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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Oma geht auf Hecht

    Oma geht auf Hecht
    Foto © Takie Dela
    Foto © Takie Dela

    „Wenn du eine Frau mit zum Angeln nimmst, wirst du nichts fangen“ – Weisheiten dieser Art füllen in Russland beliebte Kalender für Angler. Eine andere lautet: „Trifft ein Mann auf dem Weg zum Angeln eine alte Frau, bringt das Unglück. Zeigt er ihr aber im Vorbeigehen den Finger und spricht einen Fluch, dann bringt das Glück.“ Und ein Aberglaube besagt, dass eine Frau nicht mit ihrem Mann streiten soll, wenn er zum Angeln geht – sonst ist es ihre Schuld, wenn er ertrinkt. 

    In Gegenden, in denen es kaum Arbeit gibt und die Renten nur für das Nötigste reichen, ist der Fischfang nach wie vor wichtig für den Nahrungserwerb. Dort fischen auch viele Frauen das ganze Jahr über. Nicht zum Vergnügen, sondern um zu überleben. Obwohl: zum Vergnügen schon auch. Takie Dela hat einige Dörfer in Karelien besucht, gleich an der Grenze zu Finnland, und ist dort mit Frauen zum Winterfischen gegangen. Wie sich herausstellte, waren sie alle Rentnerinnen. Und fast alle waren Witwen. Gemeinsam war ihnen die Überzeugung, dass der Fischfang sie rettet – jede auf ihre eigene Weise. 

    In vielen karelischen Häusern hängt ein getrockneter Hecht-Schädel über dem Eingang in die Wohnstube. Sein Maul ist mit hunderten Zähnen besetzt, die sich nach innen biegen. Der Volksglaube besagt: Wenn ein Gast mit bösen Absichten kommt, dann schluckt der Hecht das Böse und lässt es nicht wieder heraus / Foto © Takie Dela 

    Einen Zander zu fangen ist erhabener und süßer als die Liebe. 

    Аnton Tschechow 

    Antonina Karlowa im Dorf Woknawolok 

    Durch das Fenster ihres kleinen Hauses sieht Antonina Karlowa direkt auf den See Werchneje Kuito. Früher ist sie regelmäßig mit ihrem Mann zum Fischen gegangen. Als er starb, hatte gerade die Laichzeit begonnen. „Ich habe das Boot und einen Motor, ich habe die Netze, ich kenne die guten Plätze“, dachte Antonina. „Ich werde doch jetzt keinen Fisch kaufen!“ / Foto © TakieDela 
    Ein Webstuhl für Fischernetze. Die Schlaufen werden größer oder enger geknüpft – je nach dem, welche Fische man fangen möchte. Seit Jahrhunderten ernähren sich die Menschen hier von der Fischerei, sammeln Pilze und Beeren. Einige gehen auch auf die Jagd. Von dem Geld, das sie mit dem Verkauf von Moltebeeren, Moosbeeren, Preiselbeeren und Heidelbeeren verdienen, reparieren sie ihre Häuser und kaufen das Nötigste / Foto © Takie Dela 
    Antonina Karlowa und ihr Enkel Miron haben Löcher in das dicke Eis gebohrt. Jetzt warten sie auf den ersten Biss. In Woknawolok fischen alle von klein auf bis ins hohe Alter. Je nach Jahreszeit mit Schleppangeln, mit der Grundangel, mit Reusen oder Netzen. Mehr als alle anderen angeln Rentner und Rentnerinnen. Wer arbeiten muss und Kinder hat, hat keine Zeit, am Wasser zu sitzen. Mit dem Alter kommt die Freiheit / Foto © Takie Dela 
    In dem feinen Sieb wird der Rogen der kleinen Maräne gewaschen. „Zur Laichzeit hat mein Mann früher immer Urlaub genommen“, erinnert sich Antonina. „Er steuerte das Boot, und ich habe zuhause mit Freundinnen die Fische ausgenommen und konserviert – in Öl, in Tomatensoße, viel haben wir auch eingefroren. Das hat uns für den ganzen Winter gereicht.“ / Foto © Takie Dela 
     

    Als ihr Mann vor zwölf Jahren starb, traute Antonina sich zunächst nicht, allein mit dem Boot auf den See hinaus zu fahren. Also fragte sie ihre Nachbarin Galja, ob sie mitkommt. Nach dem ersten Mal hatten sie’s raus und die beiden wurden dicke Freundinnen. „Als im Frühling die Maränen kamen, sind wir rausgefahren und haben unsere Netze aufgestellt“, erinnert sich Antonina. „Ringsum waren Männer in ihren Booten unterwegs, und mittendrin wir zwei Frauen. Die Männer haben ihre Mützen geschwenkt und uns zugewunken.“ Spott habe sie nie gehört. In ihrem Dorf haben alle Respekt vor den Fischerinnen. 

    Vor einem Jahr hatte ihre Freundin einen Schlaganfall. Seitdem fischt Antonina allein. „Wir haben immer viel gelacht mit Galja, das Angeln hat uns so viel Spaß gemacht“, erzählt sie. „Wenn wir um sieben Uhr früh zusammen rausgefahren sind, die Sonne aufging und der Kuckuck rief. Herrlich! Dann haben wir die Ruder aus dem Wasser gezogen, inngehalten und gelauscht.“ 

    Heute findet Antonina nur noch selten eine Begleitung: „Kaum jemand mag mit mir Angeln gehen, weil man mich dann nur schwer wieder nach Hause kriegt. Wenn ein Fisch an meinem Köder spielt, kann ich bis zum Abend auf dem Eis sitzen“, sagt sie. Die Kälte macht ihr nichts aus: Mehrere Schichten Kleidung und eine Kiste mit einem Fell zum Sitzen, damit kann sie es stundenlang aushalten. „Nur die Eislöcher kann ich nicht mehr selbst bohren, meine Hand schmerzt. Also bitte ich meinen Nachbarn, der hilft gern.“

    In einem Bastkorb wird Trockenfisch aufbewahrt. Im Nordwesten Russlands trocknen viele ihren Fisch noch zuhause im russischen Ofen, der gleichzeitig Herd ist und die Stube heizt. Antonina schickt ihren Fang ihren Kindern, die in der Stadt wohnen. Die Katzen in der Nachbarschaft bekommen auch was ab. Sie sei zufrieden mit ihrem Leben, sagt sie. Langeweile kennt sie nicht. Sie singt im Chor, sie besucht den Karelisch-Kurs im Kulturhaus, sie strickt und stickt, und im Sommer hat sie ihren Garten mit dem Gewächshaus und den Wald mit Pilzen und Beeren. Und natürlich den See mit den Fischen / Foto © Takie Dela 

    Nadeshda Kirillowa, Woknawolok 

    Nadeshda Kirillowa zieht vier Paar Strümpfe übereinander, bevor sie an den See geht. Oft verbringt sie dort den ganzen Tag. Die 76-Jährige hat in Woknawolok den Ruf, die eifrigste Anglerin des Dorfes zu sein / Foto © Takie Dela 
    Barsche und Rotaugen lieben Maden. Nadeshda hat für sie immer einen kleinen Vorrat davon zuhause in ihrem Kühlschrank / Foto © TakieDela 
    Mit einem selbstgebauten Schlitten fährt Nadeshda zu ihrem Angelplatz. Ihr Hund Milli begleitet sie. Ihr Mann lebt nicht mehr. Er war ein starker Trinker. Vor fünf Jahren ist er eines Morgens nicht mehr aufgewacht. Es war Nadeshdas Geburtstag. „Ich habe ihm immer wieder gesagt: ‚Witja, hör auf mit dem Trinken, du sollst am Leben bleiben“, erzählt sie mit leiser Stimme. „Zuerst habe ich ihn geliebt, dann tat er mir leid. Als wir ihn beerdigt hatten, dachte ich: ‚Jetzt gehe ich erstmal angeln‘.“ / Foto © Takie Dela 
    Ungeduldig springt Milli herum, während Nadeshda ein Loch ins Eis bohrt. Sie will keinen neuen Mann: „Ich habe schon zwei Männer, meine Söhne. Und im Dorf gibt es niemanden, der mir gefällt. Worüber soll ich mit denen denn reden? Ich habe mich ans Alleinsein gewöhnt.“ / Foto © Takie Dela
    Der Schlitten dient beim Angeln als Sitz. Der erste Barsch passt leicht in einen Fußstapfen von Nadeshdas Winterschuhen. Für sie ist die Fischerei beides – Nahrungserwerb und Vergnügen. „Ich muss mit meiner Rente auskommen, und die Fische ernährt mich. Mal salze ich welche ein, mal koche ich eine Suppe, mal mache ich eine Pastete. Am meisten mag ich gebratene Barsche und Fischfrikadellen. Für den Hund koche ich Getreidebrei mit Fisch. Und dann habe ich ja noch den Gemüsegarten, Hunger leiden müssen wir nicht.“ / Foto © Takie Dela 
    Zwei Jacken, zwei Pullover, eine Strickjacke, eine warme Weste, drei Hosen und vier Paar Socken – dick eingepackt wie eine Zwiebel kann Nadeshda den ganzen Tag auf dem Eis verbringen, ohne zu frieren. „Meine Großmutter hat auch viel geangelt“, erzählt Nadeshda. „Sie hat elf Kinder geboren, fünf haben überlebt, und es war schon nicht leicht, die durchzufüttern. Damals haben alle Frauen hier gefischt. Die Männer hatten anderes zu tun, die haben sich um die Ernte gekümmert, Holz gehackt. Unsere Großmütter haben gefischt, um zu überleben. Als ich klein war, standen im ganzen Haus Fässer: Im einen Barsche, im andern eingesalzene Rotaugen. Viele haben wir auch getrocknet. Nachdem mein Vater starb, habe ich die Netze zusammen mit meiner Mutter aufgestellt.“ / Foto © Takie Dela 
    Die besten Tage seien die, an denen ihre Söhne nicht trinken, sagt Nadeshda. Sie macht sich Sorgen, wenn sie nicht nach Hause kommen. Dann lässt sie die Tür geöffnet, wenn sie ins Bett geht, liegt wach, versucht, sie am Telefon zu erreichen. Allein mit der Angel auf dem See kommt sie zur Ruhe: „Im Winter, wenn ringsum alles weiß ist und still. Herrlich!“ Noch lieber mag sie den Sommer, da kann sie sich noch länger in die Einsamkeit zurückziehen. Manchmal mag sie gar nicht heimgehen, erzählt die 76-Jährige, dann übernachtet sie in ihrem Boot: „Ich schlafe wenig. Ich sitze einfach da, trinke Tee und schaue in die Sterne.“ / Foto © Takie Dela 

    Olga Pekschujewa, Woknawolok 

    Olga Pekschujewa unterrichtet seit 36 Jahren Mathematik und Physik an der Dorfschule. Neuerdings leitet sie auch einen Schachkurs und gibt Sportunterricht. Im Winter fährt sie auf Skiern zu ihren Angelplätzen. Sie hat ihre Söhne und einige Schüler mit ihrer Leidenschaft angesteckt. Zusammen nehmen sie an Angelwettbewerben in der Umgebung teil / Foto © Takie Dela 
    Auf Olgas Esstisch steht ein Teller mit gekochtem Fisch. Ihre Begeisterung für die Fischerei hat sie von ihrem Mann. „Er war Karelier, und die Karelier sind alle Fischer“. Vor zwei Jahren ist er gestorben, mit gerade 55 Jahren. „Krebs, und getrunken hat er auch“, sagt Olga. Seitdem geht sie mit ihren beiden erwachsenen Söhnen fischen / Foto © Takie Dela 
    Beim Eisangeln trägt Olga oft die Dienstjacke ihres verstorbenen Mannes. Er war beim Katastrophenschutz. Die beiden hatten vier Kinder zusammen. Die beiden Töchter haben geheiratet und sind weggezogen. Ihre Söhne Roma, 26, und Pascha, 17, leben noch zuhause. Sie machen oft gemeinsam Ausflüge, schnallen sich Jagdskier unter und wandern durch den Wald zu einem See. „Ich liebe solche Wanderungen“, sagt Olga: „Lagerfeuer, ein Kessel mit Tee.“ Für sie ist Angeln vor allem ein Vergnügen und ein Mittel, um mit ihren Kindern und Schülern in Kontakt zu bleiben / Foto © Takie Dela 

     

    Olgas jüngster Sohn Pascha und zwei ihrer Schüler ziehen mit dem Eisbohrer los. Im Winter wird der Fang an Land sofort tiefgefroren und bleibt schön frisch / Foto © TakieDela 

     

    Ljubow Filippowa, Siedlung Wedlosero 

    Eine Holzskulptur am Ufer des Sees in Wedlosero. Die Siedlung liegt im Zentrum von Karelien / Foto © Takie Dela 
    Ljubow Filippowa sitzt mit ihrem Vater an einem Eisloch und wartet auf einen Biss. Er hat sie schon mit zum Angeln genommen, als sie noch ein kleines Mädchen war. Dann heiratete sie, begann zu arbeiten und bekam Kinder – und für das Angeln war kaum noch Zeit. Vor kurzem hat sie ihre Stelle bei der Gebietsverwaltung gekündigt. Jetzt zieht sie auch manchmal alleine los / Foto © Takie Dela 
    Die Angel, die sich ihr Vater als Kind selbst gebastelt hat, benutzt er heute noch. Früher sei sie der Ansicht gewesen, Angeln sei nur etwas für Männer, sagt Ljubow Filippowa. Seit sie allein angelt, hat sie ihre Meinung geändert. Obwohl – ein paar Besonderheiten gibt es schon: Die Eislöcher bohrt immer noch ihr Vater für sie. Und wenn sie mal muss, während sie da mitten auf der weiten Eisfläche des Sees sitzt, hat sie ein Problem. Die meisten Männer gehen dann allerdings auch ans Ufer. Ein Aberglaube besagt, dass es Unglück bringt, aufs Eis zu pinkeln / Foto © Takie Dela 

     

    Ein anderer Aberglaube besagt, dass man auf dem See nicht fluchen und sich nicht über einen schlechten Fang beklagen darf. Wenn der erste Fang der Saison ein Erfolg war, haben die Karelier früher am Ufer eine Suppe daraus gekocht und sie für den Herren des Wassers zurückgelassen. Davon versprachen sie sich Petri Heil für die ganze Saison.  
    Ljubow Filippowa hält nichts von solchen Volksweisheiten und auch nichts von Anglerkalendern, in denen die günstigen Tage markiert sind. Wenn sie Lust hat, geht sie angeln. Wenn nicht, bleibt sie zuhause / Foto © Takie Dela 
    Nacht über dem See von Wedlosero. An einem Eisloch brennt noch Licht / Foto © Takie Dela 

    Valentina Moissejewa, Tschornaja Lamba 

    Valentina Moissejewa prüft eine Reuse. Die 64-Jährige lebt mit ihrem Mann, einem Sohn und zwei kleinen Enkelkindern in dem kleinen Dorf Tschornaja Lamba. Hier gibt es noch nicht einmal richtige Straßen. Dafür liegt das Dorf zwischen zwei Seen / Foto © Takie Dela  
    Auf dem Weg zum See. Valentinas Sohn steuert den Motorschlitten. Valentinas Mutter war in einer Kolchose für die Aufzucht der Kälbchen verantwortlich. Von frühester Kindheit an half Valentina mit: molk die Kühe, gab den Kälbchen die Flasche. Manchmal stand sie vor der Schule um fünf Uhr früh im Stall. Wenn sie mal einen freien Tag hatten, nahm die Mutter sie mit zum Angeln / Foto © Takie Dela 
    Valentina prüft ihre Grundangel. Buran wartet ungeduldig auf den ersten Fang / Foto © Takie Dela 
    Beim Angeln findet Valentina Frieden. Sie hat einige Schicksalsschläge hinter sich. Ihr erster Mann trank. Als der älteste Sohn zehn Jahre alt war, erhängte sich der Vater im Suff. „Ich blieb allein zurück mit drei Kindern“, erinnert sie sich. „Von meinem Lohn und der Hinterbliebenenrente konnten wir kaum leben.“ Da begann sie mit dem Fischen. „Das hat uns Freude gemacht und danach haben wir alle zusammen unseren Fang gegessen.“ / Foto © Takie Dela 
    Das Warten hat sich gelohnt. Den ersten Fang bekommt Buran. Ihren Teil der Beute nimmt Valentina mit nach Hause. Die kleinen Rotfedern legt sie im Ganzen ein mit Öl, Salz und Gewürzen: „Die musst du nicht einmal putzen. Die garst du sechs Stunden auf dem Herd oder im Ofen, danach schmelzen sie im Mund, sogar mit Gräten.“ / Foto © Takie Dela 
    Auch der Kater Luntik begleitet Valentina gern beim Angeln. Früher ging sie gemeinsam mit ihren zweiten Ehemann fischen. Seit der sich das Bein verletzt hat, sind Buran und Luntik ihre einzigen Begleiter / Foto © Takie Dela 
    Valentina nennt den Kater im Scherz die „Fischereiaufsicht“. Die Kiste mit den Angelsachen ist auch Zuhause sein Lieblingsplatz. Draußen auf dem See streicht er Valentina um die Beine und linst ins Eisloch, ob sich da was tut. Im Sommer steigt er zu ihr ins Boot und wartet dann dort, bis ein Fisch am Haken hereingeflogen kommt / Foto © Takie Dela 
    Nikita und Veronika toben sich nach dem Kindergarten auf dem Sofa aus. Valentina hat ihre Enkel vor drei Jahren zu sich genommen. Das Amt hatte ihrer Mutter – Valentinas Schwiegertochter – das Sorgerecht entzogen, und ihr Sohn kam alleine mit zwei kleinen Kindern nicht zurecht. So wurde die Großmutter noch einmal Mutter / Foto © Takie Dela 
    Einen typischen Tag beschreibt Valentina so: „Um fünf Uhr stehe ich auf. Ich heize den Ofen ein, mache Frühstück und gucke kurz ins Internet. Dann bringe ich die Kinder in den Kindergarten und gehe fischen. Da kann ich mich entspannen. Wenn ich heimkomme, nehme ich die Fische aus und putze sie. Dann wird gekocht. Wenn die Kinder aus dem Kindergarten kommen, machen wir Hausaufgaben oder spielen. Um zehn gehe ich ins Bett.“ / Foto © Takie Dela 

    Im Sommer hat Valentina sich einen Traum erfüllt: ein E-Bike. Sie hat lange darauf gespart. Sie sammelt Beeren im Wald und verkauft sie auf dem Markt. Das Rad ist eine Investition: So kommt sie schneller in den Wald an die guten Plätze, wo die Heidelbeeren wachsen.  

    Nikita und Veronika schauen aus dem Fenster ihres Hauses. Valentina hat ihnen schon gesagt: „Wenn ich einmal sterbe, legt mir eine Angel mit ins Grab.“ / Foto © Takie Dela 

    Irina Iwanowa und Galina Martynowa, Kinelachta 

    Irina Martynowa und ihre Mutter Galina Iwanowa breiten ein Netz aus. Der Fischfang hat der Familie geholfen, schwer Zeiten zu überstehen. Galinas Großvater – Irinas Urgroßvater – wurde im Großen Terror erschossen. Seine Frau blieb allein mit fünf Kindern zurück. Um sie satt zu kriegen, begann sie mit der Fischerei. Sie lernte, wie man Netze knüpft, den Zwirn dafür stellte sie aus Leinen selbst her. Früh am Morgen lief sie drei Kilometer zum See und stellte ihre Netze auf / Foto © Takie Dela 
    Auf der Fahrt über den Sinemuksa-See hat Irina Iwanowna ihren Mann und ihre Mutter im Schlepptau. Seit ihre Urgroßmutter aus der Not mit dem Fischen begann, wird die Tradition von Generation zu Generation weitergegeben / Foto © Takie Dela 
    Der Tag beginnt mit einem kleinen Barsch. Galinas Großmutter hat ihr beigebracht, wie man Fische fängt. Später hat sie gemeinsam mit ihrem Mann geangelt. Seit er gestorben ist, sitzt sie meistens allein am Wasser / Foto © Takie Dela 
    Kleine Fische machen auch satt – wenn man genug davon fängt. Früher hat Irina mit ihrer Mutter auch Reusen und Netze aufgestellt, wenn der See gefroren war. Das ist harte Arbeit. Heute wartet Galina meistens zuhause und übernimmt dann das Putzen und die Zubereitung des Fangs / Foto © Takie Dela 
    Zurück aus der Kälte. Galina Martynowa heizt den Samowar ein / Foto © Takie Dela 
    Als kleines Mädchen hat Galina gelernt, was Hunger bedeutet. Ihre Großmutter hat die Familie mit den Fischen durchgefüttert, die sie aus dem See gezogen hat. Der Hunger ist Vergangenheit, aber Galina hat immer einen Vorrat im Haus – getrocknet und in der Tiefkühltruhe / Foto © Takie Dela 
    Der Himmel über dem See / Foto © Takie Dela 
    Galina Martynowa blickt auf in die Sterne / Foto © Takie Dela 

     

    Text & Fotos: Takie Dela 
    Veröffentlicht am:  11.02.2025

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  • Trockene Dörfer

    Trockene Dörfer

    Jede vierte Straftat wird in Russland im alkoholisierten Zustand begangen. Um die Trunksucht zu bekämpfen, gehen die Behörden mit diversen Maßnahmen dagegen vor: In den meisten Regionen Russlands wird nachts und an Feiertagen kein Alkohol verkauft, sowie auch nicht in der Nähe von Schulen, medizinischen Einrichtungen und sportlichen Institutionen. In Jakutien (offiziell Republik Sacha) gibt es über 200 Dörfer, in denen grundsätzlich kein Alkohol verkauft wird. Nach Ansicht der Beamten hat sich seit diesem Verbot die Anzahl der Straftaten in der Region verringert, und das Straßenbild ohne Betrunkene hat einen positiven Einfluss auf die Jugend. Takie dela hat zwölf jakutische Dörfer besucht und sich ein Bild davon gemacht, wie die Bevölkerung das findet und wie effektiv diese Methode im Kampf gegen Alkoholismus ist.  

    Von der Ladefläche eines Kleintransporters werden Bier und Sekt verkauft / Foto © Takie Dela
    Von der Ladefläche eines Kleintransporters werden Bier und Sekt verkauft / Foto © Takie Dela

    „Uns ist gerade nicht nach Trinken.“ 

    Das Dorf Bulgunnjachtach liegt 120 Kilometer südlich von Jakutsk. Zwischen den bunten Holzhäusern sticht ein massives zweistöckiges Gebäude heraus, das mit blassgelben Wandfliesen getäfelt ist. Am Eingang hängt ein Spruchband: „Noruon norguj“ (jakutisch für „Herzlich Willkommen“). Das ist das Kulturhaus des Dorfes, wo es jetzt, an einem Dienstagnachmittag, ruhig zugeht. Nur von irgendwo aus dem oberen Stockwerk sind Geräusche zu hören. Als wir hochgehen, finden wir in einem kleinen Raum fünf Frauen vor, die konzentriert bei der Arbeit sind. 

    Das Dorf Bulgunnjachtach im Verwaltungsbezirk Changalassk / Foto © Takie Dela
    Das Dorf Bulgunnjachtach im Verwaltungsbezirk Changalassk / Foto © Takie Dela

     

    Ich grüße kurz und falle gleich mit der Tür ins Haus: 

    „Stimmt es, dass in Ihrem Dorf kein Alkohol verkauft wird?“ 

    Die Frauen drehen sich überrascht nach mir um, dann nicken sie zustimmend. 

    „Und trinken die Leute hier jetzt wirklich weniger?“ 

    „Das kann man wohl sagen!“, antworten sie fast im Chor.  

    „Früher konnte man überall Alkohol kaufen“, erklärt eine von ihnen. „Aber jetzt – keine Chance. Und dann beschäftigt man sich halt anders. Wenn von außen der Riegel vorgeschoben wird, hilft das natürlich.“ 

    Im Hintergrund sirrt ein elektrischer Rollschneider: Eine Frau, die grünen Stoff in lauter gleiche Streifen schneidet, lässt sich nicht von mir stören. Auch die anderen arbeiten weiter, während sie mit mir sprechen: Aus diesen Streifen knüpfen sie Tarnnetze für die Front. Es ist bereits das zweite Jahr, erzählen sie, dass mehrere engagierte Leute aus dem Dorf sich täglich dieser Arbeit widmen: 

    „Uns ist gerade nicht nach Trinken.“

    Bewohnerinnen des Dorfs Bulgunnjachtach flechten Tarnnetze / Foto © Takie Dela
    Bewohnerinnen des Dorfs Bulgunnjachtach flechten Tarnnetze / Foto © Takie Dela

    In Bulgunnjachtach leben mehr als 1600 Menschen, doch die Straßen sind leer. Es gibt mehrere Schulen, ein paar Kindergärten, eine Sporthalle, eine Bibliothek, ein Kulturzentrum und Campingplätze für Touristen. Die Ortschaft ist der Ausgangspunkt für Exkursionen zu einer der wichtigsten Sehenswürdigkeiten Jakutiens, den Lena-Säulen. Auf einem kleinen Fußballfeld kicken zwei Jungs einen Ball hin und her. Als wir sie ansprechen, erzählen sie uns, sie könnten sich nicht daran erinnern, dass im Dorfladen jemals Alkohol verkauft worden wäre.         

    Offiziell wird in Bulgunnjachtach seit 2016 kein Alkohol mehr verkauft. Laut der Gemeindevorsteherin (die entsprechende Verwaltungseinheit heißt in Jakutien nasleg) Ajtalina Wassiljewa war entscheidend, dass die Unternehmer bereit waren, sich darauf einzulassen und „auf diese Einnahmequelle zu verzichtet“. „Ohne deren Zustimmung wäre gar nichts passiert.“ Doch sie räumt auch ein, dass es anfangs nicht leicht war. Zwar war der Großteil der Bevölkerung für das Verbot, aber ganz ohne „Aufklärungsarbeit“ sei es auch nicht gegangen. Um den Leuten Alternativen zu bieten, wurden etliche Veranstaltungen organisiert. Experten auf verschiedenen Fachgebieten reisten aus der Stadt an, um Kurse abzuhalten. So seien nach einem Nordic-Walking-Workshop 80 Personen bei diesem Sport geblieben und marschierten regelmäßig durch die Gegend.

    Elfmeterschießen auf dem Sportplatz von Bulgunnjachtach / Foto © Takie Dela
    Elfmeterschießen auf dem Sportplatz von Bulgunnjachtach / Foto © Takie Dela

    „Na, und überhaupt, bei uns gibt es Kinofilme, Zeichentrickfilme …“, zählt Tatjana Jefremowa auf, die Direktorin des Kulturzentrums, „einen Chor, unsere bildenden Künstler, Ethnofitness …“ 

    Das glaubt man gerne: Mit meinem Besuch bin ich mitten in eine Sitzung geplatzt, in der gerade das nächste Fest geplant wurde. 

    „Als ich klein war, gab es hier viele Säufer, die betrunken rund vor den Einkaufsläden saßen“, erinnert sich Ajtalina Wassiljewa. „Heute trinkt keiner mehr in der Öffentlichkeit. Da wird die heranwachsende Generation ganz anders geprägt. Wenn da mal einer ein wenig herumtorkelt, sind sie schon peinlich berührt, fragen sich: Wie kann man nur?“ 

    Aber wie heißt es so schön? Wer sucht, der findet.

    Die Ortsverwaltung von Bulgunnjachtach tagt / Foto © Takie Dela
    Die Ortsverwaltung von Bulgunnjachtach tagt / Foto © Takie Dela

    Wer etwas trinken will, muss 15 Kilometer Richtung Jakutsk fahren, in das nächste Dorf Bestjach, oder noch weiter nach Mochsogolloch. Dort ist der Verkauf von Alkohol nicht verboten. Wer ein Auto hat, zahlt nur fürs Benzin, aber ein Taxi kostet je nach Tageszeit 300 bis 400 Rubel [ca. 3 – 4 Euro – dek.] pro Richtung. So ist eine Flasche Wodka am Ende dreimal so teuer. Und für die Landbevölkerung ist das ein empfindlicher Aufpreis.  

    „So lebt das Nachbardorf auf unsere Kosten“, sagt Ajtalina Wassiljewa. „Wir haben mit den Taxifahrern vereinbart, dass sie keine Alkohol-Lieferungen machen. Aber wenn sich einer ein Taxi ruft und damit Wodka holen fährt, dann können wir das nicht verbieten. Es gibt ein Kontingent von Leuten, die wollen, können und werden auch trinken. Ungeachtet der Verbote – und wenn sie nach Afrika müssen, um Schnaps zu kaufen. Aber das sind nicht viele, die kann man an einer Hand abzählen.“  

    Das Dorf Bulgunnjachtach liegt an der Lena. Sie entspringt im Baikalgebirge und windet sich über 4300 Kilometer durch Sibirien bis zu ihrer Mündung in der Laptewsee / Foto © Takie Dela
    Das Dorf Bulgunnjachtach liegt an der Lena. Sie entspringt im Baikalgebirge und windet sich über 4300 Kilometer durch Sibirien bis zu ihrer Mündung in der Laptewsee / Foto © Takie Dela

     

    Meist seien das Leute ohne Familie und ohne Arbeit, sagt sie. Alkoholismus ist zwar kein billiges „Vergnügen“, doch auch da finden sich Wege. Wassiljewa erzählt, dass die Säufer im Dorf ihre Türen für alle öffnen würden, die zum Trinken kommen wollen, und der Wodka sei dabei eine Art Eintrittskarte. Im Volksmund heißen solche Häuser chata (dt. Bude). 

    „Dagegen können wir offiziell nichts tun, das ist ihr Privateigentum“, sagt sie. „Deshalb versuchen wir, bei denen anzusetzen, die dort hingehen. Das sind Quartalssäufer oder solche, die sich tagelang systematisch die Kante geben. Die haben Familien zu Hause, Ehefrauen, da gehen sie eben lieber in eine chata.“      

    Ajtalina Wassiljewa ist erst 28 Jahre alt. Sie ist klein und wirkt eher zierlich. Aber das scheint nur so. Im Laufe des Gesprächs bekomme ich immer mehr den Eindruck, dass sie eine Frau ist, die auch mal mit der Faust auf den Tisch haut und, wie es bei Nekrassow heißt, imstande ist, ein Pferd im Galopp aufzuhalten. Hier ist das keine leere Phrase, sondern Realität: Pferde und Kühe sieht man hier überall, auf den Wiesen und auf den Straßen, sie gehören fast zu jedem Haushalt.       

    „Wenn ein Mann in die chata geht, ruft mich seine Frau an, und wir fahren gemeinsam hin und holen ihn raus“, erzählt Ajtalina. „Wir bringen ihn nach Hause, damit er sich ausschläft. Gleich am nächsten Morgen komme ich, packe ihn am Schlafittchen und fahre mit ihm und seiner Frau zum Amtshaus, da wird mal geredet. Da ist er noch beduselt, sagt zu allem ja – der beste Moment, um ihm Vernunft einzutrichtern. Sonst fängt er noch an, sich zu sträuben. Wir erklären ihm, was er jedes Mal riskiert, wenn er da hingeht: Es kann ja weiß Gott was passieren, und keiner kann ihm helfen. Wir fragen ihn: Wieso trinkst du, was fehlt dir? Und dann überlegen wir, was wir weiter tun können.“ 

    Der Dorfladen von Bulgunnjachtach verkauft alles – von Mehrfachsteckdosen über Gartenhandschuhe bis zu Plastikbällen. Nur keinen Alkohol / Foto © Takie Dela
    Der Dorfladen von Bulgunnjachtach verkauft alles – von Mehrfachsteckdosen über Gartenhandschuhe bis zu Plastikbällen. Nur keinen Alkohol / Foto © Takie Dela

    Der „emotionale“ Alkoholismus, sagt sie, sei in Bulgunnjachtach so gut wie verschwunden. Ob Streit mit der Frau oder, im Gegenteil, Anlass zum Feiern – da geht keiner mehr in den Laden an der Ecke, um das Ereignis zu begießen oder seinen Frust zu betäuben. „Ja, und dann beruhigen sie sich wieder, die Aufregung legt sich“, sagt Wassiljewa. 

    Es gebe aber auch Ausnahmesituationen, die die Leute aus der Bahn werfen würden: „Während der Corona-Pandemie waren es schon mehr, die getrunken haben. Auch, als diese großen Brände waren, und seit der Spezialoperation sowieso … Das sind natürlich alles sehr herausfordernde Situationen.“ 

    „Zu Beginn der Kampfhandlungen in der Ukraine verabschiedeten sich alle voneinander: ‚Ich muss wohl, ich bin ja Reserveoffizier‘“, erinnert sich Tatjana Jefremowa. „Als es dann hieß, es werde keine weitere Mobilmachung geben, da haben sich alle wieder entspannt. Im ersten Halbjahr waren natürlich alle ganz aufgekratzt.“

    Auf der Freilichtbühne von Bulgunnjachtach findet heute keine Vorstellung statt / Foto © Takie Dela
    Auf der Freilichtbühne von Bulgunnjachtach findet heute keine Vorstellung statt / Foto © Takie Dela

    „Jetzt kommen die zurück, die vom Militärdienst entlassen werden oder einfach Urlaub haben“, erzählt die Gemeindevorsteherin. „Noch nie ist es bei uns vorgekommen, dass sich einer schlecht benommen hätte. Wenn einer heimkommt, wird natürlich darauf angestoßen, aber das ist nie länger als ein Tag. Es gibt einen einzigen Mann, der das nicht im Griff hat, aber der ist alleinstehend. Familie und Arbeit sind eben doch die wichtigsten Stützpfeiler.“ 

    Gegen Ende unseres Gesprächs fügt Ajtalina Wassiljewa hinzu: „Wenn man das Dorf vor zwanzig Jahren mit heute vergleicht, dann ist das wie Tag und Nacht. Was ich Ihnen von unseren Problemen erzähle, betrifft nur drei oder vier Familien. Die kennen wir und wir haben ein Auge auf sie. Aber früher wurde bei uns durch die Bank gesoffen, das war Alltag.“ 

    Wie man in Russland und speziell in Jakutien trinkt 

    In der Russischen Föderation gibt es ein Gesetz, das es den Regionen überlässt, den Verkauf von Alkohol zu beschränken. Ausgenommen sind Gastronomiebetriebe. In Jakutien ist es beispielsweise verboten, Alkohol zwischen 20:00 und 14:00 Uhr des nächsten Tages oder in Geschäften zu verkaufen, die sich in Wohnhäusern befinden. 2015 beschlossen die regionalen Behörden, noch weiter zu gehen und so genannte „trockene“ Dörfer einzurichten – Orte, in denen überhaupt kein Alkohol verkauft wird. Heute gilt das für etwa jedes dritte der 600 Dörfer.   

    Eine genaue Statistik zu Alkoholismus in der Bevölkerung gibt es in Russland nicht. Rosstat sammelt nur Daten zu jenen Patienten, die mit dieser Diagnose erstmals in stationäre Behandlung kommen. 2010 waren das 108 Personen pro 100.000 Einwohner, 2023 nur 37. In Jakutien sind die Zahlen höher: 2010 sind dort pro 100.000 Einwohner 290 Personen an Alkoholismus und Delirium tremens erkrankt, 2023 waren es 119. 

    Alexander Alexejew ist der Dorfvorsteher der Gemeinde Ulachan-Aan / Foto © Takie Dela
    Alexander Alexejew ist der Dorfvorsteher der Gemeinde Ulachan-Aan / Foto © Takie Dela

    Trotz der positiven Dynamik sind die realen Zahlen in den Regionen vermutlich deutlich höher. Das Amt für Hygiene und Epidemiologie in Jakutien betont in seinem Bericht: Die Diskrepanz zwischen den Daten und dem realen Bild sei dadurch zu erklären, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung, der Drogen oder Alkohol missbraucht, gar nicht in der Statistik auftauche. 

    Laut Rossalkogoltabakkontrol, der Föderalen Kontrollbehörde für Alkohol und Tabak, haben die Russen in den vergangenen Jahren mehr Alkohol gekauft. 2022 betrug die Menge der im Einzelhandel verkauften Spirituosen – ausgenommen Bier, Biermischgetränke, Cider und Honigwein – 22,04 Millionen Hektoliter und damit um 3,6 Prozent mehr als im Jahr davor. 2023 waren es dann schon 22,95 Millionen Hektoliter.

    Die Zahl der Verkehrsunfälle, bei denen Alkohol im Spiel war, liegt in der Region 28 Prozent über dem Durchschnitt / Foto © Takie Dela
    Die Zahl der Verkehrsunfälle, bei denen Alkohol im Spiel war, liegt in der Region 28 Prozent über dem Durchschnitt / Foto © Takie Dela

    In Jakutien gehen jährlich rund 120.000 Hektoliter alkoholische Getränke über die Ladentische. „Während das Handelsvolumen hochprozentiger Spirituosen in den vergangenen sechs Jahren praktisch gleich geblieben ist, ist der Verkauf von Bier und Biermischgetränken auf das 1,6-Fache gestiegen“, erklärte im Frühjahr 2024 der stellvertretende Regierungschef der Republik Georgi Stepanow. „Die Zahl der Verkehrsunfälle mit Alkohol am Steuer liegt in unserer Region 28 Prozent über dem russischen Durchschnitt. Auch die Sterblichkeit aufgrund von Alkoholmissbrauch ist um 29 Prozent höher.“ 

    Laut Auskunft des jakutischen Innenministeriums wurden 2021 in den „trockenen“ Dörfern 96 Straftaten in alkoholisiertem Zustand begangen, 2022 waren es 193 und 2023 immerhin 176. Meistens handelt es sich um vorsätzliche leichte oder mittlere Körperverletzung, Diebstahl und Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung.    

    „Wer trinkt, der findet seine Wege“ 

    Von Bulgunnjachtach sind es 15 Kilometer bis zum nächsten Dorf, in dem man Alkohol kaufen kann: Bestjach. An der Hauptstraße befindet sich ein Laden namens Sibirjatschka (dt. Sibirierin), wo man zwischen 14:00 und 20:00 Uhr Bier bekommt. Nur zwei Meter weiter gibt es eine Bar, da wird von zehn Uhr morgens bis zwei Uhr nachts Bier ausgeschenkt. Abgesehen von den Verkäuferinnen stört dieser Widerspruch keinen.         

    „Wir haben derzeit keinen Wodka, aber als wir ihn noch hatten, kamen sie praktisch jeden Tag (aus den Dörfern, in denen der Verkauf von Alkohol verboten ist – Anm. TD), aber nicht immer dieselben“, erzählt die Verkäuferin Natalja. „Es war nicht so, dass sie kistenweise eingekauft hätten. Wer was brauchte, ist gekommen und hat sich ein paar Flaschen geholt.“ 

    „Und wenn in Ihrem Dorf so ein Verbot verhängt würde?“ 

    „Ich halte das für Blödsinn“, winkt sie ab. „Ich trinke zwar selber nicht, aber wenn ich Gäste habe, brauche ich doch eine gute Flasche Wein oder Wodka. Soll ich dann deswegen ins nächste Dorf fahren? Außerdem, wer trinkt, der findet Mittel und Wege.“

    Die Bar von Bestach heißt offiziell „Herase“. Die Bewohner nennen sie nur die „Schänke“. Hier gibt es zwischen 10 Uhr früh und 2 Uhr nachts Bier / Foto © Takie Dela
    Die Bar von Bestach heißt offiziell „Herase“. Die Bewohner nennen sie nur die „Schänke“. Hier gibt es zwischen 10 Uhr früh und 2 Uhr nachts Bier / Foto © Takie Dela

    Hochprozentigen Alkohol bekommt man nur in einem Laden knapp einen Kilometer von hier entfernt. Doch der Mann, der gerade aus einem Taxi steigt, weiß das offenbar nicht. Er reißt die Autotür auf und torkelt in den Sibirjatschka. Ein paar Sekunden später ist er wieder raus und kriecht fast in die benachbarte Bar. Auch dort bleibt er erfolglos. Seine letzte Hoffnung ist der Einkaufsladen gegenüber, den er als nächstes ansteuert. Im Gegensatz zu ihm wissen wir bereits: Wein und Wodka gibt’s nur am anderen Ende von Bestjach.

    Die Auslage von Natalja Schukowas Laden in Bestach ist gut gefüllt mit Fertignudeln, Pflanzenöl und Fischkonserven / Foto © Takie Dela
    Die Auslage von Natalja Schukowas Laden in Bestach ist gut gefüllt mit Fertignudeln, Pflanzenöl und Fischkonserven / Foto © Takie Dela

    Fährt man noch ein paar Kilometer weiter, kommt man nach Mochsogolloch. In der sogenannten „Siedlung städtischen Typs“ gibt es eine Filiale einer Spirituosenhandelskette. Alla, die Verkaufsstellenleiterin, sagt, sie kenne persönlich einige Leute aus „trockenen“ Dörfern, die ständig bei ihr einkauften: „Nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Nachbarn, manchmal kommen sie scharenweise. Manche decken sich wöchentlich ein, andere sind nur selten da. Es gibt auch die, denen man schon von weitem ansieht, was sie kaufen wollen. Wenn in Mochsogolloch ein Verbot verhängt würde, das wäre der blanke Horror.“ Und: „Bei uns gibt’s ein paar richtige Alkis, aber die verhalten sich ruhig, und man kann auch nicht sagen, dass es viele wären. Eigentlich trinkt die ganze erwachsene Bevölkerung ab und zu Alkohol. Aber auch, wer jeden Tag ein bisschen trinkt, geht morgens zur Arbeit. Man weiß, wann’s genug ist, verhält sich anständig, wozu dann ein Verbot?“

     „Sehr geehrte Kunden!!! In der Zeit zwischen 20 Uhr und 14 Uhr werden keine alkoholhaltigen Getränke verkauft. Das gilt auch für die Fälle ‚aber wir kennen uns doch‘, ‚ich bin nicht von der Polizei‘, ‚niemand wird etwas erfahren‘, ‚packen Sie’s in eine Tüte‘, ‚ich habe hier schonmal welchen bekommen‘, ‚ich habe was zu feiern, ich habe Geburtstag usw.‘. Keine Diskussionen. Mach deiner Leber eine Überraschung – trink‘ Wasser.“ / Foto © Takie Dela
    „Sehr geehrte Kunden!!! In der Zeit zwischen 20 Uhr und 14 Uhr werden keine alkoholhaltigen Getränke verkauft. Das gilt auch für die Fälle ‚aber wir kennen uns doch‘, ‚ich bin nicht von der Polizei‘, ‚niemand wird etwas erfahren‘, ‚packen Sie’s in eine Tüte‘, ‚ich habe hier schonmal welchen bekommen‘, ‚ich habe was zu feiern, ich habe Geburtstag usw.‘. Keine Diskussionen. Mach deiner Leber eine Überraschung – trink‘ Wasser.“ / Foto © Takie Dela

    Fast alle hier arbeiten in der Zementfabrik, für die die Stadt einst gegründet wurde. „Alkoholismus als solchen gibt es bei uns fast keinen, man muss ja zur Arbeit“, sagt Alla. „In den Dörfern wird vielleicht deswegen mehr gesoffen, weil es keine Arbeit gibt und die Leute nichts zu tun haben. Die saufen aus Langeweile.“ 

    „Man muss das selbst entscheiden dürfen. Aber hier wurde für uns entschieden“ 

    In allen „trockenen“ Ortschaften ist unser erstes Ziel der Einkaufsladen.  

    Das Dorf Ymyjachtach liegt 60 Kilometer nördlich von Jakutsk, es zählt rund 1.200 Einwohner. Bei einer Volksbefragung 2018 sprachen sich über die Hälfte der volljährigen Dorfbewohner für ein Alkoholverbot aus. Daraufhin schränkte die Regionalverwaltung den Einzelhandel stark ein. 

    Der unscheinbare kleine Dorfladen liegt etwas versteckt im Dorfkern. Wir geben uns als gewöhnliche Kunden aus:  

    „Kann man hier bei Ihnen Alkohol kaufen?“, wollen wir von der Verkäuferin wissen. 

    „Was brauchen Sie denn?“, fragt sie etwas verunsichert. 

    Ich bin überrascht. Bisher bekamen wir in allen Dörfern, die wir besucht haben, das Mantra „Nein-schon-lange-nicht-mehr“ zu hören. 

    „Na, Bier zum Beispiel …“ 

    Die Frau geht langsam zum Kühlschrank, in dem mehrere Bierdosen stehen, und streckt uns eine entgegen.  

    „Aber das ist alkoholfrei, oder?“ 

    „Nein, das hat 4,5 Prozent“, erwidert sie unsicher. 

    Ich spüre, dass es mit dem Theaterspielen reicht, und erkläre, wer wir sind und was wir wollen. 

    „Aber ich vertrete hier bloß eine Bekannte“, rechtfertigt die Arme sich nervös. „Ich werde gleich abgeholt, wir machen ein Picknick …“

    Bei Ymyjachtach im Gebiet Namski hat das Vieh reichlich Auslauf / Foto © Takie Dela
    Bei Ymyjachtach im Gebiet Namski hat das Vieh reichlich Auslauf / Foto © Takie Dela

    Nach etwa zehn Minuten gibt sie zu, dass sie die Einschränkungen nicht so toll findet. „Im ganzen Dorf trinken zwei, drei Leute“, erklärt sie. „Das sind Alkoholiker, sie sind krank. Aber es gibt ja auch eine Trinkkultur. Wir sind zivilisierte Menschen, wir wollen auch mal Feste zusammen feiern, Freunde einladen. Und dann müssen wir meilenweit fahren, um etwas zu trinken zu kaufen. Wer soll einen fahren, wenn man kein eigenes Auto hat? Das kostet 300–350 Rubel [ca. drei Euro – dek.] in eine Richtung, nur um zum Laden zu kommen, das geht doch nicht. Das ist Diskriminierung. Die Leute müssen eine Wahl haben, aber hier wurde alles für uns entschieden.“ 

    Jelisaweta Wladimirowa begutachtet die Sträucher, die sie auf ihrem Grundstück in Ymyjachtach gepflanzt hat / Foto © Takie Dela
    Jelisaweta Wladimirowa begutachtet die Sträucher, die sie auf ihrem Grundstück in Ymyjachtach gepflanzt hat / Foto © Takie Dela

    Mit dieser Meinung ist sie in den „trockenen“ Dörfern allerdings in der Minderheit. 

    „Man sieht hier keine Betrunkenen mehr, früher sind die hier rumgewankt“, sagt die Rentnerin Maria, die wir draußen vor dem Laden treffen. „Es ist wichtig, dass die Jugend nicht trinkt, den Alten kann man das nicht mehr abgewöhnen. Wenn es das Verbot nicht geben würde, würden alle trinken. Selbst wenn man das gar nicht vorhat – wenn man in den Laden geht, wird man verführt. Und wenn die Jakuten einmal anfangen, dann hören sie nicht mehr auf, bis sie umkippen. Die kennen kein Maß.“

    Der Dorfladen in Ulachan-Aan hat eine große Auswahl an SIM-Karten und Konserven im Angebot / Foto © Takie Dela
    Der Dorfladen in Ulachan-Aan hat eine große Auswahl an SIM-Karten und Konserven im Angebot / Foto © Takie Dela

     

    Maria ist klein und sieht viel jünger aus als 64. Sie sagt, sie müsse sich beeilen, eine Verwandte vom Bus abholen. Nach ein paar Schritten dreht sie sich noch mal um, offenbar hätte sie noch einiges zum Thema zu sagen. „Ich habe fünf Söhne geboren. Zwei von ihnen haben getrunken. Einer ist daran gestorben. So stand es in dem Bericht: Alkoholvergiftung.“ 

    Marias Mann habe früher auch getrunken, aber jetzt sei er „alt und krank“, deshalb wären tagelange Besäufnisse nicht mehr drin. „Und außerdem gibt es ja auch nichts zu kaufen“, sagt sie. „Aber wenn, dann würde er bestimmt noch mit seinem Krückstock dahin humpeln.“ 

    Weit und breit kein Betrunkener auf der Dorfstraße von Ulachan-Aan. Allerdings auch sonst niemand / Foto © Takie Dela
    Weit und breit kein Betrunkener auf der Dorfstraße von Ulachan-Aan. Allerdings auch sonst niemand / Foto © Takie Dela

    Fast alle, die wir draußen treffen, erzählen, sie würden nur zu feierlichen Anlässen mal ein Gläschen trinken oder dass sie dem Alkohol schon vor Jahren ganz abgeschworen hätten. Sobald wir länger als fünf Minuten mit jemanden reden, stellt sich heraus, dass jeder zweite – so wie Marija – am eigenen Leib erlebt hat, wie es ist, einen Alkoholiker in der engsten Familie zu haben. 

    Die 68-jährige Ljubow Kumitschko lebt mit ihrer 91-jährigen Mutter zusammen. Beide trinken höchstens ein paar Mal im Jahr ein Glas Sekt. „Bei uns auf dem Dorf trinken die Leute nicht so viel wie im Westen [des Landes – dek.]“, erzählt sie. „Ich habe in Irkutsk studiert, da haben alle ihren Schnaps selbst gebrannt. Das gibt es hier bei uns nicht.“ Einer von Ljubows beiden Brüdern ist alkoholkrank. Sie sagt, er hätte nach dem Armeedienst angefangen. Die ganze Familie habe mehrfach versucht, ihn mit Hilfe von Kodierung zu heilen, aber nach ein paar Monaten sei er wieder rückfällig geworden. 

    Im Moment wartet Ljubow darauf, dass ihr Bruder zu einem Fronturlaub von der „militärischen Spezialoperation“ zurückkommt. 

    „Haben Sie keine Angst, dass er danach noch mehr trinken wird?“, frage ich. 

    „Ich weiß nicht, was sein wird“, erwidert die Rentnerin nachdenklich. 

    Ljubow Kumitschkos Bruder ist alkoholsüchtig. Gegenwärtig kämpft er in der Ukraine / Foto © Takie Dela
    Ljubow Kumitschkos Bruder ist alkoholsüchtig. Gegenwärtig kämpft er in der Ukraine / Foto © Takie Dela

    Ymyjachtach gehört zum ulus Namski. Von 19 Landkreisen (nasleg) wird in nur zwei Alkohol verkauft: drei Geschäfte in Namzy und eines im Dorf Chomusty, etwa 15 km von Ymyjachtach entfernt. Dort leben 2.600 Menschen. Der stellvertretende Kreisvorsitzende Alexej Sacharow berichtet, dass manche selbst im Winter zu Fuß aus dem „trockenen Dorf“ kämen. Sie warten, bis der hiesige Spirituosenhandel um 14 Uhr aufmacht, decken sich ein und laufen wieder zurück. 

    Die Abgeordneten hätten den Verkauf auch in Chomusty verbieten wollen, aber nach den öffentlichen Anhörungen hätten sich die Einwohner für „die goldene Mitte“ entschieden, sagt Sacharow. Jetzt gibt es Alkohol nur zwischen 14 und 20 Uhr in einem einzigen Laden außerhalb des Dorfes, nahe der Schnellstraße. Sarachow zufolge seien die meisten Einwohner von Chomusty berufstätig, daher gebe es keinen „Massenalkoholismus“; die richtigen Alkis könne man an einer Hand abzählen. 

    „In den Nachbardörfern heißt es, die Leute trinken, weil man bei uns Alkohol kaufen kann“, sagt Alexej Sacharow kopfschüttelnd. „Sie geben uns die Schuld, als würden wir sie zum Trinken zwingen. Was wäre wohl, wenn wir den Laden zumachen würden?“ 

    In der Ortschaft Mochsogolloch wirkt das Wandgemälde von Lenin frischer als die Farben der russischen Trikolore am Nachbargebäude / Foto © Takie Dela
    In der Ortschaft Mochsogolloch wirkt das Wandgemälde von Lenin frischer als die Farben der russischen Trikolore am Nachbargebäude / Foto © Takie Dela

    Zur Illustration führt der Beamte verschiedene Szenarien an, die alle etwas aus der Luft gegriffen wirken. „Stellen Sie sich vor, eine Mutter lässt ihre Kinder zu Hause, fährt ins 70 km entfernte Jakutsk und kommt nicht zurück. Sie fällt hin, wird von einem Auto angefahren – und schon sind die Kinder Waisen. Oder ein Arbeiter hat etwas zu feiern. Er kommt her, betrinkt sich und treibt sich wochenlang hier rum, lebt auf der Straße. Wäre ein Laden in der Nähe, würde er einkaufen und wieder nach Hause gehen“. Sachrow fallen noch weitere Beispiele ein: „Oder einer hat seit einem Jahr nicht getrunken und will was feiern. Er setzt sich betrunken ans Steuer, um in Chomusty Nachschub zu holen. Er kommt in eine Kontrolle und ist prompt seinen Führerschein los. Nehmen wir an, er ist Taxifahrer. Schon hat die Familie kein Einkommen mehr.“ 

    Juri Djakonow, der stellvertretende Verantwortliche für soziale Fragen im ulus Namski, ist hingegen überzeugt, dass die Abwesenheit von einem fußläufig erreichbaren Spirituosengeschäft sich positiv auf die Bevölkerung auswirkt. „Für die Jugend ist Alkohol nicht mehr so interessant“, sagt er. „Sie sind es gewohnt, dass es im Laden keinen zu kaufen gibt. Früher gab es regelrechte Besäufnisse in Diskotheken oder sogar in Schulen. Jetzt sieht man das alles nicht mehr.“ 

    „Für die Jugend ist Alkohol nicht mehr so interessant“, sagt Juri Djakonow, der in der Kreisverwaltung von Namzy für soziale Fragen zuständig ist / Foto © Takie Dela
    „Für die Jugend ist Alkohol nicht mehr so interessant“, sagt Juri Djakonow, der in der Kreisverwaltung von Namzy für soziale Fragen zuständig ist / Foto © Takie Dela

    „Wäre es nicht am effektivsten, Alkohol im ganzen Gebiet zu verbieten? Damit man zum nächsten Laden weit fahren müsste?“ 

    „Darüber habe ich nie wirklich nachgedacht“, wundert er sich. „Diese Frage hat sich so nie gestellt. Es ist ja ein ganzer Unternehmenszweig …“ 

    „Das heißt, mit einem flächendeckenden Verbot für die ganze Republik ließe sich das Problem nicht lösen?“ 

    „Man könnte einen gewissen Prozentsatz eindämmen“, überlegt Djakonow. „Aber die Menschen passen sich an alles an. Ich glaube, sie würden sich Alternativen suchen, selbst brauen, oder etwas ganz anderes konsumieren.“ 

    „Wenn du nicht trinkst, denkst du, das letzte Mal ist ewig her. Dann rechnest du nach, und es sind gerade mal drei Tage vergangen“ 

    Maragas liegt etwa 100 km westlich von Jakutsk. Hier lebt Anna Konstantinowna. Ihr  Ehemann hat viele der Häuser gebaut. Damals arbeitete er beim Sägewerk. Sie lernten sich kennen, als sie 18 Jahre alt war, aber als sie beschlossen zu heiraten, war das ganze Dorf dagegen. Es lag daran, dass er der einzige Russe im Dorf war, erzählt Anna. Er war zum Arbeiten aus der Oblast Gorki nach Jakutien gekommen. „Es gab sogar eine Versammlung, man hat mich dafür kritisiert, dass ich einen Russen heiraten will“, erinnert sie sich. „Sie sagten, er würde mich früher oder später sitzenlassen. Aber wir haben trotzdem ein Aufgebot bei unserem Standesamt bestellt. Einmal saß ich vor meiner Haustür und wusch Wäsche. Da kam der Sekretär und hat die Heiratsurkunde auf die Erde geworfen. So waren die Zeiten damals, 1973.“ 

    Die Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet: 45 Jahre Eheleben, acht Kinder und 27 Enkelkinder sind der Beweis. 

    Anna erinnert sich, wie erstaunt sie war, als sie bei den Verwandten ihres Mannes in dessen Heimat zu Besuch waren: „Wir kommen an, und das ganze Dorf ist am trinken. Sie machen Selbstgebrannten. Stellen den Bottich auf den Tisch und trinken immer weiter. So was hat es bei uns nie gegeben. Erst hatte ich Angst, ich wusste nicht, was man von denen zu erwarten hatte.“ 

    Annas Mann konnte zwei Tage lang durchtrinken, aber „nie einen dritten“. Ihre gemeinsamen Kinder trinken nur zu feierlichen Anlässen. 

    Im Dorf Magaras sind heute mehr Kühe als Menschen unterwegs / Foto © Takie Dela
    Im Dorf Magaras sind heute mehr Kühe als Menschen unterwegs / Foto © Takie Dela

    „Ich bin eine strenge Mutter, ich verlange von ihnen, dass sie nicht trinken.“ 

    „Haben Sie ihnen erklärt, dass das schlecht ist, als sie kleiner waren?“ 

    „Nein, das haben sie irgendwie von selbst verstanden.“ 

    Vor ein paar Jahren ist Annas Mann gestorben. Jetzt unterhält sie alleine ihren Hof mit zwei Kühen in Magaras. In ihrem Haus stehen fünf Eimer Milch, aus der sie Schmand und Butter macht, die schickt sie ihren Kindern. Im Haushalt helfen ihre Tochter und ihr Sohn, manchmal auch die Enkel. 

    „Natürlich ist es gut, dass sie nichts verkaufen“, ist die Rentnerin überzeugt. „Früher haben die Jugendlichen getrunken, aber jetzt gehen sie mit aufs Feld, helfen ihren Eltern.“ 

    Unsere nächste Gesprächspartnerin  möchte ihren Namen nicht nennen. Nennen wir sie Polina. Polina erinnert sich, dass noch vor zehn Jahren die Leute in Magaras Schlange standen, um Alkohol zu kaufen. „Ob aus der Verwaltung, der Schule, dem Kindergarten. Alle beeilten sich nach der Arbeit, um noch etwas zu kaufen, bevor der Laden zumacht.“ Nach der Einführung des Verbots entwöhnten sich die Leute langsam. Jetzt wollen die Einwohner sogar noch mehr: Die Läden sollen keinen Byrpach (milchsauer vergorenes jakutisches Nationalgetränk – dek.), mehr verkaufen. 

    „Das gilt nicht als Alkohol, aber ein geringer Prozentsatz ist darin enthalten“, erklärt sie. „Die Leute trinken das gegen den Kater, werden betrunken und besaufen sich weiter. Wir haben hier so ein junges Ehepaar, und der Mann streitet sich in der WhatsApp-Gruppe [mit den Ladenbesitzern – TD], dass sie seiner Frau keinen Byrpach mehr verkaufen sollen. Es wurden sogar Unterschriften für ein Verkaufsverbot bei uns in Magaras gesammelt.“ 

    Der Dorfladen von Ulachan-Aan führt noch nicht einmal mehr das traditionelle jakutische Getränk Byrpach / Foto © Takie Dela
    Der Dorfladen von Ulachan-Aan führt noch nicht einmal mehr das traditionelle jakutische Getränk Byrpach / Foto © Takie Dela

    Polina selbst trinkt nicht einmal an Feiertagen, sie sagt, die Gesundheit macht das nicht mehr mit – dabei ist sie erst 46. Früher hatte sie gemeinsam mit ihrem älteren Bruder ein Straßencafé betrieben. 

    „Wenn er getrunken hat, dann richtig: war dauerbesoffen, konnte nicht arbeiten“, erinnert sie sich. „Mal kam er drei, mal fünf Tage nicht zur Arbeit. Manchmal ist er auch in die Stadt gefahren und verschwand einfach. Dabei saß er bei uns an der Kasse. Wie soll man ein Café ohne Kassierer betreiben? Elf Jahre habe ich das mitgemacht. Die Kodierung hat maximal drei Monate gehalten. Wir waren auch beim Schamanen in Jakutsk, das ging auch nur drei Monate gut, danach ist er wieder rückfällig geworden. Ich weiß, dass manche nach einer schamanischen Sitzung sieben Jahre nicht trinken, das hängt also vom Einzelfall ab.“ 

    Jetzt versucht sie nicht mehr, ihren Bruder zu heilen: Er ist mittlerweile 62 und kann selbst nicht mehr regelmäßig und viel trinken. 

    „Mein Mann hat auch getrunken“, seufzt Polina. „Nach vier Jahren haben wir uns scheiden lassen. Genau aus diesem Grund.“ 

    Assyma ist ein weiteres „trockenes“ Dorf 120 km westlich von Magaras. Dazwischen liegt nur die Ortschaft Berdigestjach (das Verwaltungszentrum des Landkreises Gorni) und meilenweit nichts als jakutische Taiga. Eine halbe Stunde lang sehen wir rechts und links der Straße nichts als verkohlte schwarze Stumpen, die sich mit jungen Birkenbäumen abwechseln. Im Sommer 2021 haben in dieser Gegend schwere Waldbrände gewütet. 

    Nikolai ist 55. Wir treffen ihn in Assyma, wo er ein Sommerhaus baut. Eigentlich lebt er mit Frau und dem jüngsten Sohn in Berdigestjach. Früher war Nikolai Traktorfahrer in einem Sowchos in Kirow, aber nach dem Zerfall der UdSSR gab es keine Arbeit mehr, und er verfiel dem Alkohol. 

    Bei drei unterschiedlichen Schamanen war Nikolai. Keiner konnte ihn von seiner Alkoholsucht heilen 

     Die Sportschule (links) und die allgemeine Schule (rechts) / Foto © Takie Dela
    Die Sportschule (links) und die allgemeine Schule (rechts) / Foto © Takie Dela

    „Wollen Sie denn aufhören?“, frage ich. 

    „Natürlich!“ 

    Bei drei verschiedenen Schamanen war Nikolai. Das letzte Mal vor zehn Jahren. Damals habe das dreitausend Rubel gekostet, sagt er, jetzt natürlich mehr. „Der eine hat mit Kodierung gearbeitet, der zweite mit Nadeln, der dritte hat ein Foto von dem berühmten Schamanen Nikon aufgestellt und irgendwas gemurmelt“, erinnert er sich. „Es reichte mal für eine Woche, mal einen Monat. Wenn man nicht trinkt, denkt man, das letzte Mal ist ewig her. Dann rechnest du nach, und es sind gerade mal drei Tage vergangen. Das längste war mal ein Jahr.“ 

    „Und wenn es in Berdigestjach, so wie hier, ein Verbot geben würde?“ 

    Nikolai lacht: „Das Dorf ist ja schon so gut wie trocken. Bis zum nächsten Spirituosengeschäft sind es zehn Kilometer. Wenn es verboten wäre … Das würde nichts ändern. Dann würde man eben woanders hinfahren. Im Gegenteil, die Leute sterben ja an den Entzugserscheinungen. Byrpach hilft vielleicht, bis zum Mittag durchzuhalten.“ 

    „Was würde Ihnen denn dabei helfen, aufzuhören, wenn Verbote nichts bringen?“ 

    Nikolai überlegt. „Wenn alle Arbeit hätten, würden sie weniger trinken. Selbst wenn ich zehn Tage lang durchtrinke, rapple ich mich danach wieder auf: Ich muss ja arbeiten. Außerdem kann man seinen Führerschein verlieren, oder sein Gewehr – wie soll man da jagen? Wenn ich kein Auto hätte, würde ich mehr trinken.“  

    Zum Abschied erkundige ich mich, wo ich im Dorf Menschen finde, die alkoholabhängig sind.  

    „Jetzt finden Sie niemanden. Wer [gestern – dek.] getrunken hat, ist jetzt beim Angeln draußen, um auszunüchtern. Ich bin der einzige hier, und selbst ich bin nüchtern. Außerdem sind meine Saufkumpanen an die Front. Manche liegen mit einer Verletzung in einer anderen Stadt. So sieht’s aus bei uns …“ 

    Als wir schon gehen, ruft Nikolai uns hinterher:  

    „Und Sie? Trinken Sie denn?“ 

    „Na ja, manchmal. Aber mittlerweile nur noch selten“, gebe ich zu. 

    „Das ist okay“, grinst Nikolai breit. „Trinken ist gut für die Seele.“ 

    In Ulachan-Aan / Foto © Takie Dela
    In Ulachan-Aan / Foto © Takie Dela

     

    *** 

    Auf unserer Reise haben wir 12 Dörfer besucht, von denen sieben seit vielen Jahren alkoholfrei sind. Insgesamt ist unser Eindruck, dass die totalen Alkoholverbote hier funktionieren, auch wenn natürlich nicht zu hundert Prozent. In dieser ganzen Zeit ist uns nur einmal jemanden auf der Straße begegnet, der angetrunken war, und selbst das war in einem Dorf, in dem es kein Verkaufsverbot gibt. Die meisten Einwohner, mit denen wir gesprochen haben, erklärten, nur zu bestimmten Anlässen oder gar nicht mehr zu trinken. Die ältere Generation hat sich nach dem Verbot das Trinken als Lebensweise schlicht abgewöhnt. Die Jugendlichen treffen sich nicht, um zusammen zu trinken. Sie haben andere Hobbys – zum Beispiel Motorräder, die hier sehr beliebt sind. Und sie haben auch andere Sorgen, müssen den Älteren bei der Arbeit helfen. 

    Gut möglich, dass ein komplett „trockenes Dorf“ bei solchen Verboten nur eine Frage der Zeit ist. Und einige wenige, die trotzdem Alkoholmissbrauch betreiben, wird es immer, überall und unter allen Umständen geben. 

    Vom Ufer des Dorfes Ulachan-Aan hat man einen weiten Blick über die Lena / Foto © Takie Dela
    Vom Ufer des Dorfes Ulachan-Aan hat man einen weiten Blick über die Lena / Foto © Takie Dela

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    Am 27. Juli verstarb in einem Untersuchungsgefängnis in Birobidschan der 39-jährige russische Pianist, Schriftsteller und Antikriegs-Aktivist Pawel Kuschnir, offizielle Todesursache: Folgen eines fünftägigen trockenen Hungerstreiks. Verhaftet wurde Kuschnir wegen seines YouTube-Kanals mit vier Videos und fünf Abonnenten. Der Vorwurf lautete „öffentliche Anstiftung zu Terrorismus“.


    In den Medien tauchte der Name Kuschnir erst nach seinem Tod auf. Bis dahin waren seine Geschichte und die Umstände der Verhaftung der breiten Öffentlichkeit unbekannt gewesen.   


    Katya Kobenok hat mit Angehörigen von Pawel Kuschnir und Menschenrechtsaktivisten gesprochen. Auf Takie Dela erzählt sie, was für ein Mensch er war und warum es niemandem gelungen ist, seinen Tod zu verhindern.
     

    Pawel wurde Ende Mai 2024 verhaftet. Ein Post in einem inoffiziellen Telegram-Kanal der Silowiki dazu lautete: „‚Gerechtigkeitskämpfer‘ hat sich um Kopf und Kragen geredet.“ 

    „Experten zufolge hat der Angeklagte genug für ein Strafverfahren wegen Anstiftung zu Terrorismus von sich gegeben. Der Paragraf sieht bis zu sieben Jahre Haft vor“, hieß es in dem Post weiterhin. Kuschnir habe „regelmäßig Material veröffentlicht, in dem er zum gewaltsamen Sturz der Verfassungsordnung der Russischen Föderation durch Revolution aufrief.“ 

    In Wirklichkeit hatte Pawel einen YouTube-Kanal mit vier Videos, in denen er das herrschende Regime in Russland kritisierte. Zum Zeitpunkt der Verhaftung hatte der Kanal fünf Abonnenten. 

    Pawel Kuschnir ist in Tambow geboren und aufgewachsen, studierte an der Rachmaninow-Musikhochschule in Tambow und am Tschaikowski-Konservatorium in Moskau. Nach seinem Abschluss war Kuschnir sieben Jahre lang Pianist an der Philharmonie in Kursk und drei Jahre an der Philharmonie in Kurgan. 2014 verfasste er einen dystopischen Roman mit dem Titel Russkaja Nareska (Russischer Aufschnitt). Seit 2022 war Kuschnir Pianist an der Philharmonie in Birobidschan

    Seine berühmteste Aufnahme ist ein Zyklus aus Rachmaninows 24 Präludien, den der Musikwissenschaftler Michail Kasinik mit den folgenden Worten lobte: „Kuschnirs Interpretation der 24 Präludien – was so schon mal niemand macht, weil diese Präludien aus verschiedenen Zeiten und Werken stammen – ist kristallklar. Der Zyklus zeichnet die Entwicklung von Rachmaninows Ideen nach, die Kuschnir von allen Überlagerungen und Volkstümlichkeiten befreit hat.“ 

     
    Kuschnirs Aufnahme des Zyklus aus Rachmaninows 24 Präludien, Tambow, 2010

    Olga Schkrygunowa, Pianistin, enge Freundin 

    „Pascha Kuschnir ist tot. Unser liebster, wundervoller Don Quichote, ein Kämpfer bis zum letzten Atemzug. Ich will daran glauben, dass der Tod nur den Besten vorbehalten ist“, schrieb Olga auf Facebook

    „Von klein auf war er für sein unglaubliches musikalisches Gehör bekannt. Für mich war er immer ein Genie, sowohl als Mensch als auch als Musiker. Ein genialer Idealist, der keine Kompromisse kannte. Ein Kämpfer für die Liebe, die Kunst und die Freiheit“, berichtet sie. 

    2022, noch vor seinem Umzug nach Birobidschan, habe Pawel überall in der Stadt Flyer mit Friedensaufrufen aufgehängt. Er sei schon vor seiner Verhaftung mehrmals in den Hungerstreik getreten, in der Hoffnung, dass sich auch andere dieser friedlichen Form des Protests anschließen würden. Sein längster Streik habe 100 Tage gedauert, sei jedoch von der breiten Masse unbemerkt geblieben. 

    Anton Wesselowski, Journalist aus Tambow, Freund 

    „Zuerst dachte ich, sie hätten ihn in der U-Haft ermordet. Dann hörte ich die offizielle Version mit dem Hungerstreik. Ich halte das durchaus für möglich: Pascha hatte einen starken Willen und feste Prinzipien. 

    Am 9. Mai 2023, noch vor seiner Verhaftung, hatte Pawel auf Facebook angekündigt, in den Hungerstreik zu treten. Er forderte das Ende des Kriegs, die Abschaffung des Regimes und Freiheit für alle politischen Gefangenen. Seine Freunde in Tambow versuchten, ihn davon abzuhalten, andere hofften das Beste und dachten, er würde die Idee von alleine aufgeben. 

    Nach seiner Verhaftung im Mai 2024 griff er dann zu radikalen Mitteln: Zunächst hat er Nahrung verweigert, dann auch Wasser. Jetzt fragen viele, warum niemand davon gewusst hat. Unsere heutige Realität war für Pascha unerträglich, er wollte auf diese Weise ein Ultimatum setzen. Es gibt Dutzende Menschen, die sich gegen den Krieg aussprechen, aber so radikal war in letzter Zeit niemand. Pascha hat immer vom Kampf gegen das Böse in der Welt und den Faschismus in sich selbst gesprochen. 

    Er war ein stiller Mensch, aber seine Taten waren laut. Er konnte zwei Monate lang verschwinden, um sich auf ein Konzert vorzubereiten, und dann ein ewig langes Stück aus dem Kopf spielen. 

    Paschas Statements hatten immer Strahlkraft und konnten jemanden verändern oder bekehren. Mir war immer bewusst, wie wertvoll der Kontakt mit Pascha ist, ich habe ihn oft zu diversen Veranstaltungen eingeladen. Seine Aktionen haben immer polarisiert, aber sie waren immer konzeptuell begründet, selbst wenn es sich um spontane Performances handelte. 2010 haben seine Freundin und er zum Beispiel einen Flashmob gegen die Hitze veranstaltet, bei dem sie bei 40 Grad in Winterklamotten durch die Stadt gezogen sind. 

    Im selben Jahr hat Pascha seine Gedichte bei einer Literaturveranstaltung auf Na’vi gelesen, der Sprache im Film Avatar, die er sich beigebracht hatte. Hin und wieder verschwand er in der Versenkung, um zu schreiben und zu üben. Warum er immer wieder umgezogen ist, weiß ich nicht genau. Er interessierte sich für neue Orte, ist viel gereist. 

    Seine Freunde traf er, wenn er nicht gerade arbeitete oder mit Auftritten durchs Land tourte. Seit Ende der 2010er Jahre hat sich Pascha kaum noch in seiner Heimatstadt blicken lassen. Zum letzten Mal habe ich ihn 2018 gesehen.“ 

     

    Beethoven, Konzert für Klavier und Orchester Nr. 5 Es-Dur op. 73; Mendelssohn Sinfonie Nr. 3 in a-Moll op. 56

    Marina Shemtschugowa, ehemalige Studentin, Konzertbesucherin 

    „Ich habe zusammen mit anderen Studierenden und Pädagogen häufig Pawels Konzerte besucht. Das war vor acht, neun Jahren. Damals war er Pianist an der Kursker Philharmonie und gab regelmäßig Solokonzerte oder beteiligte sich an anderen musikalischen Projekten.  

    Manchmal kamen Freunde von mir mit, denen die Welt der akademischen Musik ansonsten fremd ist. Heute weiß ich, was für ein Privileg und Geschenk es für uns alle war, Pawel spielen zu hören.  

    Ich kann mich erinnern, wie wir nach den Vorlesungen zur Musikgeschichte zum Konservatorium eilten, um Pawels Interpretationen von Chopin, Schubert, Purcell, Scarlatti und Bach zu lauschen.  

    Pawel war eine besondere, einprägsame Erscheinung: hager, ein wenig gebückt, in sich gekehrt.  

    Er spielte gerne Barock und Romantik, war ein couragierter und feinfühliger Musiker, der jedes Stück durch sich hindurchließ. Er suchte immer seinen persönlichen Zugang, auch zu berühmten Werken. Zum Beispiel unterschied sich seine Interpretation von Chopins 24 Präludien von der Tradition: Er wählte mal ein langsameres, mal ein schnelleres Tempo, fügte Pausen ein und veränderte somit die Wirkung.“ 

    Irina Michailowna, Mutter  

    „Pascha ist in einer Musikerfamilie geboren: Ich bin Musikwissenschaftlerin, Paschas Vater, mein Mann, hat an einer Musikschule Kinder unterrichtet. Er ist 2020 gestorben. Pawels Großvater väterlicherseits war Gesangslehrer und Intendant des Volksbildungshauses der Oblast Tambow, wo er einen Kriegsveteranenchor leitete.  

    Pascha wuchs in der Welt der Musik auf und ging früh darin auf. Die Liebe zur Musik hat er mit der Muttermilch aufgesogen, könnte man sagen.  

    Am liebsten mochte er die Komponisten der Romantik, vor allem Schumann. Pascha spielte gerne seine Fantasie in C-Dur, die Sinfonischen Etüden und die Kinderszenen. Auch Chopin schätzte er sehr, und von den russischen Komponisten – Rachmaninow. Pascha gab manchmal Konzerte mit allen seinen 24 Präludien. Und wie er spielte! Sehr expressiv, er hatte ein tiefes Verständnis für die Musik. 

    Ich bin jetzt 79, am 5. Dezember werde ich 80. Paschas Tod ist ein schwerer Schlag für mich, ich weiß nicht, ob ich meinen 80. Geburtstag noch erleben werde.“ 

    „Extremer Protest“ 

    Vor Gericht habe Pawel Kuschnir keine Verteidigung und keinen Rechtsbeistand gehabt, erzählt die Menschenrechtsaktivistin Olga Romanowa. Im Nachhinein hätten die Menschenrechtler erfahren, dass Pawel ein Anwalt an die Seite gestellt worden war, der sich „überhaupt nicht um seinen Mandanten gekümmert“ habe. 

    „Er starb zu einem Zeitpunkt, als andere politische Häftlinge befreit wurden. Sein Fall ist nicht der erste und wird leider auch nicht der letzte sein“, beklagt sie.     

    Bei Weitem nicht alle könnten sich einen Anwalt leisten, erklärt die Juristin Olga Sadowskaja von Komanda protiw pytok (Team gegen Folter): Die Menschenrechtler hätten erst von Pawels Tod erfahren und nicht schon von seinem Hungerstreik, als sie ihm noch hätten helfen können.  

    Ihr zufolge hätten die Menschenrechtsaktivisten heute keinerlei Zugang zum System des Strafvollzugs (FSIN). Niemand bekomme Zutritt zu einer Untersuchungshaftanstalt, einer Strafkolonie oder einem Gefängnis. Diese Umstände hätten dazu geführt, dass die Informationen über Pawel zu spät nach außen gelangt seien: erst, als er bereits tot war.  

    „Wir hätten es wissen müssen. Der Staat hätte uns unterrichten und Zugang zu ihm verschaffen müssen“, betont Sadowskaja. 

    Sie ist überzeugt, dass Kuschnirs Tod im direkten Zusammenhang damit steht, dass Menschenrechtlern der Zugang zu den Haftanstalten verwehrt werde. Früher hätten sich die Häftlinge an die Obschtschestwennaja nabljudatelnaja komissija (Gesellschaftliche Beobachterkommission) wenden können, deren Kontakte in den Gefängnissen und Straflagern an den Wänden gehangen hätten. Heute gebe es das alles nicht mehr, sagt sie.     

    „Die ONK hat früher regelmäßig Strafkolonien und Untersuchungsgefängnisse besucht, und wenn das immer noch so wäre, hätten wir früher von Pawel erfahren und dieses Problem angehen können: Wir hätten ihn überreden können, den Hungerstreik zu beenden, hätten durchsetzen können, dass er in ein richtiges Krankenhaus kommt, hätten die Medien eingeschaltet“, erklärt Sadowskaja. 

    Der frühere Zugang zu den Informationen hätte ihm das Leben retten können, ist sie sich sicher.  

    „Keiner der Menschenrechtsaktivisten hat von ihm gewusst – das lässt sich in der Datenbank von OWD-Info überprüfen, die eine der größten ist. Von diesem Hungerstreik wusste niemand außer den Mitarbeitern des Untersuchungsgefängnisses.“ 

    Ein trockener Hungerstreik sei eine extreme, kurzzeitige Form des Protests, bei der nicht nur die Nahrung, sondern auch Wasser verweigert werde, erklärt Sadowskaja. Normalerweise sterbe man in acht bis zehn Tagen an Dehydrierung, wenn nicht schon früher an Organversagen. „Das ist ein qualvoller Tod, begleitet von geistiger Verwirrung, Wahnstörungen und Halluzinationen“, fügt sie hinzu.     

    Nach internationalen Standards gelte eine Zwangsernährung bei Hungerstreik aus Protest nicht als Folter, wenn sie zum Ziel habe, das Leben der betreffenden Person zu retten.  

    „Mir ist nicht bekannt, ob Pawels Hungerstreik eine Form des Protests war oder er wirklich sein Leben beenden wollte. Wenn es eine Protestaktion war, dann hatte die Gefängnisverwaltung ab dem Zeitpunkt, wo sein Leben in Gefahr war, die Pflicht, lebensrettende Maßnahmen zu ergreifen“, erklärt Sadowskaja.  

    Auch bei anderen politischen Gefangenen bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass niemand die Gefängnisleitung über einen eventuellen Hungerstreik informieren würde. „Niemand hat ihren Zustand im Blick. Ich hoffe, dass Pawels Geschichte für andere Häftlinge Signalwirkung hat und sie davon abhält, ihn nachzuahmen. Das ist nicht nur lebensgefährlich, sondern bedeutet den sicheren Tod“, betont sie.      

    Davon, dass an Kuschnirs Tod das Personal der Haftanstalt mindestens erhebliche Mitschuld trägt, ist auch die Menschenrechtsaktivistin und Vorsitzende des Komitees Grashdanskoje sodejstwije (Zivile Zusammenarbeit) Swetlana Gannuschkina überzeugt. Für sie bedeutet Kuschnirs Tod auch den Verlust eines Mitstreiters. „Ich habe ihn nicht gekannt und zum ersten Mal von ihm gehört, als er nicht mehr lebte. Das weist darauf hin, dass Menschenrechtsverteidiger bei Weitem nicht von allen wissen, die sich gegen den Krieg aussprechen, sich für Menschenrechte einsetzen und deshalb in Russland strafrechtlich verfolgt werden. Das soll uns allen eine Lehre sein. Wir müssen lernen, nicht nur berühmten, prominenten Persönlichkeiten unsere ständige Aufmerksamkeit zu schenken“, bilanziert Gannuschkina. 

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    „Warum haben sie euch noch nicht eingebuchtet?“

    Nach der Einführung einer strengen Militärzensur im März 2022 haben viele Kreml-kritischen Journalisten Russland verlassen oder ihre Arbeit eingestellt. Die wichtigsten unabhängigen Medien arbeiten inzwischen aus dem Exil im Baltikum, in Georgien oder auch in Deutschland. Einige wenige Redaktionen wählten derweil einen Zwischenweg: Sie versuchen, sich an die Gesetze zu halten, und dennoch die Wirklichkeit abzubilden so gut es geht.  

    Wie klein der verbliebene Raum für unabhängige Berichterstattung ist, zeigt ein Beispiel aus Saratow an der Wolga. Die lokale Online-Nachrichtenagentur Swobodnyje Nowosti („Freie Nachrichten“) – oft einfach nur Swobodnyje genannt („Die Freien“) – ist es seit zwölf Jahren gewohnt, unter den propagandistischen Medien als weißer Rabe in Erscheinung zu treten. Sie sind die einzigen, die den ehemaligen Vizegouverneur der Region und jetzigen Vorsitzenden der Staatsduma, Wjatscheslaw Wolodin, offen kritisieren. Und sie versuchen weiterhin, auch in Zeiten der Zensur wahrheitsgemäß zu berichten.

    Nach Beginn des vollumfänglichen Krieges gegen die Ukraine wurden sie von Kollegen und Vertretern der Verwaltung der Volksverhetzung beschuldigt. Während die einen beklagen, dass man die Journalisten der Freien Nachrichten „noch nicht sämtlich hinter Gitter gebracht hat“, meinen andere, das Portal sei nicht oppositionell genug. Seit die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor die Webseite der Freien blockiert hat, sind weitere Probleme hinzugekommen. Am 23. Juli dieses Jahres wurden die schlimmsten Befürchtungen wahr: Roskomnadsor wurde beim Obersten Gericht Russlands vorstellig und forderte einen Entzug der Medienlizenz, weil das Portal die Beiträge „ausländischer Agenten“ nicht gekennzeichnet habe. Takie Dela hat eine der wenigen Redaktionen in der Region besucht, die nicht von der Kreml-Partei Einiges Russland gelenkt wird. 

    Die stellvertretende Chefredakteurin Marija Aleksaschina hat ein Poster von Anna Politkowskaja an ihrem Arbeitsplatz aufgehängt. / Foto © privat
    Die stellvertretende Chefredakteurin Marija Aleksaschina hat ein Poster von Anna Politkowskaja an ihrem Arbeitsplatz aufgehängt. / Foto © privat

    Die Redaktion hat ihren Sitz in einem vierstöckigen Gebäude im Stadtzentrum von Saratow. Nur 15 Mitarbeiter arbeiten hier, das Kernteam ist schon viele Jahre zusammen. Die Freien hatten sich dem Rating von Medialogija zufolge seit langem fest in den Top fünf der meistzitierten Medien der Region etabliert. Und das in einer Stadt mit fast einer Million Einwohnern, in der 80 Prozent der Medien unmittelbar oder indirekt der Regierungspartei Einiges Russland gehören. 

    Um halb neun morgens ist die Nachrichtenabteilung der Freien vollständig angetreten. Einer ist schon seit sieben am Arbeitsplatz. Die meisten Mitarbeiter sind hinter der Tür mit dem Schild „Newsroom“ zu finden. 

    Über dem Tisch der stellvertretenden Chefredakteurin Marija Aleksaschina hängt ein riesiges Poster mit einem Portrait der Journalistin Anna Politkowskaja. Ein erster Eignungstest für Volontäre. Ein Menschenrechts-Aktivist aus der Stadt hatte ihr das Poster vor einigen Jahren zur sorgsamen Aufbewahrung überlassen. Nach dessen Tod entschied Marija, dass es an der Wand seinen besten Platz hat. 

    Aleksaschina hat die Augen ständig am Monitor und lässt die Maus nicht aus den Fingern. Ihre Haare sind zu einem Knoten gebunden; sie trägt Jeans, Sportschuhe, auf dem Tisch stehen mehrere Wasserflaschen – es sind heute vierzig Grad in Saratow. Neben dem Computer ein Festnetztelefon. Darüber laufen Termine und Anregungen der Leser ein. 

    „Neulich saß ich hier bis zehn Uhr abends, da klingelte plötzlich das Telefon. Dummerweise ging ich dran“ Marija ahmt eine männliche Stimme nach: „Jetzt sagen Sie mal, weswegen Sie blockiert wurden!?!“. „Er legte erst auf, als ich ihn davon überzeugt hatte, dass wir das selbst nicht wissen!“ 

    Die ersten Nachrichten, die die Journalisten nach ihrer Wiedergeburt brachten, waren: Frost im Mai, die Verluste von Gazprom und eine Verlosung Hunderter Eier zu Ostern.

    Drei Tage nach der Sperrung des Portals startete die Redaktion eine neue Webseite: Bei der Adresse wurde lediglich das Minus weggelassen. Und die Arbeit begann von vorn, als ob es die zwölf Jahre davor nicht gegeben hätte. Jeder Link, der auf die alte Seite führt, würde so ausgelegt, dass es sich bei dem neuen Portal um einen mirror handelt [also um eine Kopie der gesperrten Inhalte – dek.] – das würde eine erneute Sperre nach sich ziehen. 

    Die ersten Nachrichten, die die Journalisten nach ihrer Wiedergeburt brachten, waren: Frost im Mai, die Verluste von Gazprom und eine Verlosung Hunderter Eier zu Ostern. 

    Heute ist es genau zwei Monate her, dass die Redaktion auf der neuen Internetseite aktiv wurde. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums seien in der Nacht vier Drohnen abgeschossen worden, doch die stehen nicht am Anfang des Nachrichtentickers. „Sind ja keine zwanzig“, erklären die Diensthabenden am Ticker. Vereinzelte Luftangriffe, bei denen niemand zu Schaden kommt, interessieren kaum jemanden.

    Nachdem die Medienaufsicht die alte Seite gesperrt hat, hat die Chefredaktion ein neues Portal gestartet – und nur das Minuszeichen aus der Adresse entfernt. Trotzdem sind die Besucherzahlen deutlich zurückgegangen / Foto © privat
    Nachdem die Medienaufsicht die alte Seite gesperrt hat, hat die Chefredaktion ein neues Portal gestartet – und nur das Minuszeichen aus der Adresse entfernt. Trotzdem sind die Besucherzahlen deutlich zurückgegangen / Foto © privat

    Die Journalisten eröffnen den Nachrichtentag mit der „Spezialität des Hauses“, einem Bericht zu den „verödenden Landschaften“: Den Angaben des Statistikamtes Rosstat zufolge steht die Oblast Saratow hinsichtlich des absoluten Bevölkerungsrückgangs an sechster Stelle aller Regionen Russlands. 

    „Das ist eine merkwürdige Aufgabe, zu belegen, dass die Oblast sich entvölkert“, erklärt Marija. „Angefangen hat es damit, dass einige Journalisten – nicht nur von uns, sondern auch von anderen Medien – anhand der Daten von Rosstat diese Bevölkerungsverluste berechneten. Und für recht lange Zeit lag die Oblast Saratow auf dem ersten Platz. So wurde der Begriff ‚verödende Landschaften‘ geprägt. Und er hängt uns immer noch an.“ 

    Die nächste Nachricht handelt vom Vorstoß eines Abgeordneten aus Saratow, bei den Soldaten der „militärischen Spezialoperation“ IT-Fähigkeiten stärker zu fördern. Niemand diskutiert sie. 

    „Wir sind ein gesperrtes Medium, aber sie schicken uns weiterhin Pressemitteilungen und laden uns zu offiziellen Veranstaltungen ein. Wir werden bald schizophren.“

    Marija wendet den Blick vom Ticker, um einen Anruf auf dem Festnetz entgegenzunehmen. Der Pressdienst des Gouverneurs lädt die Journalisten der Freien zu einer Veranstaltung ein: Wieder einmal stattet der Vorsitzende der Staatsduma, Wjatscheslaw Wolodin, Region Saratow einen Besuch ab. Er stammt von hier. 

    „Bald werden wir noch schizophren.“ Marija reibt müde ihre Schläfen. „Wir sind ein gesperrtes Medium, im Grunde gibt es uns gar nicht. Aber sie schicken uns weiterhin Pressemitteilungen und laden uns zu offiziellen Veranstaltungen ein.“ 

    Einige der letzten Zeilen im „Logbuch“ (so wird in der Redaktion ein Notizbuch mit Leser-Anfragen genannt) sind Roskomnadsor gewidmet. Nach der Sperrung der Webseite haben die Journalisten mehrere Male bei der Behörde nachgefragt: Aus welchem Grund? Sie haben offizielle Anfragen geschrieben und eine Erklärung der Redaktion auf die Webseite gestellt. Aber weder von der Medienaufsicht noch von der Generalstaatsanwaltschaft gab es eine Antwort. In dem Schreiben der Medienaufsicht heißt es nur ominös: „wegen wiederholter Platzierung widerrechtlicher Informationen“. 

    „Sie haben auf einen Paragrafen verwiesen, der rund 25 Punkte umfasst, angefangen von ‚Fernbleiben von der Truppe‘ bis hin zu ‚LGBT-Propaganda‘. Bei der Hotline des Roskomnadsor gab man uns auch keine Antwort – wir hörten nur: Don’t Worry, Be Happy. Sieht so aus, als sei das alles, was wir tun können“, witzelt die stellvertretende Chefredakteurin. 

    Das Einzige, was die Journalisten wissen: Sie wurden von der föderalen Medienaufsicht gesperrt, nicht von der regionalen. „Unser digitaler Gulag arbeitet technisch bemerkenswert, ein menschlicher Faktor ist ausgeschlossen“, fährt Marija fort. „Bei der regionalen Medienaufsicht räumten sie ein, dass man selbst schockiert sei. Der Minister für digitale Entwicklung der Oblast schrieb uns: ‚Was ist passiert?‘ Im Chat mit Kollegen schrieben uns andere Medien: ‚Was habt ihr denn erwartet?‘ Und natürlich fragten alle nach dem Grund der Sperrung, und wie es weitergeht.“ 

    „Wir haben uns derart angestrengt, die Regeln dieses unfairen Spiels einzuhalten.“

    In den ersten Tagen waren viele überzeugt, dass das nur ein Fehler sei und die Freien bald wieder entsperrt werden. 

    „Wir haben uns derart angestrengt, die Regeln dieses unfairen Spiels einzuhalten, dass alle den Eindruck hatten, es wird nicht so weit kommen. Wir waren, wo es angebracht war, mehr als vorsichtig, und sogar da, wo nicht“, erklärt die stellvertretende Chefredakteurin. „Dass wir blockiert wurden, hat alle Kollegen stark erschreckt: Alle begannen zu überlegen, wofür sie dichtgemacht werden könnten. Letztlich wegen allem Möglichen.“ 

    Kurz vor der Sperrung, im Dezember 2023, läutete für die Redaktion die erste Alarmglocke. Die Militärstaatsanwaltschaft schickte eine Anweisung, dass die Liste der Gefallenen aus der Region zu löschen sei, die die Journalisten seit den ersten Tagen der „militärischen Spezialoperation“ führten. Diese Informationen, heißt es in dem Schreiben, stellten ein Staatsgeheimnis dar. 

    „Wenn wir keinen Zugang zu Staatsgeheimnissen haben, wie können wir dann welche verraten?“

    „Uns war klar, dass wir gegen keinerlei Gesetze verstoßen: Wenn wir keinen Zugang zu Staatsgeheimnissen haben, wie können wir da welche verraten? Wir waren trotzdem sehr erschrocken, und unsere Kollegen auch: Schließlich drohen ja Dutzende Jahre Haft“, sagt Marija. Das war das erste Verbot dieser Art. Keines der regionalen Medien führte derlei Listen, auch wenn viele über einzelne Gefallene berichten.“ 

    Die Liste mit den Namen wurde von der Redaktion entfernt. Die Seite, auf der sich die Liste befand, ist aber immer noch auf der alten Version zu finden. Sie ist zwar leer, aber die alte Überschrift steht noch da – und ein Hinweis auf das Verbot durch die Militärstaatsanwaltschaft. 

    Die Freien bringen auf der neuen Webseite weiterhin Nachrichten über einzelne Gefallene. Diese stützen sich auf Pressemitteilungen regionaler Verwaltungschefs oder anderer Offizieller. Die Militärstaatsanwaltschaft hat noch immer nicht beantwortet, ob auch das eine Gesetzesverletzung darstellt, oder eine solche nur bei einer systematischen Aufbereitung der Daten vorliegt.

    Es war bereits mehrere Male vorgekommen, dass die Redaktion wegen neuer Gesetze Artikel entfernen musste. 2023, als Nichtregierungsorganisationen und Medien eine nach der anderen als „unerwünscht“ eingestuft wurden, haben Journalisten den Chat „Deleters“ [nach dem engl. „delete“ – DK] eingerichtet. 

    Viele Beiträge mit Verweisen auf [Nawalnys – dek.] Stiftung zur Bekämpfung der Korruption mussten entfernt werden. Etwa die auf Recherchen zur Datschenkooperative Sosny im Moskauer Umland, bei denen Journalisten eine luxuriöse Datscha von Wolodin aufgespürt hatten. Die Redaktion ließ bestimmte Kommentare in Social-Media-Kanälen automatisch entfernen, und zwar vor allem mit Blick auf die Sicherheit derjenigen, die diese Kommentare schreiben. 

    Die Nachrichtenagentur Freie Nachrichten gehört dem Verlagshaus Energija, einer Medienholding des Unternehmers und Politikers Arkadi Jewstafjew. Jewstafjew war früher Mitarbeiter des KGB und des Innenministeriums der UdSSR, er arbeitete für Anatoli Tschubais und für Boris Jelzin und war Vertrauensperson von Michail Prochorow. Er ist in verschiedenen Branchen tätig, unter anderem durch die Investmentholding Energetitscheskij sojus und das Energieunternehmen Toljattinski transformator

    Die Freien Nachrichten sind 2012 entstanden. Jewstafjew startete sie als eigenständiges Medium: Seinerzeit erschien in Saratow bereits seine Gaseta nedeli [„Wochenzeitung“ –  dek.]. Die erscheint jetzt noch einmal im Jahr – damit sie nicht ihre Medienlizenz verliert. 

    Die Gaseta nedeli heißt zwar „Wochenzeitung“, erscheint aber nur noch ein Mal im Jahr, damit der Verlag die Lizenz nicht verliert / Foto © privat
    Die Gaseta nedeli heißt zwar „Wochenzeitung“, erscheint aber nur noch ein Mal im Jahr, damit der Verlag die Lizenz nicht verliert / Foto © privat

    In den 12 Jahren haben die Journalisten der Freien einiges erlebt: Zerstörte Kameras in Wahllokalen, Überprüfungen durch die Staatsanwaltschaft, Vorladungen von Mitarbeitern zum Verhör, Verhaftungen während einer Live-Sendung: 2018 gab der ehemalige Leiter von Nawalnys Team in Saratow, Michail Murygin, den Freien ein Interview. Das war nach einer Demonstration mit der Parole „Der ist nicht unser Zar“. Direkt während der Sendung wurde er von sechs Polizisten abgeholt, zwei von ihnen waren mit Maschinenpistolen bewaffnet. Nur der Fahrer hatte einen Dienstausweis dabei. Der war es dann auch, der Murygin offiziell festnahm. 

    Die Redaktion wandte sich daraufhin an die Behörden, und verlangte, die Polizisten wegen Behinderung der Arbeit von Medienvertretern zur Rechenschaft zu ziehen. Die Polizisten wiederum verlangten, dass die Redaktion wegen Widerstands gegen Vertreter der Staatsgewalt bestraft werde. Die Geschichte verlief schließlich im Sand. 

    Heute sind die Journalisten des Portals nach wie vor die einzigen in der Region, die sich trauen, ihren Landsmann Wolodin offen zu kritisieren. Derweil verfassen ihre Kollegen [bei anderen Medien] einhellig Lobesstücke über dessen Besuch in der Region. Doch sie können einfach nicht untätig sein: Sie machen bei Frost Straßenumfragen mit der Kamera oder verfolgen penibel, welcher Abgeordnete der Staatsduma für welchen Gesetzentwurf stimmt – auch dafür stehen die Freien

    Die Redaktion hat nur 15 Mitarbeiter. Zu besseren Zeiten – Anfang der 2010er Jahre – waren es noch 33. Nach wie vor gibt es ein Nachrichtenressort und eines für längere Geschichten. Im Dachgeschoss ist das Videostudio untergebracht, in dem Sendungen für den YouTube-Kanal aufgenommen werden. An der Spitze des Ganzen steht die Chefredakteurin Lena Iwanowa. 

    Sie bezeichnet sich selbst als einen „Menschen der Provinz“: Sie lebt seit ihrer Kindheit in Saratow, kam in den Neunzigern zum Journalismus und leitet das Portal seit seiner Gründung. Sie hat kurzgeschnittene Haare, eine Brille mit dickem Rahmen und zwei Tattoos auf dem rechten Arm. 

    Elena Iwanowa, die Chefredakteurin des Nachrichten-Portals Swobodnye / Foto © privat
    Elena Iwanowa, die Chefredakteurin des Nachrichten-Portals Swobodnye / Foto © privat

    Vor zweieinhalb Jahren, nach Beginn der „militärischen Spezialoperation“, gab sie am 4. März zusammen mit den Mitarbeitern eine Erklärung der Redaktion heraus, wie man weiterarbeiten wolle, und dass man jetzt die Gesetze der Militärzensur einhalten müsse. Und dann brach sie in Tränen aus. Ihr war klar: Ehrlichen Journalismus zu betreiben, war jetzt nicht mehr möglich. Trotzdem waren die Journalisten der Freien die ersten, die auf eigene Gefahr von einem 19-jährigen Wehrpflichtigen berichteten, der bei der „militärischen Spezialoperation“ ums Leben kam. Die Behörden bestätigten dessen Tod erst später. Und sie waren es, an die sich vom Kummer zerfressene Mütter von Soldaten wandten, die ihre Kinder nicht finden konnten. Es gab niemanden, an den sie sich sonst hätten wenden können. 

    „Zwei Wochen lang schaute ich mich ständig um, wenn ich unterwegs war. Dann habe ich mich beruhigt“

    Eine Woche nach Beginn der „Spezialoperation“ warfen regionale Telegram-Kanäle und Personen des öffentlichen Lebens den Freien vor, sie seien subversiv tätig und würden feindliche Ansichten verbreiten. Bekannte Persönlichkeiten in der Region, Kollegen, Abgeordnete, Unternehmer und Betreiber von Telegram-Kanälen denunzierten sie und organisierten Hetzkampagnen. 

    Im Februar 2023 bekam Marija Aleksaschina Drohungen per Messenger, mit ihren persönlichen Daten. Anzeigen bei der Polizei blieben vergeblich. Angeblich seien die Drohungen nicht konkret genug gewesen. 

    „Ich habe WhatsApp gelöscht. Zwei Wochen lang schaute ich mich ständig um, wenn ich unterwegs war. Dann habe ich mich beruhigt“, erinnert sich Marija. Im Mai 2023 wurde Anna Muchina, eine Journalistin der Freien, vom Justizministerium aufgrund einer Denunziation als „ausländische Agentin“ eingestuft. Muchina ist eine der wenigen medizinisch versierten Journalistinnen, die nicht nur über Eröffnungen von Polikliniken schreibt. Sie kennt sich aus, weiß, welche Medikamente in der Region fehlen. Darüber hinaus hat sie eine öffentlich zugängliche Facebook-Seite, auf der sie alles schreibt, was sie über das Geschehen in Russland und der Welt denkt. 

    Nach dem Februar 2022 einigte sich Iwanowa mit dem Gründer der Redaktion, dass man äußerst vorsichtig sein solle. Die Sicherheit der Mitarbeiter müsse so gut wie möglich gewährleistet werden. Es sollten weder von der Regierung noch aus dem Ausland Fördergelder angenommen werden. Am besten, man halte sich so weit wie möglich neutral. 

    Ein Blick in das Büro der Chefredakteurin. „Doktor gut“ steht auf dem Zettel an ihrer Türe / Foto © privat
    Ein Blick in das Büro der Chefredakteurin. „Doktor gut“ steht auf dem Zettel an ihrer Türe / Foto © privat

    Geholfen hat es nicht. Nachdem Muchina zur „ausländischen Agentin“ erklärt wurde, kündigten einige Mitarbeiter der Redaktion. 

    „Daraufhin begannen alle, sich darüber auszulassen, was wir für ein fieses Medium seien, wie wir alle hassen würden, dass unsere Träger im Ausland sitzen würden und wir hier überhaupt nicht existieren dürften“, erinnert sich Marija an den vergangenen Sommer. 

    Nach der Sperrung des Portals zogen über den Freien noch mehr dunkle Wolken zusammen: Vor ein oder zwei Jahren hatte in der Redaktion noch eine Stimmung geherrscht, die dem Motto folgte: „Wir beobachten weiter und haben Spaß dabei“. 

    Jetzt, im Sommer 2024, ist das ganz anders. 

    In der Raucherecke wird nur mit halblauter Stimme gesprochen. Die Kaffeebecher werden so gedreht, dass die Aufschriften nicht zu sehen sind, weil sie nach den neuen Gesetzen als wer weiß was ausgelegt werden könnten. Die Redakteure zensieren die internen Chats. 

    „Ändern wir nun das Programm wegen Nawalnys Tod?“

    Das letzte Jahr war das schwerste in der Geschichte der Freien. Der Scherz „wir müssen den Priester rufen“ (damit dieser den Raum gegen den bösen Blick weiht) ist jetzt nicht mehr lustig. 

    „Das schrecklichste Ereignis des vergangenen Jahres war der Tod Nawalnys“, erinnert sich Lena. „An dem Tag hatten wir [die Politikerin Jekaterina – TD] Dunzowa auf Sendung. Sie war nach Saratow gekommen, um hier den regionalen Stab ihrer Partei Rasswet zu eröffnen, und wir hatten sie gebeten, davon zu erzählen. Ich las gerade bei mir im Büro einen anderen Text und war weder im Redaktions-Chat noch beim Newsticker. Da kam der Chefredakteur der Videoabteilung reingestürmt und fragte: „Ändern wir nun das Programm wegen Nawalnys Tod?“ 

    Als Lena nach dem ersten Schock wieder zu sich kam, versuchte sie, den Journalisten zu erklären, wie sie angesichts dieser Nachricht weiter vorgehen sollten. Aber ihre Stimme versagte. Und über drei Wochen lang versagte sie wieder und wieder. 

    Und dann, zwei Monate später, verlor des ganze Portal seine Stimme. Die Freien wurden gesperrt. 

    Die Besucherzahlen der neuen Internetseite lagen gegenüber der alten nur noch bei einem Zehntel. Auch die Erwähnungen und die Suchergebnisse bei Nachrichten-Aggregatoren brachen ein. Yandex nahm die Freien wegen der Sperrung aus dem Nachrichten-Angebot. Das neue Portal würde frühestens nach einem halben Jahr aufgenommen. 

    „Bislang haben wir auf unserer Seite nichts, was die Leute anlocken könnte“, erklärt Marija. „Zum Beispiel ‚Wo kann man in Saratow gut essen gehen?‘ oder ‚Wo kann man in Saratow schwimmen gehen?‘ Das alles blieb auf der alten Seite zurück.“ 

    Die Suchmaschinen hatten die Freien auch früher schon aus ihren Ergebnissen gekickt, als die Journalisten Berichte zu nicht genehmen oder verbotenen Themen brachten. „Wir haben deswegen an Yandex.Novosti geschrieben. Die antworteten: ‚Schlechte Überschrift‘, berichtet Marija. „Sobald wir nicht mehr über etwas ‚Heikles‘ schrieben oder der Aufhänger sich von selbst erledige, kehrten wir problemlos in die Ergebnisse zurück.“ 

    „Wir haben immer weniger Mittel, aber die Risiken werden immer größer“

    „Wir haben immer weniger Mittel, und die Gehälter sind gering“, erklärt Lena. „Aber die Risiken werden immer größer. Die Reaktionen bei Straßenumfragen lassen ebenfalls nach. Wir haben eine Umfrage zur Mobilmachung durchgeführt. Da haben sich viele geweigert, etwas zu sagen. Und diejenigen, die sich offen äußerten, konnten wir nicht senden, weil Strafen drohen.“ 

    Der Raum, den die Zensur und die Propaganda in unserem Land und in unserer Region für unsere Arbeit lassen, wird mit jedem Tag kleiner. 

    „Die Ressourcen von Einiges Russland werden immer größer. Die werden immer stärker“, klagt Marija. „Der örtliche Rundfunk betrieb fünf Radiosender. Jetzt haben sie Lizenzen für fünf weitere gekauft. Und den Lagebericht für den Vizegouverneur haben die eher auf dem Tisch als der Vizegouverneur selbst.“ 

    Zwar gibt es keine offene Hetze gegen das Portal, doch spüren die Journalisten der Freien, dass etwas in der Luft liegt. „Ich hab so ein Gefühl, vielleicht ist das schon Paranoia, dass sie etwas gegen uns vorbereiten“, sagt Iwanowa. „Da wird eine geschlossene Haltung aufgebaut, um dann einen einzigen gezielten Schlag zu setzen.“ 

    Seit Juli setzt sich die Redaktion wegen der Sperrung mit der Medienaufsicht und der Generalstaatsanwaltschaft vor Gericht auseinander. Ende Juni bekam die Chefredakteurin der Freien erstmals zu Hause Besuch. Zwei Vertreter der regionalen Medienaufsicht händigten ihr eine Aufforderung aus, ein Anzeigenprotokoll zu unterschreiben: Die Redaktion habe in einer ihrer Beiträge einen Wirtschaftswissenschaftler erwähnt und dabei nicht kenntlich gemacht, dass dieser als „ausländischen Agenten“ eingestuft wurde. 

    Lena ging darauf nicht ein. In der Redaktion waren sie überzeugt: Roskomnadsor will einen Prozess zum Entzug der Lizenz. Noch während dieser Artikel zur Veröffentlichung fertig gemacht wurde, ging es los. 

    Gleichzeitig versucht man die Redaktion dazu zu bringen, von selbst auf die Medienlizenz zu verzichten. Nach der Sperrung schickte Roskomnadsor einen Brief, in dem den Freien vorgeworfen wurde, sie würden auf der alten Webseite keine Nachrichten mehr veröffentlichen, obwohl sie doch als täglich erscheinendes Internetmedium registriert sind. Das ist aber nicht wahr: Jeden Tag erscheint dort etwas aus dem Ticker. 

    Im Gespräch mit der Chefredakteurin verlangte eine Mitarbeiterin von Roskomnadsor eine schriftliche Erklärung der Redaktion, dass das Portal auf der gesperrten Seite nichts mehr schreiben werde. 

    Wenn wir eine solche Erklärung einreichen, entziehen sie uns die Lizenz“, erläutert Marija. „Wir haben keinen Plan, was wir tun sollen, wenn das passiert. Die Stadt ist recht klein, der Freiraum noch enger, und wo willst du hin, wenn du keine Möglichkeit hast zu emigrieren? Mein Mann und ich haben das nicht mal in Erwägung gezogen. Auch viele Kollegen haben einfach kein Geld, aber sie müssen ihre Hypotheken bedienen. Die Ersparnisse würden gerade einmal zwei Monate reichen, um etwa in Tbilissi zu leben. Außerdem nutzt unsere Reputation hier in Saratow anscheinend gar nichts. Im Gegenteil: Einer unserer ehemaligen Kollegen hat auf der Suche nach einem neuen Job zum Beispiel eine Absage mit der Begründung erhalten, er habe in einem Team zusammen mit einem ‚ausländischen Agenten‘ gearbeitet.“ 

    Seit diesem Jahr werden den Freien keine Studenten mehr für Praktika zugeteilt. Die erzählen, was ihre Betreuer sagen: „Die Universität unterschreibt niemals einen Vertrag mit einer Organisation, die vom Staat blockiert wurde.“ 

    „Das ist das Alltägliche des Schreckens und des Bösen: Die Gesellschaft ist den Repressionen gegenüber tolerant.“

    Bekannte aus Saratow, die jetzt in Moskau lebten, stellten alle dieselbe Frage, erzählt Iwanowa: „Warum haben sie euch noch nicht eingebuchtet?“.  „Das heißt, sie sind uns nicht feindlich gesonnen, sondern sind nur ganz ehrlich verwundert. Das ist das Alltägliche des Schreckens und des Bösen: Die Gesellschaft ist den Repressionen gegenüber tolerant.“ 

    Gleichzeitig wirft ein Teil des Bekanntenkreises den Freien Selbstzensur vor: „Eine meiner Freundinnen redet nicht mehr mit mir, weil wir ‚nicht oppositionell genug‘ seien“, sagt Marija. „Ein anderer aber, der stark in der Öffentlichkeit stand und jetzt aus Saratow emigriert ist, postet in seinem Kanal unsere Berichte – natürlich, ohne uns als Quelle zu nennen – und ergänzt das, was wir zwar eh wissen, aber nicht schreiben können, solang wir in Russland sind. Am Ende fügt er sarkastisch hinzu, die Freien seien ja irgendwie unfrei!“.

    Von den Mitarbeitern ist bislang keiner ins Ausland gegangen. „In einer Redaktion zusammenzuarbeiten ist ein großes Privileg“, findet Marija. „Du kannst jemandem einen Kaffee bringen, mit jemandem quatschen, jemanden umarmen. Weil es in letzter Zeit immer schwerer wird, sich zu erklären, was das Ganze soll.“  

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  • Immer mehr Razzien bei privaten LGBT-Treffen

    Immer mehr Razzien bei privaten LGBT-Treffen

    Im November 2023 hat das Oberste Gericht in Russland die „internationale LGBT-Bewegung“ als „extremistische Organisation“ eingestuft. Abgesehen davon, dass die Bewegung für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bi- und Transpersonen gar keine Organisation ist, warnten Beobachter vor einer neuen Verfolgungswelle. Kaum jemand traut sich noch, offen lesbisch oder schwul zu leben. Inzwischen erhöht die Polizei aber auch den Druck auf private Treffpunkte. Ende Februar wurden in mehreren Regionen Russlands nicht-öffentliche LGBT-Partys kontrolliert. Der Ablauf war überall ähnlich: Maskierte stürmten die Veranstaltungsräume, Partygäste und Personal mussten sich bäuchlings auf den Boden legen, einige wurden festgenommen. Takie dela hat Experten dazu befragt, was das alles bedeutet und was da noch zu erwarten ist.

    Eine Regenbogenfahne würde in Russland schon lange niemand mehr öffentlich zeigen. Die „internationale LGBT-Bewegung“ wurde als „extremistische Organisation“ eingestuft / Foto © IMAGO Pond5 Images

    Am 26. Februar verkündete die Krasnojarsker Queer-Bar Elton ihre Schließung. Zwei Tage zuvor hatte Jekaterina Misulina , die Leiterin der Liga für ein sicheres Internet, das Lokal öffentlich angeschwärzt: Sie hatte eine Drag-Show anlässlich des Tags des Vaterlandsverteidigers eine Provokation genannt und angekündigt, die Sache anzuzeigen. Am nächsten Tag erschien auf dem Telegram-Kanal des Innenministeriums für die Region Krasnojarsk ein Video über die Razzia im Elton, bei der zwölf Personen festgenommen wurden. [Takie dela veröffentlicht Bilder von den Razziendek].

    „Insgesamt wurden bei dem Einsatz 19 Personen kontrolliert, teils Gäste, teils Personal des Etablissements. Zudem wurden Besucher befragt“, teilte die Polizei mit. Begründet wurde die Razzia mit einem Verdacht auf die Verbreitung verbotener Substanzen und illegelen Ausschanks alkoholischer Getränke. Gegen den Clubbesitzer wurde eine Untersuchung eingeleitet. Am 25. Februar tauchte in den Medien die Meldung auf, dass die Bar ihren Social-Media-Auftritten zufolge geschlossen würde.

    Wir können nicht mehr für Eure Sicherheit garantieren

    „Leider können wir unsere Bar nicht weiterbetreiben. Die Schließung des Elton ist hiermit offiziell“, zitierte die Zeitung Prospekt Mira die Geschäftsführung. „In einer Situation, in der nichts als Hass propagiert wird und man nur noch darauf aus ist, die Einen gegen die Anderen aufzuhetzen, können wir eure Sicherheit und die Sicherheit unserer Mitarbeiter nicht mehr garantieren. Das Leben und die Gesundheit von uns allen ist aber das, was am meisten zählt!“

    Der Barbesitzer Dennis Schilow erzählte dem Sender 7-moi Krasnojarsk, wie er nach der Razzia Mitteilungen von den Strafverfolgungsbehörden bekam, in denen sie andeuteten, dass sie den weiteren Betrieb der Bar nicht zulassen würden. „Ich verstehe nicht, wieso einzelne Bevölkerungsgruppen in so ein negatives Licht gerückt werden. Unter solchen Umständen macht die Arbeit keinen Spaß. Wir können keine Partys feiern und daher auch unsere Mitarbeiter und die Steuern nicht bezahlen.“

    Im Dezember 2023 gab es schon einmal Polizeikontrollen im Elton. Damals wurden 20 Personen festgenommen, und gegen den Klub wurde Anzeige wegen „LGBT-Propaganda“ erstattet. Das Verfahren wurde aber eingestellt, weil kein Gesetzesverstoß festgestellt werden konnte.

    „Wir hatten uns schon gefreut, dachten, sie würden uns in Ruhe lassen, weil sie ja doch keine ‚Gay-Propaganda‘ gefunden hatten. Doch da beschloss ein Gast, sich bei Misulina zu beschweren. Was für die Krasnojarsker Polizei offenbar wieder ein Anlass für einen Besuch bei uns war“, sagt Artjom Demtschenko, der Geschäftsführer des Elton. Er kennt zwar das eigentliche Ziel der Razzien nicht, nimmt aber an, dass dahinter politische Interessen stehen. „Wahrscheinlich wollen sie uns und unsere Gäste einschüchtern“, glaubt Demtschenko. 

    Am 25. Februar kamen aggressive Mitglieder der nationalistischen Bewegung Sewerny tschelowek (dt. Nordmensch) in die Bar, was auf dem Telegram-Kanal der Organisation vermeldet wurde: „Mit Toleranz meinte der Präsident, dass wir uns mit eurer Existenz eben abfinden müssen, aber doch nicht, dass ihr auf eure Rechte pochen könnt! Ihr habt nämlich keine, ihr Sodomiten!“, hieß es in dem nationalistischen Telegram-Kanal. 

    Demtschenko erzählt, dass die Nationalisten seine Mitarbeiter bedrohten und in die Bar eindrangen, um die Gäste zu verprügeln. „Einige waren nach draußen gegangen, um zu rauchen, aber als sie diese Meute sahen, rannten sie gleich ohne Jacke davon. Wir wollten den Vorfall zur Anzeige bringen, aber die Polizei wehrte ab – angeblich, weil niemand zu Schaden gekommen war“, sagt Demtschenko. Und fügt hinzu: „Es muss also erst einer umgebracht oder zusammengeschlagen werden, bevor wir Anzeige erstatten können.“

    Die Bar Elton ist nicht das einzige Lokal, das die Polizei in letzter Zeit auf „LGBT-Propaganda“ hin kontrolliert hat. Am 18. Februar stürmten Polizisten in Koltuschi im Gebiet Leningrad eine private LGBT-Party und verprügelten die Gäste.

    Alle, die als Jungs geboren sind – aufstehen!

    Ausschnitte aus dem Video des Polizeieinsatzes wurden auf REN TV ausgestrahlt, unter dem Titel LGBT*-Party gegen die SWO (Militärische Spezialoperation). Auf den Bildern waren Menschen zu sehen, die auf dem Boden lagen, und durch die Räume stürmten maskierte Polizisten. Laut der Menschenrechtsorganisation OWD-Info war die Weitergabe der Aufnahmen an den Fernsehsender illegal. 

    „Hände hinter den Kopf, los, alle! Und jetzt alle, die als Jungs geboren sind, aufstehen und da drüben an die Wand stellen!“, schreit einer der Silowiki in dem Video. In dem Fernsehbeitrag hieß es, die Polizei habe eine Hausdurchsuchung gemacht und Sachen mit LGBT-Symbolik, „verdächtige Dokumente“ und „handgeschriebenes oppositionelles Material“ beschlagnahmt. Ein Partygast erzählte dem Portal Parni + (dt. Jungs +), dass die Polizisten sie vier Stunden lang auf dem kalten Boden liegen ließen und jeden schlugen, der sich rührte. Nicht einmal auf die Toilette durften sie gehen: 

    „Sie machten derbe Witze und beschimpften uns aufs Übelste. Sie gingen zu jedem hin und fragten: Bist du ein Junge oder ein Mädchen? Und wenn sie sich bei jemandem nicht sicher waren, welches Geschlecht er oder sie hat, musste sich diese Person von einer Ermittlungsbeamtin untersuchen lassen. Ein Mädchen musste ihren Rock hochschieben und ihre Leggings straffziehen, mein Freund musste seine Operationsnarben herzeigen. Und ständig diese Fragen: Ja, wo ist denn nur dein Penis geblieben?“, erzählte einer der Betroffenen Mediazona.

    Auch in Tula wurde in der Nacht auf den 18. Februar eine Veranstaltung aufgelöst: die Amore Party – ein Fest der „Liebe, Offenheit und Sexualität“ im Kulturzentrum Tipografija. Uniformierte ohne Dienstabzeichen befahlen den Teilnehmern, sich auf den Boden zu legen, verprügelten einige und zwangen sie, Kniebeugen zu machen und die Hymne von Tula zu singen. Einige Partygäste wurden nach dem Paragrafen zur LGBT-Propaganda angezeigt. OWD-Info zufolge „sagten die Leute ohne Dienstabzeichen von sich, sie hätten am Einmarsch in der Ukraine teilgenommen“.

    In Petrosawodsk platzten am 20. Februar Männer vom FSB und von der Nationalgarde in eine geschlossene Queer-Party im Nachtclub Full House, wie Karelija.News berichtete. „Wie wir unseren Quellen entnehmen konnten, steht eine Einwohnerin von Petrosawodsk unter Verdacht, diese LGBT-Community organisiert zu haben. Als Veranstaltungsraum für einschlägige Themenabende habe sie diesen Gastronomiebetrieb genutzt“, heißt es da.

    Rückzug der LGBT-Community ins Internet

    Solche Razzien wertet der Jurist Maxim Olenitschew als Einschüchterungsmaßnahmen gegen LGBT-Personen: „In der derzeitigen Form sind diese Aktionen rechtlich nicht gedeckt, aber die Staatsmacht setzt die Exekutive dazu ein, alle Arten von Treffpunkten der LGBT-Community zu schließen und ihre Gegenwart in der russischen Gesellschaft zu unterbinden“, sagt er.

    Das passiert vor dem Hintergrund, dass sich nach dem Verbot der „LGBT-Bewegung“ durch das Oberste Gericht fast alle Organisationen, die dieses Thema betrifft, ins Internet zurückgezogen haben. „Die einzigen Offline-Plattformen, die in Russland noch verfügbar sind, sind eben LGBT-Clubs und Bars, weswegen die russischen Strafverfolgungsorgane diese ins Visier nehmen“, sagt Olenitschew. Er geht davon aus, dass die Exekutive den Gerichtsentscheid weiterhin auf diese Art umsetzen wird, weswegen ein Teil der LGBT-Lokale schließen wird: Sie können ihre Tätigkeit so nicht fortsetzen.

    „Manche Lokale versuchen, sich anders zu orientieren, und üben Selbstzensur, um weiterbestehen zu können“, erklärt der Jurist. Manche Clubs verabschieden sich zum Beispiel von ihren Travestie-Shows, andere streichen die Drag-Queens aus dem Programm. „Die Polizei darf nichts zu beanstanden haben.“ 

    Derzeit würden nach den Razzien noch keine Verfahren nach dem neuen „Extremismus“-Paragrafen eingeleitet, sondern wegen „Schwulenpropaganda“, was nur eine Ordnungswidrigkeit darstellt, erklärt Olenitschew. „Das Verbot der LGBT-Propaganda ist seit zehn Jahren in Kraft. Es ist so unklar und vage formuliert, dass die Strafverfolgungsbehörden es praktisch als Vorwand für alle Amtshandlungen benutzen können, die sie für notwendig erachten“, erklärt der Jurist. 

    Derartige Maßnahmen der Silowiki sind die erste Stufe der Einschüchterung, ist der Psychologe Iwan Iwanow überzeugt, der mit LGBT-Personen arbeitet. „Trotz der Razzien werden weiterhin Gäste in die LGBT-Clubs kommen. Einerseits, weil ihnen die Gefahr nicht vollends bewusst ist, andererseits aber auch, weil man Menschen nicht davon abhalten kann, sich miteinander zu treffen. Sie werden sich einfach besser verstecken“, lautet die Schlussfolgerung des Psychologen.

    Diese Übersetzung wurde gefördert durch: 

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  • Gaza und die Juden im Kaukasus

    Gaza und die Juden im Kaukasus

    Am 29. Oktober stürmten mehrere hundert überwiegend junge Männer den Flughafen von Machatschkala in der russischen Teilrepublik Dagestan. Sie überrannten Absperrungen, stürmten auf das Flugfeld und suchten Juden, die sie unter den Passagieren einer Maschine aus Tel Aviv vermuteten. Mindestens 20 Menschen wurden verletzt, zahlreiche Passagiere verbrachten Stunden in Angst an Bord ihrer Maschinen, bevor der Mob abzog und die Türen geöffnet werden konnten. 

    Ausgelöst durch den Krieg in Israel hatte es bereits in den Tagen zuvor antisemitische Kundgebungen und Ausschreitungen im Nordkaukasus gegeben, wo mehrheitlich Muslime leben. Das war auch deshalb bemerkenswert, weil Demonstrationen in Russland derzeit in der Regel umgehend unterbunden werden. Die Beteiligten kamen bislang mit geringen Strafen davon. Offizielle Stellen betonten, Juden und Muslime hätten im Kaukasus immer friedlich zusammengelebt. 

    Wahr daran ist, dass im Kaukasus schon lange Juden leben, erklärt ein Experte Petersburg Judaica Center, der viele Jahre Feldforschung in der Region betrieben hat. Die meisten dieser Bergjuden überlebten den deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, da der Kaukasus nur verhältnismäßig kurz unter deutscher Besatzung war und die Wehrmacht die Zentren ihrer Siedlungen in Aserbaidschan, Dagestan und Tschetschenien nicht erreichte. Heute leben insgesamt noch etwa 10.000 Bergjuden an unterschiedlichen Orten im Kaukasus.

    Wer sind die Bergjuden?

    Die Bergjuden sind eine der jüdischen ethnischen Gruppen, deren Eigenbezeichnung „Juhuri“ lautet, was „Juden“ bedeutet. Ihre historische Heimat ist der Ostkaukasus, eine Region, in der sich das Gebirge des Kaukasus gen Kaspisches Meer senkt. In den politischen Grenzen von heute ausgedrückt, handelt es sich um den Süden von Dagestan und den Norden Aserbaidschans. Im 19. Jahrhundert siedelten die Bergjuden aus Dagestan im gesamten Nordkaukasus. Später verteilten sie sich über die ganze Welt. Die größte bergjüdische Gemeinschaft befindet sich heute in Israel. Viele Bergjuden leben auch in Moskau, den USA und in Europa.

    Die Bergjuden sprechen einen der Dialekte des Tatischen, das zu den westiranischen Sprachen gehört. Die muslimischen Taten sprechen einen anderen Dialekt derselben Sprache. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als der staatliche Antisemitismus in der UdSSR unter Stalin zunahm, versuchte die bergjüdische Intelligenzija in Dagestan und den anderen Republiken des Nordkaukasus, die Vorstellung zu verfechten, dass es auf die sprachliche Gemeinschaft ankomme, und nicht auf die Religion (diese sei etwas Überkommenes, das in einem atheistischen Staat ausgemerzt werden müsse!). Sie erreichten, dass die Bergjuden eine andere Bezeichnung erhielten und die Einträge in den Pässen entsprechend geändert wurden.

    Dadurch entstand eines der „indigenen Völker Dagestans“ – die Taten. In Dagestan leben fast keine muslimischen Taten. Die meisten muslimischen Taten leben in Aserbaidschan, wo sie in den Meldelisten als Aserbaidschaner geführt werden. Da das Wort „Tate“ bei den aserbaidschanischen Volkszählungen nicht vorkam, blieben die Bergjuden, die in Aserbaidschan lebten, dem Pass nach Juden. Der Eintrag „Tate“ im Pass bedeutete in sowjetischer Zeit, dass der Inhaber ein Bergjude aus einer der nordkaukasischen Republiken der Russischen Föderation ist. Diese Geschichte aus der sowjetischen Vergangenheit hat dazu geführt, dass die Bergjuden bis heute mitunter als Taten bezeichnet werden, was ihnen nicht immer gefällt. Auch Präsident Putin wiederholte, als er über die Ereignisse in Machatschkala sprach, die Formel von den „Taten, einem indigenen Volk Dagestans“.

    Antisemitismus im Kaukasus

    Oft ist der unsinnige Touristen-Mythos zu hören, es habe im Kaukasus niemals Antisemitismus gegeben. In jedem Land, in dem es historisch eine jüdische Gemeinschaft gibt oder gab, gibt oder gab es auch Antisemitismus. Im Nordkaukasus hat es immer Antisemitismus gegeben. Die Verfolgung der Bergjuden zwang diese Ende des 18. Jahrhunderts, in den Schutz aserbaidschanischer Festungen wie etwa Derbent und Kuba umzusiedeln. Mitte des 19. Jahrhunderts mussten die Bergjuden während des Kaukasuskrieges erneut fliehen. Dieses Mal suchten sie hinter den Mauern der russischen Befestigungen Schutz (etwa in Naltschik, Kisljar oder Grosny). Die Bergjuden hatten sehr stark unter den Pogromen während des Bürgerkrieges zu leiden, der nach der bolschewistischen Revolution ausbrach.

    Im August 1960 führte im dagestanischen Bujnaksk ein Artikel in einer Lokalzeitung fast zu einem Pogrom: Darin wurde behauptet, Juden würden fünf bis zehn Gramm muslimischen Bluts kaufen, es in einem Eimer Wasser verdünnen und dann an andere Juden weiterverkaufen. Der Inhalt des Artikels wurde am selben Tag im örtlichen Radiosender verbreitet. Die Juden in Bujnaksk wandten sich zum Schutz vor diesen Verleumdungen an das Politbüro des ZK der UdSSR. Um die Lage zu entschärfen, brauchte es die Intervention Moskaus.

    Während des Sechstagekrieges 1967 gab es in der Moschee von Derbent eine Versammlung, auf der Israel verurteilt werden sollte. Dort hielten Kolchosenvorsitzende und Fabrikdirektoren Reden, in denen sie die Regierung aufriefen, „einen Schlag gegen den Aggressor zu führen“. Das Volk auf den Straßen verstand diese Worte als Genehmigung für Angriffe auf Juden. In der Stadt lag ein Pogrom in der Luft. Die Juden baten die Behörden um Schutz. Zudem organisierten sie Brigaden zur Selbstverteidigung, falls es zu Übergriffen kommen sollte. Dieses Mal ging alles glimpflich aus.

    Nach dem Zerfall der Sowjetunion war der Staat in Dagestan in der ersten Hälfte der 1990er Jahre sehr schwach. Kriminelle Gruppen kämpften um Macht, Einfluss, Land und Eigentum, und es kam zu politischen Morden. In den muslimisch dominierten Regionen hatte die vergleichsweise kleine Gruppe der Bergjuden mehr als andere unter diesen Umständen zu leiden. 1993 und 1994 waren die Juden in Dagestan oft Ziel von Gewalt (Drohungen, Entführungen, Morde). Sie sahen sich dadurch gezwungen, ihre Häuser und Wohnungen zurückzulassen und oft auch ihr Hab und Gut. Die humane Variante sah so aus: Man bekam 24 Stunden Zeit, um seine Sachen zu packen; dann sollte man den Wohnungsschlüssel unter die Fußmatte legen. Die inhumane Variante war Mord.

    Die Juden flohen nach Israel, Moskau und Pjatigorsk. In dieser Phase verschwanden in Dagestan die blühenden jüdischen Gemeinden in Bujnaksk, Kisljar und Chassawjurt. Die jüdische Bevölkerung von Derbent sank von 17.000 auf 2000. Hinter all dieser Gewalt steckten natürlich Kriminelle, die um Posten, Einfluss und Besitz konkurrierten. Sie wurde jedoch mit Hilfe nationalistischer und antisemitischer Parolen begründet. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre ließ die kriminelle Gewalt nach, und das Leben kehrte in ruhigere Bahnen zurück.

    Am 29. Oktober stürmten mehrere hundert Männer den Flughafen von Machatschkala in Dagestan, um ihre Unterstützung für die Bevölkerung im Gaza-Streifen zu demonstrieren. Aufschrift auf dem Schild: „Wir sind gegen jüdische Flüchtlinge!“ / Foto © Ramazan Rashidov/TASS/imago-images

    Wie Vorurteile sich zu einem Pogrom entwickeln

    Antisemitismus ist (wie vergleichbare Phobien) keine Ideologie, sondern ein Element, das im Unterbewussten schlummert. Er ist eine Art normale Mikroflora, die pathogen werden kann, so dass der Organismus beziehungsweise der Wirt geschwächt wird. Andersgläubige und Fremde werden nicht gemocht, über ethnische Nachbarn werden üble Mythen erzählt. Doch vorläufig leben alle friedlich zusammen, besuchen einander und gehen auf Hochzeiten. Setzt aber eine Krise ein, dann brechen die überkommenen Vorurteile durch.

    Das Schlimmste ist, wenn eine solche Zuspitzung in einer noch nicht vollständig modernisierten Gesellschaft auftritt. Wie eben im Nordkaukasus, wo die Masse der Landbevölkerung immer noch in die Städte strebt. Die Menschen bewahren dabei ihre traditionellen Vorurteile, verlieren aber die traditionelle Kontrolle und entgleiten der Aufsicht der althergebrachten Autoritäten. Sie sind desorientiert, verlangen ein Stück vom urbanen Kuchen, wissen aber nicht, wie sie es richtig abbeißen sollen. Sie sind schlichtweg arm, oft ohne Arbeit, von radikalen Predigern geleitet, jung und leicht zu mobilisieren.

    Für die alteingesessene städtische Bevölkerung ist ein andersgläubiger Nachbar Konkurrenz und Ressource zugleich. Schließlich betrachten sich alle als Teil der Polis, sie empfinden einen Polis-Patriotismus. Dagegen ist ein Städter für die Migranten ein Ziel, und ein andersgläubiger Städter erst recht.

    Das Problem von Gesellschaften mit unvollendeter Modernisierung ist das schnelle Wachstum der Metropolen, denn nur dort sind zusätzliche Ressourcen verfügbar, die nicht in die Peripherie gelangen. Machatschkala ist eine solche Stadt. In den letzten zehn Jahren hat die Einwohnerzahl dort stark zugenommen auf mehr als 600.000. Einschließlich der Vororte leben dort jetzt fast eine Million Menschen, also nahezu ein Drittel der Bevölkerung der Republik Dagestan. Das schnelle Wachstum der Stadt wird durch eine für Russland überdurchschnittliche Geburtenrate getragen. Viele der jungen Einwohner sind erst vor kurzem in die Stadt gezogen. In einer solchen Stadt ist es leichter als irgendwo sonst, 2000 aggressive Randalierer zu finden.

    Was wollten die Menschen, die sich am Flughafen versammelten?

    Ethnische oder religiöse Identität ist häufig ein Grund für starke emotionale Reaktionen. Ich bin von dem Überfall der Hamas auf Israel stark mitgenommen, weil ich Jude bin, und weil ich dort Freunde und Verwandte habe. Muslime nehmen das, was mit der Bevölkerung des Gaza-Streifens geschieht, ebenfalls sehr schmerzlich wahr. Das Mitgefühl mit Glaubensgenossen ist eine verständliche Emotion, doch mit Pogromen hat sie nichts zu tun. Friedlicher Protest ist eine legitime Form kollektiven politischen Handelns, was in Dagestan ganz normal wäre, wo die muslimische Mehrheit auf der Seite der Palästinenser steht. Doch die Situation hat eine andere Wendung genommen.

    Die Bevölkerung in Dagestan neigt zu spontanen Aktionen. Im vergangenen Herbst, als in Russland die Mobilmachung begann, war Dagestan die einzige Region in Russland, in der die Aktionen dagegen recht heftig und sogar gewaltsam ausfielen. Das war kein Einzelfall. Jedes Mal, wenn in Dagestan irgendwo der Strom ausfällt oder die Gasversorgung zusammenbricht, was aufgrund der infrastrukturellen Probleme nicht selten der Fall ist, veranstalten die Menschen massenhafte und recht aggressive Aktionen. Ich will nicht sagen, dass am Flughafen von Machatschkala die gleichen Leute aktiv waren, die im Herbst gegen die Mobilmachung protestierten. Aber die Reaktion ist Teil der lokalen politischen Kultur.

    Aktionen zur Unterstützung der Bevölkerung im Gaza-Streifen finden weltweit statt, auch in Europa und in Amerika. In muslimischen Ländern, beispielsweise in der Türkei, versammeln sich besonders große Menschenmengen. Die Versammlung in Istanbul mit einer Million Teilnehmern fand übrigens auch am Flughafen statt. Das Vorgehen der Teilnehmer ist legitim, solange es gewaltlos bleibt. Die Bewohner von Machatschkala hatten ebenfalls das Recht, ihre propalästinensische und antiisraelische Demonstration mit heftigen Parolen zu veranstalten. Schließlich gehen ja auch Studenten angesehener US-Universitäten auf Demonstrationen, die zur Unterstützung des Gaza-Streifens aufrufen, und sie tragen dabei Plakate, die – vorsichtig ausgedrückt – politisch nicht korrekt sind.

    Die jungen Menschen in Machatschkala, die durch Informationen über den Krieg in Gaza und Berichte von Massendemonstrationen in aller Welt für die Muslime in Palästina aufgeheizt wurden, entschlossen sich zu demonstrieren. Demonstrationen sind in Russland derzeit äußerst gefährlich, in Dagestan werden sie aber, wie gesagt, weiterhin praktiziert. Die Menge zog zum Flughafen, weil dort regelmäßig Flugzeuge aus Tel Aviv landen. Die Logik war klar: Die Unzufriedenheit mit Israel sollte eben gegenüber Menschen aus Israel demonstriert werden, die wohl mit diesem Flug ankommen würden. Anfangs ergab sich alles zwar heftig und spontan, aber recht friedlich. Die sozialen Medien sorgten für eine schnelle Mobilisierung.

    Wir lassen keine israelischen Flüchtlinge nach Dagestan

    Im Weiteren kamen spezifische dagestanische und russische Faktoren zum Tragen. Auf dem Platz vor dem Flughafen versammelten sich nicht gar so viele Menschen. Nach Medienangaben waren es weniger als 2000, aber es waren nur junge Männer. Frauen – das ist die Spezifik der Region – nehmen an solchen Aktionen nicht teil. Auch nicht ältere Männer, die eine Balance zwischen Islam und den lokalen Bräuchen wahren. Das Publikum radikaler islamischer Predigten besteht überwiegend aus jungen Männern. Die Menge wiegelte sich auf. Einfach da zu stehen und Parolen zu rufen, erwies sich als wenig interessant und ziemlich langweilig. Die Menge ging dazu über, aktiv ihre Kraft und Wut zu demonstrieren, und sie machte sich auf zum Flugfeld.

    Gott sei Dank wurden keine Passagiere gelyncht; alle konnten in Sicherheit gebracht werden. Aber es fehlte nicht mehr viel zum Schlimmsten. Freuen kann man sich nicht nur für die, die sich in Lebensgefahr befanden, und am Leben blieben, sondern für alle. Schließlich macht Blutvergießen eine Lage unumkehrbar.

    Die Parole „Wir lassen keine israelischen Flüchtlinge nach Dagestan“ ist nicht aus dem Nichts entstanden. Sie entstammt der Annahme, dass die in Israel lebenden Bergjuden ihre Frauen, Kinder und Alten schicken würden. Also alle, die sich nicht an den Kampfhandlungen beteiligen können und unter dem Beschuss leiden. Und sie würden dort hingehen, wo sie bis zur Repatriierung gelebt hatten, zu Familienangehörigen oder zu Freunden. Ich weiß nicht, ob es solche Fälle tatsächlich gab, doch erscheint diese Annahme nicht absurd. An Israelis war man in Dagestan gewöhnt: Sie kamen regelmäßig zu Hochzeiten, Beerdigungen, Totengedenken oder einfach zu Besuch. Jetzt, während der Konfrontation, war es der Menge wichtig, Feinde des Islam – Juden und Israelis – nicht in ihr muslimisches Land zu lassen.

    Im Juni 2024 kam es zu einem terroristischen Anschlag auf eine Synagoge in Machatschkala / Foto © Nizami Gadzhibalayev/Tass Publication/imago-images

    Fremde Mächte hinter den Unruhen?

    „Das Pogrom am Flughafen wurde von jemandem provoziert …“ Meiner Ansicht nach ist das eine der dümmsten Thesen, die in den sozialen Netzwerken und in den Medien wiederholt werden. Die Regierung redet der Bevölkerung ständig ein, dass das Volk kein Subjekt ist, niemals ohne Strippenzieher hinter den Kulissen auskommt, und dass jeder Protest von Feinden organisiert wird. Der russische Präsident Wladimir Putin und der dagestanische Gouverneur Sergej Melikow haben behauptet, dass die Unruhen auf dem Flughafen von Machatschkala von amerikanischen Geheimdiensten inspiriert wurden. In den oppositionellen Medien und den sozialen Netzwerken kursierte als Antwort auf Putin eine genau gegensätzliche Erzählung: Nein, es war die Regierung, die das alles angezettelt hat, das war eine Provokation der Regierung!

    Man muss schon sehr wenig Respekt vor Menschen haben, seien sie nun gut oder schlecht, um zu denken, dass sie ohne einen Wink der Obrigkeit keinen Schritt tun. Das ist eine Art koloniale Optik: Der edle Wilde ist in seinem Urzustand so lange entgegenkommend und freundlich, bis ihn jemand zu etwas Schlechtem verführt. Man kann der Meinung sein, dass sich jemand übel verhält, man kann diesen Menschen dafür hassen, und man kann sogar zur Selbstverteidigung töten. Aber man darf nicht aufhören, in ihm einen Menschen zu erkennen, der selbst Entscheidungen trifft, seien sie nun gut oder schlecht, und der selbst dafür die Verantwortung übernimmt.

    Natürlich trägt die Regierung eine Verantwortung für alles, was im Land und in der Region passiert. Trotzdem trifft sie keine unmittelbare Schuld an dem Geschehen. Sie ist am wenigsten an Exzessen dieser Art interessiert, weil sie a) ständig von einer interreligiösen Harmonie in Russland spricht; b) „gegen den Nazismus kämpft“, was angesichts von Pogromen im eigenen Land wenig überzeugend wäre; c) versucht, den Tourismus in Dagestan zu entwickeln und viel Geld dafür investiert und schließlich d) ihr Gewaltmonopol bewahren will. Meiner Ansicht nach steckt hinter den Ereignissen Fahrlässigkeit und keine üble Absicht.

    Das Regime hat besonnen und sehr ernst reagiert, bis hin zur Erklärung von Präsident Putin, die bereits am Tag nach dem Pogrom erfolgte, wobei er das längst nicht aus jedem Anlass tut. Die Worte waren äußerst streng, das Ergebnis jedoch fiel bescheiden aus. Lediglich 15 Beteiligte an den Unruhen wurden zu acht Tagen Arrest verurteilt. Und das, obwohl der Flughafen für zwei Tage lahmgelegt war und einige Polizisten verletzt wurden. Für einen friedlichen Protest ungleich geringerer Dimension in Moskau oder anderen russischen Städten werden Aktivisten zu langen Haftstrafen verurteilt. Das Regime verfolgt offensichtlich zwei Ziele: Es will deutlich machen, dass ein solches Verhalten nicht hingenommen wird, und es will gleichzeitig keinen Anlass für neue Proteste liefern. Es bleibt zu hoffen, dass die Maßnahmen wirken und die Geschehnisse eine lokale Episode bleiben. Andernfalls könnte die jahrhundertelange Geschichte der Juden im Kaukasus bald beendet sein.

    Der Text geht auf einen Post von Valery Dymshits auf Facebook zurück, den das Portal Takie Dela übernahm. Der Autor hat ihn für dekoder überarbeitet und ergänzt.

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  • Klitzekleine Schnipsel

    Klitzekleine Schnipsel

    Aldona Wolynskaja ist ihr ganzes Leben lang davongelaufen, hat Dokumente zerrissen, Namen und Nachnamen geändert. Aber die Vergangenheit hat sie immer wieder eingeholt. Sie war im Dritten Reich eine zivile Zwangsarbeiterin aus der Sowjetunion. Anastasia Platonowa hat Aldonas Geschichte aufgeschrieben – die mit dem Kriegsende noch lange nicht vorbei war.

    Fotos © Archiv der Menschenrechtsoganisation Memorial

    Als das Auto in Brest ankam, überreichte man Aldona einen Umschlag mit ihren Papieren. Sie stieg aus dem Studebaker, nahm ein Blatt aus dem Umschlag, sah die Aufschrift „Waisenheim Odessa“ und zerriss es in kleine Schnipsel. Dann zog sie das nächste Dokument hervor, und noch eins. Aldona machte das nicht zum ersten Mal: Sie wollte verheimlichen, dass ihre Eltern verhaftet worden waren, der Vater tot und die Mutter im Lager, und dass man sie selbst, eine junge Frau von 20 Jahren, vor fünf Jahren nach Deutschland verschleppt hatte. Sie saß auf dem Bordstein der Nachkriegsstraße und riss das Papier in immer kleinere Schnipsel, damit niemand mehr etwas lesen konnte. Damit niemand etwas erfuhr.

    Herbst 1942: Nowoukrainka – Kirowograd [Ukraine]

    Als man sie in die Waggons lud, war rundum lautes Geheul. Die Jugendlichen aus dem Waisenhaus, die man nach Deutschland brachte, wurden von den „Kleinen“ verabschiedet – von denen, die man nicht mitnahm, weil sie als Arbeitskraft noch nicht zu gebrauchen waren. Noch nicht.

    Im Kinderheim, Nowoukrainka / Foto © Memorial
    Im Kinderheim, Nowoukrainka / Foto © Memorial

    Aldona hatte so gut wie nichts an. Ihre Garderobe bestand aus einem Sommerkleid aus grober Baumwolle. Es war aus dem Bühnenvorhang im Waisenheim genäht, und einem BH aus zwei zusammengenähten Pionierhalstüchern.

    In Kirowograd kletterten sie und ein paar andere Mädchen aus dem Waggon und liefen über die Gleise. Sie wollten eigentlich wegrennen, aber wo sollten sie schon hin – fast die ganze Ukraine war seit Herbst 1941 in deutscher Hand. Die Mädchen überlegten kurz und gingen wieder zurück zum Zug, der sie nach Deutschland brachte.

    Aldona wusste, dass sie von Deutschland nichts Gutes zu erwarten hatte: Im Waisenhaus kamen Briefe von Kindern an, die man schon früher geholt hatte. Sie benutzten codierte Ausdrücke, um zu sagen: In Deutschland geht es ihnen schlecht.

    Aldona wurde nach Deutschland verschleppt, als sie gerade 16 Jahre alt war. Mit ihr fuhren ihre Freundinnen Elja und Aina und andere Jugendliche aus dem Waisenhaus in Nowoukrainka.

    Frühjahr 1938: Moskau

    Als Aldona zwölf Jahre alt war, zog ihre Mutter ein schwarzes Kleid an und verließ das Haus. Drei Tage lang war sie schon weg. Aldona ging zur Schule, bezahlte die Miete, ging nach der Schule draußen auf dem Sretenski-Boulevard Seilspringen.

    Da rief die Nachbarin nach ihr, und als Aldona in ihr Zimmer gerannt kam, waren dort Unbekannte. „Pack deine Sachen, du fährst zu deiner Großmutter. Hast du eine Großmutter?“ Aldona sagte ja. Aber im Stillen fragte sie sich: Wie soll ich zu ihr fahren, wenn ich gar nicht genau weiß, wo sie wohnt? Sie durfte ein paar Kindersachen und zwei Bücher mitnehmen. Aldona suchte sich Puschkin und Tschechow aus. Mit ihnen stieg sie in ein großes schwarzes Auto.

    Aldona in Moskau / Foto © Memorial
    Aldona in Moskau / Foto © Memorial

    Man brachte sie in ein Durchgangsheim für Kinder. Die anderen Mädchen erklärten Aldona, dass sie alle Kinder von Verhafteten seien. Aldona wurde fotografiert, man nahm ihre Fingerabdrücke und zeigte ihr ihren Schlafplatz. Nach ihrer Großmutter fragte niemand mehr.

    Das Danilow Durchgangsheim war 1928 eröffnet worden. Anfang der 1930er Jahre landeten fünfzig Prozent der Kinder dort, wenn sie aus einem Waisenhaus weggelaufen waren. Ab Mitte der 1930er Jahre kamen dann Kinder, deren Eltern, genau wie Aldonas Eltern, verhaftet worden waren. Diese Kinder galten als „sozial gefährlich“, sie wurden getrennt von den obdachlosen Kindern und minderjährigen Straftätern untergebracht. Die Administration ermunterte die anderen Heimkinder die „politischen“ zu schikanieren: Bei Ausflügen wurden sie mit Steinen beworfen und beleidigt. Wenn ein Kind neu im Heim ankam, änderte man unter Umständen absichtlich den Nachnamen, um die Suche zu erschweren, nahm seine Fingerabdrücke und machte Fotos. Kinder, die miteinander verwandt waren, wurden bewusst getrennt und in verschiedene Kinderheime geschickt.

    Aldonas Vater, Baltrus Matusjawitschjus, war Kommunist und Untergrundkämpfer in Litauen gewesen. Als er in die Sowjetunion zurückkehrte, änderte er seinen Namen in Wladimir Wolynski und arbeitete im Kreiskomitee der Stadt Istra. Im Sommer 1937 wurde er verhaftet und wegen Vorbereitung eines Attentats auf Stalin angeklagt. Im April 1938 kam die Vorladung für Aldonas Mutter, Nona Lichodijewskaja. Sie hielt sich bereit: Sie war sich sicher, dass sie, eine ehrliche Frau, nichts zu befürchten habe. Außerdem war sie gerade erst wieder in die Partei aufgenommen worden, sie dachte, es würde sich bald alles aufklären, die Gerechtigkeit siegen. Nona wusste nicht, dass ihr Mann, Aldonas Vater, bereits vor drei Monaten erschossen worden war und jetzt in einem Graben in Kommunarka bei Moskau lag. Als sie die Vorladung erhielt, verließ sie ruhigen Gewissens das Zimmer auf dem Sretenski-Boulevard.

    Aus dem Durchgangsheim brachte man Aldona in einem Schwarzen Raben fort; es hieß, es ginge ins Sommerlager ans Meer. Im Vorbeifahren sah sie den Park Kultury und ein Haus, in dem Freunde der Familie wohnten und in dem Aldona mit ihrer Mutter oft zu Besuch gewesen war. Der Schwarze Rabe fuhr immer weiter.

    Aldona im Kinderheim (vordere Reihe, Mitte) / Foto © Memorial
    Aldona im Kinderheim (vordere Reihe, Mitte) / Foto © Memorial

    Den Kindern erklärte man, wenn sie jemand fragt, sollten sie antworten: Wir sind Einser-Schüler und fahren ins Artek. Später im Zug saß neben Aldona ein Mädchen, dessen Eltern ebenfalls verhaftet worden waren. So lernte sie ihre Freundin Elja kennen, und dann auch Aina. Aina fiel sofort auf: Sie war mit ihren Eltern gerade aus England zurückgekehrt, war grell gekleidet und trug eine kleine Uhr ums Handgelenk. Solche Uhren hatte in der Sowjetunion niemand.

    Herbst 1944: Guben, Deutschland

    Eines Abends kam Aina zusammen mit einer Freundin, und sie riefen Aldona ans Fenster. Die wohnte weit oben im dritten Stock, die Hausherrin hatte Aldona ein Zimmer unterm Dach gegeben. Aldona ging nach unten zu den Mädchen.

    „Wir rennen weg.“
    „Und was ist mit mir?“
    „Na los, pack deine Sachen.“

    Aldona rannte hoch. Ihre deutsche Arbeitgeberin behandelte sie nicht schlecht, hatte Aldona sogar einmal Lohn gezahlt, ließ sie manchmal am gemeinsamen Tisch sitzen und schenkte ihr eines Tages ein von Motten zerfressenes Kleid. Dafür putzte Aldona das Haus und den Laden und wenn eine Lieferung kam, schleppte sie 50-Kilo-Säcke. „Es ist das 20. Jahrhundert und ich bin eine Sklavin“, klagte Aldona Aina ihr Leid. Ob sie weglaufen soll, musste sie nicht lange überlegen.

    Aina hatte weniger Glück gehabt: Sie wurde in ein Krankenhaus eingeteilt, in eine Baracke für Ausländer, und das Mädchen brach schier zusammen vor Arbeit. Eine Freundin hatte Aina dann zur Flucht angestiftet, ebenfalls eine Ostowka aus dem Waisenhaus: Vor lauter Wut hatte sie ihre Arbeitgeberin, eine reiche Deutsche, mit einem nassen Lappen geschlagen. Die Mädchen hatten sich Mut angetrunken und waren mit der halbleeren Weinflasche zu Aldona gerannt: sich verabschieden.

    Zu dritt fuhren sie schließlich nach Berlin, wuschen sich in einer Bahnhofstoilette, setzten sich auf den Bahnsteig und machten sich daran, ihre Papiere zu vernichten: zerrissen den deutschen Ausweis [dt. im Orig. – dek], rissen alles in kleine Schnipsel, damit die Deutschen nicht merkten, dass drei Ostowkas vor ihren Herrinnen davongelaufen waren, kauften Fahrscheine nach Polen, um nach Hause zu fahren. Aber sie wurden erwischt: An der Grenze wurden alle kontrolliert; die Mädchen stiegen aus, ließen die Kontrolleure vorbei und wollten gerade wieder auf den abfahrenden Zug aufspringen, als ein Polizist sie bemerkte. Die Mädchen wurden von der Gestapo verhört, aber hatten Glück – sie kamen in ein Durchgangslager. Aldona erinnert sich, dass der Lagerleiter ein netter Mann war:

    „Na Mädels, wollt ihr arbeiten?“
    „Ja!“
    „Wo wollt ihr denn hin?“

    Die immer hungrigen ehemaligen Heimkinder fragten sofort nach der Küche. Der Leiter sagte, es gebe zwar eine, aber da wolle niemand hin – zu gefährlich.

    „Warum denn gefährlich?“
    „Das ist ein Flugplatz, der wird bombardiert.“
    „Das ist uns egal, Hauptsache es gibt etwas zu essen.“

    Sommer 1947: Magdeburg, Deutschland, sowjetische Besatzungszone

    Bevor sie nach dem Krieg nach Hause zurückkehren durften, mussten Ostarbeiter durch Filtrationslager des NKWD, wo sie verhört wurden, manchmal auch unter Folter durch Schlafentzug. Aldona blieb in Deutschland und arbeitete in der Verwaltung der sowjetischen Besatzungszone – ein recht angesehener und vertrauensvoller Posten. Trotzdem wusste sie: Irgendwann wird man sie holen kommen.

    Als man sie ins Gefängnis brachte, war Aldona nicht überrascht. Ihre Kolleginnen in der Verwaltung hatten sie gewarnt, dass mehrere Anfragen vorlagen: Die Führung wollte herausfinden, ob die junge Dolmetscherin etwas zu verbergen hatte. Das hatte sie – beim ersten Mal konnte sie sich herauswinden, aber dann kam trotzdem alles heraus. Sie wurde von zwei Männern abgeholt, die sie von der gemeinsamen Arbeit kannte: Der Ermittler Senka Slutschischkin und Major Sergej Sikejew.

    „Der Oberst hat gesagt, wir sollen dich verhaften.“
    „Na, dann los.“

    Im Gefängnis war Aldona nicht zum ersten Mal: Zuerst 1944 im Kölner Gestapo-Gefängnis, als die drei flüchtigen Ostowki-Mädchen von der Patrouille gefasst worden waren. Aus dem deutschen Lager kam die junge Frau in ein sowjetisches Filtrationslager. Dort erdachten sie und ihre Freundin Elja ihre Geschichte neu, änderten ihren Heimatort und die Nachnamen, aus Elja wurde Irina. Das Lager verließ Aldona als Mitarbeiterin der sowjetischen Militärverwaltung – die Sicherheitsdienste brauchten Leute, die Deutsch sprachen. 

    In Magdeburg blieb sie mehrere Monate – dort wusste man nicht, was man mit der Dolmetscherin mit dem Makel im Stammbaum machen sollte.

    1945: Magdeburg, Deutschland, sowjetische Besatzungszone

    Aldona in Deutschland / Foto © Memorial
    Aldona in Deutschland / Foto © Memorial

    In der sowjetischen Militärverwaltung wurde Aldona Dolmetscherin: Sie war bei Durchsuchungen und Verhören dabei, übersetzte die Aussagen angeworbener Deutscher. Ihr war klar, dass eine Mitarbeiterin, deren Eltern beide verhaftet worden waren, jederzeit auf dem Platz des Angeklagten landen konnte.

    Ihre Vorgesetzten besprachen den Plan für die Festnahmen oft in ihrer Anwesenheit.

    „Wie viele Palki hast du schon?“
    „Mir fehlen noch drei.“
    „Dann lass uns mal sehen, wen wir noch haben.“

    Aldona las die Liste vor: Mann, 65 Jahre alt, Angina Pectoris, dazu ein Haufen anderer Krankheiten.

    „Gut, der Nächste.“

    Der Nächste ist auf Dienstreise, bei dem anderen waren sie schon, wieder der Nächste ist nicht zu Hause. Dann also doch der Alte mit Angina Pectoris.

    Aldona verheimlichte ihre Vergangenheit, und eine Zeitlang ging das gut: Die Papiere aus dem Waisenhaus in Odessa waren bei einem Brand vernichtet worden. Aber sie flog trotzdem auf – irgendwann stellte jemand die richtige Anfrage, und die Antwort mit ihrem echten Namen und dem kompletten Lebenslauf, einschließlich der „unzuverlässigen“ Eltern, traf per Luftpost in Magdeburg ein. Aldona kam in dasselbe Gefängnis, das sie von den Verhören her kannte. Dort blieb sie vier Monate, bevor man sie einfach wieder laufen ließ: Man setzte sie in ein Auto, brachte sie nach Brest und überreichte ihr den Umschlag mit Papieren.

    Warum war es so gekommen? Aldona wusste es nicht. Aber sie setzte sich hin und fing aus Gewohnheit an, die Papiere zu vernichten. Blatt für Blatt, immer kleinere Schnipel, damit man nichts entziffern konnte, rekonstruieren, einen Faden spinnen zu ihren verhafteten Eltern, dem Durchgangsheim, dem Waisenhaus in Odessa, der Hausherrin in Guben, nach Köln, zur Militärverwaltung in Magdeburg …

    ***

    Aldonas Ehemann / Foto © Memorial
    Aldonas Ehemann / Foto © Memorial

    Um alle Spuren zu verwischen, heiratete Aldona und zog mit ihrem Mann, der beim Militär war, auf die Halbinsel Sachalin. Sie ahnte, dass sein Vater ebenfalls erschossen worden war, aber sie haben nie darüber geredet. Das Unausgesprochene hatte immer zwischen ihnen gestanden wie eine Wand, und schließlich trennten sie sich.

    Fast ihr ganzes Leben lang hielt Aldona ihre Vergangenheit geheim, ihre Herkunft, ihre Familie, änderte ihre Namen, vernichtete Papiere. Aber 1990 tauchten plötzlich in den Zeitungen Artikel auf, die auch sie persönlich betrafen. In der Prawda entdeckte sie eine Adresse der Stadt Köln, die nach ehemaligen Ostarbeitern und Kriegsgefangenen suchte, und entschloss sich, dort hinzuschreiben. Als Antwort bekam sie Hin- und Rückflugtickets samt einer Einladung des Bürgermeisters von Köln. 1990 lief Aldona durch die vertrauten Straßen, erkannte sie wieder und auch wieder nicht – und erhielt ein Dokument, das sie als Opfer des Nationalsozialismus anerkannte. Damit kehrte sie nach Moskau zurück und ihr wurde klar: Sie musste keine Papiere mehr zerreißen. Und sie durfte über alles reden.

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«
    (EVZ)

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  • Sibirien brennt – warum?

    Sibirien brennt – warum?

    Seit Jahresbeginn waren in Russland rund elf Millionen Hektar Wald von Feuer betroffen – eine Fläche, die dem Gebiet aller ostdeutschen Bundesländer entspricht. Aktuell wüten Brände auf einer Fläche von rund zweieinhalb Millionen Hektar, das ist etwas größer als Mecklenburg-Vorpommern. 
    Wegen des Rauchs klagen tausende Anwohner über Atemnot und andere Gesundheitsbeschwerden. Die verheerenden Waldbrände erreichen ein gigantisches Ausmaß: Der Rauch aus Sibirien hat mittlerweile Alaska und Kanada erreicht, manche Umweltexperten glauben, dass die Brände nachhaltig dem Weltklima schaden können.  

    Wald- und Steppenbrände gibt es in Sibirien jedes Jahr; ob die diesjährigen Feuer tatsächlich flächenmäßig größer sind als in vorherigen Jahren ist noch unklar. Doch offensichtlich sind diesmal mehr Menschen betroffen, vermutlich auch deshalb ist die Diskussion darüber in Russland nun viel heftiger. Vor allem ein Vorwurf an die Behörden ist dabei ganz lautstark: dass sie die Feuer zu lange sich selbst überlassen hätten. 

    Auch Umweltschützer beklagen das verspätete Eingreifen, laut Greenpeace werden immer noch über 90 Prozent der Brände nicht gelöscht. Nun sind zwar schon seit rund einer Woche größere Löschtrupps im Einsatz, doch sei ihr Eingreifen immer noch buchstäblich ein Tropfen auf den heißen Stein, so die Umweltschützer.

    Warum haben die Behörden so lange gezögert? Weshalb kam es wieder zu einer explosionsartigen Ausbreitung des Feuers? Und wie reagieren die Anwohner auf die Untätigkeit der Behörden? Diese Fragen stellt Jekaterina Timofejewa für Takie Dela

    #Сибирьгорит, Sibirien brennt – die Behörden blieben lange untätig / Foto © Greenpeace Rossija

    1. Warum waren die Behörden angesichts der aktuellen Waldbrände in Sibirien [lange] so untätig? 

    Offizieller Grund dafür ist eine Änderung der Vorschriften zur Bekämpfung von Waldbränden aus dem Jahr 2015 – unterzeichnet vom Ministerium für natürliche Ressourcen und Umweltschutz. Die Änderung erlaubte es, Feuer in sogenannten Kontrollzonen – weit entfernt von bewohnten Gebieten und Industrieanlagen – dann nicht mehr zu löschen, wenn „die voraussichtlichen Löschkosten den voraussichtlichen Schaden übersteigen“. 

    Laut Michail Kreindlin, dem Leiter des Schutzgebietprogramms von Greenpeace Russland, seien in diese Kontrollzonen allerdings „eine große Anzahl von Ortschaften“ gefallen, was der Verordnung widerspreche.

    Am 29. Juli wurde in der Region Krasnodar, in der Oblast Irkutsk sowie in zwei Verwaltungskreisen der Republik Burjatien der Ausnahmezustand ausgerufen. Am 30. Juli kam Jakutien hinzu. Grigori Kuksin, Leiter des Brandschutzprogramms von Greenpeace Russland, meint, diese Entscheidung sei viel zu spät gekommen.

    „Der Ausnahmezustand erlaubt es, zusätzliche Kräfte und finanzielle Mittel bereitzustellen, aber in diesem Stadium ist es dafür viel zu spät. Wenn der Notstand schon vor zwei oder drei Wochen erklärt worden wäre, sähe die Situation heute vielleicht ganz anders aus“, sagte Kuksin Takie Dela.
    „Jetzt fängt man an, ausreichend Kräfte bereitzustellen und zum Schutz von Ortschaften einzelne Feuer zu löschen. Aber selbst wenn man alle Kräfte zusammennehmen würde, die es in Russland gibt, wäre das noch nicht annähernd genug, um mit den Waldbränden fertigzuwerden. Die Lage ist in dem Moment aus dem Ruder gelaufen, als man sich gegen das Löschen entschieden hatte. Und das hat zur Katastrophe geführt“, kommentiert Kuksin.

    „Selbst wenn man alle Kräfte zusammennehmen würde, die es in Russland gibt, wäre das noch nicht annähernd genug, um mit den Waldbränden fertigzuwerden“ / Foto © Greenpeace Rossija

    2. Wie konnte es zu den Bränden kommen?

    Umweltminister Dimitri Kobylkin hat erklärt, die Waldbrände seien durch trockene Gewitter ausgelöst worden. Diese Einschätzung teilen auch der Gouverneur der Oblast Irkutsk Sergej Lewtschenko und das Oberhaupt der Region Krasnojarsk Alexander Uss. Von Letzterem stammt die Aussage: „Es handelt sich dabei um ein gewöhnliches Naturphänomen, das zu bekämpfen sinnlos und vielleicht sogar schädlich ist.“ Auch in Burjatien und Jakutien argumentiert man ähnlich.

    Kuksin macht allerdings nicht nur Naturphänomene für die Feuer verantwortlich, sondern auch menschliche Faktoren. „Wir wissen, dass der Großteil der Waldbrände von Menschen verursacht wurde, auch in den sogenannten Kontrollzonen“, erklärte er gegenüber dem Nachrichtensender Nastojaschtscheje Wremja. So würden beispielsweise in der Region Krasnojarsk die Zonen, in denen auf das Löschen verzichtet werden dürfe, auch Ortschaften, Infrastruktur und Waldgebiete umfassen, in denen Holz gewonnen wird.

    Die Regionalkommission in Krasnojarsk erklärte gegenüber dem Portal Tayga.info, die Entscheidung [doch zu löschen – dek] sei getroffen worden, als die Gesamtfläche der Waldbrände einige Dutzend Hektar umfasste. Als man sich im Juli gegen das Löschen von 33 Feuern in den Verwaltungsbezirken Sewero-Jenisseisk und Ewenkien entschied, loderten die Flammen dort allerdings bereits auf einer Gesamtfläche von 891 Hektar. 
    Die Kommission schätzte den Schaden durch die zerstörten Wälder auf rund 4,8 Millionen Rubel [rund 66.000 Euro] – die Gesamtkosten für die Bekämpfung der Feuer demgegenüber auf 139,1 Millionen [knapp 2 Millionen Euro].

    Der Gouverneur der Region Krasnojarsk sagte damals, er sehe keine Notwendigkeit, Feuerspringer über der Kontrollzone abzusetzen, denn das sei wenig effektiv und riskant. „Wie viel Wasser und Treibstoff würden wir wohl brauchen, um die Waldbrände in der Taiga zu löschen?“, sagte Alexander Agafonow, Sprecher des Vorsitzenden der Forstbehörde Rosleschos. „Wenn wir die Luftfahrt für solche Zwecke einsetzen, werden wir bald Pleite gehen.“

    Doch nicht alle befürworteten die Taktik des Nichthandelns. Tatjana Dawydenko etwa, die Ex-Vorsitzende der Wirtschaftsprüfungskammer Krasnojarsk, veröffentlichte eine Videobotschaft, in der sie die Untätigkeit der Behörden mit Privatinteressen von Staatsbeamten verbindet: 
    „Die Wälder brennen aus zwei Gründen: Der eine ist die Laxheit des Gouverneurs, des Premierministers und des Umweltministers im Umgang mit ihren Befugnissen und Pflichten. Zum zweiten, und hier wiederhole ich mich gerne: Wenn Brände nicht gelöscht werden, dann deshalb, weil jemand auf diese Weise illegale Abholzung oder andere kriminelle Machenschaften zu vertuschen versucht.“ Dawydenko hatte ihr Amt niederlegen müssen, nachdem sie öffentlich über Raubrodung in der Region gesprochen hatte.

    Die Entscheidung, doch zu löschen, wurde getroffen, als die Gesamtfläche der Waldbrände einige Dutzend Hektar umfasste / Foto © Greenpeace Rossija

    3. Wie reagierten die betroffenen Bewohner?

    Die Bewohner Sibiriens gingen auf die Straße und veranstalteten Einzelpikets, forderten die Verhängung des Ausnahmezustands und die Wetter-Alarmstufe „schwarzer Himmel“. Im Zentrum von Nowosibirsk hielt ein Aktivist ein Plakat mit dem Slogan „Sibirien brennt, Moskau pennt“ hoch, berichtet Tayga.info
    In Barnaul gingen Mitglieder der LDPR mit Einzelaktionen auf die Straße. Auf den Plakaten war zu lesen: „Rette die Taiga, deine Mutter!“, „Notstand statt Rauchvergiftung!“, „Ihr Mächtigen, lohnt es sich, uns zu vergiften?“, „Russland brennt, die Machthaber spucken drauf!“. Die Aktivisten hatten eine Beamten-Strohpuppe dabei, neben die sie einen Benzinkanister und ein Schild gestellt hatten: „Lass brennen, löschen lohnt sich nicht?“

    Auch in den sozialen Netzwerken wird von prominenter Seite auf das Thema aufmerksam gemacht: unter anderem von Tina Kandelaki, Rapper Basta, Sergej Lasarew [und dem US-amerikanischen Schauspieler Leonardo DiCaprio – dek].


     

    Die Ökobloggerin Anna Tjatte veröffentlichte [am 28. Juli] auf ihrer Internetseite Kommentare ihrer Instagram-Follower:

    „Ich komme aus Nowosibirsk. Die Woche war schlimm. Ein grauer Schleier über grauem Himmel, die Sonne rot, es wurde viel zu früh dunkel. Gestern hat es geregnet, jetzt kann man wenigstens etwas atmen.“ 

    „Der Chefarzt für Lungenkrankheiten hat allen Einwohnern des Kusbass empfohlen, für eine Weile irgendwohin zu fahren, wo es keinen Smog gibt. Das ist kein Scherz. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll.“ 

    „Wir haben hier im Südural die Sonne seit einer Woche nicht mehr gesehen. Die Leute in Sibirien tun mir leid.“

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  • „Wir müssen die Erinnerung wiederbeleben“

    „Wir müssen die Erinnerung wiederbeleben“

    Der Große Terror unter Stalin ist in der russischen Gesellschaft bis heute kaum aufgearbeitet und bleibt immer noch viel zu oft ein Tabu. Ganz anders in Tugatsch, wo vor 65 Jahren ein Lager des stalinistischen Gulag-Systems stand. In dem Ort leben die Kinder und Enkel von ehemaligen Lagerhäftlingen heute Seite an Seite mit den Nachkommen der Lagermitarbeiter. Statt einander zu hassen, erzählen sich die Menschen in Tugatsch gegenseitig ihre Geschichten – und sie haben ein Museum gegründet.

    Swetlana Chustik und die Fotografin Jewgenia Shulanowa haben Tugatsch für Takie Dela besucht, viele Geschichten gehört und aufgeschrieben. 

    dekoder bringt die Reportage zum Gedenktag an die Opfer politischer Repressionen, dem 30. Oktober.

    In Tugatsch leben heute Kinder und Enkel ehemaliger Lagerhäftlinge und Lagermitarbeiter Seite an Seite / Foto © Jewgenia Shulanowa
    In Tugatsch leben heute Kinder und Enkel ehemaliger Lagerhäftlinge und Lagermitarbeiter Seite an Seite / Foto © Jewgenia Shulanowa

    In Tugatsch, einem Dorf in der Region Krasnojarsk, befand sich vor 65 Jahren, zwischen 1938 und 1953, eines der Lager des stalinistischen Gulag-Systems – das Tugatschinsker Kraslag. 1800 Gefangene waren dort inhaftiert. Die meisten von ihnen aufgrund des „politischen“ Paragraphen 58. Also Menschen, die wegen einer ungeschickten Äußerung, eines Scherzes oder auch einfach nur wegen eines Logos auf einem Heft zwischen die Mühlsteine der Repressionen geraten waren.

    Nach der Schließung des Lagers blieben die meisten ehemaligen Häftlinge in Tugatsch. Um wegzugehen, fehlte ihnen das Geld – Freunde und Verwandte hatten sich abgewandt, vielen war zudem die Ausreise auch nach der Befreiung verboten. Heute leben hier die Kinder und Enkelkinder von Gefangenen Seite an Seite mit den Nachkommen der Lagermitarbeiter. Und in dieser Situation, die eigentlich alle Bedingungen für gegenseitigen Hass und Feindschaft erfüllt, werden in den Menschen plötzlich Wunder der Nächstenliebe wach.

    Lidija Slepez wurde in Tugatsch geboren, ihr Vater war aus Kasachstan hierher deportiert worden / Foto © Jewgenia Shulanowa
    Lidija Slepez wurde in Tugatsch geboren, ihr Vater war aus Kasachstan hierher deportiert worden / Foto © Jewgenia Shulanowa

    Lidija Slepez wurde in Tugatsch geboren. Ihr Vater, Gerassim Alexandrowitsch Bersenew, war aus West-Kasachstan hierher deportiert worden, er war erst 22 Jahre jung. Damals hatte er als Fahrer für den Kolchose-Leiter gearbeitet. Der Leiter wurde denunziert und verhaftet. Nach einer Weile kamen sie und holten auch Gerassim – fuhren ihn in einem Anhänger weg. Die Troika des NKWD verurteilte ihn zu „zehn Jahren ohne Recht auf Briefverkehr“.

    10 Jahre ohne Recht auf Briefverkehr

    „Als wir noch klein waren und Vater noch lebte, redeten wir zu Hause nur selten über diese zehn Jahre. Immer, wenn er anfing zu erzählen, musste er weinen. Die schlimmste Erinnerung war der Hunger, von dem alles anschwoll. Brot bekamen sie 400 Gramm pro Tag, dazu gab es dünne Balanda und wässrigen Brei. Sie mussten Essen aus den Trögen der Ferkel stehlen, die für die Lagerleitung gehalten wurden. Im Winter war es eiskalt, zum Anziehen hatten sie nur Wattejacken, in den Baracken fraßen einen die Bettwanzen und im Sommer bei lebendigem Leib die Stechfliegen, Kriebelmücken und Moskitos.
    Für jedes kleine Vergehen konnte man in der Baracke mit verschärften Haftbedingungen (BUR) landen, wo es pro Tag nur einen Becher Wasser und 200 Gramm Brot gab.
    Einmal hat mein Vater zufällig beobachtet, wie Häftlinge, die wegen Bandenkriminalität einsaßen, den Lebensmittelschuppen plünderten. Sie drohten ihm: ‚Ein Wort, und du bist tot.‘ Er schwieg. Aber die Lagerleitung fand es trotzdem heraus und steckte ihn wegen Beihilfe für einen Monat in diese Baracke. 
    Als er da rauskam, wog er 38 Kilo. Auf die Beine brachten ihn dieselben Häftlinge, die ihm das eingebrockt hatten. Sie besorgten ihm Arbeit in der Lagerküche. Am ersten Tag aß er so viel Suppe, dass sie ihm zu allen Löchern wieder rauskam, er wäre fast gestorben. Danach verboten sie ihm zu viel zu essen, päppelten ihn Stück für Stück wieder auf.“

    Gerassim Bersenew mit seiner Familie – „Immer, wenn er anfing zu erzählen, musster er weinen.“ / Foto © privat
    Gerassim Bersenew mit seiner Familie – „Immer, wenn er anfing zu erzählen, musster er weinen.“ / Foto © privat

    Gearbeitet wurde in Tugatsch bis zur völligen Erschöpfung. Hauptsächlich in der Holzbeschaffung: Sie mussten die Stämme ins Wasser rollen und per Hand den Fluss hinabflößen. Von den ersten Frühlingstagen an bis spät in den Herbst, so lange wie die Eisschicht am Rand sich noch brechen ließ. Den ganzen Tag bis zum Knie im Eiswasser. Die Flüsse der Taiga werden nicht einmal im heißesten Sommer warm. Über den Tag kam Sand in die Stiefel und scheuerte die Haut an den Füßen blutig. Die Wachen wüteten. Einmal, als sie eine Arbeitsbrigade durch den Wald führten, setzte sich ein Gefangener auf einen Baumstumpf, um einen Moment in die Sonne zu schauen, da feuerten sie eine Salve auf ihn ab – „Fluchtversuch“. 

    Die Misshandlungen hatten Methode, sie schossen auf die Beine, kamen angelaufen und fragten: „Tut‘s weh?“ Schossen wieder: „Und jetzt?“ So ging das mehrere Male. Grausamkeit wurde honoriert. Nach der Schließung des Lagers fand man Dokumente über derartige Belohnungen. Der Name Medwedew tauchte oft auf. Offenbar war der besonders „tüchtig“.

    Ein Teil des Damms – einst gebaut von den Lagerhäftlingen / Foto © Jewgenia Shulanowa
    Ein Teil des Damms – einst gebaut von den Lagerhäftlingen / Foto © Jewgenia Shulanowa

    „Gegen Ende seiner Haftstrafe wurden die Haftbedingungen meines Vaters gelockert, er fing wieder an, als Fahrer zu arbeiten. Er lernte meine Mutter kennen, sie verliebten sich. Damals war sie schon seit sechs Jahren Witwe mit drei Kindern. Ihr Mann, ein Lagerwachmann, war 1941 an die Front gerufen worden, bald darauf kam die Todesnachricht. Die jüngste Tochter war gerade erst drei Monate alt. Meine kleine dünne Mutter schrubbte die Böden der Abteilung für die Arbeiterversorgung (ORS) und kam kaum über die Runden mit ihrer Kinderschar.“

    Gerassim unterstützte seine Geliebte von Anfang an, von jeder Dienstfahrt brachte er etwas Leckeres mit. Als er endlich freigelassen wurde, war sie schon schwanger. „Nadjuscha“, „Nadenka“, „mein Sonnenschein“, „mein Entchen“, so nannte er die Kleine. Lidija war die Zweite, später wurde noch ein Schwesterchen geboren. Insgesamt waren sie zu sechst. Dass er die Kinder seines eigenen Wächters großzieht, darüber verlor Gerassim kein Wort, er hatte sie alle gleich lieb.

    Erst vor Kurzem entdeckten die Dorfbewohner auf einem Dachboden Fellmützen der Lagerinsassen / Foto © Jewgenia Shulanowa
    Erst vor Kurzem entdeckten die Dorfbewohner auf einem Dachboden Fellmützen der Lagerinsassen / Foto © Jewgenia Shulanowa

    Anfang der 1970er Jahre kam auf eine Anfrage von den westkasachischen Organen des NKWD die Antwort, Bersenew Gerassim Alexandrowitsch sei „mangels Tatbestand rehabilitiert“. Aber eine Entschädigung erlebte er nicht mehr. Zehn Jahre Lagerhaft hatten ihre Spuren hinterlassen. Die Gesundheit war dahin. Der erste Schlaganfall traf ihn 1968, er kam nur schwer wieder auf die Beine – ein Monat zwischen Leben und Tod. 1981, mit 66, folgte der zweite. Zwei Wochen ist er noch selbst gelaufen, obwohl das Atmen ihm schon schwer fiel, dann löste sich ein Blutgerinnsel, er schaffte es gerade noch zum Haus, ließ sich auf die Stufen sinken, und so, im Sitzen, starb er auch. Nadenka überlebte ihn um vierzehn Jahre.

    Truhe, Karte, Erinnerung

    65 Jahre lang erwähnte man in Tugatsch das Lager nur im Flüsterton. Man wollte die Vergangenheit nicht aufwühlen, versuchte zu vergessen und weiterzuleben. Aber die Nachklänge ließen den Leuten keine Ruhe. Einmal erzählte ein alter Mann, ein ehemaliger Wächter, in einem Laden genussvoll davon, wie sie die „Knackis fertiggemacht haben, damit sie endlich alle verrecken“. Da meldete sich am Ende der Schlange eine leise Frauenstimme: „Nicht alle, ich lebe noch.“ Grabesstille.

    Lidija Gerassimowna erinnert sich: „Mein Vater hatte im Lager gesessen, und der Mann meiner Tante war ehemaliger Wächter, aber sie redeten normal miteinander, saßen an einem Tisch, gingen zusammen spazieren – solche Geschichten gibt es in fast jeder Familie. Das war kein Grund, dass jemand ein schlechterer Mensch war. Es hieß, die Lagerleute hätten einfach Pech gehabt, es sei nun mal ihre Arbeit gewesen, sie hatten keine andere Wahl.

    Aber natürlich lastete das auch schwer auf den Herzen. Die Wachleute, die am grausamsten gewesen waren, versuchten gleich nach der Schließung hier wegzukommen, aber einige sind eben auch geblieben.“

    Die Geschichtslehrerin Ljudmila Konstantinowna Miller war die erste, die anfing über die Vergangenheit in Tugatsch zu sprechen /  Foto © Jewgenia Shulanowa
    Die Geschichtslehrerin Ljudmila Konstantinowna Miller war die erste, die anfing über die Vergangenheit in Tugatsch zu sprechen / Foto © Jewgenia Shulanowa

    „Klawdija Grigorjewna Gurjanowa war aus Dshambul (Kasachstan) nach Tugatsch deportiert worden. Sie war erst 15 Jahre alt. Eine Freundin hatte sie angeschwärzt. Sie hatten Hefte mit einem Logo, das man als „weg mit der WKP(B)“ lesen konnte. Das war so ein Witz. Klawdija hatte damals einen Verehrer, einen Studenten. Diese Freundin hatte ein Auge auf ihn geworfen und beschlossen, ihre Konkurrentin auf diese Art loszuwerden. Klawdija Grigorjewna erzählte, dass es nachts war und alle schliefen, als jemand an die Tür klopfte. Drei NKWDler kamen herein: ‚Wer von euch ist Ljamkina?‘ Und so nahmen sie sie mit. 
    Ihre ältere Schwester studierte damals. Zu ihr sagten sie: ‚Entweder du lässt sie fallen oder du verlierst deinen Studienplatz.‘ Und die Mutter unter Tränen: ‚Klawa, wir müssen dich vergessen.‘ 
    So war sie schon als junges Mädchen auf sich allein gestellt. Sie war eine Frohnatur, tanzte gern, ein zierliches, lebensfrohes Wesen – trotz allem.

    Nach der Befreiung blieb sie, weil sie nirgendwohin gehen konnte, in Tugatsch, heiratete einen Frontsoldaten, bekam einen Sohn und eine Tochter. Einmal spielten wir mit ihrer [Tochter] Weronika im Hof. Da geht plötzlich das Gartentor auf, und eine Frau kasachischen Aussehens fällt zu Boden und kriecht auf uns zu, streckt flehend die Hände aus. Hinter ihr läuft eine zweite, jüngere Frau, mit Tränen in den Augen: ‚Klawa, vergib uns.‘ Das waren ihre Mutter und ihre Schwester. Klawdija hat ihnen natürlich vergeben, aber nach Hause ist sie nicht zurück. Ihre Schwester hatte dann auch kein Glück im Leben, fing an zu trinken.“

    Abteilung für die Arbeiterversorgung (ORS) / Foto © Jewgenia Shulanowa
    Abteilung für die Arbeiterversorgung (ORS) / Foto © Jewgenia Shulanowa

    Die erste, die anfing, über die Vergangenheit in Tugatsch zu sprechen, war die Geschichtslehrerin Ljudmila Konstatinowna Miller, das war noch 2009. Sie ist die Tochter eines Aufsehers und die angesehenste Pädagogin im Dorf:

    „Mein ganzes Leben war mit dem Lager verbunden. Mein Vater hat erst als einfacher Wachmann gearbeitet, später dann als Vorsteher über die Baracke mit verschärften Haftbedingungen (BUR). Wir waren fünf Geschwister, lebten in einem kleinen Häuschen ganz in der Nähe. Jeden Tag brachten mein Bruder und ich unserem Vater das Essen in seinen Turm. Ich war mit den Aufsehern genauso befreundet wie mit den Gefangenen. Obwohl wir Kinder waren, verstanden wir damals schon viel. Aber die wichtigste Frage – warum diese Menschen das alles erleiden mussten – bleibt für mich bis heute unbeantwortet.“

    Im vergangenen Jahr fand die Schulleiterin eine Karte – so fing alles an / Foto © Jewgenia Shulanowa
    Im vergangenen Jahr fand die Schulleiterin eine Karte – so fing alles an / Foto © Jewgenia Shulanowa

    Wer man auch vor 65 Jahren gewesen sein mochte – es ist Geschichte. Ljudmila Konstantinowna hat beschlossen, dass man offen darüber sprechen muss. Gemeinsam mit ihren Schülern fing sie an, die älteren Dorfbewohner zu befragen und ihre Geschichten aufzuschreiben. Zuerst hat dem niemand große Beachtung geschenkt – ein Schulprojekt eben. Aber irgendwann fügten sich die Geschichten zu einem einzigen gemeinsamen Drama zusammen.

    Dann, im vergangenen Jahr, fand die stellvertretende Schulleiterin, Swetlana Nikolajewna Shukowitsch, bei sich zu Hause eine Karte. So fing alles an.

    „Wir waren in das Haus einer unserer Alteingesessenen umgezogen, dort stand eine alte Truhe. Ganz unten war sie mit Papier ausgelegt. Ich habe diese Truhe fünf Jahre lang benutzt, bis ich schließlich auf die Idee kam, mir die Rückseite anzuschauen. Als ich das Papier umdrehte, sah ich eine Karte: Erschließung der Rohholzbasis im Tugatschinsker Kraslag des MWD.“

    Das war der Auslöser. Es stellte sich heraus, dass alle davon gehört hatten und es wussten, viele erinnerten sich noch deutlich an die Ereignisse hier. Nur haben alle geschwiegen. Und plötzlich war es, als hätten sich die Schleusen geöffnet. Es gab Gespräche, die Leute hielten endlich nicht mehr die Luft an, entspannten sich. Sie brachten verschiedene Dinge, Alltagsgegenstände, die Geschichten strömten nur so. Die Engagiertesten bildeten eine Initiativgruppe, die den Informationsfluss koordinierte. Eine der ersten, die sich ihr anschloss, war Lidija Gerassimowna.

    Der Friedhof für Lagerhäftlinge hat jetzt ein Kreuz – eines für alle / Foto © Jewgenia Shulanowa
    Der Friedhof für Lagerhäftlinge hat jetzt ein Kreuz – eines für alle / Foto © Jewgenia Shulanowa

    „Als meine Geschwister noch am Leben waren, haben wir nie darüber gesprochen, dass wir die Erinnerung wiederbeleben müssen. Erst jetzt habe ich verstanden, dass meine Seele sich schon lange danach sehnte. Unsere Verwandten waren ja vollkommen unschuldig.“

    Und so entstand in Tugatsch Stück für Stück ein interaktives Freilichtmuseum: Streng geheim – das Tugatschinsker Kraslag. Der außergewöhnliche Name kommt nicht von ungefähr – der Großteil der Informationen zum Lager wird bis heute unter dem Vermerk „Geheim“ aufbewahrt. Das Projekt gewann einen Wettbewerb der Timtschenko-Stiftung: Ein Kulturmosaik unserer Kleinstädte und Dörfer. Das ermöglichte nicht nur, dass weitere Erinnerungen gesammelt wurden, sondern auch, dass das Museum selbst Form annahm.

    Man rekonstruierte verschiedene Außenobjekte: einen Damm, einst gebaut von den Gefangenen, um das Holz auf den Fluss zu lassen, der jetzt als Aussichtsplattform mit Blick auf das gesamte Gelände der ehemaligen Kolonie dient; eine Baracke, in der die Habseligkeiten der Häftlinge ausgestellt sind (die Gegenstände haben die Dorfbewohner selbst hergebracht). Ein Denkmal für die Opfer politischer Repressionen wurde errichtet. Der verlassene Friedhof des Lagers, wo man die Gräber nur anhand der länglichen Vertiefungen entlang der Kiefern erkennt, hat jetzt ein Kreuz – eines für alle.

    Dank der Arbeit am Museum füllen sich allmählich weiße Flecken im Schicksal des Dorfes / Foto © Jewgenia Shulanowa
    Dank der Arbeit am Museum füllen sich allmählich weiße Flecken im Schicksal des Dorfes / Foto © Jewgenia Shulanowa

    Erst vor Kurzem entdeckten die Dorfbewohner auf dem Dachboden eines der Häuser Fellmützen, Tassen und Löffel, die früher den Lagerinsassen gehörten, Schüsseln, auf denen die Namen ihrer Besitzer eingraviert sind, dazu Briefpapier und Umschläge, alte Fotos und Karten von Außeneinsatzstellen – Waldstücke, in denen die Gefangenen gearbeitet haben.

    Bald soll eine Übersichtskarte an der Ortseinfahrt entstehen, damit die Besucher sich schneller zurechtfinden. Außerdem ist ein Nachbau der Schmalspurbahn in Planung, mit deren Hilfe die Gefangenen Holz transportiert haben, und die Rekonstruktion einer Dampfmaschine, die auf dem Museumsgelände ausgestellt werden soll.

    Die Träume des Lju Pen-Sej 

    Dank der Arbeit am Museum füllen sich allmählich weiße Flecken im Schicksal des Dorfes und seiner Bewohner mit Geschichten. Zuweilen ganz zufällig.

    Am Rande von Tugatsch steht ein Spezial-Pflegeheim für alte und behinderte Menschen. Hierher kommen Menschen aus der ganzen Region, die wegen Verhaltensauffälligkeiten nicht in den üblichen Heimen leben können, aber auch ehemalige Häftlinge, die auf der Straße gelandet sind. Im Grunde ist das ein Gefängnis mit erleichterten Haftbedingungen. Seit letztem Jahr ist auch Lju Pen-Sej hier. Er stammt aus China, aber er spricht akzentfreies Russisch und möchte Kolja Iwanow genannt werden.

    Die ersten sechs Jahres seines Lebens verbrachte Lju Pen-Sej im Lager in Tugatsch / Foto © Jewgenia Shulanowa
    Die ersten sechs Jahres seines Lebens verbrachte Lju Pen-Sej im Lager in Tugatsch / Foto © Jewgenia Shulanowa

    „Ich bin 77 Jahre alt. Geboren wurde ich in China. 1941 herrschte dort eine schwere Hungersnot, und meine Eltern überquerten mit mir als Säugling die Grenze zur UdSSR. Sie wurden als Überläufer verhaftet und ins Lager geschickt, wo ich die ersten sechs Jahre meines Lebens verbrachte. Woran ich mich selbst erinnere und was ich aus den Erzählung meiner Eltern weiß, lässt sich nicht mehr unterscheiden. Ein paar Bilder sehe ich noch vor mir. Meine liebe Amme, eine Tatarin, Tamara Iwanowna, und wie ich mich an ihrem Rocksaum festhalte, ihre Stimme ist liebevoll, sie dehnt meinen Namen: ‚Ko-o-o-lja‘. Und dann wie ich renne.

    Von meinen Eltern weiß ich, dass sie fast die ganze Zeit über eingesperrt waren, die Frauen in der Frauenbaracke, die Männer bei den Männern. Besuche waren nur am Tag erlaubt. Sie sprachen kein Wort Russisch. Mein Vater wurde zum Holzfällen mitgenommen, meine Mutter putzte und kochte im Lager. Freigelassen wurden wir erst 1946. Ich sehe noch vor mir, wie mein Vater, meine Mutter und ich uns an den Händen halten und aus dem Lager laufen. Wir fuhren nach Krasnojarsk, und dort ging ich verloren. Ich kam in eine Sammelstelle, dann ins Kinderheim. Aus dem Kinderheim holten mich meine Eltern erst, als meine Schwester schon da war.

    Meine Mutter starb 1977, mein Vater 1980. Als Jugendlicher war ich ein paar Mal in China, aber weg wollte ich aus Russland nie. Mein Leben war ziemlich turbulent, zuletzt habe ich in Sozialeinrichtungen gewohnt, hab es dort etwas zu bunt getrieben, und jetzt bin ich hier gelandet.“

    65 Jahre lang erwähnte man in Tugatsch das Lager nur im Flüsterton / Foto © Jewgenia Shulanowa
    65 Jahre lang erwähnte man in Tugatsch das Lager nur im Flüsterton / Foto © Jewgenia Shulanowa

    In Tugatsch hatte Kolja gleich das Gefühl, dass ihm dieser Ort bekannt vorkam. Er fing an zu träumen: Kindheit, Jugend, alles durcheinander. Dann fragte er nach: „Jungs, gab es hier früher Lager?“ „Ja, die gab’s“, hieß es.

    Wie sich herausstellte, standen früher buchstäblich fünf Meter vom Wohnheim entfernt die Baracken, in denen die Häftlinge untergebracht waren. So fügte sich das Bild zusammen. Er verstand, dass er praktisch in seiner Heimat gelandet war. Kolja ist der letzte noch lebende Gefangene des Tugatschinsker Kraslag. Und er sagt, dass er nicht mehr weg will. In Krasnojarsk wartet niemand auf ihn, und hier träumt er Träume aus seiner Kindheit.

    Sie sind keine Feinde

    Nicht alle in Tugatsch sind der Ansicht, dass man an der Vergangenheit rühren sollte. Manche meinen, dass hier nur Mörder und Vergewaltiger saßen, man hätte die Menschen ja nicht ohne Grund weggesperrt – und warum sollte man deren Andenken bewahren? Aber von denen, die so denken, gibt es immer weniger.
    Lidija Slepez sagt, man könne täglich beobachten, wie sich die Einstellung der Menschen zum Museum verändere. Jemand, dem das Ganze gestern noch völlig egal war, stellt heute plötzlich seinen Traktor zur Verfügung, damit ein Weg aufgeschüttet werden kann. Jemand erinnert sich, dass auch in seiner Familie Gefangene waren, also geht es plötzlich auch um deren Andenken.

    Der Werklehrer der Schule arbeitet schon seit fast einem Jahr an einem Modell des Lagers: „Für mich ist das leicht, mein Onkel war ja Lagerwächter, ich habe eine ungefähre Vorstellung, wo was war.“

    Das Einzige, was Lidija Gerassimowna bedauert, ist, dass sie den letzten Willen ihres Vaters nicht erfüllt hat. Vor seinem Tod hatte er sie gebeten: „Kind, wenn ich sterbe, stell bitte keinen Zaun auf, ich habe zehn Jahre hinter Gittern verbracht.“ 
    Damals hat sie das nicht ernstgenommen und sein Grab eingezäunt (wie es die Tradition verlangt). Erst jetzt versteht sie, wie sehr es das Leben ihres Vaters wirklich zerstört hat. Sie wurden zwar rehabilitiert, aber der endgültige Freispruch, der laute Ausruf: „Sie sind keine Feinde!“ – der kam erst jetzt.

    „Überhaupt kommt es mir so vor, als hätte man mich zusammen mit meinem Vater freigesprochen, als wäre auch ich von etwas reingewaschen worden.“

    Erst vor Kurzem wurde ein Denkmal für die Opfer politischer Repressionen errichtet / Foto © Jewgenia Shulanowa
    Erst vor Kurzem wurde ein Denkmal für die Opfer politischer Repressionen errichtet / Foto © Jewgenia Shulanowa

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Die wahre Geschichte einer Geisterstadt

    Die wahre Geschichte einer Geisterstadt

    1982: Ein Atomkraftwerk soll gebaut werden. Für die spätere Belegschaft entsteht die Siedlung Kamskije Poljany. 1986 geschieht die Katastrophe in Tschernobyl, der AKW-Bau wird gestoppt. Es beginnt ein reales Warten auf Godot in Kamsjije Poljany, wo Jelena Dogadina aufgewachsen ist. Heute berichtet sie auf Takie Dela.

    Foto © Jewgenija Shulanowa
    Foto © Jewgenija Shulanowa

    „Edik war acht, als sein Papa beschloss, mit der ganzen Familie in eine kleine Siedlung zu ziehen, die für Arbeiter und ihre Familien hastig errichtet wurde. Ein Atomkraftwerk sollte die ganze Region mit Strom versorgen. Das war 1983, drei Jahre vor der Explosion des vierten Blocks im AKW von Tschernobyl. Die Welt hatte ihre mörderische Rettungsmission noch nicht begonnen, bei der alle sowjetischen Baustellen stillgelegt wurden. Deswegen hatten sich Ingenieure, Bauarbeiter, Mechaniker und Chemiker aus dem ganzen Land freudig auf den Weg dorthin gemacht, wo sie zwanzig Jahre später in Armut sterben würden.“

    Das ist der Anfang einer Geschichte, die ich in der Schule geschrieben habe. Die Namen aller Orte und Personen sind frei erfunden, jegliche Überschneidungen mit der Realität rein zufällig – würde ich gern sagen. Kann ich aber nicht.

    Für die Errichtung der Stadt wurde ein Dorf dem Erdboden gleichgemacht / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Für die Errichtung der Stadt wurde ein Dorf dem Erdboden gleichgemacht / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Die wahre Geschichte über die Geisterstadt ist sogar noch interessanter, als ich zu Schulzeiten dachte. Zum Beispiel, weil für ihre Errichtung ein Dorf dem Erdboden gleichgemacht wurde, das noch aus Zeiten Iwan des Schrecklichen stammte, oder wenn man sich die Versuche ansieht, wie die Stadt vor der Arbeitslosigkeit gerettet werden sollte – durch den Bau von 30 Casinos, jedoch ohne jegliche Infrastruktur für Touristen.

    Bau einer Grünanlage nahe der Sonntagsschule / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Bau einer Grünanlage nahe der Sonntagsschule / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Ljudmila Pospelowa ist 1982 mit Mann und Kindern nach Kamskije Poljany gezogen, aber nicht nur wegen der Allunionsbaustelle. Sie kehrte heim. Ihre Familie hatte schon im 19. Jahrhundert in dieser Gegend gelebt.

    Am 11. Mai 1982 war bekanntgegeben worden, dass dort, wo sich heute die Siedlung befindet, ein Atomkraftwerk gebaut werden soll. Die ersten Arbeiter waren schon im Februar gekommen und hatten eine kleine Containersiedlung errichtet. 

    Die Kama ist ein kalter, schmutziger Fluss / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Die Kama ist ein kalter, schmutziger Fluss / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Ljudmila erzählt, die ersten Bauarbeiter seien besonders sorgfältig ausgesucht worden: Man stellte keine Vorbestraften ein, und es war verboten, in privaten Häusern gemeldet zu sein, um den Strom der Zugezogenen zu kontrollieren. Sogar der Verkauf von Alkohol wurde eingestellt. „Weder hier, noch im Umland konnte man welchen kaufen. Wenn jemand betrunken war, konnten es nur Geologen auf Exkursion sein“, erzählt Ljudmila.

    Wegen der vielen Leute wurden die Lebensmittel knapp

    Wegen des großen Zustroms an Arbeitern wurden bald die Lebensmittel knapp, sogar das Brot wurde knapp. Gärten wurden geplündert und verwüstet, egal wie sehr Ljudmila sich bemühte, ihren in Schuss zu halten. Es mussten dringend Geschäfte her, also wurden im Erdgeschoss der Wohnhäuser Läden eröffnet und eine Kantine gebaut. Jeden Tag wurden 20 bis 30 Personen eingestellt.

    Ljudmila Pospelowa kam 1982 nach Kamskije Poljany / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Ljudmila Pospelowa kam 1982 nach Kamskije Poljany / Foto © Jewgenija Shulanowa

    1983 kam auch Viktor in die Siedlung, mein Großvater. Er bekam einen Job als Monteur beim Atomkraftwerk, schätzte die Zukunftsperspektiven ab und holte ein Jahr später die Familie nach: seine Frau Vera und die Söhne Edik und Serjoscha. 

    Damals hat man insgesamt sehr schnell gebaut, und so wurde im Wasserkraftwerk Shiguli schon 1986 die Hebung des Wasserstandes vorbereitet, um aus Wolgodonsk auf Lastkähnen die Brennelemente für den Reaktor zu holen. Doch am 26. April explodierte in Tschernobyl Block 4 des Atomkraftwerks.

    Kamskije Poljany nahm zwanzig Familien aus Tschernobyl auf

    Kamskije Poljany nahm zwanzig Familien aus Tschernobyl auf. Und Dutzende von hier fuhren zu Abräumarbeiten dorthin. Deren Kinder nennt man die Kinder der ersten und zweiten Tschernobyl-Generation. Meine Klassenkameraden gehörten zur zweiten Generation. Ich hatte eine Schulfreundin, die ständig über Kopfschmerzen klagte: erhöhter Hirndruck. Ihre Mutter hatte bei der Liquidation als Köchin gearbeitet.

    Durch den Bau von Casinos sollte die Stadt vor der Arbeitslosigkeit gerettet werden / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Durch den Bau von Casinos sollte die Stadt vor der Arbeitslosigkeit gerettet werden / Foto © Jewgenija Shulanowa

    1986 hatten alle außer den Liquidatoren nur eines: Angst. In Tatarstan fanden Demos für den Baustopp des Atomkraftwerks statt, angeführt wurden sie von Ökologen, die warnten, der Vorfall aus Tschernobyl könne sich wiederholen, zudem werde der Reaktor in Kamskije Poljany auf einer tektonischen Bruchstelle gebaut und es könne jederzeit ein Riss durch die Erdplatte gehen. Das stimmte nicht, deswegen beruhigten sich die Einwohner von Kamskije Poljany recht bald. Die Planer des AKWs fuhren von Ort zu Ort und erklärten den Leuten, dieser Reaktor sei ganz anders, er habe ein ganz anderes Kühlsystem und die Erdplatte werde ständig kontrolliert. „Bei uns wurde vor Baubeginn jeder Winkel und jeder Millimeter vermessen, Landvermesser hatten alles ausgeglichen. Die monolithische Platte, auf der der Reaktor stehen sollte, wurde stündlich kontrolliert, sicherheitshalber hat man sogar versucht, sie in die Luft zu sprengen“, berichtet Ljudmila Pospelowa.

    Mit der Fassadenbeleuchtung der Casinos schmücken die Menschen ihre Wohnungen / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Mit der Fassadenbeleuchtung der Casinos schmücken die Menschen ihre Wohnungen / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Aber es war zu spät. Den Protesten hatten sich andere „Grüne“ angeschlossen, mit der Schriftstellerin Fausija Bairamowa an der Spitze: Sie forderten die Unabhängigkeit Tatarstans von Russland, ein Verbot von Mischehen und die Ermordung von Kindern aus Mischehen. Und das jagte den Menschen weit mehr Angst ein als irgendeine Atomkraft.

    Verbot von Mischehen macht mehr Angst als Atomkraft

    Die Worte der Islamisten erschreckten sogar jene, die wie Ljudmila gegen eine Schließung des Kraftwerks waren. „Sogar ich als nicht besonders schreckhafter Mensch, bekam Angst, dass wir hier ein zweites Tschetschenien bekommen.“ 

    „Eine Zeit lang konnte ich sagen, meine Mutter arbeitet in Manhattan“ / Foto © Jewgenija Shulanowa
    „Eine Zeit lang konnte ich sagen, meine Mutter arbeitet in Manhattan“ / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Zunächst wurden die aktiven Baumaßnahmen eingestellt, die Menschen verloren ihre Jobs. Aber damals glaubten die Einwohner von Kamskije Poljany noch, der Bau werde fortgesetzt. „Wir kriegten mit, dass Tatenergo sich nur um den Unfall und die Liquidation kümmerte. Uns beachtete man gar nicht, der Reaktor wurde einfach nicht geliefert. Aber wir hatten Hoffnung: Einfach abwarten, bis sich die Lage beruhigt, dann wird es schon weitergehen. Und plötzlich – schwupp – wird Gorbatschow abgesetzt und Jelzin interessiert das alles nicht die Bohne: ‚Nehmt euch so viel Souveränität. wie ihr wollt.‘“, erinnert sich Ljudmila.

    Auf der Ruine des Reaktors veranstalteten Familien ihre Picknicks / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Auf der Ruine des Reaktors veranstalteten Familien ihre Picknicks / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Im April 1990 wurde der Bau des Atomkraftwerks in Kamskije Poljany per Beschluss des Obersten Sowjets der Tatarischen ASSR endgültig eingestellt. Bis heute lautet die offizielle Version, Grund dafür seien die Proteste der Umweltschützer gewesen.

    Ich bin fünf Jahre nach dem Baustopp zur Welt gekommen. „Uns war die Aufgabe gegeben, das AKW in Datschen zu zerlegen“, lautet eine Zeile der inoffiziellen Hymne von Kamskije Poljany, verfasst von einer einheimischen Rockband. Dort finden sich auch die Worte: „Selbst Kran-Giganten haben wir zerlegt.“ Auch das ist wahr. Gemeint sind die Kräne K-10 000, sie kommen beim Bau von Atomkraftwerken zum Einsatz, weltweit gibt es gerade mal 15 Stück. Zwei davon waren in Kamskije Poljany. Am Bau war nur einer beteiligt, später wurde er zum AKW Kalinin gebracht, aber vorher hatten wir noch Gelegenheit ihn zu nutzen: Wir kletterten hinauf, um uns das Kraftwerk von oben anzusehen. Während der zweite Kran einfach am Kai verrostet ist, der war gar nicht erst bis zur Baustelle gekommen. 

    Badespaß an den ausgehobenen Wasserspeichern des Kraftwerks

    In meiner Kindheit war das AKW keine verbotene, brachliegende oder gefährliche Baustelle – es war ein Freizeitpark. Die Kama ist ein kalter und schmutziger Fluss, deswegen fuhren wir zum Baden an die ausgehobenen und schon befüllten Wasserspeicher des Kraftwerks. Und auf dem Reaktor selbst veranstalteten wir Picknicks mit der ganzen Familie. 

    Gebadet wurde nicht in der Kama, sondern in den Wasserspeichern des Kraftwerks / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Gebadet wurde nicht in der Kama, sondern in den Wasserspeichern des Kraftwerks / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Aber nicht nur das Kraftwerk brach zusammen. Ich war etwa sechs, als meine Mutter und ich ans andere Ende der Siedlung gingen, um die Katze vom Vorgesetzten meines Vaters zu füttern. Damals gab es vor jedem Haus mindestens einen Sandkasten. An jenem Tag lag in einem davon ein Mädchen. 

    1990 wurde der Bau des Atomkraftwerks endgültig eingestellt / Foto © Jewgenija Shulanowa
    1990 wurde der Bau des Atomkraftwerks endgültig eingestellt / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Ich rannte vor, fiel vor dem Mädchen auf die Knie und blickte ihr in die Augen. Es war Sweta aus meiner Kindergartengruppe, sie hatte ein riesiges rosa Plüschmammut zuhause. Das hatte sie bei einem Musikwettbewerb gewonnen – alle waren zu Tränen gerührt gewesen, als sie gesungen hatte: „Das kann’s auf der Welt doch nicht geben, dass Kinder allein, ohne eine Mutter leben“. Neben ihr lag im Sandkasten ein Klettergerüst. Das hatte jemand einfach dort abgestellt, ohne es zu befestigen oder ein Schild aufzustellen, dass man darauf noch nicht spielen dürfe. Sweta fiel mit ihm um und war tot. Ich kann mich nicht erinnern, dass dafür jemand zur Verantwortung gezogen worden wäre.

    Kinder starben, weil sie beim Rodeln in offene Schächte fielen

    Kinder starben, weil sie beim Rodeln in offene Schächte fielen, sie erstickten in Schneehaufen, weil ein Räumfahrzeug sie übersehen und verschüttet hatte, und außerdem tranken Kinder. Man kann ihnen schwer einen Vorwurf machen. Ende der 1990er und Anfang der 2000er war es in Kamskije Poljany nicht einfach, sich sinnvoll zu beschäftigen. 

    Viktor kam 1983 als Monteur in die Siedlung / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Viktor kam 1983 als Monteur in die Siedlung / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Laut Plan sollten die Wohnhäuser, die Schulen, das Krankenhaus und andere Gebäude zu Ende gebaut werden, wenn der erste Reaktor in Betrieb genommen würde. Ohne das stand die Siedlung still. Während des Baus war es noch direkt von Moskau finanziert worden, aber danach fiel es in die Zuständigkeit von Kasan. Und Kasan ergriff sogar gewisse Maßnahmen: Den Einwohnern von Kamskije Poljany wurden Jobs in Almetjewsk, Nischnekamsk und Kasan versprochen. Aber die Menschen bekamen keine Wohnungen mehr in Kamskije Poljany, und ein Gebäude nach dem anderen wurde leergeräumt.  

    Während meiner Schulzeit hat meine Mutter neun Mal den Job gewechselt. Sie tat mehr als das Mögliche: Dass die schwersten Hungerjahre der Siedlung in den 2000er Jahren waren, habe ich erst vor wenigen Monaten erfahren.  

    Ende der 1990er Jahre war es in Kamskije Poljany nicht einfach, sich sinnvoll zu beschäftigen / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Ende der 1990er Jahre war es in Kamskije Poljany nicht einfach, sich sinnvoll zu beschäftigen / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Eine Zeit lang konnte ich sagen: „Meine Mutter arbeitet in Manhattan.“ Das war 2006. Zu dieser Zeit hatten sich alle daran gewöhnt, einmal im Jahr Versprechen vom Fertigbau des Kraftwerks zu hören, aber nun kam etwas Anderes: In Kamskije Poljany entsteht ein Zentrum für Glücksspiele! 2007 waren in der Siedlung schon neun Casinos in Betrieb, vier weitere sollten in Kürze dazukommen. 

    „Ingenieure, Bauarbeiter, Chemiker aus dem ganzen Land hatten sich freudig dorthin auf den Weg gemacht, wo sie zwanzig Jahre später in Armut sterben würden“ / Foto © Jewgenija Shulanowa
    „Ingenieure, Bauarbeiter, Chemiker aus dem ganzen Land hatten sich freudig dorthin auf den Weg gemacht, wo sie zwanzig Jahre später in Armut sterben würden“ / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Laut offiziellen Zahlen hat das tatarische Las Vegas 400 Arbeitsplätze geschaffen. Aber prozentual blieb die Arbeitslosigkeit auf demselben Niveau, nur, dass die Bevölkerung etwas geschrumpft ist.  

    Glücksspielparadies ohne Hotel

    Die Sache ist die, dass das Glücksspielparadies schlecht beworben wurde, die Straßen nicht ausgebessert, kein einziges Hotel gebaut und auch sonst keinerlei Infrastruktur geschaffen wurde. Also kamen auch keine Touristen. So spielten die Einheimischen – versetzten ihre Wohnungen, Autos und Datschen. Und begannen dann auch, sich wegen der Schulden gegenseitig umzubringen. Eine Woche nachdem meine Mutter gekündigt hatte, wurde in ihrem Casino eine alte Garderobenfrau getötet. Ein Mann, der eine große Geldsumme verspielt hatte, lauerte den Casinomitarbeitern bei den Garagen auf, weil er glaubte, sie würden Geld bei sich tragen.  

    Ohne das Atomkraftwerk stand die Siedlung still / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Ohne das Atomkraftwerk stand die Siedlung still / Foto © Jewgenija Shulanowa

    2009 trat das Gesetz zur „staatlichen Regulierung der Tätigkeiten in der Organisation und Durchführung von Glücksspiel“ in Kraft, Spielhallen waren nur noch an vier Orten in Russland erlaubt. Kamskije Poljany gehörte nicht dazu. Also gesellten sich auch noch verlassene Casinos zum Stadtbild. Und mit der Fassadenbeleuchtung der Casinos schmückten meine Freunde ihre Zimmer.

    Für das Glücksspielparadies wurde keine Infrastruktur geschaffen, also kamen auch keine Touristen / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Für das Glücksspielparadies wurde keine Infrastruktur geschaffen, also kamen auch keine Touristen / Foto © Jewgenija Shulanowa

    2008 hatte Kasan wieder ein ambitioniertes Vorhaben: ein Kur- und Tourismusgebiet in Kamskije Poljany zu errichten. Gesamtfläche: 103.015 Hektar. Mit verschiedenen Bereichen für Wochenendausflüge (ob Business-, Wassersport-, Erlebnis-, Extrem-, Kinder- oder Familienurlaub); auf Folklore und Kultur ausgerichteten Tourismus; Wellness, Jagd und Ökotourismus; ganzjährige Arten des Abenteuertourismus. Es wurde nichts draus. 

    Fabrik für Stretchfolie und Fischzucht-Freizeit-Cluster

    Laut Medienberichten ist „Kamskije Poljany 2009 in die Liste der Monostädte Russlands aufgenommen worden und hat 1,7 Milliarden für den Bau eines Industriegebiets erhalten“. Das Industriegebiet – das ist eine Fabrik, die Stretchfolie produziert. Es heißt, sie versorge ein Viertel der Einwohner mit Arbeitsplätzen. Auf der offiziellen Website der Fabrik liest man, sie beschäftige 450 Mitarbeiter. In der Siedlung sind 15.000 Einwohner gemeldet. 2011 wurden Kamskije Poljany 250 Millionen Rubel zum Bau eines Fischzucht-Freizeit-Clusters gewährt. Seit 2017 läuft ein Verfahren wegen der Entwendung dieser Summe und weiteren 45 Millionen Rubel, die als Prämie an eine nicht existente Fabrik ausgezahlt wurden. 

    2013 hat die Regierung der Russischen Föderation eine Liste von Atomkraftwerken erstellt, die bis 2030 erweitert oder fertig gebaut werden sollen. Das AKW Tatarien war auf Platz sechs.

    2011 wurden 250 Millionen Rubel zum Bau eines Fischzucht-Freizeit-Clusters gewährt – das Geld verschwand / Foto © Jewgenija Shulanowa
    2011 wurden 250 Millionen Rubel zum Bau eines Fischzucht-Freizeit-Clusters gewährt – das Geld verschwand / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Ljudmila Pospelowa kämpft derzeit darum, dass sich die Verwaltung endlich um den alten Friedhof kümmert, und bereitet Schüler auf die Abschlussprüfungen in Russisch und Literatur vor. Wie mich damals. Am Ende unseres Gesprächs sagt sie noch, man habe versprochen, das Kraftwerk bis 2030 fertig zu bauen – diesmal angeblich wirklich. 

    In den Casinos verspielten die Einheimischen ihre Wohnungen, Autos und Datschen / Foto © Jewgenija Shulanowa
    In den Casinos verspielten die Einheimischen ihre Wohnungen, Autos und Datschen / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Offenbar weiß sie noch nichts davon, dass die Liste der Atomkraftwerke letztes Jahr aktualisiert wurde, Tatarien ist nicht mehr dabei.

    Der Plan eines Kur- und Tourismusgebiets in Kamskije Poljany scheiterte / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Der Plan eines Kur- und Tourismusgebiets in Kamskije Poljany scheiterte / Foto © Jewgenija Shulanowa

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