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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Pelageja am Steuer

    Pelageja am Steuer

    Schon zu Zeiten der Sowjetunion arbeiteten Frauen oft in typischen Männerberufen. Aber als Fahrerinnen trifft man sie selten. Pelageja, Mutter von fünf Kindern, hat in ihrem Berufsleben alle Transport-Sparten kennengelernt. Als Rentnerin nun fährt sie Taxi und hat auf ihrer Fahrt mit Jewgenia Wolunkowa viel zu erzählen. Eine Reportage auf Takie Dela.

     Fotos © Kristina Syrtschikowa
    Fotos © Kristina Syrtschikowa

    Spät am Abend: Pelageja arbeitete noch in ihrem alten Lada, um was dazuzuverdienen. Sie beförderte Kunden. Ein Mann winkte den Wagen heran, stieg ein und nannte eine Adresse. Nach ein paar Kilometern, die Straße war leer, hielt er Pelageja eine Pistole an die Schläfe: „Raus aus dem Wagen!“

    Pelageja stieg nicht aus. Sie drehte sich zu dem Mann um und sagte: „Wem bitte sehr, möchtest du hier Angst machen? Mir? Einer Mutter von fünf Kindern? Ich hätte mich letztens fast vor den Zug geschmissen wegen diesem verfluchten Leben. Ich habe keine Angst, schieß doch. Nur um die Kinder tut es mir leid, im Heim wird sicher nichts aus ihnen. Außer mir haben sie niemanden.“

    Der Gedanke, sich vor den Zug zu werfen, war Pelageja früh am Morgen gekommen. Die Kinder schliefen noch. Schon bald würden sie aufwachen und etwas zu essen verlangen. Es war aber nichts zu essen im Haus.

    Viele Jahre schon hatte Pelageja sich abgestrampelt, jeden Job angenommen. Und sie, diese fünf, waren wie die Heuschrecken. Sie kauft zehn Brote – und nach zwei Tagen ist alles weg. Sie weicht Brot in Wasser ein, streut Zucker drauf, sie essen es, und ab in den Hof. Zwei Stunden später stehen sie wieder da: „Mama, wir haben Hunger!“ Nicht auszuhalten.

    Sie gab ihnen keinen Abschiedskuss, um sie nicht zu wecken. Drehte sich um und ging davon. Sie kam zur Bahnstation und stellte sich an die Gleise. Lange stand sie so da, endlich hörte sie in der Ferne das Pfeifen. Der Zug kam näher, Pelageja war bereit. Plötzlich sieht sie in einer Wolke über den Gleisen ihre Kinder. Alle fünf. Sie drücken sich aneinander, schauen erschrocken. Als wäre sie aufgewacht, trat sie von den Gleisen zurück, und brach in Tränen aus und sah, wie der Zug sich entfernte.   

    „Ist das nicht gelogen mit den fünf Kindern?“
    Die Pistole drückte immer noch gegen die Schläfe.
    „Was soll ich denn lügen? Hier sind sie.“
    Sie holte ein Foto hervor. Der Mann betrachtete es.
    „Sieh mal an. Bist ja ne Heldenmutter. Na gut, los. Gib Gas.“ 
    Sie fuhren zur Stawropolskaja. Der Mann stieg aus.
    „Warte hier!“

    Kurze Zeit später kam er zurück. Pelageja stand noch da.

    „Warum biste denn nicht weggefahren? Bist wohl ne ganz Furchtlose?“
    „Ich bin doch neugierig, wie die Sache ausgeht.“
    „Oh Mann! Du bist mir vielleicht ein Weib! Hier nimm. Kannst fahren. Und schönen Gruß an die Bälger.“

    Er warf Süßigkeiten und Sekt auf den Sitz. Zog Geld aus der Jackentasche, gab es ihr und verschwand in der Dunkelheit.

    Pelageja sitzt seit 45 Jahren am Steuer
    Pelageja sitzt seit 45 Jahren am Steuer

    Die Atamanin

    Pelageja Alexandrowna ist vor 15 Jahren in Rente gegangen, hat aber nicht aufgehört zu arbeiten. Putzfrau, Wachfrau, Verkäuferin. Und in den letzten paar Jahren: Taxifahrerin. Als sie zum Taxiunternehmen Lider in Samara kam, um sich zu bewerben, sah man sie verwundert an: „Wo wollen Sie denn hin, Großmütterchen?“ Aber Pelageja hat 45 Jahre Fahrerfahrung. Hat Lkws und Straßenbahnen gefahren. Und als sie zum ersten Mal am Steuer eines Pkw saß, war sie gerade mal zehn. Damals hatte der Großvater sie und ihre Großmutter mit dem Auto ins Nachbardorf mitgenommen. Dort hat er sich dann die Kante gegeben und konnte nicht mal mehr geradeaus gucken. Die Großmutter war völlig aufgelöst: Wie heimkommen? Also setzte der Großvater die Enkelin hinters Steuer. Ein paarmal gab er ihr eins auf den Hinterkopf – mal hatte sie den Motor abgewürgt, mal den falschen Knopf gedrückt. Letztlich hat Pelageja aber alle heil nach Hause gebracht.

    Vor kurzem ist Pelageja von Lider zu Uber gewechselt. Sie hat gelernt, mit der neuen Technik umzugehen. Es ist Januar – der erste Monat in diesem Wagen. Vieles versteht sie noch nicht, aber es macht schon Spaß, weil sich damit etwas verdienen lässt.

    „Hallo, Jewgenia, ich bin vor Ihrem Haus, kommen Sie bitte runter!“

    Oft kommt Pelageja erst nach Mitternacht nach Hause
    Oft kommt Pelageja erst nach Mitternacht nach Hause

    Pelageja fährt einen blauen Lada, den ihr Sohn auf Kredit gekauft hat. 16.000 Rubel [ca. 225 Euro] muss sie monatlich für das Auto zahlen. Der Rest geht an andere Banken, um weitere Kredite zu tilgen. Ein bisschen was muss sie noch zum Leben zurückbehalten. Sie bekommt 7000 Rubel [ca. 100 Euro] Rente. Drei Tilgungsraten werden direkt von der Bank eingezogen: 2017 hat Pelageja ein Bußgeld wegen verspäteter Kreditzahlung bekommen.

    Die Oma kutschiert ihre Passagiere von früh bis spät, manchmal sogar die ganze Nacht hindurch, wenn die Kraft reicht. Bisher liegt ihr Rekord bei 100 Fahrten die Woche. Pelageja findet, das ist zu wenig, da ist noch mehr drin.

    Pelageja ist auf Sachalin geboren – ihre Mutter hat dort geheiratet, hat den Mann aber dann verlassen und ist nach Samara gegangen. Damals war Pelageja sieben.

    Pelageja wusste schon als Kind für sich einzustehen
    Pelageja wusste schon als Kind für sich einzustehen

    Pelageja wusste schon als Kind für sich einzustehen. Klein beigegeben hat sie nur bei der Mutter. Die versuchte immerzu, ihr Liebesleben auf die Reihe zu kriegen, traf sich mit verschiedenen Männern, aber es wurde nie etwas Ernsthaftes daraus. Sie lebten in einer Baracke, in bitterer Armut. Die Mutter litt darunter und ließ es gelegentlich an Pelageja aus. Pelageja wird wohl nie vergessen, wie die Mutter ihr einmal den Kopf aufgeschlagen hat.

    „Ich war in Hausschuhen rausgegangen, um Holz zu sägen. Sie hat es gesehen, sich einen Metalleimer auf der Veranda gegriffen und ihn nach mir geworfen. Das hat vielleicht geblutet! Aber ich bin der Mutter nicht böse. Ich kann sie verstehen, sie wollte ein gutes, glückliches Frauenleben. Und durch mich waren ihr die Hände gebunden. Damals mit acht habe ich mir geschworen, dass ich niemals trinken und meine Kinder niemals schlagen würde. Nur einmal konnte ich mich nicht beherrschen und hab meinem Sohn eine Ohrfeige gegeben. Aber ich habe mich sofort entschuldigt und gesagt, ich würde ihm nie wieder weh tun. Egal, was passiert, er soll zu mir kommen und es mir erzählen. Zusammen finden wir eine Lösung.“

    Pelagea mit dem jüngsten Spross der Großfamilie – ein seltenes Spielstündchen
    Pelagea mit dem jüngsten Spross der Großfamilie – ein seltenes Spielstündchen

    Pelageja hat drei Söhne und zwei Töchter. Alle sind schon groß, außer den beiden jüngsten Söhnen, Wanja und Ljonja, sind alle schon aus dem Haus. Verheiratet war Pelageja drei Mal. Der erste Mann hat getrunken. Hat sich letzten Endes totgesoffen. Der zweite war arbeitsam, ist aber auch gestorben: ist bei der Arbeit in einen Brunnen gefallen. Den dritten hat sie verlassen: Die ganze Schwangerschaft hindurch hat er sie schlecht behandelt, sie hat es ertragen. Aber als er sie nach der Entbindung nicht von der Klinik abgeholt hat, hat sie drauf gespuckt und ihn zum Teufel geschickt. Sie entschied, besser, sich allein abstrampeln, statt immer nur ertragen. Damit war es für Pelageja vorbei mit den Männern. Nur einmal traf sie noch einen netten, ging mit ihm aus. Aber als er ihr seine Liebe gestehen wollte, unterbrach ihn Pelageja: „Ich sag dir jetzt etwas, dann verschwindest du gleich: Ich habe fünf Kinder.“ Er ist nicht sofort verschwunden, hat sie noch nach Hause gebracht und sich danach nie wieder blicken lassen. Für Männer blieb sowieso keine Zeit, Pelageja hatte fünf Mäuler zu stopfen.

    „Mama hat immer gesagt: ‚Wozu zum Teufel kriegst du all die Kinder?!‘ Aber ich wollte, dass nach mir jemand bleibt … Um sie durchzukriegen, habe ich alles Mögliche getan. Habe in einer Fabrik als Putzfrau und als Wächterin gearbeitet. In einer Brauerei hab ich Kwas ausgeschenkt. Hab als Anstreicherin gearbeitet. Mit meinem kleinen Saporoshez hab ich was dazuverdient, Sachen ausgeliefert. Ein Auto bringt am meisten Geld. Du fährst einen Tag und hast zumindest das Nötigste zusammen.“

    Die Kutscherin

    Die Ausbildung zur Fahrerin machte Pelageja, als sie noch keine zwanzig war. Beim Spazieren mit einer Freundin sahen sie einen Aushang: Fahrausbildung in den Kategorien B und C. Sie besuchten den Kurs und schlossen mit Bestnoten ab. Schon bald saß Pelageja hinterm Steuer eines GAZ-51.

    „Was hab ich nicht alles transportiert! Wie ich die Mehlsäcke entladen habe, das vergesse ich nie! Hatte sie von der Mehlfabrik geholt, fahre zum Lieferort, und da ist kein Träger. Was soll ich machen, der Wagen muss ja entladen werden. Ich öffne also den Laderaum … Was rast du denn so, du meine Güüüüüte! Links ist die Tram, ich muss doch hier durch!“, Pelageja ist abgelenkt durch ein Westauto, das sie geschnitten hat. „Also, stell dir das vor, fünfzig Mehlsäcke! Und ich war damals zwanzig. Als ich den letzten ausgeladen hatte, konnte ich nicht mehr fahren, so hab ich gezittert … Du brauchst gar nicht so zu schauen, so bin ich halt. Wenn etwas sein muss, tu ich es einfach, ich kämpfe für meine Ziele.“  

    Pelageja arbeitet ohne Pause von montags bis sonntags. Am Wochenende schläft sie aus und beginnt erst um neun Uhr
    Pelageja arbeitet ohne Pause von montags bis sonntags. Am Wochenende schläft sie aus und beginnt erst um neun Uhr

    Als Pelageja keine Lust mehr auf den Lkw hatte, machte sie eine Ausbildung zur Straßenbahnfahrerin und hat ein paar Jahre Fahrgäste befördert. Als sie eines Tages schon auf dem Weg zum Depot war, kam eine Hochzeitsgesellschaft rein, etwa zwanzig Leute. Ins Depot wollten die aber nicht, sondern etwas weiter. Sie baten Pelageja sie hinzubringen, sie ging das Risiko ein. 25 Rubel hat sie für die Fahrt bekommen, damals war das viel Geld.

    Die Hausbesetzerin

    In den 1990ern ist Pelagejas Haus abgebrannt. Sie war mit den älteren Kindern in der Stadt, die drei kleinen waren zu Hause geblieben. Sie kam gerade noch rechtzeitig zurück, um die Kinder zu retten. Das Haus war zwar nicht vollständig ausgebrannt, aber leben konnte man darin nicht mehr. Die acht Monate alte Tochter unter den Arm geklemmt, marschierte Pelageja zur Verwaltung und bat um eine Wohnung. Aber Wohnungen gab es keine. Gehen Sie dorthin zurück, wo es gebrannt hat, hieß es. Für eine Zeit kam Pelageja bei Bekannten unter und machte sich ans Klinkenputzen bei den Beamten. Sie kam bis zur Regionalverwaltung.

    „Als man mich überall abgewimmelt hatte, machte ich mich auf die Suche nach dem Gouverneur. Damals war das Titow [Konstantin Titow war von 1991 bis 2007 Gouverneur von Samara]. Im Erdgeschoss standen Wachmänner, aber irgendwie bin ich an denen vorbeigekommen. Ich habe die Türen eigenhändig geöffnet. Hinter der ersten lag da ein roter Läufer. Ich gehe rein, gehe weiter und sehe plötzlich ein Türschild: Titow, Oberhaupt der Region. Genau da will ich hin!

    Ich stürme rein, die Sekretärin ruft noch: ‚Wo wollen Sie hin? Er ist in einer Besprechung. Wie sind Sie überhaupt hier reingekommen?‘ Wie ich es geschafft hab, sie zur Seite zu schieben, weiß ich selbst nicht, sie war ganz schön wuchtig, aber ich war sauer. An wen ich mich mit meinen Problemen auch wende, keinen interessiert’s die Bohne … Ich gehe also rein zu Titow, das Zimmer ist voller Menschen. Ich sage: ‚Entschuldigen Sie bitte, Herrschaften, ich habe einen Notfall. Wenn Sie mir nicht helfen, wer dann?‘ Zufällig sitzt da auch der Chef unserer städtischen Straßenbahngesellschaft. Der hat mich wiedererkannt. Das ist meine Angestellte, sagt der. Also riefen sie mir einen Wagen und brachten mich und die Kinder in ein Wohnheim. Es war Winter, fast minus 30 Grad. Ich komme rein, die Wachfrau hat zwei Heizwärmer zu ihren Füßen und trotzdem wallt Dampf aus ihrem Mund. Und meine Olga ist zehn Monate alt, wie soll ich in dieser Bruchbude leben? Die Wachfrau ist sogar noch in unser Zimmer mitgegangen, um die Bettwäsche abzuziehen. Die ist neu, hieß es, Sie müssen Ihre eigene mitbringen. Wie soll ich denn meine eigene mitbringen, wenn sie verbrannt ist? Ich habe die Betten zusammengeschoben, die Kinder von allen Seiten umarmt und so saßen wir die ganze Nacht da, haben uns gegenseitig warmgehalten.“

    In den 1990er Jahren brannte Pelagejas Haus ab, sie kam mit ihren Kindern eine zeitlang bei Bekannten unter
    In den 1990er Jahren brannte Pelagejas Haus ab, sie kam mit ihren Kindern eine zeitlang bei Bekannten unter

    Nach der durchfrorenen Nacht war Pelageja klar, dass ihr niemand helfen würde. Sie beschloss, selbst eine Wohnung zu suchen. Eine Zeit lang hatte sie auf dem Bau gearbeitet. Sie wusste, mit welchen Schlüsseln man reinkommt. Sie schnappte sich einen großen Schlüsselbund mit vielen gleichen und ging in einen Neubau, wo die Leute gerade erst anfingen einzuziehen. „Ich ging von Tür zu Tür, neben der vierten begann mein Herz zu pochen: bum-bum-bum. Das ist unsere Wohnung! Hab den richtigen Schlüssel rausgesucht und bin rein. Sie gehörte der Stadtverwaltung und stand noch leer. Dort sind die Kinder und ich eingezogen. Ich habe gleich einen Brief an die Verwaltung geschrieben, dass ich auf eigene Befugnis die Wohnung mit der Adresse soundso bezogen habe. Da drin gab es gar nichts, nur die nackten Mauern. Anfangs benutzen wir einen Eimer als Toilette und gingen in die öffentliche Sauna zum Duschen. Als die Verwaltung erfuhr, dass ich dort eingezogen bin, kamen sie, um uns rauszuwerfen. Ich hab mich geprügelt. Ich weiß noch genau, wie eines Tages zwei Männer und zwei Frauen dastanden, und sich plötzlich meine Kindern greifen wollten. Sie waren damals auch noch krank, ich hatte sie mit Gänseschmalz eingeschmiert. Ich sag zu ihnen: ‚Kinder, wollt ihr auf die Straße?‘ Und sie: ‚Nein, Mama!‘ ‚Dann wehrt euch!‘ Also winden sie sich, glitschig wie sie sind, ständig aus den Griffen der ungebetenen Gäste … Irgendwann sind die dann gegangen. Und ich blieb noch drei Jahre in dem Haus, erst dann habe ich endlich eine Dreizimmerwohnung bekommen.“ 

    Die Ernährerin

    Pelageja fährt sicher und ruhig. Bremst nicht abrupt, überholt selten, lässt alle Fußgänger durch. Wird sie von vorbeifahrenden Autos angehupt, kontert sie stets mit demselben: „Arschloch!“

    „Wie fahre ich? Gut?“
    „Sehr gut!“

    „Ich gebe mir Mühe, dass die Kunden sich wohlfühlen. Ich unterhalte mich gern, mache auch mal einen Scherz. Manche fragen mich beim Einsteigen: ‚Kommen wir überhaupt noch lebend an, Großmütterchen?‘ ‚Mal sehen‘, sage ich dann. Bisher hat sich keiner beschwert. Ich habe drei Regeln: aufmerksam sein, Abstand halten und die Geschwindigkeitsbegrenzung beachten. Das war’s, mehr braucht man nicht … Arschloch!“, ruft Pelageja einem hupenden Auto hinterher.

    Pelageja erzählt. „Ich mag es, während der Fahrt mit meinen Fahrgästen zu plaudern und die Bäume am Straßenrand zu bewundern“
    Pelageja erzählt. „Ich mag es, während der Fahrt mit meinen Fahrgästen zu plaudern und die Bäume am Straßenrand zu bewundern“

    „Ist es anstrengend, den ganzen Tag am Steuer zu sitzen?“

    „Ach was, hier erhole ich mich! Wenn ich im Haus arbeite, tun mir Arme und Beine weh. Böden wischen, Badewanne schrubben – dann bin ich kaputt. Ich lege mich hin und komm kaum wieder hoch. Aber ich rappel mich wieder auf. Die Kinder fragen: ‚Mama, wo willst du hin? Du bist doch kaputt!‘ Und ich: ‚Ich fahr mich erholen.‘ Ich mag Autofahren sehr.“

    „Wann hatten Sie das letzte Mal Urlaub?“

    „Urlaub hatte ich 1992.“

    „Sind Sie irgendwo hingefahren?“

    „Wo soll ich schon hinfahren, Schätzchen? Ich war zu Hause bei den Kindern. Und habe nebenbei gearbeitet. Ich bin Mama und Ernährerin, Erholung ist für mich nicht vorgesehen.“

    Pelageja kauft fast nur Dinge, die heruntergesetzt sind. Sonderangebote oder im Ausverkauf. Für sich selbst kauft sie so gut wie nichts. Letztes Jahr hat sie sich ein Nachthemd gegönnt. Und dieses Jahr billige Sportschuhe, damit sie es hinterm Steuer bequemer hat. Aber jetzt ist es kalt, die Füße frieren. Sie überlegt, ob sie sich warme Stiefel kaufen soll, kann sich aber nicht dazu durchringen: Was wenn es dann nicht mehr reicht, um die Schulden abzubezahlen?

    Schulden hat Pelageja viele. Die ersten Kredite hat sie aufgenommen, um das Haus zu kaufen. Sie hatte ihre Dreizimmerwohnung verkauft, weil sie ein Stück eigenes Land haben wollte, sie dachte, so wäre es einfacher, die Familie zu ernähren.

    Pelageja tut es leid, dass die Kinder sich selbst überlassen waren, während sie arbeiten musste. Die älteren haben nach den jüngeren gesehen. Dafür wussten sie aber von klein auf, was es heißt, Geld zu verdienen. Als der Nachbarsjunge eine Spielkonsole bekam, wollten sie auch eine. Sie sagte: „Wenn ihr was wollt, verdient es euch.“ Sie hat ein Treppenhaus übernommen, und die Kinder haben die Böden gewischt. Als sie die nötige Summe zusammen hatten, kauften sie eine Spielkonsole. Genauso ist auch der Kassettenrekorder ins Haus gekommen.

    Ihr Auto ist für Pelageja von größtem Wert. Ein Auto zu besitzen, bedeutet Geld zu verdienen
    Ihr Auto ist für Pelageja von größtem Wert. Ein Auto zu besitzen, bedeutet Geld zu verdienen

    Als sie das Haus gekauft haben, konnten die Kinder kaum glauben, dass sie nun eigene Kartoffeln und Fleisch haben werden. Pelageja hatte auch Ferkel gekauft. „Mama gehört das jetzt alles uns? Wirklich?“ Das Geld, das vom Wohnungsverkauf übrig war, investierte sie in einen alten Wagen, einen Schuppen, die Ferkel und die Einrichtung des Hauses.

    Für die Wasser- und Heizungsleitungen hat es nicht mehr gereicht, sie musste wieder zur Bank. Erst ein Kredit, dann der nächste, und noch einer. Für dies und das. Aber sie kam irgendwie über die Runden. Bis 2016 zahlte Pelageja immer pünktlich, doch dann wurde es immer schwieriger, mit dem Taxifahren Geld zu verdienen: zu wenig Aufträge, es reichte gerade mal für den Sprit. Sie ging zur Bank: „Macht mit mir was ihr wollt, ich hab kein Geld, um zu zahlen.“ Sie beschlagnahmten das Auto und ihre Rente. Dann hörte Pelageja von Uber.

    „Ich bin kein Drückeberger. Solange ich die Kraft dazu habe, arbeite ich. Ich mag Uber, das sind gute Jungs. Und Prämien sammeln sich auch an. Hauptsache ich kann die kleinen Kredite abbezahlen, dann bleiben nur noch die drei großen …“

    „Wissen die Kinder von Ihren Problemen?“

    „Wozu denn? Sie haben genug eigene. Der Sohn, der bei mir wohnt, hat drei Kredite. Meine Tochter kümmert sich ums Kind, ihr Mann sorgt allein für den Lebensunterhalt. Lena zahlt die Uni-Ausbildung ihres Sohnes, arbeitet von früh bis spät. Dima hat zwei Kinder … Wanja und Lena helfen ihm, die Kommunalka zu bezahlen, letztens haben sie mir bei der Gasrechnung geholfen. Mein Sohn macht was zu essen, wenn ich heimkomme, unterstützt mich. Jeder hilft, wo er kann.“

    „Haben sie Jobs?“

    „Ja … Aber hör mal, solange Arme und Beine funktionieren, warum soll ich herumsitzen? Wir kommen schon über die Runden.“

    Unsere Fahrt endet im von Pelageja heißgeliebten Imbiss Blinari. Sofort zerrt sie mich von der Theke mit den Grillhähnchen weg, hin zu der anderen, mit dem „vernünftigen“ Essen: „Da ist es viel zu teuer, schau da gar nicht hin.“ Sie bestellt Reiskascha und Kissel. Ich überrede sie noch zu Kartoffelpuffern. Bis zum Flughafen sind wir auf Rechnung gefahren – zurück einfach so. Ich halte ihr 500 Rubel hin: „Für meine Heimfahrt.“ Pelageja zieht eine Brieftasche hervor, entweder unter der Achsel oder aus dem BH. Legt den Geldschein hinein und versteckt sie wieder.

    Ich steige vor meinem Haus aus. Sie steckt den Kopf aus dem heruntergekurbelten Fenster und ruft:

    „Versprich, dass du dich immer liebhast und nie zulässt, dass dir einer was zuleide tut.“
    „Versprochen!“
    „Ganz sicher?“
    „Ich verspreche es!“

    Draußen sind es  minus 15 Grad. Wenn du in Sachalin aufgewachsen bist, wirst du niemals frieren, sagt Pelageja
    Draußen sind es minus 15 Grad. Wenn du in Sachalin aufgewachsen bist, wirst du niemals frieren, sagt Pelageja

    Am nächsten Morgen klingelt um 11 Uhr das Telefon, Pelageja ist dran:

    „Guten Morgen, Shenja-Schätzchen. Ich bin jetzt erst auf dem Heimweg.“

    „Waren Sie etwa die ganze Nacht unterwegs?“

    „Ja.“

    „Wie viele Fahrten waren es denn?“

    „Um die zwanzig. Jetzt fahre ich zu meinem Sohn ins Krankenhaus, bringe ihm Toilettenpapier und was zu trinken vorbei. Dann schlafe ich ein bisschen und weiter geht’s.“

    „Sie müssen sich schonen, man braucht doch auch Erholung.“

    „Alles gut, Kindchen, mach dir keine Sorgen. Diese Woche habe ich etwa 12.000 Rubel [170 Euro] verdient, ich brauche aber 20.000 [280 Euro] … Dafür ist die Freude umso größer, wenn ich das Geld kriege und einen Teil vom Kredit tilgen kann! Also gut, mein Sonnenschein, hab einen schönen Tag. Ich muss weiter!“

    Text: Jewgenia Wolunkowa
    Fotos: Kristina Syrtschikowa
    Übersetzung: Maria Rajer
    erschienen am 03.04.2018

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  • Was kommt nach Putin?

    Was kommt nach Putin?

    Verfassungen sind eigentlich vor allem dafür da, um die Macht der Machthaber zu begrenzen. In der Russischen Föderation jedoch ist seit 1993 der Präsident Garant der Verfassung. Absurd, meint Grigori Golossow, einer der wichtigsten Politikwissenschaftler des Landes. Denn wie kann jemand etwas garantieren, was seine eigene Macht begrenzen soll? Und dies, so Golossow, sei nicht der einzige Systemfehler, der Putin den Weg zu seiner autoritären Konsolidierung Russlands ebnete.

    Eine Korrektur dieser Fehler bedeute auch eine tiefgreifende Reform des gesamten politischen Systems. Nach 2024 freilich, denn Putins Triumph bei der Präsidentschaftswahl 2018 gilt als sicher.

    Um nicht die alten Fehler zu wiederholen, müsse sich das liberal-demokratische Russland jetzt schon Gedanken machen, was nach Putin kommt und wie denn dieses Szenario verwirklicht werden kann. Grigori Golosssow bringt auf Takie Dela seine Vorschläge ein. 

    Auf Putin folgt Putin folgt Putin? / © Damian Entwistle/flickr.com
    Auf Putin folgt Putin folgt Putin? / © Damian Entwistle/flickr.com

    Mittlerweile kann man sich nur schwer vorstellen, dass es in Russland vor nicht allzu langer Zeit noch überhaupt keinen Präsidenten gab, weder in der Sowjetunion noch in den Bruderrepubliken – bis 1990.

    Wie alle Staaten mit kommunistischem Regime hatte auch die UdSSR formal ein parlamentarisches System. In der Praxis lag alle Macht bei der KPdSU, die den politischen Kern des Systems darstellte. Dieser Kern bildete sich 1990 und 1991 allmählich zurück – und die Macht des ersten Präsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, hing in der Luft. Im August 1991 versuchte die Parteielite, diese Macht zu ergreifen: Sie erklärte den Ausnahmezustand und ließ in Moskau Panzer auffahren. Doch sie scheiterte auf ganzer Linie.

    Das Tätigkeitsverbot für die Kommunistische Partei und der Zerfall der Sowjetunion zogen Gorbatschow beide Stühle weg. Er landete im politischen Nichts – zusammen mit dem Staat, den er angeführt hatte.

    Gorbatschow landete im politischen Nichts

    Völlig anders war die Lage von Boris Jelzin zu Beginn seines Weges als Staatsoberhaupt Russlands. Kontrolle über die Kommunistische Partei gewinnen konnte er nicht; er wollte es wohl auch nicht. Macht konnte Jelzin allein über die staatlichen Strukturen gewinnen. Also erlangte er zunächst den Posten des Vorsitzenden des Obersten Sowjets der Russischen Föderation (damals noch der RSFSR) und wurde danach, im Juni 1991, zum ersten gewählten Präsidenten Russlands. Ein grundlegender Wandel der politischen Institutionen in Russland erfolgte daraufhin allerdings nicht. Formal lag die Macht weiterhin in den Händen der Sowjets, Jelzins Vollmachten waren vor allem repräsentativer Natur. In dieser Hinsicht unterschied sich der Status Jelzins kaum von dem Gorbatschows.

    Der politische Sieg im August 1991 ermöglichte es Jelzin, weitreichende Macht in seinen Händen zu konzentrieren. Vom verschreckten und desorientierten Parlament Russlands erwirkte er außerordentliche Vollmachten zur Durchführung von Wirtschaftsreformen. Mehr noch: Von November 1991 bis Juni 1992 war Jelzin gleichzeitig Präsident und Regierungschef.

    Panzer beschießen das Parlament

    Das Parlament erholte sich jedoch mit der Zeit von dem Schock und begann einen systematischen Angriff auf Jelzin, dessen verfassungsmäßige Vollmachten als Präsident nach wie vor gegen Null gingen. Die Verfassung zu seinen Gunsten ändern, das konnte Jelzin nicht, das konnte nur das Parlament. Also blieb ihm nur zu drohen, zu lavieren und seine Macht mit Hilfe eines Referendums zu festigen. Das half Jelzin, seine reale Macht zu wahren, führte aber zu einem Konflikt, der in der gewaltsamen Auflösung des Parlaments und dem Minibürgerkrieg vom Oktober 1993 endete. Wieder wurden Panzer in Bewegung gesetzt. Allerdings waren die neuen Machthaber entschlossener: Die Panzer nahmen das Parlament unmittelbar unter Beschuss.

    Nach dem Sieg über das Parlament konnte Jelzin die Verfassung diktieren, wie sie ihm gefiel, und sich so viele Vollmachten geben, wie ihm beliebte.

    Allerdings gab es zwei einschränkende Faktoren. Der eine, wenn auch nur ein schwacher, war die öffentliche Meinung im Westen, die von dem gewaltsamen Eingreifen Jelzins enttäuscht war und keine Errichtung einer Präsidialdiktatur in Russland wollte. Der andere Faktor, der von sehr viel größerer Bedeutung war, wurzelte in Jelzins Unwillen, sich allzu sehr mit Fragen des Alltagsgeschäfts zu belasten, für das er nie großes Interesse hatte (möglicherweise aus der Haltung heraus, dass dies nicht des Zaren Sache sei).

    Der Präsident als Garant der Verfassung

    Deshalb hat die Verfassung von 1993 die Kernaufgabe von Dokumenten dieser Art nicht erfüllt, nämlich die Zuständigkeiten der staatlichen Institutionen klar festzulegen. War die Macht des Präsidenten zuvor unklar definiert gering, so war sie nun unklar definiert groß. Entgegen gesundem Menschenverstand wurde dem Präsidenten die vage Rolle eines „Garanten der Verfassung“ zugesprochen, wo doch klar sein sollte, dass derjenige, dessen Macht durch die Verfassung beschränkt werden soll, nicht gleichzeitig Garant dieser Beschränkungen sein kann.

    Da die Verfassung von 1993 auf Jelzin zugeschnitten war, versorgte sie ihn mit einem politisch durchaus angemessenen Instrumentarium. Der Präsident konnte, sollte dies nötig sein, praktisch uneingeschränkt Macht ausüben. Bei Bedarf konnte er wiederum in den Hintergrund treten und sich hinter der Regierung vor dem Volkszorn verstecken. Wie etwa in der Augustkrise 1998, als das Scheitern der Jelzinschen Wirtschaftspolitik unübersehbar wurde.

    Putin hat Mittel gefunden, die Verfassung für seine Interessen zu nutzen

    Es liegt auf der Hand: Die Unbestimmtheit der präsidialen Vollmachten bringt es mit sich, dass das Funktionieren dieses Amtes unmittelbar abhängig ist von den persönlichen Qualitäten und den politischen Ressourcen desjenigen, der es bekleidet. Die Verfassung von 1993 war zwar nicht auf Putin zugeschnitten. Doch hat er die Mittel gefunden, sie für seine ureigenen Interessen zu nutzen.

    Formal gesehen gehört die russische Verfassung von 1993 zum Typus der semipräsidentiellen Systeme, die eine zweifache Verantwortlichkeit der Regierung vorsehen: gegenüber dem Parlament und gegenüber dem vom Volk gewählten Präsidenten. Solche Systeme sind nicht sonderlich stabil, und die Hauptgefahr besteht darin, dass es zu einer politischen Konfrontation zwischen Parlament und Präsident kommt.

    In erster Linie war Putin bestrebt, dieser Gefahr zu begegnen. Zu diesem Zweck gestaltete er das Wahl- und Parteiensystem derart um, dass die Mehrheit im Parlament stets der Partei gehört, die ihn unterstützt. Gerade diese Umstrukturierung führte dazu, dass Russland Mitte der 2000er Jahre keine durch Wahlen gestützte Demokratie mehr war, sondern endgültig den Weg in Richtung Autoritarismus eingeschlagen hatte.

    Der Weg in Richtung Autoritarismus

    Das Risiko, das dem semipräsidentiellen System innewohnt, bietet einem starken politischen Akteur einen spürbaren Bonus. Falls der Präsident aus irgendwelchen Gründen seinen Posten verlassen muss, so kann er sich, indem er Regierungschef wird, nahezu alle Einflussmöglichkeiten bewahren. Genau das war während der Rochade [von Putin und Medwedew – dek] zwischen 2008 und 2011 zu beobachten. Und es ist durchaus möglich, dass uns 2024 etwas Ähnliches erwartet. Somit schafft die Verfassung von 1993 nicht nur Möglichkeiten zur Entfaltung uneingeschränkter persönlicher Macht, sondern ermöglicht auch, diese auf unbestimmte Zeit zu behalten.

    Der Präsident hat kaum Verantwortung

    Gleichzeitig ist die Verantwortung, die dem Präsidenten durch die Verfassung auferlegt ist, vergleichsweise gering. Die unmittelbare Verantwortung trägt er nur für die Außen- und Verteidigungspolitik. Für alles andere ist der Regierungschef verantwortlich, der jederzeit abgesetzt werden kann, wenn man ihm zum Beispiel die Schuld für ein Scheitern in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zugeschoben hat. Die Regierung bleibt für die Bevölkerung der Sündenbock. Kein Wunder, dass die Umfragewerte des Präsidenten stets erheblich über jenen der Regierung liegen.

    Die Unbestimmtheit der Vollmachten und Verantwortlichkeiten schafft eine Situation, in der sich die Entscheidungsmechanismen auf eine Schattenebene verlagern, die nur schwer zu durchschauen ist. Das ist zum Teil auch den spezifischen Regierungsgewohnheiten Putins geschuldet. Richtig ist aber auch, dass in jedem politischen System ein wichtiger Teil der Entscheidungen mehr oder weniger informell auf den Fluren getroffen wird. Allerdings wird diese Praxis durch klar festgelegte Normen beschränkt. In Russland wird durch das Fehlen solcher Normen diese Praxis nur verstärkt.

    Entscheidungen werden auf den Fluren getroffen

    Die Hauptaufgabe, die beim Übergang zur Demokratie bevorsteht, besteht darin, die Zuständigkeiten der unterschiedlichen Staatsämter in der Verfassung klar voneinander abzugrenzen. Das ließe sich auf unterschiedliche Weise bewältigen.

    In oppositionellen Kreisen herrscht relativ breite Einigkeit, dass man auf das Präsidialsystem verzichten und ein parlamentarisches System einführen sollte. Das würde bedeuten, dass die Vollmachten des Präsidenten vor allem repräsentativer Natur wären und die gesamte politische Verantwortung auf einem Premierminister läge, der von einer Parlamentsmehrheit im Amt zu bestätigen wäre.

    Ich sehe keine ernsthaften Hindernisse für eine Umsetzung dieser Variante. Ich möchte jedoch zu bedenken geben, dass auch ein semipräsidentielles System seine Vorteile hat, wenn es richtig angelegt ist und funktioniert. Das zeigen die Beispiele einiger europäischer Staaten: Etwa Frankreich (wo dieses System erfunden wurde), Polen oder Rumänien. In allen diesen Ländern gibt es Probleme; diese sind jedoch erstens nicht allzu gravierend, und zweitens könnten wir den nötigen Scharfsinn zeigen und das System unter Berücksichtigung der Erfahrungen dieser Länder optimieren.

    Natürlich kann der Präsident nicht „Garant der Verfassung“ sein. In einem normalen System wäre er lediglich ein höher gestellter Staatsdiener. Im Prinzip hat die Verfassung von 1993 richtig festgeschrieben, welche Verantwortungsbereiche beim Präsidenten zu verankern sind: die Außenpolitik und die Verteidigung. Politischen Führern ist sehr wohl bewusst, dass sich jede Art ihres Scheiterns durch einen außenpolitischen Triumph kompensieren lässt. Putin ist hierbei vorgegangen, wie’s im Buche steht. In Ländern, die keine aktive Außenpolitik betreiben, haben solche Überlegungen keine sonderlich große Bedeutung. In Russland spielen sie auf lange Sicht eine wichtige Rolle. Die Nachwirkungen der riesigen außenpolitischen Probleme, die Putin als Erbe hinterlässt, werden Russland über Jahrzehnte beschäftigen.

    Die Nachwirkungen der riesigen außenpolitischen Probleme, die Putin als Erbe hinterlässt, werden Russland über Jahrzehnte beschäftigen

    In einem optimalen Modell, wie ich es mir vorstelle, sollten sowohl Präsident als auch Parlament direkt gewählt werden. Der Präsident würde neben repräsentativen Funktionen die tatsächliche und unmittelbare Verantwortung für die Außen- und Verteidigungspolitik tragen, während die Macht in allen anderen Bereichen bei einer Regierung liegen würde, die von einer Partei oder einer Koalition getragen wird. Der Premier wäre somit der politische Führer des Landes.

    Den Premierminister könnte nur das Parlament absetzen, und zwar nur dann, wenn der Premierminister das Vertrauen der Partei oder Koalitionsmehrheit verliert. Oder aber, was häufiger der Fall ist, wenn die Partei oder die Koalition auseinanderbricht, was gewöhnlich zu Neuwahlen führt. Was den Präsidenten betrifft, so kann dieser in einem solchen System nur dann abgesetzt werden, wenn er Gesetze bricht: über ein Amtsenthebungsverfahren mit Gerichtsbeschluss. Politische Differenzen mit dem Premierminister sind kein hinreichender Grund.

    Direkte Wahlen und eine neue Verfassung

    Das grundlegende Modell zur Einteilung und Abgrenzung der Befugnisse kann nicht ohne Verabschiedung einer neuen Verfassung geändert werden. Das bedeutet aber weder, dass die Verfassung von 1993 in einem eigenmächtigen, revolutionären Akt abgeschafft werden sollte, noch heißt es, dass man – selbst unter Beachtung aller rechtlichen Aspekte – es mit ihrer Abschaffung eilig haben sollte.

    Die erheblichen innenpolitischen Vollmachten des Präsidenten könnten für die Umsetzung von Reformen sinnvoll sein. Nach einer solchen Übergangszeit hätte dann laut der Verfassung von 1993 das zur Verfassungsänderung berechtigte Gremium das Sagen. Und das ist die die Verfassunggebende Versammlung. Bislang fehlt noch ein Gesetz, das festlegt, wie diese zu bilden ist. Das wäre Aufgabe jener Gesetzgeber, die nach dem Übergang zur Demokratie durch die ersten freien Wahlen ins Parlament gelangen. Ich denke, die würden das schaffen.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Die stillgelegte Stadt

    Die stillgelegte Stadt

    Rauchende Schornsteine und stampfende Maschinen – die Fabriken und Schmelzwerke waren einst stolzes Symbol der sowjetischen Wirtschaftsmacht. Viele von ihnen findet man bis heute in der Ural-Region, die während des Großen Vaterländischen Kriegs zu einem der wichtigsten sowjetischen Industriezentren ausgebaut wurde. So konnte weitab der Front die industrielle Produktion sichergestellt werden. Ein Propaganda-Gedicht besang die Region als „Stützregion der Staatsmacht“, als eine Kraft, die weit draußen im Hinterland dafür sorge, dem Feind ein jähes Ende zu bereiten. 

    Vom Reißbrett aus schossen die Fabriken aus dem Boden. Viele von ihnen bildeten das Zentrum sogenannter Monostädte –Arbeitersiedlungen, die Stalin ab den 1930er Jahren rund um einen einzigen Betrieb oder ein Kombinat errichten ließ.
    Statistisch gesehen liest sich die Geschichte der Monostädte wie eine magische Zahlenreihe: Über 400 Monostädte gab es in Russland, die einst 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschafteten. Jeder vierte russische Staatsbürger lebt in einer solchen Stadt. 
    Die in der Ural-Region angesiedelten Monostädte entwickelten sich dank reicher Rohstoffvorkommen zu wichtigen Industriezentren mit einem Lebensstandard, der mancherorts weit über dem sowjetischen Durchschnitt lag.
    Doch mit dem Ende der Planwirtschaft begann ihr Niedergang, auch die globale Wirtschaftskrise 2008 und die anhaltende Russische Wirtschaftskrise setzen ihnen zu. Zahlreiche Betriebsschließungen sind die Folge. 

    Das trifft sowohl die Monostädte, als auch historisch im Ural verwurzelte Städte, die ihr Gesicht in der Sowjetunion zur Industriestadt wandelten. Solche Städte fernab der üblichen Transport- und Handelswege geraten zunehmend in Vergessenheit. So auch die Stadt Resh, einst eine Hochburg der Nickelproduktion, der die Journalistin Victoria Ivleva für Takie Dela einen Besuch abstattete. Die Stilllegung des Nickelwerks brachte nun schon die dritte große Entlassungswelle mit sich – mit verheerenden Folgen für die Bewohner.

    Die Stilllegung hat hier alle kalt erwischt / Fotos © Fyodor Telkov/Takie Dela
    Die Stilllegung hat hier alle kalt erwischt / Fotos © Fyodor Telkov/Takie Dela

    Wenn man nach Resh hineinfährt, passiert man eine Stelle mit dem Datum der Stadtgründung: 1773. Ein Stückchen weiter fällt einem der etwas irritierende Schriftzug „Baden-Baden Smaragdküste“ ins Auge – und das mitten im Uralgebirge.

    „Das ist dieses Kurbad hier bei uns, mit Thermalbecken, da können Sie sogar bei extremen Minusgraden draußen baden“, sagt mein Fahrer und fängt dann plötzlich an, von den echten Smaragden zu erzählen, die hier haufenweise herumliegen, und von der verlassenen Goldmine neben dem Haus seiner Großmutter, wo er immer schon mal hineinklettern wollte, aber er hat Angst, eins auf die Mütze zu bekommen, wenn er da „irgendwas ausbuddelt“, sagt er.

    Kurz gesagt, ich bin umringt vom Ural.

    Am Ortsanfang steht ein Schild ,Baden-Baden Smaragdküste‘ – und das mitten im Uralgebirge

    Resh ist ein ruhiges Städtchen, hübsch anzusehen, es fügt sich ein in den Ural und seine reiche Natur, ohne sie zu erdrücken. Viel Himmel ist hier zu sehen, viel Wasser, alte Bäume, die Stadt wirkt malerisch im Sommer, im Winter wie eine Grafik. Resh mit seiner weitverzweigten Anlage nimmt einen für sich ein, seine verschlungenen, hinan- und hinabeilenden Straßen, der riesige alte, asymmetrisch geformte Teich, in dem man ganzjährig angeln kann, die noch aus dem 19. Jahrhundert erhaltenen Villen und die erstaunlich sanftmütigen Menschen. 

    Es war der größte Betrieb der Stadt, 1000 Menschen arbeiteten dort
    Es war der größte Betrieb der Stadt, 1000 Menschen arbeiteten dort

    Die Hauptsehenswürdigkeit von Resh, von jedem Punkt aus zu erahnen, ist der rot-weiß gestreifte Schornstein des Nickelwerks, das die Stadt achtzig Jahre lang ernährt hat und das es nun, unerwartet für die Bewohner und anscheinend auch für das Werk selbst, plötzlich nicht mehr gibt. Es war der größte Betrieb der Stadt, 1000 Menschen arbeiteten dort.
    Im Zuge der Betriebsschließung sollen alle entlassen werden, und die eigentliche Fabrik, in der der Betrieb früher Tag und Nacht nicht zum Erliegen kam, liegt bereits verlassen da. Totenstille. Zwei weitere Fabriken in Resh haben ihre Seele schon früher ausgehaucht. 
    Das Werk und seine überraschende Stilllegung, die hier alle kalt erwischt hat, sind es auch, die mich nach Resh geführt haben.

    Man muss wissen, dass Resh Nickel kein eigenständiger Betrieb ist. Er ist das Mittelglied in einer Kette, die von der Gewinnung des Nickelerzes bis zur Schmelzung des Metalls reicht. Resh Nickel stellt das Zwischenprodukt Rohstein her; das Reinnickel wird in einer Stadt mit dem märchenhaften Namen Werchni Ufalei gewonnen. Die Werke in Resh und Ufalei sowie die Nickelgrube in der Stadt Serow bilden zusammen die Firma Rus Nickel, die 15 Prozent des russischen Nickels produziert.

    Totenstille. Zwei weitere Fabriken in Resh haben ihre Seele schon früher ausgehaucht
    Totenstille. Zwei weitere Fabriken in Resh haben ihre Seele schon früher ausgehaucht

    Iwan Iwanytsch Dimitrijew, Betriebsleiter von Resh Nickel:

     „Dass der Preis für Koks sich verdoppelt hat und gleichzeitig der Nickelpreis gesunken ist, das haben wir nicht verkraftet, das muss man so sagen. Aber das heißt ja nicht, dass man den Betrieb so Knall auf Fall dichtmachen musste, einfach hinschmeißen und dem Unkraut überlassen. Stillstandsphasen hatten wir auch früher schon, aber wir haben jedes Mal wieder neu angesetzt, haben Teile modernisiert, uns irgendwas überlegt …“

     „Und der Betrieb florierte?“

     „Na sicher doch. Hier war schließlich die wissenschaftliche Plattform der UPI [Uralski Gossudarstwenny Technitscheski Universitet, dt.: Staatliche Technische Universität des Uralgebiets – dek], hier pulsierte das wissenschaftliche Leben, der Erfindergeist, hier war es so interessant! Das ist es ja, was mich fertigmacht: Generationen haben das alles hier aufgebaut, und wofür? Es tut einem in der Seele weh. Gusseisen und Stahl können wir hier produzieren, wir haben eine extrem vorteilhafte geografische Lage, beste Infrastruktur. Wir müssen umstrukturieren, aber doch nicht das Werk stilllegen – ich könnte wirklich schreien! 2013/14 haben wir nämlich mit Gewinn gearbeitet, kleinem zwar, aber immerhin. Dann hat der Staat die Transportkosten erhöht – und das war´s dann. Man könnte meinen, er arbeite selbst auf die Liquidation hin, ist doch wahr, oder? Ich meine, schauen Sie mal – auf dem Wappen der Oblast Swerdlowsk da heißt es ,Stützregion der Staatsmacht‘, also vielleicht sollte man die nicht mal eben so weghauen, diese Stütze!“

    Vom Betriebsleiter bis zu den Besitzern von Resh – das ist eine Entfernung wie von hier bis zum Stern Aldebaran

    Ach, Iwan Iwanytsch! Der ist so ein echtes Arbeitstier, zuerst war er Schmelzergehilfe in Werchni Ufalei, dann hat er eine Lehre gemacht, ist Werkmeister geworden und jetzt eben Betriebsleiter. Arbeiten will der Mann, Feuer und Flamme ist Iwan Iwanytsch für seinen leitenden Posten, und gerade mal 40 ist er heute. Aber Iwan Iwanytsch ist bloß der Betriebsleiter, von ihm bis zu den Besitzern von Resh Nickel, deren Namen im Betrieb kaum einer kennt, das ist eine Entfernung wie von hier bis zum Stern Aldebaran. 

    Die Besitzer sind Leute von ganz anderem Schlag, die haben weder mit der Staatsmacht, noch mit dem Nickel oder den entlassenen Arbeitern irgendwas am Hut. Denn so ist es nun mal bei uns im Land: je größer das Geschäft, desto kleiner das Gewissen und das Verantwortungsgefühl gegenüber den Menschen.

    Heute gehört zum Beispiel das gesamte Gesellschaftsvermögen des Betriebs seinem Gläubiger, der B & N Bank; wie es aussieht, entschwindet die ganze Leidenschaft für den Nickel in unbekannte Höhen – bis über die Wolken – und landet bei dem Schlagerdichter Michail Guzerijew und seinem Neffen Michail Schischchanow.

    Wie gesagt – von Iwan Iwanytsch bis zu denen, das ist wie von hier bis zum Aldebaran. 

    Die ganze Abwicklung begann wie üblich damit, dass den Leuten Lügenmärchen aufgetischt wurden. In der letzten Januardekade, als der Liquidierungsfahrplan für den Betrieb längst stand (solche Pläne werden auf Grundlage einer Produktionsanalyse gemacht und nicht an einem Tag erstellt), kam der Generaldirektor in den Betrieb und erklärte wörtlich, es gehe „zum jetzigen Zeitpunkt nicht um Personalabbau“.

    Und? Kam etwa der Gouverneur mit blitzenden Scheinwerfern angebraust? Oder ließ sich die städtische Obrigkeit am Werkseingang sehen?

    Und schon ging es los mit dem Entlassen. Sicher, formal lief alles korrekt ab, Dinge wie die Zahlung des Monatslohns wurden eingehalten, da gibt es gar nichts groß auszusetzen. Wenngleich hartnäckige Gerüchte, es werde bald kein Geld mehr da sein, die Leute zu einer Kündigung im beiderseitigen Einvernehmen bewegten, was für die Fabrikbesitzer von Vor- und für die Arbeiter von Nachteil ist. 

    Aber bei aller formalen Korrektheit weiß doch jeder, dass es unmöglich ist, in Resh Arbeit zu finden; es werden keine neuen Arbeitsplätze geschaffen. Das Einzige, was wie Pilze aus dem Boden schießt, sind irgendwelche Geschäfte. Und selbst auf der Homepage der örtlichen Behörde für Soziales heißt es, die Arbeitslosenquote liege über dem Durchschnitt der Oblast.

    Und? Kam etwa der Gouverneur mit blitzenden Scheinwerfern angebraust? Oder ließ sich die städtische Obrigkeit am Werkseingang sehen? Eilte vielleicht die allmächtige Partei Einiges Russland den Arbeitern zu Hilfe, so wie diese ihr stets am Wahltag zu Hilfe geeilt waren? Oder packten wenigstens die Kommunisten, die sich jetzt schon das zweite Jahrhundert um die Sache der Arbeiterklasse bemühen, die Gelegenheit beim Schopfe?

    Sein Glück schmiedet jeder Entlassene nun für sich allein

    Natürlich passierte nichts von alledem. Kein Mensch ließ sich sehen. Auf die Arbeiter pfeift man hier dermaßen, dass der B & N-Bankautomat neben dem Werk manchmal einfach kein Geld ausspuckt. Eine Filiale der B & N Bank gibt es in Resh erst recht nicht.

    Sein Glück schmiedet jeder Entlassene nun für sich allein. Das ist nicht leicht für Menschen, die der Staat gelehrt hat, sich aus allem rauszuhalten, bang am Ofen zu sitzen und auf ein Wunder zu warten.

    „Normale Stellen gibt es für uns nur auf dem Friedhof“
    „Normale Stellen gibt es für uns nur auf dem Friedhof“


    Die Entstehung von Metall ist viele tausend Mal beschrieben worden, und innerlich ist man gleichsam darauf vorbereitet: Jetzt gleich geht der Ofen auf, daraus ergießt sich ein feuerspeiender Strom und glühende Goldteilchen stieben nach allen Seiten. Aber wenn die Ofentür dann wirklich aufgeht und der Strom sich ergießt und eine weiße Rauchsäule aufsteigt und Fontänen von Funken die Augen blenden und der Feuerbrei die Rinnen füllt und Gestalten in seltsamen Anzügen, die wie Außerirdische aussehen und sich zu beiden Seiten des Stroms postiert haben, der glühenden Masse mit geschicktem Schwung ein wenig nachhelfen – dann verschlägt es einem angesichts dieser enormen Kraft dennoch den Atem, und es treten einem die Tränen in die Augen.

    Das war Resh Nickel noch vor wenigen Monaten.  

    Die Fabrik, die ein Wahrzeichen der Arbeit war, ist zum Friedhof eben dieser Arbeit geworden

    Heute schaue ich vom Dach der Schmelzhalle aus auf das Werk – sein Atem ist beinahe versiegt, auf dem riesigen Gelände ist kein Leben mehr. So weit das Auge blickt – kein einziger Mensch, kein einziger rollender Förderwagen, nicht das kleinste Geräusch, kein Ton ist zu hören.
    In der Sonne glänzt, silbrig schillernd, der nagelneue Kühlturm, der Ende letzten Jahres aus unbekannten Gründen errichtet wurde. Der Turm hat zehn Millionen Rubel gekostet [etwa 144.000 Euro – dek], war nicht einen einzigen Tag in Betrieb, und jetzt wird er im besten Fall eingemottet, im schlimmsten in seine Einzelteile zerlegt. Die Fabrik, die wie jede andere Fabrik ein Wahrzeichen der Arbeit war, ist zum Friedhof eben dieser Arbeit geworden.

    „Wir leben hier auf Metall und Eisen, warum soll es sich auf einmal nicht mehr rentieren?“
    „Wir leben hier auf Metall und Eisen, warum soll es sich auf einmal nicht mehr rentieren?“


    Wir wandern von Halle zu Halle mit Irina Schewtschenko – der einzigen Resh Nickel-Mitarbeiterin, die beschlossen hatte, wenigstens irgendwie, behutsam und vorsichtig, um den Betrieb zu kämpfen. Sie schlug damals vor, Putin und dem Gouverneur der Oblast Swerdlowsk einen Brief zu schreiben, aber das Gewerkschaftskomitee hatte Angst, fragte bei der Metallarbeiter-Gewerkschaft um Erlaubnis, der war es auch nicht geheuer, man fand eine Ausrede – angeblich liege der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb unter 50 Prozent, ja was soll man da schreiben? Daran, dass die Gewerkschaft die Interessen der Arbeiterschaft schützen soll, erinnerte sich natürlich ohnehin niemand mehr.

    Daran, dass die Gewerkschaft die Interessen der Arbeiterschaft schützen soll, erinnerte sich natürlich ohnehin niemand mehr

    Schewtschenko ließ nicht locker; sie liebte ihre Arbeit, hatte sich immer mit dem Betrieb identifiziert, war stolz auf ihn gewesen und konnte nicht glauben, dass von heute auf morgen plötzlich alles in sich zusammenfallen sollte. Die Briefe wurden geschrieben, von knapp der Hälfte der Kollegen unterzeichnet und an die Empfänger geschickt.

    „Und wieso haben nicht alle unterzeichnet?“, frage ich Irina. 

    „Manche waren schon gekündigt und sagten, der Betrieb gehe sie nichts mehr an, andere meinten, das würde nichts bringen, und wieder andere hatten Angst.“

    „Sie hatten Angst, den Brief zu unterzeichnen?“

    „Na klar.“ 

    Irina liebte ihre Arbeit, hatte sich immer mit dem Betrieb identifiziert
    Irina liebte ihre Arbeit, hatte sich immer mit dem Betrieb identifiziert

    Mir fällt Pikaljowo ein, eine kleine sogenannte Monostadt in der Leningrader Oblast, deren Bewohner aus Protest gegen die Schließung wesentlicher Betriebe eine wichtige Verkehrsader blockiert und damit erreicht hatten, dass der Präsident vor Ort erschien und eine relative Gerechtigkeit wiederhergestellt wurde. Sieben Jahre ist das gerade mal her.

    „Ha“, lacht Iwan Iwanytsch, „von wegen Pikaljowo, hier hat kein Mensch von Pikaljowo gehört, und wer davon gehört hat, der hat es längst vergessen. Den Leuten wird ja das Hirn derart vollgemüllt.“ 

    „Womit denn?“, frage ich – vielleicht wird den Menschen im Ural das Hirn ja mit anderem Zeug vollgemüllt als in Moskau.

    „Ich sag nur Mara Bagdassarjan“, knurrt Iwan Iwanytsch unvermittelt, und ich weiß im ersten Moment gar nicht, wen er meint, so abwegig ist hier, in der erlöschenden Fabrik, der Gedanke an diese verwöhnte Moskauer Bonzengöre.  

    Jeden Freitag zwischen acht und zehn Uhr morgens versammeln sich in der Eingangshalle des Resh Nickel-Werks die Mitarbeiter zur Registrierung: Um drei Monate lang den durchschnittlichen Monatslohn zu bekommen, muss man hier erscheinen und nachweisen, dass man noch keine Arbeit gefunden hat und dass man noch am Leben ist. Und es fühlt sich an, als wäre man selbst es, der dem Unternehmen etwas schuldig ist, und nicht umgekehrt. Die Abteilungsleiter notieren den Namen auf der Liste – man kann wieder gehen.

    Es fühlt sich an, als wäre man selbst es, der dem Unternehmen etwas schuldig ist, und nicht umgekehrt
    Es fühlt sich an, als wäre man selbst es, der dem Unternehmen etwas schuldig ist, und nicht umgekehrt

    Die Leute gehen aber nicht gleich nach Hause, sie stehen noch zusammen und reden. Diskutieren, was man jetzt machen soll. Wirken aber irgendwie verloren. Am Nebentisch schlägt eine adrett gekleidete und apart frisierte Dame mit Namensschild vom Arbeitsamt Resh mir vor, die Stellenanzeigen durchzuschauen; sie hält mich für jemanden vom Betrieb. Ich schaue sie mir an – insgesamt etwas über 100 Jobs, in erster Linie für Menschen mit Hochschulabschluss. Für einfache Leute ohne Ausbildung gibt es auch etwas: Reinigungskräfte für Produktionsräume werden gesucht, für 8000 Rubel [etwa 115 Euro – dek] und ein paar Zerquetschte. 

    Geld für einen eigenen Gasanschluss hatten Serjosha und Ira nie. Nun wird es damit auch nichts mehr werden

    „Ach herrje, also da hat mein Mann mal gearbeitet, da hauen sie alle wieder ab, das ist nur furchtbar da“, sagt eine Frau neben mir. „Das sind sowieso fast alles nur so windige Jobs, die da angeboten werden“, fügt eine andere hinzu. „Zu Privatunternehmern darf man nicht gehen, die hauen einen nur übers Ohr. Normale Stellen gibt es für uns nur auf dem Friedhof, die scheißen doch alle auf uns, unser lieber Präsident inbegriffen, vom großen Glockenturm runter.“

    Ich bin zu Besuch bei zwei der entlassenen Resh Nickel-Mitarbeiter, bei Irina und ihrem Mann, dem Gabelstaplerfahrer Sergej. Sergej schlägt sich inzwischen mit Gelegenheitsjobs durch – mal was ausfahren oder austragen, irgendwo mit anpacken. Sie wohnen in einem klitzekleinen eigenen Häuschen, das Sergejs Großmutter seinerzeit gebaut hat. Fließend Wasser haben sie keins. Und einen öffentlichen Hydranten gibt es in der ganzen Straße nicht. Sergej karrt das Wasser mit dem Auto von irgendwo an. Eine Gasleitung verläuft wenige Meter von ihrem Haus entfernt, aber das Geld für einen eigenen Gasanschluss hatten Serjosha und Ira nie, und nun wird es damit auch nichts mehr werden. 

    Wir sitzen auf Gas und Erdöl, und das Benzin ist so teuer, dass wir im Urlaub kaum 200 Kilometer weit kommen


    So etwas ist mir an vielen Orten in Russland begegnet – das Gasrohr vor der Haustür und die Leute kochen ihr Essen auf dem Holzofen. Irina kocht mit Flaschengas. Das Grundstück, auf dem das Haus steht, misst 300 Quadratmeter, dort wird das Gemüse angebaut, das die Familie ernährt, alles von Kartoffeln bis Tomaten. Vieh halten Serjosha und Ira nicht mehr, das alles lohnt sich nicht mehr, dafür gibt es einen Hahn.

    „Der ist bloß zum Krähen!“, erklärt Serjosha.

    Das Haus hatte Sergej angefangen umzubauen, sie wollten eine zweite Etage draufsetzen, und die Sache zog sich eh schon hin wie bei Cipollinos Freund Gevatter Kürbis. Jetzt ist das ganze Bauprojekt natürlich auf unbestimmte Zeit vertagt.

    „Was mir nicht in den Kopf will“, sagt Sergej, „wir leben hier auf Metall und Eisen, warum soll es sich auf einmal nicht mehr rentieren? Wir sitzen auf Gas und Erdöl, und das Benzin ist so teuer, dass wir im Urlaub kaum 200 Kilometer weit kommen.“

    „Haben Sie damit gerechnet, dass das Werk dichtgemacht wird?“

    „Wir dachten, es würde einen Betriebsstillstand geben, das hatten wir ja früher auch schon, davon geht die Welt nicht unter. Wir haben den Nickelpreis an der Londoner Börse im Fernsehen verfolgt, von dem hängen wir ab, hieß es. Bisher haben wir noch keine Kündigung unterschrieben, weder Irina noch ich, wir wollen warten bis zum Schluss – vielleicht machen sie ja plötzlich doch noch wieder auf.“

    „Ich habe meine Arbeit sehr geliebt, ich hänge sehr an ihr und dem ganzen Betrieb, Prüferin war ich nämlich, in der Buntmetallproduktion“, ergänzt Irina. 

    Wie es aussieht, braucht man uns lediglich bei den Wahlen

    „Es fällt einem schwer zu glauben, dass wir nicht mehr gebraucht werden, wir haben ja nun auch nicht zwei linke Hände oder so, wir können unsern Teil beitragen für unser Land, wir bitten nicht um Geld, wir wollen keine Almosen, sondern die Chance, uns unseren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, in unserer Stadt, da wo wir hingehören. Aber wie es aussieht, braucht man uns lediglich bei den Wahlen. Eine Art Menschen auf den Knien sind wir, billige Arbeitskräfte, die ihre Rechte nicht kennen“, sagt wiederum Sergej. 

    „Gab es mal eine Zeit, in der Sie nicht aufs Geld schauen mussten?“, wechsle ich das Thema. 

    „Ach, na woher denn!“ Irina winkt ab. „Dicke hatten wir es noch nie. Dass man sich einfach das kaufen kann, was einem gefällt – das gab es bei uns nicht. Ich nehme immer nur das Billigste, egal ob Lebensmittel oder Kleidung. Wir haben alles Geld in das Haus gesteckt, vor drei Jahren haben wir einen Kredit über 150.000 [etwa 2186 Euro – dek] aufgenommen, jetzt zahlen wir 5000 [etwa 73 Euro – dek] im Monat ab. Wie das jetzt werden soll, wissen wir auch nicht, unsere Tochter geht ja auch noch zur Schule, dieses Jahr wird sie fertig, sie will Architektin werden.“

    „Menschen auf den Knien sind wir, billige Arbeitskräfte, die ihre Rechte nicht kennen“
    „Menschen auf den Knien sind wir, billige Arbeitskräfte, die ihre Rechte nicht kennen“

    In dem winzigen Kämmerchen, das ihre Tochter Nastja bewohnt, hängt ein von ihr selbstgemaltes Plakat an der Wand. Darauf steht: „Du und nur du allein hast dein Leben in der Hand.“ 

    Bloß – in der Hand haben Sergej und Irina nicht allzu viel. 

    Nach dem Besuch bei den beiden ist einem bitter zumute, schreien möchte man, so laut, dass es bis zum Aldebaran zu hören ist, und sagen: Du Gutsherr, oder wie soll man ihn sonst nennen, diesen Patron in weißem Anzug und teurem Hut, da hast du hier ganz wunderbare, einfache Arbeiter vor dir, wieso fährst du denn nicht zu ihnen hin, rufst sie alle zusammen und redest mit ihnen, aber nicht in der Saldo-Popaldo-Sprache und auch nicht von oben herab runtergepöbelt, sondern ganz normal und geradeaus, von Mensch zu Mensch, falls du dich noch erinnerst, wie das geht – sich ganz normal-menschlich, nicht überheblich, mit den Leuten unterhalten, erklären, was passiert ist. Und dann: Die eigene Gier im Zaum halten und etwas für die tun, die dir und deinesgleichen so fleißig dabei behilflich waren, Geld zu scheffeln, und dabei selber weniger verdient haben als einer von den Tabakkrümeln in deiner Hosentasche gekostet hat …

    Aber so laut, dass man es bis zum Aldebaran hört, kann man nicht schreien.

    Wir erinnern uns, wie in Tschechows Kirschgarten der greise Firs, der seiner Herrschaft das ganze Leben voller Ergebenheit gedient hat, in der Eile [von seinen eigenen Leuten im Haus – dek] vergessen wird. Hier sollen jetzt 1000 Menschen vergessen werden, und bald womöglich auch Resh selbst. 

    Und der Ton, nicht einmal nur der einer gerissenen Saite – vielmehr einer ganzen Stadt! – wird niemanden erschaudern lassen.

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  • Musyka: „Ich gehe einfach raus und spiele“

    Musyka: „Ich gehe einfach raus und spiele“

    Boris Grebenschtschikow ist lebende Musiklegende Russlands: Seine Rockband Aquarium gehört zum Soundtrack von Perestroika und Glasnost, ist bis heute Kult und füllt ganze Hallen. Am liebsten aber tritt Grebenschtschikow nach wie vor auf der Straße auf. Alexandra Zhitinskaya traf ihn für Takie Dela in seinem Petersburger Studio, voller Bilder, Ikonen, einem Teetisch und „vorrevolutionärem“ Radio. Hier, in der Puschkinskaja 10, ist seine Kreativität „schon seit 1991 nicht zu stoppen“, wie er sagt.

    Boris Grebenschtschikow: „Wenn wir Lust haben und gutes Wetter ist, sieht man uns überall.“ / Foto © Alexej Abanin/Kommersant
    Boris Grebenschtschikow: „Wenn wir Lust haben und gutes Wetter ist, sieht man uns überall.“ / Foto © Alexej Abanin/Kommersant

    Alexandra Shitinskaja: Die Frage ist ein bisschen bescheuert, aber ziemlich grundlegend: Warum spielt ihr auf der Straße?

    Boris Grebenschtschikow: Die Antwort ist bescheuert und nicht weniger grundlegend: zum Spaß. Musik habe ich immer schon zum Spaß gemacht, von Anfang an. 

    Sie haben also den Drive, gratis zu spielen, einfach so für sich …

    Nicht für mich. Für die Menschen. Wenn du für die Menschen spielst, macht es dir Spaß. Wir spielen, weil es uns freut und weil es die Leute freut, so wie vor 40 Jahren auch. Früher wurden wir deswegen allerdings manchmal mit zur Polizeistation genommen.  

     

    Aber auf der Bühne spielen Sie ja auch für die Menschen.

    Bei den Konzerten zahlen die Leute. Das ist eine ernste Sache dort. Aber hier spielen wir, wo die Leute das nicht erwarten. Die Leute rechnen nicht mit dir, und so gibt es auch keine vorgefertigte Reaktion …

    Ich kann mir schwer vorstellen, dass Sie auf der Straße jemand nicht erkennen würde.

    Du bist einfach gut erzogen. Glaub mir: Der Großteil der Leute guckt angestrengt und schlägt sich mit der Frage rum: „Hm, kommt mir irgendwie bekannt vor, ist das nicht … Schewtschuk? Nein, Schewtschuk nicht.“ Als ich aus dem Dom Kino in Moskau kam, sagte einer zu mir: „Ah! Sie sind Juri! Juri Zoi von Maschina Wremeni!“ Der hat das vollkommen ernst gemeint. 

    Das heißt, Sie gehen raus und spielen, ohne das Gefühl, ein berühmter Musiker zu sein?

    Ich gehe einfach raus und spiele, ohne irgendein Gefühl.

     

    Was spielen Sie auf der Straße?

    Alles, was mir einfällt. Lieder, Improvisationen …

    Und wer spielt mit?

    Das sind alles Musiker aus der Band Aquarium.

    Aber in der Gruppe spielen ja ganz unterschiedliche Musiker, auch aus dem Ausland?

    Da möchte ich gleich was klarstellen: In dem Wort „Ausland“ schwingt etwas mir sehr Fremdes mit: „Hier sind unsere Leute in unserem Dorf, und draußen, jenseits der Grenzen, das sind wohl eher Feinde.“ 

    Geografisch gesehen – spielen Sie nur in Städten in Russland, oder spielen Sie auf den Straßen der ganzen Welt?

    Ganz einfach: Wenn wir Lust haben und gutes Wetter ist, sieht man uns überall. In Paris, in London, in Berlin haben wir schon gespielt …

    Wo finden Sie es am interessantesten?

    Ach, es ist überall schön!

    Was halten Sie denn selbst von Straßenmusikanten?

    Manchmal trifft man auf interessante, dann bleibe ich stehen, höre zu. Bei ungewöhnlichen Instrumenten zum Beispiel, da horch ich auf. Kürzlich habe ich in Tallinn einen Straßenmusikanten gesehen, der Hang spielte. Bei den Erinnerungen, wie der erste Hang-Spieler, Manu Delago, an unserem Album Belaja Lotschtschad (dt. Weißes Pferd) mitgewirkt hat, luden wir diesen jungen Mann ein, bei unserem Konzert mitzuspielen. Der kannte uns zwar nicht, war aber dabei.

     

    Geben Sie Straßenmusikanten oder einfach Leuten, die auf der Straße betteln, Geld? Haben Sie da keine Vorbehalte?

    Was für Vorbehalte soll ich denn haben?

    Es gibt die Meinung, dass das nicht wirklich arme Leute sind, illegale Geschäfte …

    Turgenjew oder Dostojewski, einer der beiden hat geschrieben: „Gott bittet euch um eine Gabe. Nicht um ein Urteil.“ Was der Mensch mit diesem Geld macht – das ist seine Beziehung zu Gott. Aber das Geben, das ist eure Beziehung zu ihm.   

    Hatten Sie [wegen der Straßenmusik – dek] nie Konflikte mit Behörden?

    Wieso denn?

    Na ja, immerhin sind das irgendwie Aktionen, die Behörden kriegen es ja mit der Angst zu tun, wenn sich ein paar Leute mehr auf der Straße versammeln … 

    Dann sind sie wohl selber nicht so ganz … wenn sie sich fürchten.

    Wie lange dauern Ihre Auftritte auf der Straße?

    Nicht lang. 20 Minuten, eine halbe Stunde maximal. Man darf das Publikum nicht überfordern. Mehr packen die Leute nicht, so auf der Straße.  

    Das glaube ich nicht. Die müssten Sie doch eher nicht mehr gehen lassen. Und schreien: „Halt, dageblieben, Zugabe!“

    Ja, das stimmt.

    Und ergeben sich nach den Auftritten manchmal Gespräche?

    Die Gespräche bestehen hauptsächlich darin, dass die Leute zu drängeln beginnen und sich um ein Autogramm reißen, für sich oder ihren Schatz, noch dazu ohne Kugelschreiber. Das ist recht unangenehm. 

    Wo würden Sie wirklich gern spielen in nächster Zeit ?

    In New York. Im Central Park. Da kommen viele gute Leute aus aller Welt zusammen, die ich sehr gern mag – Schüler des indischen Gurus und Philosophen Sri Chinmoy. Er war selbst ein hervorragender Musiker, hat alle Instrumente gespielt. Und einmal im Jahr versammeln sich seine Schüler und Freunde. Vielleicht können wir mit dem einen oder anderen von ihnen im Freien zusammen Musik machen. 

    Text: Alexandra Zhitinskaya
    Übersetzung: Ruth Altenhofer
    Veröffentlicht am 26.04.2017

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  • Wer geht da demonstrieren?

    Wer geht da demonstrieren?

    Auffallend viele junge Leute waren am 26. März landesweit auf die Straße gegangen, um zu demonstrieren. Zuvor hatte der Handymitschnitt einer Diskussion zwischen Lehrern und Schülern im Runet Furore gemacht, bei der die Schüler ganz andere politische Ansichten äußerten als die Lehrkräfte, und diese auch selbstbewusst vertraten.

    Politologin Ekaterina Schulmann warnt jedoch davor, den Protest als Protest von Jugendlichen darzustellen – zumal es keine zuverlässigen Zahlen dazu gibt. Sicher dagegen sei: Es war ein Protest von Erwachsenen – mit einem hohen Anteil Jugendlicher. Und was die heute bewegt, das hat Schulmann sich für Takie Dela genauer angesehen:

    Die Politologin Ekaterina Schulmann über das, was die Jugend heute bewegt / Foto © Ekaterina Schulmann/facebook
    Die Politologin Ekaterina Schulmann über das, was die Jugend heute bewegt / Foto © Ekaterina Schulmann/facebook

    Plötzlich treten viele junge (und sehr junge) Menschen bei den Protesten am 26. März in Erscheinung – und es kommt zu einem neuen Interesse an Youth Studies in unterschiedlichster Form: Vom allseits bekannten Genre „ein Bekannter hat mir erzählt“ bis hin zu historischen Parallelen (besonders beliebt ist gerade das Jahr 1968, aber auch die Roten Garden werden sukzessive herangezogen).

    Der Protest war kein Kinderkreuzzug

    Zunächst möchte ich davor warnen, den Protest vom 26. März als eine Art Kinderkreuzzug zu betrachten. Sicherlich war das kein Schüleraufstand und auch keine Studentenrevolte wie 1968 in Europa. Leider haben wir keine zuverlässigen Daten, wie viele Menschen an den Protesten beteiligt waren, geschweige denn Angaben über ihr Alter oder ihre soziale Zugehörigkeit.

    Doch nach dem uns vorliegenden Material zu urteilen (Fotos, Videos, Festnahmen), handelte es sich insgesamt um einen Protest Erwachsener mit einem hohen Anteil an Jugendlichen. Dieser sorgt für großes Aufsehen, weil junge Menschen früher nicht an Protesten beteiligt waren – oder zumindest nicht in diesem Ausmaß. Für gewöhnlich gehen sie selten zu Demonstrationen, und zu Wahlen schon gar nicht. Die Jugend ist eine Bevölkerungsschicht, die in unserem politischen Geschehen fehlt.

     

     

     
     
    Quelle: Rosstat

    Was wissen wir denn über unsere Mitbürger unter 25? Vor allem, dass es wenige sind. Sehen Sie sich die demographische Pyramide von Russland für 2016 an. Nach den 25- bis 29-Jährigen folgt ein Einbruch: Die Generation, die in der ersten Hälfte der 1990er geboren wurde, ist relativ klein.

    Die nächstfolgende Sparte, die heute 15- bis 19-Jährigen, fällt noch kleiner aus. Ab 2002 steigt die Geburtenrate allmählich, und wir sehen an der Basis unserer Pyramide zwei solide Blöcke – die heute Zehnjährigen und Jüngere. Aber es bleibt abzuwarten, ob und wie sie sich am politischen Prozess beteiligen werden.

    In unserem politischen Geschehen fehlt die Jugend

    Die meisten Studien zur Generation Z dienen Marketing-Zwecken: Man will herausfinden, wie man diesen Menschen Waren und Dienstleistungen am besten verkauft. Dennoch lassen sich aus diesen Studien auch politische Erkenntnisse gewinnen.

    Eine jüngere Untersuchung der Firma VALIDATA im Auftrag der Sberbank hatte zum Ziel, allgemeine Merkmale der Russen zwischen 8 und 25 Jahren zu bestimmen. Methodisch griff man dabei auf Fokusgruppen, die Analyse von Sozialen Netzwerken und Experteninterviews zurück.

    Eine vergleichbare Studie wurde kürzlich von der US-amerikanischen Firma Sparks & Honey publiziert. Die RANEPA-Forschungsgruppe Monitoring zeitgenössischer Folklore untersucht das Netzverhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen und führt Interviews bei Protestaktionen durch.

    Familie geht über die Karriere

    Von dem, was man bisher über die russische Jugend herausfinden konnte, hat einiges politische Relevanz: Gute sozialen Fähigkeiten (sie werden als sehr wichtig eingestuft), das Streben nach gemeinsamem Handeln und nach Anerkennung, der hohe Stellenwert moralischer Werte („Ehrlichkeit“, „Gerechtigkeit“), das Streben nach Selbstausdruck und Selbstverwirklichung („man selbst sein“, „die richtige Wahl treffen“), das Fehlen eines Generationenkonfliktes – stattdessen warmherzige, vertrauensvolle Beziehungen zwischen Eltern und Kindern.

    Gleichzeitig stufen Eltern wie Kinder die gegenwärtigen Verhältnisse als chaotisch und unberechenbar ein. Sie glauben nicht an langfristige Planung.

    Bei den Kindern drückt sich das darin aus, dass sie keinen festen Job „auf Lebenszeit“ anstreben. Bei den Eltern im fehlenden Wunsch, sich aktiv an den Entscheidungen der Kinder zu beteiligen, denn „sie wissen ja selbst nicht, was der richtige Weg ist“.

    Sowohl für die Eltern, als auch für die Kinder ist die Familie das höchste Gut. Die Gründung einer Familie gilt als Erfolg im Leben, der über der Karriere oder dem Geldverdienen steht.

    Was können wir daraus schließen? Die fehlenden Spannungen zwischen den Generationen sind eine Besonderheit der neuen Zeit. Menschen, die heute um die 35 oder älter sind, haben weitaus häufiger ein schlechtes Verhältnis zu ihren Eltern. Die meisten von ihnen sind derzeit oder schon länger mit ihren Eltern zerstritten.

    Die heutige Jugend geht für die Alten auf die Straße

    Wenn die heutige Jugend auf die Straße geht, dann tut sie das nicht gegen die Alten, sondern für sie. Eltern und Kinder teilen dieselben Wertvorstellungen, die sich grob unter dem Begriff „Gerechtigkeit“ zusammenfassen lassen (diese  russische Grundtugend bedeutet mal „Ehrlichkeit, mal „Gleichheit“ und mal „Bestrafung“).

    Jung und Alt stören sich an derselben Ungerechtigkeit, aber ihre Reaktionen fallen unterschiedlich aus: Die Kinder werden eher aktiv, die Eltern bleiben eher passiv.

    Vom politischen Standpunkt betrachtet ist offensichtlich, was die jungen Menschen brauchen: eine Zukunftsvision, klare Perspektiven, Spielregeln, die sie als fair empfinden, und Aufstiegschancen.

    Nicht nur, dass sie diese im Augenblick nicht sehen. Es spricht nicht einmal jemand mit ihnen über diese Probleme. Sie hören ständig nur Debatten über Themen von gestern – die Sowjetzeit, die Vorsowjetzeit, die frühen 1990er, die frühe Putinära. Und über die vergleichsweisen Vorzüge von verschiedenen Toten – Stalin, Breshnew, Iwan der Schreckliche, Nikolaus II. Verständlicherweise steht das einem jungen Menschen bis zum Halse.

    Ziel der Fernsehpropaganda ist die Aktivierung der Sowjetareale im Hirn

    Menschen unter 25 sind mit dem Internet aufgewachsen, sie leben im Internet. Es ist nicht so, dass sie überhaupt nicht fernsehen, aber sie sehen anders fern. Sie schauen sich einzelne Sendungen an, die sie auf Youtube finden. Zur Unterhaltung benutzen sie Youtube, zur Information und Kommunikation die Sozialen Netzwerke. Entsprechend geht die TV-Propaganda an ihnen vorbei. Und selbst, wenn sie das anhören, verstehen sie nicht, was man von ihnen will.

    Denn unsere ganze Propaganda ist auf den Sowjetmenschen zugeschnitten. Ihr Ziel ist die Aktivierung der Sowjetareale im Hirn. Wenn jemand diese Areale nicht hat, weil sie ihm nicht schon bei Geburt eingepflanzt wurden, dann plätschert das alles an ihm vorbei. 

    „Wenn die heutige Jugend auf die Straße geht, dann tut sie das nicht gegen die Alten, sondern für sie.“ / Foto © Alexander Petrossjan/Kommersant
    „Wenn die heutige Jugend auf die Straße geht, dann tut sie das nicht gegen die Alten, sondern für sie.“ / Foto © Alexander Petrossjan/Kommersant

    Eine weitere unterschätzte Tugend, die die Kinder- und Elterngeneration verbindet, ist, was man in einem „gesunden“ politischen Regime Gesetzestreue nennen würde. Im politischen Regime des Rauchers dagegen ist genau das ein Protestinstrument: das Bemühen, Regeln einzuhalten, und der Wunsch, dass auch andere das tun.

    Die Vorgänge bei uns sind ein ‚legalistischer Protest‘ – ein Protest im gesetzlichen Rahmen mit gesetzlichen Mitteln gegen Gesetzesverstöße wie Wahlfälschung oder Korruption

    Denken Sie an die Proteste von 2011/2012. Weder damals noch bei den Ereignissen vom 26. März gingen die Menschen spontan auf die Straße. Es waren organisierte Kundgebungen mit bestimmten Anliegen. Mal waren sie genehmigt, mal nicht, aber immer gewaltfrei. Es waren keine Revolten – noch nicht einmal Proteste gegen die bestehende Ordnung als Ganzes, bei denen Parolen wie „Nieder mit …“ oder „Aristokraten an die Laterne“ skandiert worden wären. Sowas gibt es bei uns nicht (zumindest bisher nicht).

    Die Vorgänge bei uns sind ein „legalistischer Protest“ – ein Protest im gesetzlichen Rahmen mit gesetzlichen Mitteln gegen Gesetzesverstöße wie Wahlfälschung oder Korruption. Menschen fordern die Einhaltung der Gesetze und fühlen sich damit offensichtlich ausreichend im Recht, um das hohe Risiko, das ein Protest mit sich bringt, auf sich zu nehmen.

    Ein Gefühl der Verbundenheit

    Für Menschen unter 25 sind soziale Interaktion und ein Gefühl der Verbundenheit mit anderen ausgesprochen wichtig. Ihre Generation hat jene für die Sowjetzeit typische Atomisierung überwunden. Dementsprechend hängt ihr weiteres politisches Handeln davon ab, ob sie sich mit anderen Menschen verbunden fühlen und deren Unterstützung spüren (erinnern wir uns an die gewünschte „Anerkennung“) oder ob sie sich einsam und allein gelassen fühlen.

    Jeder Mensch hat Angst vor Ausgrenzung. Jungen Menschen ist es allerdings besonders wichtig, nicht zum Außenseiter zu werden. Wenn sie sich nicht als Minderheit und Outcasts empfinden, sondern als Teil eines Netzwerks, besteht durchaus die Möglichkeit, dass sie ihre sozialpolitische Aktivität fortsetzen. Erst recht, wenn man bedenkt, dass ein Großteil der jüngeren Generation Erfahrung in Freiwilligendiensten und ehrenamtlicher Tätigkeit mitbringt.

    In diesem Punkt besteht eine Ähnlichkeit zwischen der US-amerikanischen Gen Z und den jungen Russen. Außerdem ist eine moralisch relevante Gemeinschaftsaktivität das beste Mittel gegen Angst.

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  • Wie ich den Winter verbrannt habe

    Wie ich den Winter verbrannt habe

    Sie sägen Blöcke aus Schnee, bauen eine Festung daraus und stürmen sie. Die Bakschewsche Masljaniza ist ein großes Fest an geheimem Ort, organisiert von Freiwilligen. Und am Ende verbrennt der Winter. Wirklich. Pawel Nikulin war für Takie Dela dabei. 

    Fotos © Stoyan Vassev/Takie Dela
    Fotos © Stoyan Vassev/Takie Dela

    Anarchie im Wald

    „Hier sehen Sie, wie Anarchie funktioniert“, erklärt mir eine Frau um die vierzig und hält mir eine Tasse dampfenden Tee entgegen.

    Hier – das ist auf einem namenlosen Feld im Wald hunderte Kilometer von Moskau entfernt. Ich bin hergekommen, um mir die Vorbereitungen der Bakschewschen Masljaniza anzusehen. (Genau so, mit „ja“ schreibt man hier das Fest.) Im Slang der Masljaniza-Veranstalter heißen diese Vorbereitungen Butterbau. Und die freiwilligen Helfer Butterbauarbeiter.

    Ich lerne sie am Lagerfeuer kennen. Über den Flammen köcheln Suppen und blubbert Tee. Dicke Äste knacken. Gemahlene Arabica-Bohnen werden in einen kleinen Armee-Kochtopf geschüttet und dazu noch ein paar Tannenzweige. So kocht man Waldkaffee. 

    Ich versuche, meine Füße trockenzukriegen. Strecke sie möglichst ans Feuer, von den Socken steigen dichte Dampfschwaden auf. Die Frau, die mich auf die Tasse Tee eingeladen hat, lacht. An ihren Füßen trägt sie riesige Überzieher eines Chemieschutzanzugs.

    Vom Rand des gigantischen Feldes – mindestens so groß wie ein Fußballfeld – dringt das Heulen einer Motorsäge zu uns herüber. Die Butterbauarbeiter sägen Blöcke aus gepresstem Schnee für den Bau der Schneefestung – ein Bauwerk von mindestens fünf Metern Höhe, das an Masljaniza gestürmt werden soll, unter Anführung des Frühlings-Woiwoden. Aufgetürmt werden die Blöcke mithilfe eines Krans, der ist selbstgezimmert aus ein paar Baumstämmen, Seil und Segeltuch. Darin wird der Schnee mit den Füßen zusammengestampft und zersägt.

    Am Waldrand ist die nächste Gruppe Bauarbeiter am Werk, sie errichten Toiletten, stellen das Eingangstor auf oder entfernen die Rinde von gefällten Bäumen. Am schnellsten gelingt das einer jungen Frau, die den Baumstamm gekonnt mit einer großen Machete bearbeitet. 

    „Ich habe über Freunde, die schon mal hier waren, von dem Fest erfahren. Das erste Mal bin ich nur zum eigentlichen Fest gekommen, das war 2015. Im nächsten Jahr bin ich schon über Nacht geblieben, und diesmal wollte ich auch bei den Vorbereitungen dabei sein. Es ist ein tolles, fröhliches Fest, hier kann ich alle Hektik und Sorgen der Großstadt vergessen und einfach die Seele baumeln lassen“, erzählt mir Olja.

    Der längste glattpolierte Baumstamm, etwa zehn Meter lang, wird später in der Mitte vom Feld aufgestellt. Er ist fester Bestandteil des Unterhaltungsprogramms einer jeden Masljaniza. Ganz oben werden Preise angebracht – für diejenigen, die es so weit hoch schaffen. Ich bekomme die Aufgabe, eine Wippe zu bauen. Dafür braucht es einen Baumstamm, Tannen und ein paar Feuerwehrschläuche.

    Bliny und Postmoderne

    Den richtigen Ort für das Fest suchen die Veranstalter lange im Voraus. Manchmal sind sie bis zu einem Jahr unterwegs, um sich verschiedene Örtlichkeiten anzusehen. Bei der Auswahl spielen viele Faktoren eine Rolle: Entfernung zur nächsten Ortschaft, Erreichbarkeit im Winter wie im Sommer.

    Informationen über die Masljaniza findet man auf der Webseite des Vereins Roshdestwenka, einer Bewegung freiwilliger Restauratoren, die sich der Wiederherstellung alter russischer Denkmäler, Bräuche und Volksfeste verschrieben haben.

    Natalja Charpalewa, ein aktives Mitglied von Roshdestwenka erzählt, die erste Masljaniza sei noch in den Achtzigern von ein paar Ausflüglern veranstaltet worden. Enthusiasten, die sich im Sommer mit der Restaurierung von Klosteranlagen beschäftigten, hätten die ersten Masljazina-Feste im kleinen Kreis gefeiert und Mal für Mal mehr Folklore-Elemente hinzugefügt. Von den KSP-Anhängern hätte man beispielsweise die Butter-Abzeichen übernommen – die jährlich wechselnden Aufnäher für die Masljaniza-Teilnehmer.

    1998 verstarb Michail Bakschewski, ein Gründungsmitglied der Masljaniza, doch das Fest, das nun nach ihm benannt wurde, lebte weiter und fand immer mehr Anhänger. Irgendwann wurde das den Veranstaltern sogar lästig. Der Wald war voller Autos, es wurde immer schwieriger den Müll wegzuräumen. Deswegen wird das Fest mittlerweile fast schon konspirativ durchgeführt: Nur wer sich im Voraus registriert hat, erfährt wenige Tage vorher per Mail, wo die Masljaniza stattfindet. „Schaltet bitte die Ortsangabe aus, wenn ihr während der Vorbereitungen Fotos vom Feld postet“, richten sich die Organisatoren auf der offiziellen Webseite der Roshdestwenka an ihre Helfer.

    Örtliche Regierung und Polizei wissen nichts vom Fest. Die Veranstalter informieren nur den Rettungsdienst.

    Über die Jahre hat sich ein fester Ablauf etabliert. Bestimmte Protagonisten sind vom Fest nicht mehr wegzudenken: der Frühlings-Woiwode, die Strohpuppe Winter, der Bär.

    Es gäbe zwar keine Belege dafür, dass unsere Vorfahren die Masljaniza exakt so gefeiert hätten, räumt Charpalewa ein, aber einzeln kämen alle Figuren in ethnografischen Skizzen vor.

    „Irgendwie postmodern“, werfe ich ein.
    „Ein wenig“, erwidert Charpalewa lächelnd.

    Ein verbindendes Ding

    „Ich bin seit zwanzig Jahren dabei. Ich bin gern im Wald. Allein fährst du vielleicht ein, zwei Mal im Winter raus. Aber ganz bestimmt nicht jedes Wochenende, und so kannst du immer herkommen. Hier sind viele Menschen, du lächelst, sie lächeln“, erzählt Roshdestwenka-Koordinator Arkadi Jurowizki.

    Er trägt einen dicken Lammfellmantel und sieht selbst ein bisschen aus wie ein gutmütiger Bär. Zum Feld ist er mit einem Kettenwagen gekommen. Geduldig erklärt mir Arkadi, dass die Freiwilligen die Masljaniza zwar eigentlich für sich selbst veranstalteten, aber so ganz ohne Gäste wäre es doch langweilig. Wenn Arkadi nicht gerade bei der Roshdestwenka arbeitet, repariert er Computer. 

    Die Veranstaltung war seit ihren Anfängen unkommerziell. Besucher werden keine Sponsorenwerbung antreffen, und es wird auch niemand Eintrittsgeld von ihnen verlangen. Die Organisatoren machen keinen Gewinn. Auf den Vorschlag, Kassenbuden auf dem Feld aufzustellen, erwidern sie: „Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie fehl am Platz bei uns Gespräche über Kassenbuden sind.“

    Ein weiteres Tabu ist politische und religiöse Agitation. Nicht zuletzt, weil bei der Masljaniza das ganze politische Spektrum vertreten sei, sagt Jurowizki:

    „Wir haben hier Menschen mit völlig unterschiedlichen politischen Ansichten. Es gibt Kommunisten, ich selbst bin Demokrat, Putinisten sind auch dabei. Unterschiedlichste Menschen kommen hier zusammen. Und da passiert dann so ein verbindendes Ding, es ist mal stärker, mal schwächer, aber es ist da. Es sind sicher 50 Berufsgruppen vertreten! Vom LKW-Fahrer bis zum Forscher.“

    „Entschuldigen Sie bitte, ist das ein Drakkar?“

    Die Nacht vor Masljaniza ist die schönste: Die Leute stellen Kerzen auf, bringen elektrische Lichterketten an, lassen Himmelslaternen aufsteigen, zünden Feuerwerk. Man geht von Lagerfeuer zu Lagerfeuer, bietet sich gegenseitig etwas zu essen an, spielt Gitarre und singt.

    Alkoholkonsum ist bei dem Fest nicht besonders gern gesehen. Aber es gibt auch kein Alkoholverbot. Ein angetrunkenes Grüppchen zieht, von einem Akkordeonspieler angeführt, durch den Wald, man könnte meinen, sie wären Braunbären. Kommt ihnen jemand entgegen, verstummt plötzlich die Musik und die soeben noch Kosakenlieder grölenden Männer blicken verlegen um sich.

    „Entschuldigen Sie bitte, ist das ein Drakkar?“, frage ich einen Künstler, der mit Gouache-Farbe blaue Wellen auf einen Schiffsrumpf aus Schnee malt.
    „Ein Drakkar?“, wundert er sich über meine Frage.
    „Ein Wikingerschiff.“
    „Ähm … genau. Ein Drakkar … Was ist denn ein Drakkar?“
    „Ein Wikingerschiff.“
    „Die Slawen hatten auch solche, die waren wahrscheinlich mit den Wikingern befreundet …“
    „Wahrscheinlich“, stimme ich zu und gehe in mein Zelt schlafen.

    Morgens sitze ich am Lagerfeuer und versuche wieder, meine Füße trockenzukriegen. Von meinen Socken steigen wie schon beim Butterbau dichte Dampfschwaden auf. Ich hätte mir doch Schuhüberzieher kaufen sollen.

    Am Eingangstor herrscht ausgelassene Heiterkeit – alle singen, tanzen und jauchzen Tschastuschki. So „bezahlt“ man hier den Eintritt. Ein paar Meter weiter führt ein Seil über den Bach, für diejenigen, die keine Tschastuschki kennen oder keine Lust haben, zu singen und zu tanzen.

    Tausende Menschen tummeln sich auf dem Feld: backen Bliny oder klettern durch das Schneelabyrinth. Ich beobachte, wie eine Frau lachend ein Pawlow-Possad-Tuch um ihre Dreads wickelt und muss daran denken, dass mein Witz über die Postmoderne wirklich ins Schwarze trifft. Ein Mann kraxelt nur mit einer Unterhose bekleidet den Pfosten mit den Preisen hinauf. Das Ausziehen muss sein, denn nur ohne Kleidung, mit nackter Haut, hat man den nötigen Griff an dem glatten Pfosten.

    Eroberung der Schneestadt

    Die interaktive Vorstellung kann beginnen. Ausgestattet mit einem schmackhaften Blin brechen wir auf, um den Bären aus der Höhle zu locken. (Die Rolle des Bären übernimmt einer der Masljaniza-Veranstalter und der Blin ist der Anschaulichkeit halber aus Papier.) Danach stehlen wir die Strohpuppe Winter und tanzen um sie herum Chorowod.

    Schon bemerkt der Bär den Verlust, erobert die Puppe zurück und versteckt sie in der Schneefestung. Der Frühlings-Woiwode ruft zum Sturm auf die Festung. Sie wird von alteingesessenen Masljaniza-Teilnehmern verteidigt, die nicht davor zurückschrecken uns mit Schneebällen zu bewerfen oder von der steilen Mauer in den Schnee zu schmeißen.

    „Scheiße“, entfährt es dem jungen Mann neben mir.

    Es ist wohl kaum der Raub der Puppe, der ihn so erbost. Eher schon der wuchtige Schneeball, den er soeben abbekommen hat.

    „In Stellung! In Stellung! Erster Stock!“, erschallen eindringliche Kommandos aus der Menschenmenge.

    Der Startschuss ertönt. Der Sturm kann losgehen. Riesige Kerle aus der Menschenmenge rücken unter einem Schneeballhagel zur Festungsmauer vor, dicht an dicht stehen sie in drei Reihen zusammen.

    „Kletter rauf!“, ruft der junge Mann links neben mir.

    Ich komme gar nicht dazu, ihm zu antworten, da hievt man mich schon auf die Rücken vom ersten Stock. Ich rutsche auf dem Helm von jemandem aus.

    „Rückzug!“ 

    Wer da ruft, kann ich nicht zuordnen, aber ich sehe, wie ein junger Mann neben mir von der Mauer abrutscht. Der menschliche Belagerungsturm fällt in sich zusammen, und ich werde unter einem Haufen Körper begraben. Ich halte die Arme über den Kopf und brülle vor Schmerz: Jemand versucht mich am Bein aus diesem Geknäuel herauszuziehen. Es gelingt mittelprächtig – mehrere Leute liegen auf mir drauf. 


    Ich stehe wieder auf, wasche mir mit Schnee das Gesicht, weiche einem Schneeball aus und klettere wieder auf die Festung. Beim zweiten Mal bilde ich einen Teil des ersten Stocks. Ich versuche, einen Blick zu erhaschen, was da oben los ist, muss aber schnell einsehen, dass es eine sehr schlechte Idee war – jemand tritt auf mein Gesicht und versucht sich abzustoßen, um höher zu klettern.

    Wieder stürzt einer von der Mauer, schließe ich aus dem ohrenbetäubenden Aufschrei. Ich sehe nichts außer Füßen und Schultern. Wir fallen. Ein junger Mann mit blutiger Nase hilft mir auf und spuckt rot in den Schnee. Neben uns ist noch ein Verwundeter. Aufgeschlagene Augenbraue.

    Das Herz pocht in den Schläfen, die Beine zittern vor Aufregung, ein Teil vom Armband meiner Uhr ist abgerissen, genau wie die Schnürsenkel-Haken von meinen Schuhen. Trotzdem stürme ich immer wieder die Festung, rutsche wieder ab, falle wieder in die aufgeheizte Menschenmenge. Jemand hat die Festungsmauer erklommen. Jetzt darf er die anderen Angreifer hinaufziehen. Den jungen Mann mit der aufgeschlagenen Augenbraue, den mit der kaputten Nase und mich.

    Ich helfe immer mehr Stürmern über die Mauer. Neben mir steht ein Teenager mit einem blutigen Schuhabdruck im Gesicht.

    „Tut’s weh?“, frage ich mitfühlend.

    „Sch… drauf“ [im russischen Original Mat dek], winkt er fröhlich ab und blickt verzaubert auf die Strohpuppe Winter, die auf dem Feld langsam in Flammen aufgeht.

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  • Unter die Haut

    Unter die Haut

    Eine geplante Gesetzesnovelle, die weniger harte Strafen für häusliche Gewalt vorsieht, sorgt derzeit für Diskussionen. Vor dem Hintergrund dieser Debatten zeigt Takie Dela eine Fotoreportage des Ufaer Fotografen Wadim Braidow: Er hat Shenja in ihrem Tattoostudio besucht und auch ihre Klientinnen getroffen. Über sie schreibt Braidow: 

    „Zu Shenja kommen Frauen, die von ihren Männern verprügelt wurden – sie brauchen Trost und wollen vergessen. Shenja ist keine Psychotherapeutin, sie ist Tattookünstlerin. Mit den Tattoos übermalt sie Narben, die von der Gewalt geblieben sind. Geld nimmt sie dafür keines, Geschichten hat sie schon so viele gehört, dass sie ein Buch schreiben könnte.“

     Fotos © Wadim Braidow
    Fotos © Wadim Braidow

    Tattookünstlerin Shenja Sachar, 33

    Tätowierer führen ein fröhliches, sorgloses Partyleben. Immer hängt irgendwer in deinem Studio ab, dankbare Kunden laden dich auf Feten ein. Doch dann bin ich irgendwann auf einen Artikel über Flavia Carballo gestoßen, eine brasilianische Tattookünstlerin, die die Narben von Opfern häuslicher Gewalt übertätowiert, und ich dachte: „Warum sollte ich das nicht auch mal versuchen?“ Ich wollte technisch besser werden – immerhin sind Narben für Tätowierer eine Herausforderung – ja, und ein bisschen was Gutes zur Welt beisteuern.

    Ich veröffentlichte eine Anzeige auf Vkontakte, und dann gings los. Aus allen Ecken Baschkiriens schrieben mir Frauen. Junge und ältere, stille und hysterische – und alle hatten eines gemeinsam: den Schmerz. Sie alle sagten, sie könnten ihre Narben nicht mehr sehen, sie würden sie an den Tag erinnern, als der geliebte Mann seine Hand gegen sie erhob. Wenn es doch nur die Hand gewesen wäre. Narben von Stichwaffen sind für mich keine Seltenheit, einmal war sogar eine Schusswaffe dabei. Ich, in meiner ruhigen und fröhlichen Welt, konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass so viele Frauen zu Hause Gewalt erleben.

    Ich habe schon an die hundert Kundinnen behandelt, und ich weiß, sie wollen bei mir auf der Liege ihr Herz ausschütten und nachdem sie aufgestanden sind, nie wieder an diese Geschichte denken. Ich habe so viele Geschichten gehört, dass ich ein dickes Buch schreiben könnte. Ich versuche, den Frauen eine Freundin zu sein, und irgendwie klappt das – viele von ihnen kommen mit was Süßem wieder, einfach auf einen Plausch. Und sagen: „Zwei Stunden lang hast du uns Schmerzen zugefügt, damit wir den Schmerz vergessen, den wir jahrelang ertragen haben.“ 

    Derzeit nehme ich eine Kundin pro Woche, für mehr reicht weder die Zeit noch das Material. Ideal ist mein Studio nicht und kosten tut es auch. Ich muss überwiegend zahlende Kunden bedienen. Gerade versuche ich mit meinem Partner und einem Kollegen ein eigenes Studio zu eröffnen, das unabhängig ist von Vermietern. Ich will weiter versuchen, wenigstens eine Kundin pro Woche reinzunehmen. Auch wenn die Selbstkosten bei jedem von diesen Tattoos zwischen 2000 und 4000 Rubel [30 bis 60 EUR – dek] liegen, kann ich von diesen Frauen kein Geld nehmen. So haben meine Eltern mich nun mal erzogen. Anfragen habe ich viele, bestimmt um die zweihundert. Leider ist Gewalt, genau wie Krieg, immer da.


    Guldar, 28

    Vor sieben Jahren war ich mit einem jungen Mann zusammen, er arbeitete bei einer Behörde. Es war ernst, wir hatten schon die Nikah, die islamische Ehe, gefeiert, wollten standesamtlich heiraten. Irgendwann kam er angetrunken nach Hause, wir fingen an zu streiten. Er verprügelte mich. Trat mir mit den Füßen in die Brust und in den Bauch. Ich packte meine Sachen und ging zu meiner Mutter. Dann sagte ich zu ihm, dass ich ihn bei der Polizei anzeigen werde, drohte damit, für seine Kündigung zu sorgen. Er kam zusammen mit seinem Bruder zu mir, einem Anwalt, und sie erklärten mir hart und deutlich, dass ich das mit der Anzeige besser sein lasse.

    Nach diesem Gespräch packte ich schnell meine Sachen und floh von Belorezk nach Ufa. Es verging ein Jahr, die Verletzungen taten immer noch weh, also ging ich ins Krankenhaus. Es stellte sich heraus, dass in der Brust und im Bauch Schwellungen zurückgeblieben waren, innere Blutergüsse. Ich wurde ein paar Mal operiert. Jetzt habe ich diese Narben und kann keine Kinder mehr bekommen. Es fällt mir schwer, Beziehungen zu Männern aufzubauen, ich schäme mich, mich auszuziehen, schäme mich, diese Geschichte zu erzählen. Vor kurzem war ich im Urlaub. Als erstes habe ich mir Mehndi, Hennatattoos, auf die Narben machen lassen, sofort fühlte ich mich im Badeanzug viel selbstsicherer. Da hatte ich die Idee, die ganzen alten Erinnerungen mit Tattoos übermalen zu lassen.


    Ljaisan, 33

    Vor zwei Jahren hat mich mein Mann, er war völlig unzurechnungsfähig, mit dem Küchenmesser verletzt. Die Schnittwunde war tief, ich hatte einen Leberriss und innere Blutungen. Ich rief selbst den Notarzt, aber man hat mich sehr schlecht genäht, es blieben große Narben. Natürlich kam die Polizei ins Krankenhaus, ich sollte Anzeige erstatten. Ich habe es nicht getan. Mein Mann flehte mich an, zu ihm zurückzukommen.

    Nach meiner Entlassung versuchte ich, weiter mit ihm zusammenzuleben, aber es ging nicht. Er hat nie zugegeben, was er getan hat, sagte, dass er sich an nichts erinnere, und dass ich mich selbst mit dem Messer verletzt hätte. Da habe ich bereut, dass ich ihn nicht angezeigt habe. Aber ich denke, eines Tages wird ihm das Leben alles heimzahlen.

    Jetzt geht es mir gut, aber mit den Narben konnte ich diesen schwarzen Tag nicht endgültig hinter mir lassen. Deshalb habe ich mich zu der Tätowierung entschlossen.


    Lilja, 41

    Meine Geschichte handelt nicht von Gewalt, sondern von einer Verletzung aus der Kindheit. Meine Eltern sind Geologen und waren ständig auf Dienstreisen, sie waren überall in Baschkirien unterwegs und ließen mich bei meiner Oma. Als ich ein Jahr und zwei Monate war, haben die Großeltern einmal nicht richtig aufgepasst. Ich hatte mein Stühlchen genommen, es an den Herd gestellt und nach dem Teekessel gegriffen. Ich konnte ihn nicht halten und habe mich verbrüht. 84 Prozent meiner Körperoberfläche waren geschädigt, ich lag einen Monat lang auf der Intensivstation im Koma. Außerdem diagnostizierte man bei mir Infantilismus. Ich kann auch keine Kinder bekommen.

    Mein ganzes Leben habe ich mit diesen Brandnarben am Körper gelebt. In den 1990ern entschloss ich mich zu einer Reihe plastischer Operationen, aber schon nach der zweiten ging es mir so dreckig, dass ich abbrach. Jedes EKG, jede Untersuchung, Sauna, Strand – alles war für mich eine große nervliche Belastung. Jeder, der meinen Bauch sah, war sofort geschockt, oh weh, und wollte wissen, was mir passiert war. Letztens wurden wir bei der Arbeit untersucht, ich zog meine Bluse aus, und alle riefen „Oh!“. Aber jetzt fühle ich mich selbstsicherer. Für Narben schämt man sich, mit Tattoos gibt man an.

    Shenja wollte mich zuerst nicht behandeln. Sie arbeitet ja eigentlich mit Opfern von häuslicher Gewalt, Frauen, die von ihren Männer verletzt wurden. Aber als ich ihr meine Narben zeigte, sahen wir uns ein paar Minuten lang in die Augen, und dann sagte sie: „Leg dich hin.“ Ich bin ihr unendlich dankbar. Dieses Tattoo hat mein Leben verändert, weil ich mich jetzt für nichts mehr schämen muss.


    Wika, 28

    2009 war ich schwanger. Eines Tages holten mich mein Ex-Mann und sein Kumpel von der Arbeit ab und fuhren mit mir in den Wald. Mein Mann brüllte, er wolle dieses Kind nicht, irgendwelche alten Weiber hätten ihm gewahrsagt, es sei nicht von ihm. Er holte ein großes Küchenmesser hervor. Stieß es mir immer wieder gegen die Brust, aber schaffte es nicht, richtig zuzustechen. Dann gab er das Messer seinem Freund. Der nahm Anlauf und rammte es mir in die Brust. Ich wehrte es mit meiner Tasche ab, beim zweiten Mal traf er meine Achsel. Es floss viel Blut. Mein Mann erschrak, stürzte sich auf seinen Kumpel. Schlug ihn zusammen, setzte mich ins Auto und brachte mich ins Krankenhaus, durchbrach auf dem Krankenhausgelände sämtliche Schlagbäume. Die Ärzte riefen die Polizei, einer der Polizisten war ein alter Bekannter von mir. Er begriff sofort, was los war, und bestand darauf, dass ich die Wahrheit sage. Mein Mann wurde noch im Krankenhaus festgenommen. Er bekam acht Jahre, sein Freund, glaube ich, sechs. Die Ärzte konnten nicht nur mich retten, sondern auch das Kind. Der Chirurg sagte mir später, das Messer hätte die Schlagader um zwei Millimeter verfehlt.

    Ich habe daran gedacht und hätte auch Möglichkeiten gehabt, meinen Ex-Mann noch direkt in der Haft zu bestrafen. Aber als mein Sohn zur Welt kam, ließ das nach. Am liebsten denke ich weder an meinen Mann noch an jenen Tag. Aber jeden Morgen, wenn ich in den Spiegel geschaut und diese Narbe gesehen habe, kamen sofort die Erinnerungen hoch. Als würde sie mich zurück in die Vergangenheit ziehen.

    In den Ufaer Nachrichten hörte ich von Shenja und dachte, dass mir das helfen würde, mit der Vergangenheit abzuschließen. Es war schwierig zu glauben, dass mich jemand umsonst tätowieren würde. Ich kam ins Studio, man sagte mir, doch, das stimmt, und gab mir eine Telefonnummer für die Terminvereinbarung. Shenja und ich sprachen miteinander und entschieden uns für einen Schmetterling. Der ist in vielen Kulturen ein Symbol für die Reinkarnation der Seele.

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  • „Mir graut davor, mein ganzes Leben so zu verbringen“

    „Mir graut davor, mein ganzes Leben so zu verbringen“

    „Über lange Zeit hatte ich mit heftiger innerer Homophobie zu kämpfen, an der ich  mehrere Jahre mit einem Psychologen gearbeitet habe.“ So schildert eine junge Russin ihre erste Hürde auf dem Weg von einer mit Zweifeln belasteten Jugendlichen hin zur selbstbewussten Frau. Innerlich kann sie inzwischen zu sich und ihrer gleichgeschlechtlichen Liebe stehen. Ein großer Schritt in Russland, wo Homosexuelle offen angefeindet werden, Homophobie weit verbreitet ist. Nun ist sie 25 Jahre alt, arbeitet als Lehrerin und plant ihr öffentliches Coming Out.

    Das bewegende Protokoll einer jungen Lesbe hat das Webmagazin Takie Dela aufgeschrieben.

    Homophobie ist in Russland weit verbreitet, ein offener Umgang mit der eigenen sexuellen Orientierung schwierig – Foto © Swetlana Choljawtschuk/Interpress TASS

    Die Kindheit

    Jedes Kind beschäftigt sich zu einer bestimmten Zeit mit seiner Identität. Ich überlegte, was ich werden soll: Junge oder Mädchen? Ein Mädchen zu sein ist gut, weil man als Mädchen hübsch sein und schicke Kleidchen anziehen kann, ein Junge zu sein ist gut, weil man als Junge mit einem Mädchen zusammen sein kann.

    Mit neun gefiel mir ein Mädchen. Natürlich war das keine Beziehung. Meine ganze Kindheit über war mir klar, dass mir Mädchen gefallen, aber an meinem Bewusstsein zog das irgendwie vorbei. Mich störte dieses Wissen nicht weiter. Vielleicht nahm ich es nicht ernst, vielleicht weigerte sich mein Gehirn, genauer darüber nachzudenken.

    Viel später erst wurde mir klar, dass ich Schwierigkeiten hatte, mich selbst zu akzeptieren, und dass ich darüber dringend sprechen musste. Für mich war das ein Problem, denn ich bin in einer gläubigen Familie aufgewachsen, ging in die Sonntagsschule. Über lange Zeit hatte ich mit heftiger innerer Homophobie zu kämpfen, an der ich dann mehrere Jahre mit einem Psychologen gearbeitet habe.

    Die Bewusstwerdung

    Mit achtzehn, ich studierte schon an der Uni, verliebte ich mich in meine Russischdozentin. Ich war heftig verliebt damals. In diesem Moment musste ich mir eingestehen, dass ich nicht einfach von ihr als Mensch fasziniert war, am liebsten hätte ich permanent Zeit mit ihr verbracht. Wir saßen einfach zusammen und redeten über die russische Sprache und Literatur. Sie ahnte nichts von meinen Gefühlen, und ich war noch nicht fähig, mich ihr zu offenbaren. Ich glaube auch nicht, dass sie davon angetan gewesen wäre.

    Dann begann ich, mit einem Psychologen zu arbeiten. Zwei Jahre hatte ich Einzeltherapie und machte auch Gruppentherapie. Als ich so weit war, dass ich mich selbst akzeptieren konnte, erzählte ich die ganze Sache zunächst meinen engsten Freunden. Dann meiner Familie. Meine Schwestern reagierten ganz entspannt, mit meiner Mutter war es schwierig, und das ist es bis heute. Meine Mutter kann mich nicht akzeptieren, das erste halbe Jahr redeten wir überhaupt nicht mehr miteinander, inzwischen sprechen wir über alles mögliche, aber nicht darüber. Sie streift das Thema  äußerst selten – „deine Freundinnen“ sagt sie höchstens mal etwas spitz.

    Mir ist bewusst, dass ich ein Doppelleben führe. Sobald ich bei der Arbeit bin, verhalte ich mich komplett anders, sage andere Dinge

    Die Hilfe

    Die innere Homophobie hatte bei mir krasse Auswirkungen. Eine Zeitlang verließ ich gar nicht mehr das Haus, schloss mich in meinem Zimmer ein, meine Freunde haben mich gerettet, sie brachten mir Essen. Ich stand bloß noch auf, um mich zu betrinken und wieder einzuschlafen. Ich wollte nicht mehr leben, hatte Selbstmordgedanken. Eine schreckliche Zeit in meinem Leben war das, an die ich heute nur noch selten denke.

    Irgendwann wurde mir klar, dass ich mir professionelle Hilfe suchen muss, weil ich einfach nicht mehr konnte. Ich ging zu einem Psychologen, lernte Leute kennen und begann, mich zu engagieren. Ungefähr vier Jahre hat es gedauert, bis ich mich voll akzeptieren konnte. Erst vor zwei Jahren konnte ich aufatmen und sagen: „Alles cool!“

    Ich hab mich für den Weg von Engagement und Selbstakzeptanz entschieden, denn ich glaube, das Wichtigste im Leben eines jeden Menschen ist es, zu spüren, dass er ist, wer er ist, und dass man deswegen nicht leidet. Ich fühlte, dass ich das Richtige tue und anderen Menschen helfen kann, die mit den gleichen Problemen konfrontiert sind wie ich.

    Der Glaube

    Als ich aufhörte, zur Sonntagsschule zu gehen, litt und weinte ich sehr, schließlich war es ein wichtiger Teil meines Lebens. Ich liebe Frauen, und das ist aus Sicht der orthodoxen Religion so etwas wie Sünde. Irgendwann war ich zu dem Schluss gekommen, dass es Gott nicht gibt, wenn er uns erst so erschafft und dann nicht akzeptiert. Mittlerweile finde ich trotzdem wieder zu Gott zurück, aber heute unterscheide ich für mich klar zwischen Glauben und Religion. Mit der Religion habe ich nichts zu schaffen, mit dem Glauben durchaus.

    Der Beruf

    Während meines Studiums an der pädagogischen Hochschule war ich nicht überzeugt davon, dass ich später als Lehrerin arbeiten würde, aber es machte mir Spaß. Bereits im vierten Studienjahr fing ich an, zu unterrichten. Vor drei Jahren habe ich mein Studium abgeschlossen, und seitdem arbeite ich als Lehrerin.

    Natürlich kann ich bei der Arbeit nicht über meine sexuelle Orientierung sprechen. Das ist unmöglich. Nur ein paar Kollegen von mir wissen Bescheid, sie sind enge Freunde. Mir ist bewusst, dass ich ein Doppelleben führe. Sobald ich bei der Arbeit bin, verhalte ich mich komplett anders, sage andere Dinge. Die Unmöglichkeit offen zu sprechen bedeutet für mich, dass ich in meinem Beruf nicht frei atmen kann.

    Außerdem ist es für mich wirklich hart, genau solche Kids zu sehen, wie ich früher eins war, und zu wissen, dass ich nicht offen mit ihnen sprechen kann, obwohl ich zu meinen Schülern eigentlich ein sehr vertrauensvolles Verhältnis habe. Einmal wandte sich ein Transjunge an mich [eine junge Frau, die sich als Mann versteht – Takie Dela]. Ich weiß nicht, warum er ausgerechnet zu mir kam. Er hat noch keine Geschlechtsangleichung gemacht, nimmt keine Hormone, fühlt sich einfach als Mann. Er kam zu mir und erzählte mir davon. Ich bin keine Psychologin und bin nicht berechtigt, darüber zu sprechen, aber auf der anderen Seite war mir klar, dass ich ihm irgendetwas raten musste.

    Es war ziemlich riskant, jedes Wort von mir hätte später gegen mich verwendet werden können, aber ich sprach trotzdem mit ihm, gab ihm Broschüren und Sticker zu Transsexualität und sagte ihm, er könne sich jederzeit an mich wenden. Bisher ist er nicht noch einmal zu mir gekommen, aber in unserer Korrespondenz bezeichnet er sich als Mann. Ich finde das sehr gut.

    Die Stadt

    Hier in der Stadt gibt es etliche Gruppierungen, die Schwule und Lesben ablehnen. Es ist schon mehrfach zu Prügelattacken auf LGBT-Aktivistinnen und Aktivisten gekommen, und zwar zu ziemlich schlimmen. Ich selbst habe vor fünf Jahren angefangen, mich zu engagieren. Mein Psychologe hatte mir geraten, doch mal zu einer LGBT-Veranstaltung zu gehen. In dem Jahr planten Nazis einen Überfall auf die Aktivisten, die das Festival veranstalteten, sie haben uns sogar mit Bussen weggekarrt und es gab Wachschutz, damit uns nichts passierte. Etwas wirklich Schlimmes war dann auch nicht, keine Prügeleien oder so, allerdings hatten die Typen die Treppe zum Festivalgebäude mit Farbe übergossen.

    Dieses Jahr fand wieder eine Veranstaltung statt, und mittlerweile gehörte ich zu den Organisatoren. Es war echt hart. Wir wollten lediglich ein Turnier abhalten, aber das wurde uns verboten, immer wieder bekamen wir Ablehnungen. Nur ein einziger Sportplatz hat uns zugesagt. Wir haben alle unsere Telefone ausgeschaltet und die Adresse nur untereinander weitergegeben, so waren wir nicht „aufzuspüren“. Nur so konnte das überhaupt normal ablaufen.

    Ich will nicht in dem Bewusstsein leben, dass man mich für die Wahrheit, die ich ausspreche, ins Gefängnis bringen kann

    Die Angst

    Mir graut davor, mein ganzes Leben so zu verbringen. Eines Tages wird es einen Post auf meiner Seite geben und ich werde mich für alle Menschen, die mich kennen, outen … Natürlich nicht jetzt gleich, zwei, drei Jahre werde ich noch brauchen, um mich psychisch darauf vorzubereiten.

    Wenn das Gefühl kommt, dass ich moralisch bereit bin, werde ich merken, dass es soweit ist. Ich werde wissen, dass es keinen Weg zurück mehr gibt, ich muss mich nicht mehr an Vergangenes halten, weder an Leute noch an die Arbeit.

    Die Zukunft

    Mein Plan ist, den Schuldienst zu verlassen und als Nachhilfelehrerin zu arbeiten. Ich werde keiner kommunalen Einrichtung angehören, so wird es schwer sein nachzuvollziehen, mit wem und wo ich arbeite. Das ist der Kompromiss in meiner Situation.

    In den siebziger Jahren haben Lehrer und Lehrerinnen in den USA erkämpft, dass sie in ihrem Beruf arbeiten und dabei offen schwul oder lesbisch leben können. Als ich davon hörte, verspürte ich eine Art Stolz und wünschte mir, es würde bei uns auch so sein.

    Meine Freundin und ich planen, Kinder zu haben. Ich denke schon jetzt an Familie, will selbst ein Kind zur Welt bringen oder auch adoptieren. Ich hoffe sehr, dass wir einmal eine große Familie haben werden und ein großes Haus.

    Das Gesetz

    Wenn ich mich mit besagtem Transjungen unterhalte, kann ich dem Gesetz nach für meine Äußerungen belangt werden. Ich will nicht in dem Bewusstsein leben, dass man mich für die Wahrheit, die ich ausspreche, ins Gefängnis bringen kann. Aber ich habe keine andere Wahl.

    Ich würde sagen, die gesellschaftliche Aggression hat zugenommen. Kann sein, dass die staatliche Politik sich im Verhalten der Menschen widerspiegelt, die Leute haben Angst, selbständig zu denken. Andererseits habe ich viel Kontakt zu Kindern und Jugendlichen und sehe unter ihnen eine Menge LGBT-Kids. Während die ältere Generation stärker eingeschüchtert ist und weniger über sich spricht, ist die junge, in Zeiten des Internets aufgewachsene Generation bei uns freier, wobei auch sie Probleme mit der Selbstakzeptanz und mit ihren Eltern hat.

    Die Zuversicht

    Auch jemand, der sich selbst im Grunde akzeptiert, kann in Bezug auf bestimmte Lebenssituationen unsicher sein. Wenn du das Gefühl hast, du wirst allein damit nicht fertig, solltest du dir professionelle Hilfe holen. Es gibt das russische LGBT-Netzwerk, wo man anrufen und mit Psychologen oder Juristen sprechen kann.

    Früher war ich voller Selbstzweifel – was meine Standpunkte und Ansichten betraf. Wenn dir klar wird, dass du eine Persönlichkeit bist, hörst du auf, Angst zu haben und machst alles richtig, und das gibt dir viel Kraft.

    Ich glaube, mit der LGBT-Bewegung in Russland wird alles gut werden. Allerdings weiß ich nicht, wann das das sein wird und ob ich es noch erleben werde.  

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  • Kleine Auszeit

    Kleine Auszeit

    Heroin-Junkies und Klosterzellen für VIPs, aber auch selbstlose Arbeit, fromme Demut und ein Besuch von Patriarch Kirill: Der Journalist Anton Krawzow hat einen Monat in einem Männerkloster verbracht und seine Eindrücke für Takie Dela aufgeschrieben.

    „Zuerst setzt du einen Schnitt entlang der Rückengräte“, erklärt Sweta und hält den kleinen Fisch in ihrer Hand hoch. „Man muss mit dem Messer hier reinstechen und vom Kopf her runterschneiden. Dann dasselbe auf der Bauchseite, aber ganz vorsichtig, damit man die Eingeweide nicht verletzt.“

    Sweta und ihr Sohn Mark kommen alle paar Monate ins Kloster – ein bisschen arbeiten, leben, beten. Genau wie mehrere hundert andere Menschen. Ungeschickt versuche ich, es Sweta nachzutun. Bald spüre ich meine Finger nicht  mehr. Der Fisch ist noch nicht ganz aufgetaut, aber wir haben keine Zeit: An die fünfzig Pilgermäuler gilt es zu stopfen.

    Die Ikone soll von Drogensucht heilen

    Das Gros der Bewohner des Wyssozki-Männerklosters in Serpuchow bilden ehemalige Alkoholiker, Junkies und Knastis. Die einen kommen in der Hoffnung auf Heilung, andere wollen „den Kopf klar kriegen“, die dritten haben einfach keine Bleibe.

     Pilgerarbeiter Serjosha harkt Heu – Fotos © Alina Dessjatnitschenko
    Pilgerarbeiter Serjosha harkt Heu – Fotos © Alina Dessjatnitschenko

    Es heißt, das hiesige Heiligtum – die Ikone der Gottesmutter Unerschöpflicher Kelch – heile von Trunksucht und Drogenabhängigkeit, von Spielsucht und anderen Lastern. Diese wundersamen Eigenschaften hatte man bereits im vorletzten Jahrhundert beschworen. Während der Revolution war dann aber die Originalikone verbrannt und ein Teil der Bruderschaft erschossen worden. Ende des letzten Jahrhunderts wurde die Ikone neu gemalt.Über eine dreckige Wanne gebeugt, wasche ich mir die nach Fisch stinkenden Hände. Die Gegenwart von Ikonen und Priestern sollte einen friedlich stimmen, denke ich bei mir, aber mir ist hier unbehaglich zumute. Ich warte auf das Ende des Abendgottesdienstes. Ich will ein letztes Mal die Ikone küssen, von hier verschwinden und nie mehr wiederkommen. Doch erst heute Abend wird es so weit sein.

    I. Ein Tag

    Der Wecker schrillt um halb fünf Uhr früh. In der stickigen Zelle hängt der Geruch nach Männersocken, es ist dunkel und heiß. Ich leuchte mit meinem Mobiltelefon in den engen Raum: In den Doppelstockbetten schlafen die Pilger. Ich ringe mit dem Wunsch, auf die ganze Sache zu pfeifen und mich in die dünne Kratzdecke zu mummeln, aber in anderthalb Stunden beginnt das Morgengebet, und ich muss vorher noch unter die Dusche.

    Durch die Gänge schallt das durchdringende Glockengeläut, das die Pilger zum Gottesdienst, zum Mittagessen, zum Abendbrot und zu ihren jeweiligen Diensten ruft. Die Konditionierung setzt schnell ein: Sobald die Glocke erklingt, springt man auf und rennt los.

    Benebelt vom Weihrauch

    Die Trudniki werden gesalbt
    Die Trudniki werden gesalbt

    In der leeren Kirche drücken sich die verschlafenen Pilger unschlüssig an den Wänden entlang. Der süßliche Geruch von Weihrauch umhüllt und benebelt. Macht noch schläfriger. Um das Gähnen zu unterdrücken, schöpfe ich mir aus einem großen Becken ein Glas kaltes Weihwasser. Das viele Verbeugen lässt meinen Rücken unerträglich schmerzen. Sich von der Heiligkeit der Handlungen durchdringen zu lassen – alle pressen ihre Lippen auf die Gebeine des Heiligen Afanassi des Jüngeren, des früheren Klostervorstehers – ist nicht ganz einfach.Eine Stunde später versammeln sich die Pilger zum Tee. Auf dem langen Esstisch des Refektoriums stehen Prjaniki, Kekse und Bonbons, Kannen mit starkem Teesud und heißem Wasser. Der Tee ist aber nur für die sogenannten Trudniki bestimmt – das sind Pilger, die länger als drei Tage im Kloster bleiben. Für ihre Arbeit bekommen sie freie Kost und Logis und werden gesegnet.

    „Wie oft soll ich es dir noch sagen: Wir müssen einen Plan machen und dort eintragen, wer heute die Zelle putzt“, sagt Sascha, mein Zimmernachbar.

    „Das haut sowieso nicht hin, jeder hat doch andere Dienste, ich hab keine Ahnung, ob ich heute putzen kann oder nicht“, erwidert der hagere Serjosha gereizt.

    Die jungen Männer rühren nervös Zucker in ihrem Tee und giften sich weiter an. Wenn die anderen Leute nicht wären, wären sie schon handgreiflich geworden.

    „Halt einfach deine beschissene Klappe, du Penner! Du machst mich echt krank! Putz ich eben alles selber!“, blafft Sascha und bittet seinen Nachbarn, ihm die Kekse zu geben.

    Die Trudniki versammeln sich lustlos vor der Ikone

    Wieder ruft die Glocke. Die Trudniki versammeln sich lustlos vor der Ikone, wo sie der junge Mönch Anton erwartet, der als eine Art Brigadier fungiert und die Aufgaben für den Tag verteilt.

    Wieder ruft die Glocke: Auf dem Weg zum Gottesdienst
    Wieder ruft die Glocke: Auf dem Weg zum Gottesdienst

    „Herr Jesus Christus, eingeborener Sohn Deines Vaters, der von Anfang ist, Du hast gesagt: ‚Ohne mich könnt ihr nichts tun …‘“, rattert Anton ohne Stocken herunter. Auf seinem Arm sind die Reste eines Totenkopf-Tattoos zu erkennen. Ohrlöcher hat er auch. Wir bekreuzigen uns und gehen unsere Dienste verrichten.„Haben Sie heute wieder Dienst im Refektorium?“, hält mich der Brigadier an.

    „Ja. Der Batjuschka hat ihn gesegnet. Er hilft uns“, schaltet sich der Refektoriumsaufseher Serjosha ein. Anton greift sich schweigend ein Paar dreckige Handschuhe und geht hinaus in den Regen an die Arbeit.

    Über dem Mönch Anton steht der Priestermönch Gleb. Er wacht über die Ordnung im Pilgertrakt. Über Gleb steht der Klostervorsteher Igumen Alexej und noch darüber – der Bischof von Serpuchow, Roman, den sie hier Wladyka, den Gebieter, nennen.

    Das erste, was man im Kloster lernt, ist: Demut und Unterordnung. Laufend sagt man: „Ja, Batjuschka. Gut, Batjuschka. Gebt mir Euren Segen, Batjuschka“, dann verneigt man sich und geht an die Arbeit.

    II. Der Patriarch

    Serjosha hantiert im Refektorium rum. Er weist den Neuankömmlingen ihre Unterkunft zu, ordert Lebensmittel für die Küche, gibt Bettwäsche aus, kümmert sich darum, dass genug Toilettenpapier da ist, läutet die Glocke. Wegen seiner runden Brille mit den dicken Gläsern hat er den Spitznamen Fara, der Scheinwerfer.

    „Der Batjuschka hat gesagt, wir haben außer den Pilgern und den Arbeitern auch noch vierzig Fahrer zu beköstigen. Für die machen wir Grütze“, überlegt er, die Ellbogen auf die Theke gestützt. Sweta und ich versuchen mal durchzurechnen, wie wir die Leute unterbringen.  Die zwei großen Speisesäle müssten bei mehreren Durchgängen für etwa zweihundert Leute reichen.

    Patriarch Kirill besucht das Kloster

    In ein paar Stunden soll Patriarch Kirill im Kloster eintreffen, um an den Feierlichkeiten zu Ehren des wundertätigen Bildes teilzunehmen. Alle haben sich lange vorbereitet: Die Trudniki sind praktisch nicht mehr zum Gottesdienst gegangen und haben alles hergerichtet. Der große Platz wurde mehrmals täglich gefegt, die Blumenbeete in den bestmöglichen Zustand gebracht, beim Haus des Wladyka wurde ein Podest für die Gäste errichtet.

    Die Pilger sind bereits am Vorabend angereist. Es gab nicht genug Schlafplätze in den Zellen: Sie haben auf dem Boden geschlafen, in der Kirche, in den Gängen oder in ihren Autos.

    Ein Trudnik füttert die Gänse
    Ein Trudnik füttert die Gänse

    „Unterstützt die Soldaten im Donbass“, greint eine dunkelhäutige Romni. Ich rede mich raus. Sage, dass ich kein Kleingeld dabei habe. Die Bettlerin verliert augenblicklich das Interesse und wendet sich dem Strom von Menschen zu, die den Patriarchen sehen wollen.Nach ein paar Minuten erscheint Patriarch Kirill. Junge Männer in langen Kutten sind ihm dabei behilflich, seinen Platz auf dem roten Samtthron einzunehmen. Aus den Lautsprechern strömen geistliche Gesänge. Kirill bekommt ein kleines Mikrophon ans goldene Ornat geheftet. Die Priester treten der Reihe nach vor, um sich segnen zu lassen, und küssen seine Hände. Staatsbeamte beobachten das Geschehen von der Bühne aus. Rechts neben dem nachdenklich wirkenden Gouverneur der Moskauer Oblast Andrej Worobjow steht Chirurg, der Anführer der Nachtwölfe, in seiner Bikerkluft: abgewetzte Lederjacke, Lederhose und Strickmütze. Chirurg hält den Kopf gesenkt und bekreuzigt sich in regelmäßigen Abständen.

    Ein Gedränge wie in der Metro

    Zwölf Priester tragen Brot und Wein in die Menge, doch die Gläubigen schenken ihnen keine Beachtung. Sie stellen sich in wirrer Reihe auf, um die heilige Kommunion aus den Händen des Patriarchen zu empfangen. Der lächelt freundlich, doch die Kommunion spendet er nur einigen wenigen. Die leer ausgegangenen Gläubigen drängen jetzt zu den einfachen Priestern hin. Die, die die heiligen Gaben empfangen haben, schubsen laut krakeelend bei den alten Mütterchen herum, die geweihtes Wasser und Hostien verteilen.

    Das alles erinnert ans morgendliche Gedränge in der Metro: Die Gläubigen versuchen, sich zum Weihwasser durchzudrängeln, rammen einander im Eifer des Gefechts die Ellbogen in die Seite und prügeln sich um das geweihte Brot. Eine Frau grabscht mit beiden Händen nach den Hostien und stopft sie in eine Tüte, tritt dabei irgendjemandem mit voller Wucht auf den Fuß. Es entbrennt ein Streit.

    III. Fara

    „Ich lebe jetzt schon fast zwei Jahre hier. Hab keine Wohnung. Draußen in der Welt wartet keiner auf mich. Von meinen 38 Jahren hab ich 22 hinter Gittern verbracht“, erzählt Fara, während er unruhig um die Ecke des Schuppens späht, hinter dem wir hocken und heimlich rauchen. Vater Gleb ist gerade mit dem Morgengottesdienst fertig, er könnte uns bemerken, wenn er zum Pilgertrakt hinübergeht.

    Die steinerne Einfriedung des Klosters, im Gebüsch verstecken sich manchmal die Raucher
    Die steinerne Einfriedung des Klosters, im Gebüsch verstecken sich manchmal die Raucher

    Rauchen ist hier streng verboten. Vor kurzem fand in der Klosteranlage eine Säuberung statt, und die Reihen der Trudniki lichteten sich. Einige wurden beim Qualmen erwischt, manche mussten infolge interner Intrigen gehen, andere weil sie faul gewesen waren.Die Regeln verbieten es, in den Klosterzellen Elektrogeräte, Smartphones, Radios oder sonstige weltliche Attribute zu benutzen, die vom Gebet ablenken. Nach dem Abendgebet ist Zapfenstreich (man soll sofort schlafen), und für die gebets- und arbeitsfreie Zeit wird die Lektüre orthodoxer Literatur empfohlen.

    Die VIP-Zelle ist auch bei Priestern beliebt

    „Das hier ist eins der strengsten Klöster. Nicht mal Steckdosen gibt es in den Zellen. In manchen Klöstern stehen Fernseher, aber hier weiß man nicht mal, wo man sein Telefon aufladen kann“, beschwert sich eine junge Pilgerin, die im Refektorium hilft (Frauen dürfen hier nicht länger als drei Tage bleiben).

    So ganz stimmt das nicht, die strengen Regeln gelten nur in den Gemeinschaftszellen. Im Erdgeschoss des Pilgertrakts ist ein Zimmer mit separatem Eingang, Dusche, Toilette und Bidet. Außerdem gibt es dort einen Kühlschrank, einen elektrischen Wasserkocher, drei bequeme Betten und sonstige Zivilisationsgüter. Die VIP-Zelle ist nicht nur bei begüterteren Pilgern, sondern auch bei durchreisenden Priestern beliebt.

    In einer kleinen Abstellkammer schlüpft Fara in seine Kochkluft. Das weiße Hemd ist ihm zu groß, er krempelt die Ärmel hoch. Vor dem Spiegel steckt er die Kochmütze fest, die ihm sonst über die Augen rutscht. In ein paar Minuten muss der Korb mit dem Mittagessen beim Wladyka im Vorzimmer sein. Fara ist nervös und springt hektisch herum. Bemüht, keine Suppe zu verschütten, weicht er in seinen Gummischlappen geschickt den Pfützen aus.

    Kadetten aus Serpuchow warten auf den Beginn des Gottesdienstes
    Kadetten aus Serpuchow warten auf den Beginn des Gottesdienstes

    Als wir ein paar freie Minuten haben, setzen wir uns und machen Kaffeepause: Manchmal bekommen die, die im Refektorium arbeiten, welchen vorbeigebracht.„Höchstwahrscheinlich will ich weg hier. Es ist nicht gesagt, dass ich da draußen nicht wieder zu tief in Glas schaue, aber irgendwie haben sie mir Arbeit in Aussicht gestellt und ein eigenes Dach überm Kopf“, sagt Fara und rührt in seinem Lieblingsbecher. „Ich bete zu Gott, dass er mir eine gute Frau gibt. Ich weiß noch nicht, was daraus wird. Muss mich noch mit Vater Gleb beraten.“

    Nach dem Päuschen mache ich mich auf zu meiner Arbeit. Neben der Hauptkirche graben wir die Gebeine der hier bestatteten Teilnehmer an der Schlacht auf dem Kulikowo Pole aus. Als wir mit der Arbeit fertig sind, legen wir die Knochen in einen vom Regen durchnässten Korb. Die sterblichen Überreste sollen am Ende des Sommers beigesetzt werden, so heißt es.

    IV. Sascha und Ljocha

    Sascha habe ich vor einer Woche kennengelernt, als er am Kircheneingang Geld und Zigaretten schnorrte.

    „Ich habe keine Wahl, weißt du. Das Kloster ist mein Zuhause. Am Anfang war alles ganz lustig: Gras, Amphetamine, Heroin. Ich hab‘s alles vermasselt. Hab meinen Pass verloren, als ich mir Tropicamid gespritzt hab, in so einem kleinen Wäldchen war das. Ich wollte nur fünf Minuten dahin, und dann bin ich eingeschlafen.“

    „Und wovon lebst du und bezahlst deinen Stoff?“

    „Je nachdem. Die Batjuschki geben mir was und die Leute, die in die Kirche gehen.“

    „Und die geben dir direkt was für Heroin? Oder sitzt du einfach vor der Kirche und bettelst?“

    „Ja, früher manchmal auch vor der Kirche, in einer Kirche in Petersburg kennen die mich alle. Die Batjuschki geben mir zehn oder auch zwanzigtausend, wenn sie sehen, dass ich abdrifte, damit ich wieder auf die Beine komme. In der Kirche hole ich mir auch was zum Anziehen und Essen.“

    Vater Alexej würde auch als Offizier durchgehen

    Sascha trägt altmodische weite Jeans, einen ausgeleierten orangefarbenen Pullover und weiße Stiefel. Er sieht aus wie eine Mischung aus einem 2000er Jahre-Teenager und einem jungen Bahnhofspenner. Er habe von der Kirche in den letzten anderthalb Jahren insgesamt mehr als zweihunderttausend Rubel bekommen, behauptet er.

    Wir graben um und säen neuen Rasen. Von Zeit zu Zeit kommt Vater Alexej vorbei, ein groß gewachsener, kräftiger Mann. Würde er seinen Priesterrock gegen eine Uniform tauschen, ginge er glatt als Offizier der russischen Armee durch.

    „Du hast mir doch gesagt, du hast bis zwei Uhr die Erde hergeschafft!“, schnauzt Vater Alexej Sascha mit unverhohlenem Ärger an.

    „Ich hatte noch andere Aufgaben, Batjuschka“, versucht sich Sascha schuldbewusst zu rechtfertigen und sagt, er habe heute Dienst am Zentraltor und müsse am Buffet helfen.

    „Du hast dein Versprechen nicht gehalten. Und das ist das hundertste Mal jetzt. Pack deine Sachen und scher dich fort!“

    Batjuschka, bitte. Es wird nie mehr vorkommen. Ich kann doch nirgends hin. Schauen Sie, hier ist Eure Erde.“

    „Die wird jetzt nicht mehr gebraucht. Pack deine Sachen, und morgen ziehst du ab. Und komm ja nicht wieder!“ Vater Alexej hat keine Lust mehr sich zu unterhalten und greift nach der Harke. Bald soll irgendein hochrangiger Geistlicher anreisen, heißt es.

    Nach der Heumahd: Ein Trudnik schafft die Geräte fort.
    Nach der Heumahd: Ein Trudnik schafft die Geräte fort.

    Ein paar Tage später kommt Sascha zugedröhnt wieder an, und sie lassen ihn nicht rein.Auf dem kleinen Vorplatz vor der Kirche sind nur noch Trudnik Ljocha und ich übrig geblieben. Seine Arme sind mit Gefängnistattoos übersäht. Wir haben beide eine dreijährige Tochter da draußen vor den Klostermauern. Bloß dass er kurz vor der Scheidung steht und ich schon frei bin. Ich frage ihn, was er so gemacht hat in seinem weltlichen Leben.

    „Drogen verkauft hab ich. Dann war ich im Knast.“

    „Kriminelle Sachen“, meint Ljocha, ohne seine Arbeit mit dem Spaten zu unterbrechen. „Drogen verkauft hab ich. Gras, Schnee – was am meisten Geld gebracht hat. Dann war ich im Knast.“

    Er zieht sich die dreckigen Handschuhe aus, zieht das laut klingelnde Telefon aus der Tasche, hört etwa eine Minute schweigend zu, stopft das Handy wieder in die Tasche, wirft den Spaten weg und geht.

    „Meine Frau hat sich volllaufen lassen, fleht mich an, ich soll sie nicht verlassen, sonst tut sie sich was an. Die dumme Schlampe. Ich muss zu ihr fahren.“

    Und dann fährt Ljocha tatsächlich zu seiner Frau.

    V. Vater Nifont

    Am Morgen bitte ich Anton, mir einen Dienst in der Kapelle der Iwerskaja-Ikone der Muttergottes zuzuteilen, auf einem kleinen Gehöft mit Hühnern und einem Gemüsegarten. Dies ist eine der wenigen Gelegenheiten, das Klostergelände zu verlassen.

    Über das Gehöft wacht Vater Nifont, ein Mann von massiger, stämmiger Gestalt. Seine langen Haare und der Bart werden von einem Gummi zusammengehalten. In der Tasche seiner Kutte piept ununterbrochen eins seiner Smartphones: täglich an die 400 Nachrichten bekommt er von seinem Kirchenvolk.

    „So, ihr Süßen, einen Moment Geduld noch, gleich hacke ich euch alles klein“, sagt Vater Nifont zu den Hühnern und kippt den Inhalt mehrerer Eimer auf ein Schneidbrett. „Die Hühner können die großen Stücke so schwer fressen, deswegen muss man ihnen die Rinden und die Schalen zerkleinern. Sonst picken sie sie nur von allen Seiten an. Die haben ja schließlich keine Zähne.“

    Im weltlichen Leben war Vater Nifont Unternehmer. Er war in leitenden Positionen tätig, doch dann beschloss er, sich ganz der Kirche zu verschreiben. Was einem einiges mehr abfordert, als das Unternehmertum.

    Als Strafe darf Vater Nifont kein Kreuz tragen

    „Priester schlafen nur ein paar Stunden pro Nacht. Man muss früh raus, sich auf den Gottesdienst vorbereiten und beten. Dann ist man mehrere Stunden in der Kirche, danach geht man wieder in die Zelle und bereitet sich auf den nächsten Gottesdienst vor“, erklärt er, während er die Gemüsereste auf die Futtertröge verteilt. „Es ist schade, wenn über die Priester gesagt wird, sie seien gefräßig und fett geworden. Ich habe heute zum Beispiel noch nichts gegessen. Anständig zu essen schafft man nur einmal am Tag.“

    Serjosha in der Spülküche: Die Arbeit im Kloster geht nie aus.
    Serjosha in der Spülküche: Die Arbeit im Kloster geht nie aus.

    Vater Nifont unterscheidet sich von den übrigen Mönchen dadurch, dass man mit ihm offen sprechen kann. Bei der sonntäglichen Beichte hatte ich mich ganz bewusst für ihn entschieden, doch es wurde nichts daraus. Wegen irgendeiner Verfehlung darf er wohl keine Beichte abnehmen. Ihm wurde eine Strafe auferlegt: Man hat ihm verboten, das Kreuz zu tragen, und ihn aus seiner Gemeinde bei Moskau für ein Jahr ins Kloster abkommandiert.„Ich bin hier sozusagen im Außendienst. Gott sei Dank hat das bald ein Ende“, sagt der Priester und zeigt mir ein Foto seines Lieblingshundes – einer französischen Bulldogge.

    VI. Die Abreise

    Heute habe ich Dienst beim Zentraltor und stehe darum noch früher auf: Das Tor muss geöffnet werden, bevor der Gottesdienst beginnt. Die massiven Türen krachen gegen die Mauer. Ich werde den ganzen Tag hier verbringen, und ich werde Müll aufsammeln, am Buffet helfen, aufpassen, dass keine Bettler aufs Gelände kommen.

    Zu meinem Dienstbeginn trifft Ljocha wieder im Kloster ein. Bevor er die Kirche betritt, bekreuzigt er sich und verneigt sich bis zur Erde. Ich frage, wie es gelaufen ist.

    „Beschissen ist es gelaufen. Meine Frau ist tot. Morgen ist die Beerdigung. Hast du vielleicht ne Zigarette?“

    Wir schlagen uns schweigend in die Büsche.

    Die Empfängnis-Kathedrale. Serjosha macht sich fertig zum Glockenläuten.
    Die Empfängnis-Kathedrale. Serjosha macht sich fertig zum Glockenläuten.

    „Ich habe keine Ahnung, was ich jetzt machen soll und was ich meiner Tochter sagen soll. Wo ist Mama, fragt sie. Mama ist weggefahren.“ Ljocha steckt sich die nächste Zigarette an und geht in die Hocke, damit er vom Glockenturm aus nicht gesehen wird.Nach dem Mittagessen nimmt Vater Gleb mich beiseite.

    „Was fällt dir ein, dich nicht an die Vorschriften zu halten? Man beschwert sich über dich. Du hast also sogar mit Armbinde noch geraucht.“

    Mich zu rechtfertigen oder aufzuklären, wer mich verpetzt hat, ist sinnlos. Ich verspreche, es nicht wieder zu tun. Der Batjuschka schimpft, er habe die Nase voll und sei drauf und dran, allesamt auf der Stelle fortzujagen.

    Nach dem Abendbrot und dem Gebet gehe ich das Außentor schließen. Das Klostergelände ist praktisch nicht beleuchtet, als Taschenlampe dient mir mein Smartphone.

    „Komm ja nicht wieder!“

    „Was schleichst du hier herum?“, fährt mich eine Stimme aus dem Dunkeln an.

    „Ich habe das Tor geschlossen, Vater Gleb. Und jetzt bin ich auf dem Weg zum Pilgertrakt.“

    „Du denkst wohl, du kannst mich zum Narren halten? Mir reicht´s jetzt. Morgen kannst du nach Hause fahren. Und komm ja nicht wieder!“

    Er verschwindet in der Finsternis. Ich widerspreche nicht, versuche mich nicht zu rechtfertigen, ich lege mich einfach schlafen. Am nächsten Morgen packe ich ganz in Ruhe meine Sachen.

    Am Ausgang begegne ich Vater Nifont. Als wir uns verabschieden, schaut er sich verstohlen um und zieht das große Kruzifix aus der Tasche, das man ihm untersagt hatte zu tragen.

    „Na dann, geh mit Gott. Auf Wiedersehen“, sagt er und segnet mich.

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  • „Serow? Hauptsache, da drinnen ist es warm“

    „Serow? Hauptsache, da drinnen ist es warm“

    Je länger die Schlange, desto besser – jedenfalls, wenn es um eine Kunstausstellung geht. Die Länge der Warteschlange ist ihr Erfolgsthermometer. In Moskau hat es höchste Werte gezeigt: Täglich standen dort Menschenmassen vor der Tretjakow-Galerie an; die Serow-Ausstellung, die von Anfang Oktober bis Ende Januar lief, zog fast eine halbe Million Menschen an. Das ist zwar noch kein Weltrekord (die Ausstellung des MoMA in Berlin 2004 hatte beispielsweise 1,2 Mio. Besucher), aber doch eine Landesbestleistung.

    Anlässlich des 150. Geburtstags des Künstlers wurden mehr als 100 Gemälde und 150 graphische Werke gezeigt, die überwiegende Mehrheit davon aus einer einzigen Gattung: dem Porträt. Gemalte Blicke zweier Zaren, zahlloser Fürsten, Fabrikanten und Künstler kreuzten sich mit den lebendigen der Besucher, der einfachen wie auch der prominenten: Eine Woche vor der offiziellen Schließung der Ausstellung war in Begleitung des Kulturministers auch Wladimir Putin zu Gast. Kaum wurde dies publik, wuchs die Schlange noch einmal gewaltig – das Ministerium für Katastrophenschutz musste eingeschaltet werden, um sie zu bändigen, die Russische Militärhistorische Gesellschaft und der Menschenrechtsrat beim Präsidenten.

    Moskau ist sonst nicht dafür bekannt, dass seine Bevölkerung in derart fanatischer Weise kunstsinnig wäre. Was trieb die Menschen auf einmal zu Serow, dem Hausporträtisten eines längst verschwundenen Adels und des ihn nachahmenden russischen Großbürgertums? Die Suche nach nationaler Identität? Sahen die Besucher in den Serow-Bildern nicht die Porträtierten, sondern das vorrevolutionäre Russland, nostalgisch verklärt? Oder lag der Grund für den Besucheransturm gar nicht in den ausgestellten Bildern, sondern in der Schlange selbst? In der Schlange sind alle Menschen gleich, sie verkörperte in der sowjetischen Welt laut dem Riten- und Alltagsforscher Konstantin Bogdanow die Idee der Gerechtigkeit. Grund genug, um stundenlang in der Kälte vor einer Porträtsammlung auszuharren?

    Wie dem auch sei: Die Serow-Schlange ist ein Phänomen. Sogar in das russische Internet hat sie sich in Form populärer Internet-Meme hineingeschlängelt. Für Takie Dela hatte sich Nina Nasarowa eingereiht und nicht nur gefroren.

    Ein Notarztwagen. Mehrere Rettungsfahrzeuge. Ein orangefarbenes Riesenzelt mit Heizkanonen. Vorbeieilende Leute in Uniformen des Katastrophenministeriums. Auf beiden Seiten des Platzes stehen gleich mehrere Feldküchen: An der einen gibt es starken, süßen Schwarztee aus großen Kübeln, deren Inhalt für bis zu 600 Personen reicht, an der anderen Dosenrindfleisch und Schwarzbrot. In der Mitte stehen die Leute in zwei Reihen Schlange: die lange führt zur Kasse, die zweite, halb so lange, ist für die, die ihre Eintrittskarten rechtzeitig online gekauft haben.

    „Innerhalb einer halben Stunde werden vor dem Museum 300 Kilogramm Buchweizengrütze verdrückt“ - Foto © Nina Nasarowa
    „Innerhalb einer halben Stunde werden vor dem Museum 300 Kilogramm Buchweizengrütze verdrückt“ – Foto © Nina Nasarowa

    Seit vergangener Woche erinnern die Nachrichten aus der Zweigstelle der Tretjakow-Galerie am Krymski Wal an Meldungen aus Krisengebieten.

    Besucher der Serow-Ausstellung haben die Tür des Galeriegebäudes aufgebrochen. Der Rat für Menschenrechte setzte sich für eine einmonatige Verlängerung der Ausstellung ein. Eine Verlängerung ist allerdings nicht möglich, aus Gründen, die nicht in der Macht des Museums liegen.

    Auch die Pressestelle der Galerie griff auf Formulierungen zurück, die eine Katastrophensituation beschreiben. Auf Facebook wandte sie sich an Besucherinnen und Besucher mit den Worten: „Ziehen Sie sich warm an, und bewahren Sie Ruhe.“

    „Ich zog in die Ausstellung wie in eine Schlacht. Schon am Vorabend habe ich mich vorbereitet und alles rausgesucht, was ich anziehen will. Darüber habe ich den Pelzmantel probiert, um zu schauen, ob ich da so noch reinpasse“, erzählt Marina Afanasjewna vergnügt. Sie arbeitet als Ingenieurin in einem Moskauer Wissenschaftszentrum. Sogar an die anderen hat sie gedacht und als Reserve ein flauschiges Wolltuch und eine Flasche Cognac mitgebracht.

    Der Cognac kam gerade recht: Am Samstag, den 23. Januar hatten die Leute vor ihr schon rund zwei Stunden auf die Öffnung des Museums gewartet – die ersten hatten sich schon gegen acht Uhr morgens eingefunden.

    „Serow – sehr famous. Sogar in China“

    Neben Marina Afanasjewna steht Wangding Chen, ein 19-jähriger Chinese, der an der Petersburger Kunstakademie studiert und sich auf Porträts und Landschaften spezialisiert. Er ist das erste Mal in Moskau und aus mangelnder Erfahrung ist er ohne Mütze und nur mit einem leichten Mantel hergekommen. Wangding Chen friert offensichtlich furchtbar, aber der Student will nicht aufgeben. „Serow – sehr famous“, erklärt er in gebrochenem Russisch, „sogar in China.“

    Mona-Lisa-Moment bei Serow - Foto © Nina Nasarowa
    Mona-Lisa-Moment bei Serow – Foto © Nina Nasarowa

    Die Serow-Ausstellung ist die meistbesuchte Ausstellung in der Geschichte Russlands und der UdSSR. Bereits 440.000 Menschen haben sie besucht. Die Garderobe in der Tretjakow-Galerie fasst mit 1200 Plätzen weit weniger. Außerdem muss aus Sicherheitsgründen ein Teil des Foyers unbedingt freigehalten werden, damit die Schlangen zur Kasse, Garderobe, dem Café und den Toiletten nicht durcheinander geraten, wie Lara Bobkowa erklärt, die Leiterin der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit des Museums.
    Wenn endlich wieder eine Gruppe von Menschen durch die metallene Absperrung hindurch darf, ertönt ab und zu ein lautes „Hurra!“ – so sieht in Filmen die Erstürmung einer Festung aus.

    Es ist nicht das erste Mal, dass am Krymski Wal eine Schlange steht. Wie sich eine andere Museumsmitarbeiterin erinnert, gab es bei der Ausstellung zu Isaak Lewitan sogar eine Schlägerei.

    Jeder beschuldigt vor allem sich selbst

    Nicht nur die Tretjakow-Galerie rühmt sich des Phänomens der langen Schlangen – auch das Staatliche Puschkin-Museum ist dafür bekannt, Besucheranstürme schlecht in den Griff zu bekommen. Die Leute in der Schlange erinnern sich noch, wie sie für Caravaggio anstanden („vier Stunden im Regen, und dann gab es da ganze neun Bilder“), für Picasso, Dalí, Turner, einem fällt sogar wieder ein, wie 2007 Modigliani nach Moskau kam. Man hört jedoch keinerlei Beschwerden über die Museen, jeder beschuldigt vor allem zuerst sich selbst: „wir Russen sind halt schlampig“, „ … machen immer alles auf den letzten Drücker …“

    Schon gegen 11 Uhr ist das orangefarbene Zelt, in dem Heizkanonen heiße Luft spenden, proppenvoll. An einer der Feldküchen ist gerade die mit Dosenrindfleisch vermischte Buchweizengrütze fertig geworden. Verteilt wird sie von Mitgliedern der Russischen Militärhistorischen Gesellschaft, die sich sonst eher mit der Errichtung von Denkmälern und der Organisation von Ausstellungen, Festivals und Jugendfreizeitlagern beschäftigt. Eines ihrer letzten Projekte im Rahmen der Woche der Importsubstitution in St. Petersburg war eine Diskussion über militärpatriotischen Tourismus.

    Die Feldküche wurde auf persönliche Anweisung des Vorsitzenden der Gesellschaft, Kulturminister Wladimir Medinski, aufgestellt. Als Dank hat man den Freiwilligen an der Essensausgabe versprochen, sie abends nach Schließung des Museums in die Ausstellung zu lassen.
    Die Gesellschaft ist auch mit historischen Rekonstruktionen beschäftigt. Wahrscheinlich ist deshalb für die Buchweizengrütze mit Dosenfleisch ein Mann verantwortlich, der eine NKWD-Uniform aus dem Jahr 1941 trägt. Die Initiative hat ausschließlich einen wohltätigen Zweck, erklärt er gelassen: „Die Leute bekommen alles kostenlos. Wir haben das alles mit unseren Ressourcen organisiert. Die Ausgaben sind nicht hoch, nicht der Rede wert.“

    Bald merkt die Schlange, dass es keine Toiletten gibt

    Die Grütze erfreut sich großer Beliebtheit. „Wenn ich nach Hause komme, mach ich mir das auch. Ich kaufe Dosenfleisch. Da könnten noch gebratene Zwiebeln dazu“, sagt Marina Afanasjewna.

    Innerhalb einer halben Stunde werden vor dem Museum 300 Kilogramm verdrückt. Wer zu spät kommt, kann sich noch mit Tee aufwärmen, der großzügig ausgeteilt wird, und bald merkt die Schlange, dass es keine Toilettenhäuschen gibt.

    Die Mitarbeiter des Katastrophenministeriums zucken mit den Schultern und raten dazu, den Wachmann am Mitarbeitereingang um Einlass zu bitten. In der Schlange wird geflüstert, dass man alternativ auch kurz ins Café Cervetti gehen kann.

    Wangding Chen lehnt die Buchweizengrütze mit Dosenfleisch rundweg ab und klagt, er sei ja selbst schuld: Er hat seinen Studentenausweis zu Hause vergessen, mit dem man ihn als Kunststudenten kostenlos und ohne Anstehen in der Schlange reingelassen hätte. Seine sechs gewissenhafteren chinesischen Studienkollegen schauen sich nun gerade die Ausstellung an.

    „Wir sehen, dass er schon ganz blau wird“

    „Wir haben ihm ja gleich gesagt: Pack dich warm ein, sonst erfrierst du“, erzählt Marina Afanasjewna besorgt. „Nein, sagt er, nur mein Handy kann erfrieren. Er steht und steht und wir sehen, dass er schon ganz blau wird. Ich habe ihm meine Wollhandschuhe gegeben und dann haben wir ihn dazu gebracht, sich wenigstens einen Schal um den Kopf zu binden. So haben wir ihn gerettet!“ Wangding Chen lächelt erschöpft: „Ich bin den Leuten in dieser Schlange sehr dankbar, dass ich erfahren durfte, wie freundlich die russischen Menschen sind.“

    Für den Rummel um die Serow-Ausstellung gibt es inzwischen viele Erklärungen: das durchdachte kuratorische Konzept, das dem Mythos vom goldenen Zeitalter der russischen Geschichte zuarbeitet, die professionelle PR-Kampagne des Museums, Putins Ausstellungsbesuch und letztlich auch die Möglichkeit, seltene Werke sehen zu können.

    „Serow liebe ich, aber Menschen nicht so“

    Michail Lwowitsch, ein pensionierter Ingenieur, ist mit seinem Sohn aus Tula angereist. Um Serow sehen zu können, ist er um 7.20 Uhr in die Elektritschka nach Moskau gestiegen.

    „Als wir wegen Korowin hergefahren sind, waren nur wenig Leute da“, spinnt er gelassen die Plauderei mit einer älteren Dame neben ihm fort. „Ich habe leider kein Maschinengewehr, hätte ich eins, wären hier auch nur wenig Leute. Serow liebe ich, aber Menschen nicht so.“ „Da gebe ich ihnen recht“, lacht die gebildete, ältere Dame laut auf.

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    Bitte anstellen! Besucher vor der Tretjakow-Galerie

    Die Mehrheit der Leute in der Schlange erinnert sich nicht mehr an die seltenen Arbeiten Serows, sondern weiß einfach: „Ein Volkskünstler, den kannte ich schon als Kind.“

    Ein  „Volkskünstler“ ist er auch in einem anderen Sinn, der in der Schlange mehrmals genannt wird. Auf die Frage: „Was hat Sie dazu gebracht, bei solchen Temperaturen die Ausstellung zu besuchen?“ antwortet eine junge Frau kurz: „Ich liebe die Impressionisten.“

    Der Minister verspricht seine Hilfe

    In der Wahrnehmung der breiten Masse gilt Serow als Repräsentant des russischen Impressionismus, deren Vertreter inzwischen schon lange zu den wohl wichtigsten Volkskünstlern geworden sind.

    Eine andere junge Frau, die endlich an der ersehnten Tür angelangt ist, sagt frohlockend zu ihrem Freund: „Das nächste Mal würde ich nur noch für Monet so lange in der Kälte warten!“

    Um 16 Uhr gibt der Museumsdirektor eine Sondererklärung ab: „Nach kurzfristig einberufenen Versammlungen unseres Museums haben wir nun beschlossen, die Ausstellung zu verlängern.“

    Sechs Bilder aus ausländischen Sammlungen müssten zurückgegeben werden, die anderen dürften noch eine Woche länger am Krymski Wal hängen. Diesen Kompromiss habe man gemeinsam mit dem Kulturministerium gefunden und der Minister persönlich habe Hilfe versprochen.

    Die Schlange als Traum von der Zivilgesellschaft

    Die Schlange zu Serow verkörpert plötzlich den Traum von der Zivilgesellschaft, ein Simulacrum für Reformen: Angefangen vom Volksaufruhr und der aufgebrochenen Tür, über die angespannte Suche nach einer Lösung, bis hin zur Einbeziehung staatlicher Organe – all das diente dazu, etwas zu verändern, was bis dahin scheinbar nicht zu ändern war.

    Das Katastrophenministerium, das den Frierenden tapfer seine volle Unterstützung gewährte (im Zentrum von Moskau), das Kulturministerium, die gemeinnützigen Vereine, die zu Hilfe eilten, sogar die Presseabteilung des Museums, die sich als ein Vorbild an Flexibilität und Geduld erwies – sie alle arbeiteten so vorbildlich, dass man über der ganzen Hektik schnell vergessen kann: Eigentlich hat es gar keine echte Krisensituation gegeben.

    Das Quentchen Freiraum am Krymski Wal wurde zum Eingang in den Kaninchenbau, durch den die ganze Schlange zu Serow verschwand. Sie kam am anderen Ende wieder raus und fand sich in einem anderen Land wieder.

    „Er hat umsonst angestanden, schade“

    „Er hat es nicht mehr ausgehalten und ist gegangen“, seufzt Marina Afanasjewna über Wangding Chen. „Nein, ich kann nicht mehr, hat er gesagt, kann mich nicht mehr auf den Beinen halten vor lauter Kälte. Dabei hatte er es fast geschafft.“

    „Er hat umsonst angestanden, schade“, ruft jemand aus der Schlange.

    „Na, zumindest hat er was, woran er sich erinnern wird.“

    Dann schweigen alle einen Moment und schauen gespannt und erwartungsvoll durch die Glasscheiben in das geräumige Foyer der Galerie. In dem sieht es wie zum Spott gerade völlig leer aus. „Ach, der Serow“, sagt Michail Lwowitsch, „Hauptsache, da drinnen ist es warm.“

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