

     

    Text gekürzt – dek

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    Die Kirschhölle

  • Die Kirschhölle

    Die Kirschhölle

    Über hundert Jahre ist es her, da erzählte uns Anton Tschechow vom Ende des malerischen Lebens der Wohlhabenden und Gebildeten auf dem Lande, vom Ende des Kirschgartens, vom Ende der Unschuld. Über ein altes Herrenhaus ohne Kanalisation und Warmwasser und seine Bewohner berichten Andrej Urodow (Text) und Arthur Bondar (Fotos). Eine Reportage aus einer Welt, in der die Kirschgärten noch stehen, die alten Gärtner jedoch verschwunden sind.

    Ins Dorf Koltyschewo fährt nur ein einziger Bus, die Nummer 21. In Koltyschewo gibt es keine Straßen, nur Hausnummern. Das Haus Nummer 1 wird hier Herrenhaus genannt. Es ist ein altes Gutshaus, erbaut vor über zweihundert Jahren. Niemand weiß genau, wie alt es ist, selbst im Hausbuch steht „Baujahr unbekannt“. Nach der Revolution baute man die herrschaftliche Villa zu einem Mehrfamilienhaus um, und in den folgenden hundert Jahren ließ man es langsam, aber sicher verrotten. Aus der aristokratischen Vergangenheit ist noch die Lindenallee übrig, die mittlerweile zu Baracken führt.

    Fotos © Arthur Bondar
    Fotos © Arthur Bondar

    Im ersten Stock des Herrenhauses wohnt heute die Familie von Tatjana Iwanowa, einer Packerin 4. Ranges. In der einen Wohnung leben sie und ihre Kinder und Enkel, in der anderen ihre Mutter und ihr Bruder. Sie ist in den siebziger Jahren, noch als Kind, hergezogen und erinnert sich an die Erzählungen der Alteingesessenen.

    Vor der Revolution wurde an Feiertagen ein langes Tischtuch auf unserer Wiese ausgebreitet, und alle, die beim Gutsherrn arbeiteten, hatten frei, und er selbst setzte sich auch zu ihnen

    „Als wir kamen, wohnten hier nur alte Mütterchen. Sie hatten schon viele Jahre auf dem Buckel und hatten noch bei unserem Gutsbesitzer Popow gearbeitet. Sie erzählten, dass es an der Kamenka früher einen Hühnerstall gegeben hatte, an der heutigen Bushaltestelle eine Nagelfabrik und beim Haus hinter den Linden große Pferdeställe. Davon ist heute nichts mehr übrig. Auf der anderen Seite der Straße, wo die Einfamilienhäuser stehen, wuchsen ringsum Birken, dort war ein Teich, an den erinnere ich mich noch aus den 1970er Jahren. Vor der Revolution wurde an Feiertagen ein langes Tischtuch auf unserer Wiese ausgebreitet, und alle, die beim Gutsherrn arbeiteten, hatten frei, und er selbst setzte sich auch zu ihnen. All die alten Mütterchen lobten ihn in den höchsten Tönen. Sie erzählten, dass er seinen Arbeitern das Essen dreimal täglich direkt auf das Feld brachte.

    Es heißt, in der Tretjakow-Galerie hängt ein kleines Gemälde unseres Gutshauses, das Werk eines unbekannten Künstlers – da hatte unser Haus noch große Balkone und Stuck an der Fassade. Jetzt kann man das von unserem Haus wirklich nicht mehr behaupten. Ein paarmal sind Nachfahren der Gutsbesitzer gekommen – die alten Mütterchen haben sie noch durch das Dorf geführt, es ist lange her. Ein Neffe Popows kam eigens aus Paris angereist. Sie glaubten, man würde sich hier vor ihnen verneigen wie im Ausland ‚Bitte nehmen Sie es, es ist ja Ihres‘, stattdessen hieß es aber: ‚Bitte kaufen Sie es, es ist ja Ihres‘.“

    Vom Adelsnest ist fast nichts mehr übrig. Neben den Holzschuppen und dem neuen Spielplatz, der schon seit vier Jahren auf Sand wartet, steht ein Sockel. Darauf stand früher ein Denkmal – ein kleiner Engel. Hier wurde der jüngste, in früher Kindheit verstorbene Sohn des Gutsbesitzers Popow begraben. Daneben soll, so die Hausbewohner, auch der zweite Sohn Popows liegen, ein im Ersten Weltkrieg umgekommener Testpilot. Es gibt jedenfalls zwei kleine Hügel vor dem Denkmal. Die Skulptur verschwand vom Sockel, als ein Dorfbewohner nachzusehen beschloss, ob darin Schätze versteckt waren. Einen Meter vom Denkmal entfernt liegt ein betrunkener Mann in Tarnhosen. „Das kam zu Popows Zeiten wohl nicht vor“, denke ich und mache sorgfältig einen Bogen um den schlafenden Dorfbewohner.

    Früher war das Flüsschen noch ein Fluss, da konnte man solche riesigen Fische fangen. Der Legende nach soll Katharina II. dort ihre Pferde versenkt haben, nun ja, das passiert schon mal

    Am Hauseingang treffe ich eine alte Frau, streng wirkt sie: Polina Pawlowna, Tatjanas Mutter. In den Händen hält sie ein kleines Einkaufsnetz und zwei dünne Stöcke, mit deren Hilfe sie zum Laden und zurück geht. Sie ist 82 Jahre alt und lebt im ersten Stock. Mit jedem Tag wird es schwieriger, die steile Treppe hochzugehen. Im Hof steht ihr großer Sessel, auf dem sie sich nach dem Einkaufen ausruht. Als sie sitzt, taut Polina Pawlowna sichtlich auf: Zuerst erscheint ein Lächeln, dann beginnt sie zu reden. Ihre Stimme ist sehr leise, ich muss mich neben sie auf die Erde setzen, um alles zu verstehen.

    „Eine gute Gegend ist das hier. Früher war das Flüsschen noch ein Fluss, da konnte man solche riesigen Fische fangen. Weiter hinten wird es sumpfig. Der Legende nach soll Katharina II. dort ihre Pferde versenkt haben, nun ja, das passiert schon mal. Ich selbst bin in Odessa geboren, aber ich scheue die Sonne. Kälte, Regen halte ich aus, aber die Sonne – wenn sie sich zeigt, fühle ich mich sofort unwohl. Mit meinem Mann bin ich seit 56 Jahren zusammen, früher sind wir hier überall herumgestreift. Er ist Invalide, beide Beine amputiert, er wohnt in einem Holzhaus hier in der Nachbarschaft. Dort hat er es einfacher. Und ich wohne mit der Familie im Herrenhaus.“

    Sobald sie sich im Schatten ein wenig von der verhassten Sonne erholt hat, gibt sich Polina Pawlowna ihren Erinnerungen hin:

    „Das Sterben macht mir keine Angst. Ich habe im Norden, in Uchta, als Aufseherin gearbeitet. Es war kein Umerziehungslager, es war ein echtes Gefängnis. Von dort kehrte man nicht unbedingt zurück. Es gab da eigene Gesetze, ist halt der Norden. Der schrecklichste Ort der Welt. Der Fluss Petschora – seine Ufer sind so hoch wie unser Gutshaus, und unten Wasser. Den ganzen Tag wird geflößt, verladen, abtransportiert. Da fiel oft jemand einfach zwischen den Stämmen ins kalte Wasser und war nicht mehr zu retten.

    Ich war sehr quirlig und half allen, aber die Vorgesetzten erwischten mich kein einziges Mal. Erzähl alles, was du willst, aber sag den Vorgesetzten nie die Wahrheit, zeig dich kooperativ, aber lass die Wahrheit weg. So lebten wir dort.

    Ich redete mit den einfachen Leuten, mit den reichen, mit den Gefangenen und mit den Vorgesetzten. Wenn man gescheit sein will, muss man mit den Leuten reden. Was bringt es, immer nur zu Boden blicken?“

    Unvermittelt kehrt Polina Pawlowna aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurück:

    „Unsere jungen Leute sind einmal zur Verwaltung gegangen und haben gesagt: ‚Gebt uns Zement und Baumaterialien, wir renovieren alles selbst.‘ Aber die wollen nicht, die geben nichts, sie warten lieber darauf, dass das Haus einstürzt. Aber sie werden sterben, und unser Haus wird noch hundert Jahre nicht zusammenfallen, das weiß ich.“

    Sie werden sterben, und unser Haus wird noch hundert Jahre nicht zusammenfallen, das weiß ich

    In den letzten zwanzig Jahren gab es im Gutshaus keine einzige Grundsanierung. Vor zwei, drei Jahren wurden die Heizungsrohre ersetzt, weil die alten den Geist aufgegeben hatten. Der einzige gute Brunnen war schon kurz vor dem Brand von 1998 verseucht. Das Wasser wurde erst trüb und danach ganz schwarz. Man musste ihn zuschütten, deshalb führten sie vom Wasserturm her eine Leitung mit einem Kaltwasserhahn zum Haus – er befindet sich unten im Hausflur.

    Bevor man das Wasser trinken kann, muss man allerdings zwei, drei Tage warten, bis sich der Rost setzt. Der spezifische Geruch verschwindet auch dann nicht, sauberes Wasser muss man deshalb bei der Zapfsäule im Nachbardorf holen. Als neben dem Haus ein Graben ausgehoben wurde, erinnern sich die Bewohner, fanden sie darin Münzen aus Zeiten vor der Revolution, Geschirr und sogar einen alten Teekessel aus Bronze.

    Für ihre Kommunalka zahlen alle Bewohner gewissenhaft ein paar tausend Rubel [etwa 15 Euro] im Monat. Schulden haben sie keine, aber von Kanalisation und Gas haben sie auch noch nie etwas gehört. Sie waschen sich in den Banjas, die direkt im Hof des Herrenhauses stehen. Die Toilette ist im Freien. Wegen der Schulden der Firma Dubrawa, die früher für das Haus verantwortlich war, schaltete die neue Verwaltung im Mai das Licht im Eingang ab. Solange die Verwaltungen einander gegenseitig den verlotterten Zustand des Hauses vorwerfen, müssen die Hausbewohner alles selbst machen. Sie haben eine Lampe direkt aus einer Wohnung in den Eingang gestellt.

    „Scheiße, Mann, bist du Baptist oder was?“
    „Nein, Journalist.“
    „Ach so, na, ist doch eh alles das gleiche“

    Im Erdgeschoss wohnt Irina, ihr Mann ist Invalide. Vor zwei oder drei Jahren war der Fußboden im Erdgeschoss beschädigt, Irinas Mann konnte nicht mehr allein mit dem Rollstuhl in die Wohnung fahren. Die Verwaltung schwieg, und so betonierte sie einen Teil der Türschwelle selbst zu und baute eine kleine Rampe.

    „Ich habe ihn kürzlich aus dem Krankenhaus abgeholt, meine Schwester und mein Bruder haben mir dabei geholfen. Mit einem amputierten Bein ist er noch Auto gefahren, aber jetzt hat ihm auch das zweite den Dienst versagt. In unser Auto setzt sich keiner mehr, ich habe noch keinen Führerschein. Ich habe jahrelang im Nachbardorf in der Schule gearbeitet, als Laborantin, in der Mensa als Leiterin der Wirtschaftsabteilung. Dann wurde die Schule geschlossen, es blieben wohl nur der Kindergarten und die Anfängerklassen. Ich fand Arbeit in der Geflügelfabrik, aber auch dort gab es Entlassungen, und jetzt suche ich nach einer neuen Stelle … Bitte seien Sie leise. Meine Nachbarin im Erdgeschoß schläft gerade. Sie wohnt hier mit ihren Kindern, nachts arbeitet sie am Flughafen.“

    Wir bemühen uns, die Dielenbretter nicht knarren zu lassen und gehen hinauf zu Polina Pawlownas Wohnung im ersten Stock. Sie zeigt uns ihre Bücher und steckt uns Broschüren mit Auszügen aus der Bibel zu. Ein hagerer Mann in Tarnhosen platzt ins Zimmer. Derselbe, der neben dem Denkmal schlief.

    „Scheiße, Mann, bist du Baptist oder was?“
    „Nein, Journalist.“
    „Ach so, na, ist doch eh alles das gleiche“, sagt er enttäuscht und verschwindet in seinem Zimmer, aber er taucht gleich wieder auf und brummt irgendwas vor sich hin. Polina Pawlowna versucht ihn hinauszuführen. „Mein Sohn Pjotr ist meine schwierigste Prüfung“, seufzt sie. Pjotr lässt sich nicht beruhigen:
    „Ich habe im Donbass gekämpft, ich bin kriegsverletzt!“
    Er streckt uns einen Pass mit einem annullierten Stempel der russischen Durchgangskontrolle an der ukrainischen Grenze entgegen.
    „Wie hat es Sie dorthin verschlagen?“
    „Ein Freund aus der Armee war bei mir auf Besuch, wir sind angeln gegangen, haben dort ein bisschen gesoffen, na und dann sind wir hingefahren.“

    Polina Pawlowna schüttelt skeptisch den Kopf, sie scheint daran gewöhnt zu sein, nicht alles zu glauben, was der Sohn erzählt. Wir gehen zusammen in den Hof hinaus. Draußen ist es wie in einer Sauna, vermutlich kommt ein Gewitter. Im Schatten der alten Linde ist es weniger schwül. Die alte Frau nimmt ihren gewohnten Platz im großen Sessel ein und versinkt wieder in Erinnerungen.

    Das Gefängnis ist wie Krieg. Es gab dort einen Berg. Einmal war die Sonne schon untergegangen, und der Berg leuchtete immer noch. Einer der Insassen erklärte mir: ‚Was da leuchtet, sind Knochen.‘

    „Ich war kampflustig und verprügelte meine Schwester, andere Kinder, alle. Ich ging auch alleine in den Wald, ich hatte vor nichts Angst. Man wird so geboren, so stark. Unser Papa war auch so. Die Häftlinge taten mir leid. Ich brachte ihnen im Ärmel Tee. Sie mussten sich doch Tschifir machen, aber es war kein Tee aufzutreiben. Wir Aufseher waren immer zu zweit unterwegs. Ich sagte zu meinem Partner: ‚Geh nur voraus, ich bringe kurz die Stiefel in Ordnung‘, und dann legte ich den Tee irgendwo auf dem Gelände unter ein Blatt. Und sie warteten natürlich schon auf mich. Es gab viele schlimme Dinge. Das Gefängnis ist wie Krieg. Es gab dort einen Berg. Einmal war die Sonne schon untergegangen, und der Berg leuchtete immer noch. Einer der Insassen, ein Jude, erklärte mir: ‚Was da leuchtet, sind Knochen.‘ Die Leute erfroren, starben, und man schichtete sie auf dem Berg auf, und von dort kam dann das Leuchten.“

    In der Stille vor dem Gewitter verstummt plötzlich alles. Selbst Pjotr hört auf, Radau zu machen. Auf dem Weg zur Haltestelle komme ich an dem Laden vorbei. An einem kleinen Plastiktisch trinken Männer Bier: „Hast du dich verlaufen, Junge? Was hast du hier überhaupt verloren?“

    Plötzlich erklingt in der Ferne ein ersterbender, trauriger Ton. Wenn man will, kann man sich einbilden, es wäre der Ton einer reißenden Saite, aber es ist nur der Bus Nr. 21, der beim Näherkommen ein Signal gibt.

     

    Namen teilweise geändert – dek

     

     

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