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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Steuern den Hütten, Geld den Palästen

    Steuern den Hütten, Geld den Palästen

    Am Mittwoch hat Wladimir Putin seine alljährliche Botschaft an die Föderationsversammlung verkündet. Neben Kritik am Westen galt der Fokus diesmal vor allem der Innenpolitik. Die Schlüsselaufgabe dabei, so der Präsident, sei sbereshenije naroda – das Behüten, Bewahren des Volkes. Die Formel geht auf den Schriftsteller Alexander Solschenizyn zurück, der darin das Potential für eine neue „nationale Idee“ sah. Die Politik habe demnach eine Fürsorgepflicht, müsse sich um das Volk kümmern.

    Putin, der diese Definition der „nationalen Idee“ befürwortet, startete schon 2005 das Programm der (prioritären) nationalen Projekte. Spätestens seitdem betont der Präsident immer wieder, wie wichtig Armutsbekämpfung sei, Familienförderung und effektive Gesundheitspolitik. Auch in seiner Rede am 20. Februar 2019 sprach er ausführlich über diese Themen, außerdem betonte er, dass auch Umwelt- und Verkehrspolitik wichtige Teile der nationalen Projekte seien.

    Im Vorfeld wurde vielfach darüber spekuliert, worüber der Präsident wohl sprechen würde. Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew liegt bereits zwei Tage zuvor mit seinen Vermutungen ganz richtig:  Auf Spektr schaut Inosemzew sich die alten Versprechen der nationalen Projekte an und fragt: „Und was sind die Ergebnisse?“

    Mitte Februar hat die Regierung die finanziellen Kennzahlen für verschiedene prioritäre nationale Projekte bekanntgegeben. In den Jahren [seit 2008 – dek] wurde besondere Aufmerksamkeit auf die Gesundheitsfürsorge, das Bevölkerungswachstum und die Entwicklung der Infrastruktur gerichtet. 

    Und was sind die Ergebnisse?

    Im Jahr 2007 gab es in Russland 400.000 HIV-Infizierte, jetzt sind es geschätzt mindestens 970.000, wahrscheinlich jedoch rund 1,3 Millionen. Die Zahl der Krebskranken ist von 2,4 auf 3,5 Millionen gestiegen. 
    Laut Regierungsangaben ist die Lebenserwartung phantastisch hoch: Lag sie 2006 noch bei 67,4 Jahren, waren es 2018 schon 73,2 Jahre. Dabei ist die Einwohnerzahl im Land allerdings aus irgendeinem Grund kaum gewachsen (von 143,2 auf 144,3 Millionen Menschen ohne Berücksichtigung des „Zuwachses durch die Krim“), und 2018 kam es neuerlich zu einem natürlichen Abfall, was Anlass zu der Annahme gibt, dass die verlautbarten  Zahlen nichts weiter als ein statistischer Trick sind. 

    Die Fernstraße von Moskau nach Sankt Petersburg wurde innerhalb der letzten zehn Jahre nicht fertiggestellt, der Bau der Hochgeschwindigkeitstrasse Moskau – Kasan nicht einmal begonnen. Alle Großprojekte (von Wladiwostok über Sotschi bis hin zur Krim-Brücke) waren Augenwischerei an den äußersten Rändern des riesigen russischen Territoriums und änderten nichts an der Situation im zentralen Teil des Landes.

    Die prioritären nationalen Projekte – das ist heute im Grunde genau ein nationales Projekt: das Errichten eines Systems, durch das die persönlichen Interessen einer diebischen Beamtenschaft bedient werden. Es ist kein Zufall, dass mehr als zwei Drittel der zu bewilligenden Mittel aus dem Staatshaushalt kommen: Dem Staat beliebt es, über Steuern Geld aus der Wirtschaft und von den Menschen abzuziehen und es anschließend in die Hände der Bürokraten zu übergeben, die standardmäßig besser wissen, wie damit umzugehen ist. 

    Die Brieftasche der Beamten

    Die prioritären nationalen Projekte – das ist eine schöne Bezeichnung für die Brieftasche der Beamtenklasse. Die füllt der Kreml fürsorglich mit Geld, das über die Mehrwertsteuererhöhung und die Erhöhung des Rentenalters eingenommen wurde. Das ist de facto der Preis, den die Bürokratie aufruft, also derjenige Teil der Haushaltsausgaben, der on top kommt bei der Förderung der einen oder anderen Branche. Wenn irgendetwas [von diesen nationalen Projekten – dek] gelingt – wunderbar, wenn sich all das dafür vorgesehene Geld „auflöst“ – dann ist es auch keine Tragödie. Für die Machthaber, versteht sich, nicht für die Bevölkerung.

    Die Bevölkerung gewöhnt sich daran, immer mehr der steigenden Kosten aus der eigenen Tasche zu bezahlen, wobei diese zweifellos vom Staat getragen werden müssten, auch ohne jegliche nationalen Projekte. Bezeichnend für diese herrliche Technik sind zum Beispiel die vermehrten Finanz- und Sammelaktionen in Krankenhäusern und Schulen. Praktisch am selben Tag, als im Weißen Haus Gelder für die prioritären Bereiche verteilt wurden, gab es in der Duma den Vorschlag, Eltern angesichts dessen, dass Stipendien keineswegs mehr zum Leben reichen, zum Unterhalt von Schulkindern und Studenten zu verpflichten. 

    Das ist im Grunde alles, was man über die nationalen Projekte wissen muss: Geld in den Händen von Beamten – das heißt bei uns „national“, und Geld in der Tasche der einfachen russischen Bürger – das ist etwas für die russische Staatlichkeit Fremdes und Abstoßendes.

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  • Das Begräbnis des Essens

    Das Begräbnis des Essens

    Die westlichen Wirtschaftssanktionen wurden von Russland mit Einfuhrverboten für verschiedene Lebensmittel aus europäischer Produktion beantwortet. Produkte, die über unklare Kanäle dennoch ins Land kommen, werden derzeit in großangelegten Aktionen öffentlich vernichtet. Das Internetjournal Spektr wirft einen Blick darauf, wie diese Maßnahmen begründet werden und wie verschiedene Bevölkerungsgruppen sie aufnehmen.

    Ende Juli unterschrieb der russische Präsident Wladimir Putin einen Erlass, wonach landwirtschaftliche Erzeugnisse, Käse und andere Nahrungsmittel, deren Einfuhr im Zusammenhang mit den Wirtschaftssanktionen verboten wurde, vernichtet werden müssen. Das am 6. August in Kraft getretene Dokument soll für mindestens ein Jahr gelten. Nach der Unterzeichnung des Erlasses scherzte man in den sozialen Netzwerken ein paar Tage lang über das Aussehen des beleibten Chefs der russischen Zollbehörde, Andrej Beljaninow, mit dem Hinweis, dass sich wohl kein zweiter mit der Vernichtung von Nahrungsmitteln so auskenne wie er. Die russische Regierung nahm das Ganze jedoch sehr ernst und organisierte am vergangenen Donnerstag eine regelrechte Schau-Exekution sanktionierter Lebensmittel.

    In einigen Regionen begann man mit der Umsetzung des Erlasses schon, bevor er tatsächlich in Kraft trat. So wurden zum Beispiel in Samara bereits am 4. August 114 Tonnen Schweinefleisch vernichtet, die nach den Worten der Sprecherin der russischen Landwirtschaftsaufsichtsbehörde Rosselchosnadsor Julia Melano schon im April „bei den Inspektoren Zweifel hervorgerufen hatten und beschlagnahmt worden waren“. Sie ließ verlauten, dass es sich dabei um in Europa hergestellte und mit falschen brasilianischen Zertifikaten nach Russland importierte Produkte handele.

    Aber ernsthaft gegen die geschmuggelten Lebensmittel vorzugehen, begann man erst zwei Tage später. Die News-Spalte der Landwirtschaftsaufsichtsbehörde flimmerte nur so vor Meldungen über immer mehr Lebensmittel mit gefälschten Zertifikaten. 1 ½ Tonnen Schweinefleisch, 9 Tonnen Möhren, 28 Tonnen Tomaten und Äpfel, 73 Tonnen Nektarinen (in Wirklichkeit noch viel mehr, das war nur eine der beschlagnahmten Partien) – all das muss dem neuen Erlass des Präsidenten zufolge vernichtet werden.

    Es blieb aber am Donnerstag nicht bei Beschlagnahmungen. Die Pressestelle der Landwirtschaftsaufsichtsbehörde veröffentlichte ein Video und eine Fotoreportage über die Vernichtung von Käse in der Region Belgorod, den man schon Ende Juli beschlagnahmt hatte. Mit einem Traktor wurden rund 9 Tonnen Käse in einer Mülldeponie zermalmt.

    In St. Petersburg verbrannte man Käse in einem Spezialofen. Bislang zwar nur eine kleine Partie, aber in der nächsten Zeit sollen in Pulkowo rund 20 Tonnen Käse verbrannt werden. Über 4 ½ Tonnen Gemüse wurden in einer Mülldeponie in der Region Brjansk vernichtet.

    Selbstverständlich blieben die Nutzer der sozialen Netzwerke bei solch entschlossenen, krassen Maßnahmen gegenüber ausländischen Lebensmitteln nicht gleichgültig und begannen, Witze zu reißen: Es entstanden Fotomontagen, Plakate, die Boris Jelzins Stab vor den Wahlen von 1996 veröffentlicht hatte, wurden wieder hervorgeholt, man schlug ähnliche Maßnahmen für den russischen Fußball vor oder veröffentlichte einfach Nachrichten, bei denen man angesichts der aktuellen Lage im Land nicht gleich wusste, ob sie echt waren oder ein Fake. Man witzelte auch über die Sache mit dem Lastwagenfahrer, der, als er von den neuen Gesetzen erfahren hatte, mit 1 ½ Tonnen Tomaten nach Weißrussland floh.

    Viele nahmen die Vernichtung der Lebensmittel jedoch sehr ernst. Sie fassten sie als Beleidigung für Russland auf, wo man sich an Kriegs- und Hungerjahre anderer Zeiten erinnert und einen respektvollen Umgang mit Essen gewohnt ist. Auf der Website change.org findet sich bereits eine Petition, in der Bürger die Regierung dazu aufrufen, die Lebensmittel nicht zu vernichten, sondern an Bedürftige weiterzugeben. Der Aufruf erhielt beinahe 300.000 Stimmen und wurde sogar im Kreml zur Kenntnis genommen. Putins Sprecher Dimitri Peskow, der zunächst verkündet hatte, die Umsetzung des neuen Gesetzes sei unumgänglich, hat bereits versprochen, die Petition zumindest in Augenschein zu nehmen. Er gab auch zu, dass der Prozess der Vernichtung von Lebensmitteln „nicht sehr angenehm aussieht“, betonte aber, dass es in der gegebenen Situation einfach keinen anderen Ausweg gebe.

    Gemäß Putins Erlass über die Prüfung gesellschaftlicher Initiativen berücksichtigt die russische Regierung Petitionen im Grunde nur, wenn sie auf einer Website namens Rossiskaja obschtschestwennaja iniziatiwa (Russische gesellschaftliche Initiative) publiziert werden. Ein ähnlicher Aufruf dort erhielt bisher erst gut 3000 Stimmen (und mehr als 130 dagegen), was ungefähr 96.000 weniger sind, als nötig wären, damit die Petition auf föderaler Ebene geprüft wird.

    Der russische Landwirtschaftsminister Alexander Tkatschow (von dem die Idee der Nahrungsmittelvernichtung stammt) ließ verlauten, sein Amt halte sich in der Angelegenheit der Vernichtung sanktionierter Erzeugnisse an die weltweit übliche Praxis. Seinen Worten nach muss Schmuggelware vernichtet werden, um so mehr, da sie größtenteils von recht zweifelhafter Qualität sei. „Wir dürfen die Gesundheit unserer Bürger nicht aufs Spiel setzen“, ergänzte Tkatschow. Im Übrigen ist für den Minister nicht nur das Wohlbefinden der Bevölkerung Anlass zur Sorge. Eine Verteilung der Lebensmittel an Bedürftige würde Alexander Tkatschow zufolge auch mit vermehrter Korruption und der Überschreitung von Dienstbefugnissen einhergehen. Dieselbe Meinung vertritt auch der Chef der Landwirtschaftsaufsichtsbehörde Sergej Dankwert.

    Doch nicht alle führenden Politiker teilen die Auffassung, dass die Vernichtung der Lebensmittel unumgänglich ist. Der Leader der Kommunistischen Partei Gennadi Sjuganow zum Beispiel bezeichnete solche Maßnahmen als barbarisch. „Auf unserem Planeten leben sieben Milliarden Menschen, von denen sich jeden Tag zwei Milliarden hungrig zu Bett legen. Es gibt viele Organisationen, die bereit wären, diese Lebensmittel Armen zukommen zu lassen“, erklärte der Politiker. Auch die Vertreter des Gerechten Russlands unterstützen die Idee einer Umverteilung des Essens. Der Leader der Liberal-Demokratischen Partei Russlands Wladimir Shirinowski wiederum bezeichnete die Zerstörung der Lebensmittel als „Kampf gegen Kakerlaken“. „Wir vernichten sie, und sie kommen wieder. Und wir vernichten sie wieder. Genau wie beim Kampf gegen den Diebstahl und gegen den Schmuggel“, sagte er.

    Der russischen Regierung geht es natürlich nicht um das Schicksal der Lebensmittel als solche. Sogar für nichtzertifizierte Ware hätte man schließlich viel vernünftigere Verwendungsmöglichkeiten finden können als die Verbrennung in Öfen unter dem Blitzlichtgewitter der Kameras und die demonstrative Zerstampfung im Schmutz. Und felsenfeste Beweise dafür, dass diese ganzen Nahrungsmittel tatsächlich unter Umgehung der Einfuhrverbote aus der verhassten EU oder aus den USA kamen, gibt es bisher auch nicht. Schmuggel mit billigen, minderwertigen Lebensmitteln gab es letzten Endes schon immer. Jedoch braucht es gerade jetzt eben jene Kameras, muss die russische Regierung gerade jetzt – nicht einmal der ganzen Welt, sondern in erster Linie den eigenen Bürgern – zeigen, dass sie selbstsicher ist und dass das Land bestens ohne die täglichen paar hundert Tonnen „feindlicher“ Nahrungsmittel auskommt.

    „Ich bezweifle, dass der Vorschlag, die sanktionierten Lebensmittel zu verteilen, durchkommt – das wäre irgendwie nicht cool und zu menschenfreundlich dafür, wie die Dinge derzeit stehen“, sagt der Redakteur der Zeitschrift Kommersant-Dengi, Juri Lwow. Angesichts der um ein weiteres Jahr verlängerten Sanktionen geht es genau darum, Coolness und Unabhängigkeit zu demonstrieren. Und die Blockadeopfer, die Hunger gelitten haben, werden es geduldig ertragen. Selbst die Aktivisten, die sich mit und ohne Grund hinter ihren kriegs- und blockadeerfahrenen Großvätern verstecken und in der Soße aus Siegesfeiern zum 70-jährigen Jubiläum des Kriegsendes bereit sind, so ziemlich alles zu verbieten, sind in den letzten Wochen irgendwie verstummt.

    Allerdings vermitteln die Ereignisse bisher weder Selbstsicherheit noch Stolz. Die demonstrative Vernichtung von Lebensmitteln ruft nur Unverständnis und Abscheu gegenüber all denen hervor, die das angezettelt haben. Und es erinnert auch schmerzlich an die berühmte Episode Das Begräbnis des Essens aus der humoristischen Sendung Oba-na! von 1990, in der – zu Zeiten allgemeiner Lebensmittelknappheit – Fleisch, Brot und anderen Nahrungsmitteln ein Staatsbegräbnis ausgerichtet wird. Damals scherzten die Autoren: „Das Essen ist tot, es lebe der Hunger!“ Aber jetzt ist das irgendwie nicht mehr lustig.

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  • Produktion von Ungerechtigkeit

    Produktion von Ungerechtigkeit

    Olga Romanowa ist eine bekannte Journalistin, die sowohl im Fernsehen wie auch in Printmedien gearbeitet hat. Außerdem ist sie Direktorin einer Organisation zur Strafgefangenenhilfe. Sie berichtet, wie einer ihrer Besuche im hohen Norden sie in eine Welt entführt, in der die Haft selbst nur eine Nebenrolle spielt.

    „Sagen Sie mal, Iwan Stepanowitsch, Pekinesen … Gibt es die hier wirklich?“
    „Klaro.“
    „Diese kleinen wuscheligen mit Palmen auf dem Kopf. Und Stupsnasen …“
    „Klaro.“
    „Was machen die denn hier und woher kommen sie?“
    „Aus dem Wald. Die leben hier seit eh und je.“

    Mir scheint, einer von uns spinnt. Ich fahre seit vielen Jahren in diese Gegend, in die entlegenen Gefangenengebiete des russischen Nordens, wo die Taiga in den Bergen endet und erste Anzeichen der Tundra zu sehen sind. Etwas weiter weg gehen die Berge in Hügel über, und dort beginnt die Tundra. Hier aber ist noch Wald, bevölkert von Bären, Wildschweinen, Wölfen und anderen niedlichen Pelztieren. Und schon seit vielen Jahren reibe ich mir die Augen, wenn aus diesem Wald, in den man sich nicht einmal zum Pinkeln hineintraut, eine Meute wilder Pekinesen, angeführt von einem kessen Alpha-Männchen, herauskommt, die kleine Siedlung durchquert, die Schuppen umschnüffelt, sich mit den ansässigen riesigen Hofhunden anbellt, die versuchen sich der Meute anzuschließen, aber verscheucht werden – und dann stolz im Kiefernwald verschwindet.

    Iwan Stepanowitsch hat extra für mich einen Bären wecken lassen – fast in jedem Lager hier leben Bären / Fotos © Olga Romanowa
    Iwan Stepanowitsch hat extra für mich einen Bären wecken lassen – fast in jedem Lager hier leben Bären / Fotos © Olga Romanowa

    Ich kenne mich mit Hunden aus, ich sehe, dass das erstklassige, gezüchtete Rassehunde sind. Die können hier nicht überleben: Ich komme im Sommer in Sandalen aus Moskau in die Gebietshauptstadt geflogen und ziehe mir im Taxi Filzstiefel an, die nächste Stadt ist 400 km von hier entfernt. Ich kenne den Unterschied zwischen Winterfilzstiefeln und Sommerfilzstiefeln.

    In Sommerfilzstiefeln bin ich einmal zum von der Straße abgelegenen Ende der Siedlung gegangen, um zu sehen, warum die Schafe und der Bock dorthin laufen. Jetzt in Winterfilzstiefeln schafft man es nicht dorthin, im Winter schafft man es hier überhaupt nirgendwohin, wenn kein Pfad freigehauen ist, durch den man wie durch einen Korridor geht, dessen Schneewände links und rechts bis zu den Schultern reichen.

    Im Winter schafft man es hier überhaupt nirgendwohin, wenn kein Pfad freigehauen ist, durch den man wie durch einen Korridor geht, dessen Schneewände links und rechts bis zu den Schultern reichen

    Jedenfalls laufen die Schafe und der Bock zu einem Ding, das von weitem aussieht wie ein weißer Stein, sie scharen sich um ihn, und dann treten die älteren Tiere näher und berühren den Stein mit der Stirn, doch das ist gar kein Stein, sondern ein alter Schafsbockschädel.

    „Iwan Stepanowitsch, da ist doch so ein Schafsbockschädel, zu dem die hinlaufen, kennen Sie den?“
    „Klaro. So’n Schädel eben.“
    „Iwan Stepanowitsch, und warum fliegen die Bienen hier immer im Kreis um den Bienenstock?“
    „Olga, du Dummchen. Wohin sollen die denn sonst fliegen?“

    Ich frage, er antwortet. Was ist daran bitte nicht zu verstehen? Ich bin das Moskauer Dummchen und er der Oberst der Föderalen Strafvollzugsbehörde, ein hohes Tier, Herr über die hiesigen Ländereien mit all ihren Lagern und Strafkolonien. Er versteht nicht, warum ich wieder hergekommen bin, obwohl er sich anscheinend schon dran gewöhnt hat.

    Ich kenne seine beiden Frauen und die meisten seiner Kinder, sie begegnen mir so offen und freundschaftlich wie man, sagen wir, einer Katze überhaupt begegnen kann – einem rätselhaften, aber insgesamt harmlosen Wesen, solange es die Pfoten von der Smetana lässt. Ich versuche zu erklären, warum ich gekommen bin:

    „Ich habe so eine Art Patenschaft für hiesige Häftlinge übernommen.“
    „Was bitteschön für eine Patenschaft bei welchen Häftlingen? Dein Mann hat seine Strafe doch schon lange abgesessen. Übrigens ein guter Kerl, vom Lande, dass er zwei Hochschulabschlüsse hat, da würde man nicht drauf kommen, eher ein Einfaltspinsel, aber mit einem eigenen Kopf, auf jeden Fall: Alle erinnern sich hier noch, wie er mal mitten im Winter Rosen für dich aufgetrieben hat, als du zu Besuch kamst. Und was soll das jetzt, was für Häftlinge?“
    Hundertneunundfünfziger.“
    „Hättst du das doch gleich gesagt.“

    Und dann fährt er mich zu dem abgelegenen Lager, wo meine Hundertneunundfünfziger einsitzen, Unternehmer, einer davon ziemlich bekannt, ich kenne seine alte Mutter gut, eine verdienstvolle Lehrerin, und seine junge Frau, die ihn im Lager geheiratet hat – einen völlig ruinierten, nicht mehr jungen, recht fülligen Mann mit sehr langer Haftstrafe.

    Im Winter schafft man es nirgendwohin, wenn kein Pfad freigehauen ist
    Im Winter schafft man es nirgendwohin, wenn kein Pfad freigehauen ist

    Die junge Frau ist ein gutes Mädchen, eine ganz rechtschaffene, ich kenne die Geschichte, wie sie sich kennengelernt und verliebt haben – zu einem Zeitpunkt, als niemand überhaupt an so etwas wie Liebe dachte und schon gegen ihn ermittelt wurde. Jetzt lerne ich ihn also kennen, wir wissen schon viel voneinander, haben nur noch nicht miteinander gesprochen, aber nach dem ersten „Tagchen!“ wird alles einfach und klar: Er ist ein selten kluger und bezaubernder Mensch, und so lausche ich ihm mit offenem Mund.

    Mein zweiter Schützling ist Philosoph, Absolvent der Moskauer Universität, promoviert, Tätigkeit in der Präsidialverwaltung, 14 Jahre Haft – die sitzt er für jemand anders ab. Seine Frau hat ihn sofort verlassen, aber er hat über einen Briefwechsel ein Mädchen aus Tschita kennengelernt, sie haben geheiratet, jetzt ist sie schwanger.

    Ich verlasse das Lager ganz beseelt: Was für Menschen! Und damit meine ich nicht einmal so sehr die Verurteilten, sondern die, die dort arbeiten. Bis zum Anschlag rechtschaffene und gute Leute, die haben nichts Böses. Verständnisvoll, alle miteinander. Einer bringt mich noch ein Stück und zeigt auf die Überreste einiger Holzhäuser:

    „Sieh mal, hier stand im Herbst noch ein solides Haus.“
    „Und wo ist es hin?“
    „Der Besitzer kam für zwei Wochen ins Krankenhaus, da haben wir sein Häuschen zerlegt, Balken für Balken. Siehst du den Hund dort? Der hat da in der Hütte gelebt, jetzt kriegt er bei uns zu fressen.“
    „Ist der Besitzer gestorben?“
    „Wieso gestorben? Ausgenüchtert haben sie ihn, unseren guten Wirtschafter. Was haben wir gelacht! Er kommt raus, und sein Haus ist weg, hat sich einfach so in Brennholz verwandelt.“
    „Und wo wohnt er jetzt?“
    „Drüben im Wohnheim. Aber er soll bald ein Zimmer in der Stadt bekommen, heißt es.“

    Oh je. Von Gut und Böse habe ich wohl wirklich keine Ahnung. Nehmen wir zum Beispiel unseren Oberst Iwan Stepanowitsch, der hat drei Familien, eine von früher und zwei aktuelle

    Oh je. Von Gut und Böse habe ich wohl wirklich keine Ahnung. Nehmen wir zum Beispiel unseren Oberst Iwan Stepanowitsch, der hat drei Familien, eine von früher und zwei aktuelle. Seine alte hat er für gleichzeitig zwei neue verlassen, eine mit Irka und eine mit Nataschka, die beiden Frauen arbeiten auch in den Lagern, die eine als Inspektorin, die andere als Hausmeisterin. Sie sind ein bisschen eifersüchtig aufeinander, aber er lebt abwechselnd in beiden Familien, versucht keine zu benachteiligen – immerhin sechs Kinder sind dabei rausgekommen. Die älteren Söhne arbeiten auch in den Lagern, einer sitzt, wegen Drogen.

    Wodka trinkt man hier im Grunde erst mit über vierzig. Was heißt Wodka, das ist ein Witz. Selbstgebrannter Fusel und Methylalkohol.

    „Olja, komm, wir schauen uns den Bären an.“ Iwan Stepanowitsch holt mich mit dem Auto ab, er hat extra für mich einen Bären wecken lassen.

    Fast in jedem Lager leben hier Bären. Die Jäger (also die Häftlinge oder Arbeiter) töten eine Bärin, und wenn sie Junge hat, nehmen sie die mit ins Lager. Ist natürlich schade, dass sie den armen Bären jetzt wecken, der dämmert schon in den Winterschlaf hinüber, aber sie sind nicht davon abzuhalten. Füttern ihn grade mit einem leckeren Apfel. Ich frage, was er sonst noch zu fressen bekommt – doch wohl nicht nur Äpfel, ja und Schweinefleisch werden sie ihm wohl auch nicht kaufen, das wäre übertrieben.

    Ein Bär frisst kein Entrecôte aus dem Feinkostladen, ein Bär frisst lebendes Fleisch mit Schwanz

    Der gute Iwan Stepanowitsch sagt mir, was er frisst. Besser gesagt, wen. Nein, das schreibe ich nicht auf, das brauchen Sie nicht zu wissen. Sie würden sonst noch anfangen, die ganze Menschheit zu hassen. Weil Sie dort in Ihren Hauptstädten und Ihrer Zivilisation hinter Ihren schicken Laptops sitzen und über Humanismus, Umwelt und Schädlichkeit von Margarine philosophieren – und die wird hier von Häftlingshänden aus Palmöl produziert.

    Die Menschen hier erleben Blut, Schmerz und Ungerechtigkeit genauso, wie sie all das im 16. Jahrhundert erlebt haben, sie selber produzieren Blut, Schmerz und Ungerechtigkeit und verstehen, dass das nicht anders sein kann, so ist die Welt beschaffen, so und nicht anders. Ein Bär frisst kein Entrecôte aus dem Feinkostladen, ein Bär frisst lebendes Fleisch mit Schwanz.

    Ich verlasse das Lager ganz beseelt – was für Menschen!
    Ich verlasse das Lager ganz beseelt – was für Menschen!

    Stepanytsch und ich setzen uns in den UAZik, seinen russischen Geländewagen, und fahren in ein anderes Lager, nicht weit weg, rund 50 Kilometer. Auf einmal läuft vor uns eine Kuh auf die Straße, hinter ihr noch eine. Ohne auf das Auto zu achten, überqueren sie gemächlich die Straße und verschwinden im Gestrüpp.

    „Iwan Stepanowitsch, Kühe! Aus dem Wald! Hier gibt es doch nichts als Wald, kein Dorf, kein Lager, keinen Stall und im Wald sind Bären!“
    „Olja, du kleines Dummchen. Mal sind’s Pekinesen, mal Kühe … Die leben nun mal hier. Muss dich nicht kümmern. Maljawka, mein Kätzchen, weißt du, gestern hat sie einen Luchs abgemurkst. Soll ich jetzt einen Brief an Im Reich der Tiere schreiben?

    Ich schweige. Wir fahren weiter, vor uns taucht ein Bahnübergang auf. Auf den schneeverwehten Gleisen der Schmalspurbahn steht ein neues Paar eleganter Herrenschuhe. Lackleder mit Absatz. Keine Seele weit und breit. Ich schweige. Iwan Stepanowitsch schaut sich die Schuhe an und wirft sie in den Kofferraum.

    „Na, das ist ein Ding … Hast du die Sohle gesehen?“
    „Welche?“
    „Olja, du bist echt so ein Dummchen? Die haben dünne Sohlen! Ganz dünne! Völlig rutschig. Solche Sohlen eignen sich nur für den Sommer in Orenburg.“
    „Warum in Orenburg?“
    „Da machen wir immer Urlaub, im Schwarzen Delfin.“
    „Das ist doch ein Lager für Lebenslängliche.“
    „Na, in eurem Scheiß-Moskau werden wir ja nun nicht gerade Urlaub machen! Im Delfin ist es im Sommer schön, Seen in der Nähe, ich nehm die Kinder mit, oh ja, ihnen gefällt es da, schön warm, nur ziemlich weit weg, die Fahrt find ich echt anstrengend.“

    … Jaja, im Schwarzen Delfin ist es schön, was sonst. Mir fällt wieder ein, dass auf Stepanytschs jüngere Kinder statt eines Kindermädchens zwei Häftlinge aufpassen, zwei Hundertfünfer, ich weiß, dass der eine 23 Jahre aufgebrummt bekommen hat, wegen besonderer Grausamkeit. Stepanytsch mag ihn sehr, sagt, er ist ein guter Mensch. Denn im Suff kann sowas ja schnell mal passieren.

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