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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Das Unterhosen-Gate

    Das Unterhosen-Gate

    Vom „Blockbuster“ und „Gulfik-Gate“ (dt. Unterhosen-Gate) schreiben unabhängige russische Medien, nachdem der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny am Montag, 21. Dezember, seinen jüngsten Coup gelandet hat: Ich rief meinen Mörder an. Er hat gestanden lautet der Titel seines aktuellen Videos. Darin ist zu sehen, wie Nawalny mehrere der acht FSB-Agenten anruft, die mutmaßlich hinter dem Anschlag auf ihn stehen. Zunächst legen einige von ihnen wieder auf, bis sich Konstantin Kudrjawzew, ein Chemiker im Dienst des FSB, schließlich tatsächlich auf das Gespräch einlässt. Nawalny gibt sich dabei als Mitarbeiter von Nikolaj Patruschew aus, dem Chef des Russischen Sicherheitsrats
    In dem rund 49-minütigen Telefonat sagt Kudrjawzew unter anderem, dass das Gift an der Innenseite von Nawalnys Unterhose angebracht worden sei, und auch, dass der Oppositionspolitiker wohl nur überlebt habe, weil das Flugzeug zwischengelandet und sofort ein Krankenwagen vor Ort gewesen sei.
    Das Gespräch, bei dem unter anderem auch Bellingcat-Chefredakteur Christo Grozew dabei war, war bereits Mitte Dezember aufgezeichnet worden – als die Recherchen zu den acht FSB-Mitarbeitern von The Insider, Bellingcat und Der Spiegel veröffentlicht wurden. Online ging das Video jedoch erst am 21. Dezember.
    Auf seiner Jahrespressekonferenz vergangene Woche hatte Präsident Putin noch jede Beteiligung des FSB an dem Mordversuch abgestritten: „Wenn man das gewollt hätte, dann hätte man es auch zu Ende geführt.“ Der FSB beeilte sich nun, das Video als „Fälschung“ und Provokation westlicher Geheimdienste darzustellen. Unterdessen ließen im RUnet Spott und Häme nicht lange auf sich warten, unter anderem gingen zahlreiche Unterhosen-Memes viral. Im US-Kongress soll sich womöglich ein Unterausschuss mit dem Fall befassen, ein US-Abgeordneter kündigte eine Anhörung an.

    In einem viel beachteten Facebook-Post beschreibt der Politologe und Journalist Kirill Rogow, was das Nawalny-Video für den „Mythos Geheimdienst“ bedeutet – und damit für den „Mythos Putin“.

    Der Mythos vom KGB/FSB hat sowohl die Kommunistische Partei als auch die Sowjetunion überlebt. Geschaffen hat ihn Juri Andropow: Als selbst das gutgläubige Sowjetvolk nicht mehr an den Kommunismus glaubt und die Gerontokratie der Partei verachtet, wächst hinter der verfallenden Fassade der Schatten einer Struktur, die von dem allgemeinen Zerfall verschont bleibt, die wachsam den großen Staat vor den Attacken innerer und äußerer Feinde schützt. Eine Struktur, die weiß, was andere nicht wissen, und über Qualitäten verfügt, die keine andere Struktur hierzulande hat: Effektivität und innere Ordnung.

    Dieser Mythos hat im Laufe der Geschichte empfindliche Kratzer abbekommen. Etwa beim Augustputsch 1991, als anstelle der unfehlbaren, mächtigen Maschinerie eine gewaltige Leere klaffte. Einige Jahre später waren die Bürger Russlands müde von der Korruption und dem Chaos, das ihnen die junge Demokratie brachte (und das jungen Demokratien insgesamt innewohnt). Da erinnerten sich die Menschen daran, dass da doch irgendwo diese geheime Organisation existiert, die auf wundersame Weise erhalten blieb zwischen Enteignungen und Privatisierungen und nach wie vor über jene Qualitäten verfügt, die keine andere ihnen bekannte nicht-geheime Struktur hierzulande hat: Uneigennützigkeit, Effektivität, innere Ordnung, Gerechtigkeit und Informiertheit.

    Kratzer im Mythos

    Wladimir Putin wurde zum Hauptprofiteur dieses wiederbelebten Mythos, dieses Traums. Genauer gesagt wurde er zu dessen schauspielerisch talentiertem Restaurator. Denn ein unvoreingenommener Blick auf seine Karriere offenbart gleich etwas Banales: Sie war nicht sonderlich erfolgreich. Sowohl die Arbeit im Haus der deutsch-sowjetischen Freundschaft als auch die Tätigkeit als KGB-Mann in der Rolle des Prorektors der Leningrader Universität – das sind ziemlich magere Randposten innerhalb des weltbekannten allmächtigen Dienstes der Ordnung und Wahrheit. 
    Obwohl er diesem Verein gleich nach dem Ende der UdSSR leichtfertig den Rücken kehrte, verstand es Wladimir Putin meisterhaft, den Mythos dieser geheimen Macht plastisch und feinfühlig zu vermitteln – den „Mythos KGB“, eines effektiven, uneigennützigen, informierten und dem Staat verpflichteten Dienstes, eine Struktur, die so anders ist als alle anderen hierzulande. Genau deswegen hegte das russische Volk so lange eine solch erstaunliche Ergebenheit für Putin. Wenn das Volk auf ihn schaute, dachte es: „Was, wenn eine solche Struktur tatsächlich irgendwo hierzulande existiert? Natürlich ganz geheim, denn die nicht-geheimen kennen wir nur allzu gut, aber die geheime … vielleicht gibt es die wirklich?“ 

    Kleinkriminelle Witzfiguren

    Dieser kurze Exkurs in die Geschichte des russischen Durchschnittswählers und seine Erwartungen an die Institutionen macht deutlich, welch einen Schlag der nicht-zu-Ende-ermordete Nawalny dem putinschen Hauptmythos verpasst. Alles Geheime wird konkret, und nun zeigt sich dieser bewunderte Dienst in Person irgendwelcher Knechte aus der Platte von nebenan. Kleinkriminelle Witzfiguren, die losgezogen sind, um den Eingriff von Nawalnys Unterhose mit Nowitschok einzureiben und es später dann wieder aus dem Eingriff von Nawalnys Unterhose auszuwaschen. Und es stellt sich heraus, dass sie weder das eine noch das andere richtig gemacht haben, was grob gesagt bedeutet, dass dieser krasse Geheimdienst nicht nur das Zentrum stupider und sinnloser Grausamkeiten ist, sondern auch das Zentrum von monströser Ineffektivität, Ungerechtigkeit und Unordnung.

    Ein Geschmäckle bleibt

    All das wird unser Durchschnittswähler natürlich nicht glauben: „Wenn sie ihn hätten töten wollen, dann hätten sie ihn getötet“, Nawalny hätte das alles nicht ohne Tipps von [ausländischen] Geheimdiensten wissen können, und so weiter. Und dennoch bleibt ein recht starkes Geschmäckle. Denn gleich neben dem Glauben an die geheime Superorganisation, die den Durchschnittswähler so lange an Putin glauben ließ, lebt in seiner Seele auch die Ahnung von der totalen Niedertracht der Behörden, von der Ineffektivität und mafiösen Korruption, von all dem, worüber Nawalny in seinen brillanten Ermittlungen so überzeugend berichtet.

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  • ZITAT #11: „Es gibt keinen Tiefpunkt, es ist der freie Fall ins Bodenlose“

    ZITAT #11: „Es gibt keinen Tiefpunkt, es ist der freie Fall ins Bodenlose“

    Putins große Jahrespressekonferenz fand am gestrigen Donnerstag, 17. Dezember 2020, online statt, mit nur wenigen Journalisten vor Ort – wegen Corona. Aus seiner Residenz in Nowo-Ogarjowo heraus sprach der Präsident zu unterschiedlichen Themen, lobte etwa die Corona-Strategie der russischen Regierung und zeigte sich verhalten erwartungsvoll, was die russisch-amerikanischen Beziehungen unter Biden betrifft. 
    Mit besonderer Spannung war jedoch erwartet worden, was der russische Präsident zur Vergiftung Nawalnys sagen würde. Erst kurz vorher hatte ein internationales Recherchenetzwerk, unter anderem mit The Insider und Bellingcat, berichtet, dass es acht FSB-Mitarbeiter gewesen seien, die Nawalny vergiftet und außerdem bereits jahrelang beschattet hätten. Das Video, das Nawalny daraufhin ins Netz stellte, hat bereits rund 15 Millionen Aufrufe.

    Putin wies alle Anschuldigungen zurück: „Wer ist er schon?“, sagte er über Russlands bekanntesten Oppositionspolitiker. „Wenn man das [Nawalny ermorden – dek] gewollt hätte, dann hätte man es auch zu Ende geführt.“ Die Informationen der Journalisten stammten eindeutig von US-amerikanischen Geheimdiensten, so Putin weiter, es gehe darum, Russland damit anzugreifen.

    Beweis für die Unschuld des Kreml? Oder einfach erwartbare Strategie? Der renommierte Politologe Sergej Medwedew jedenfalls hat eine ähnliche Reaktion vorausgesagt – und beschreibt, warum sich nichts ändern wird:

    [bilingbox]Fürs Protokoll: Die Vergiftung von Nawalny ist scheußlich. Die Recherche einfach ein Traum – Respekt vor allen Mitwirkenden, und doppelt Respekt für den Mut von Roman Dobrochotow, der zudem noch in Russland geblieben ist. Der FSB ist urkomisch (wie auch all seine früheren Inkarnationen) – am liebsten würde man die Coen-Brüder einen Film über ihn drehen lassen. 
    Und trotzdem möchte man fragen: So what? Was haben wir denn Neues erfahren? Dass sie Nawalny auslöschen wollten? Dass der FSB dahinter stand? Dass aus der bedrohlichen Organisation von einst eine kriminellen Bude geworden ist? Mich wundert, dass meine Kollegen und lieben Freunde schon zwei Tage lang schreiben, dass „ein neuer Tiefpunkt erreicht ist“ und „die Welt nicht mehr so sein wird wie vorher“, dass das mehr ist, als die Skripals und die Boeing und dass der Kreml sich von diesen Enthüllungen nicht erholen wird. Really? Da kommt einem plötzlich der freundliche Captain Renault aus Casablanca in den Sinn, wie er im Restaurant Rika wütend ruft: „I'm shocked, shocked to find that gambling is going on in here!“
     
    Die traurige Wahrheit ist, dass diese Recherche – so exzellent sie auch ist – nichts ändern wird: nicht in Russland und erst recht nicht im Westen. Die, die den Machthabern nicht glauben, fühlen sich in diesem Unglauben bestätigt – auch wenn diese Recherchen nicht nur das traditionelle Nawalny-Publikum betreffen. Für die meisten Russen wird es eine „undurchsichtige Sache“ bleiben und einе „Attacke im Informationskrieg“ – sie sind zu apathisch, gleichgültig und konformistisch und werden im Neujahrstrubel nicht darauf reagieren. So, wie sie auch schon auf die Vergiftung selbst nicht reagiert haben oder auf die Selbstverbrennung der Journalistin Irina Slawina.

    Die Menschen sterben bei uns zu Tausenden an Covid still vor sich hin, was ist da schon eine Vergiftung. Für den Westen ist es eine innere russische Angelegenheit – anders als bei der Boeing, wo 298 ausländische Staatsbürger gestorben sind, und anders als bei den Skripals, wo Russland chemische Waffen auf dem Territorium eines NATO-Mitglieds einsetzte. Neue Sanktionen wird es nicht geben, denn der Kreml hat längst alle roten Linien überschritten und praktisch einen Freibrief bekommen, innerhalb der Grenzen der ehemaligen UdSSR (außer anscheinend dem Baltikum) alles zu tun, was er will. Bei Russland winkt man nur noch ab, man hat ja auch genug eigene Probleme. Und so wird der Kreml weiterhin mantraartig „Provokation“ und „Ihr-lügt-doch-alle“ herunterspulen und einen dabei weiter mit starren Fischaugen anglotzen.

    Was den Tiefpunkt angeht: Hier gibt es keinen Tiefpunkt, es ist der freie Fall ins Bodenlose. Wer wird Russland aufhalten, wer traut sich überhaupt, einem Land mit Atomwaffen etwas zu sagen?

    Also noch einmal: Riesenrespekt an die Kollegen, volle Unterstützung für Alexej – doch die Welt bleibt dieselbe, und Russland wird seinen freien Fall ins Bodenlose fortsetzen.~~~For the record. Отравление Навального чудовищно. Расследование феерично — респект всем, кто его проводил, и дважды респект за смелость Роман Доброхотов, который остается при этом в России. ФСБ комична (как и все их предыдущие инкарнации, Бошировы и Луговые) — больше всего хочется, чтобы про них сняли кино братья Коэны. […]
    И все же хочется спросить: but so what? Что нового мы узнали? Что Навального хотели уничтожить? Что за этим стояла ФСБ? Что некогда грозная организация превратилась в криминальный балаган? И меня удивляют коллеги и добрые друзья, которые уже вторые сутки пишут, что "пробито новое дно" и "мир никогда не будет прежним", что это больше, чем Скрипали и Боинг и Кремль не оправится от этого разоблачения. Really? Вспоминается милейший капитан Рено из "Касабланки", гневно восклицающий в ресторане Рика: I'm shocked, shocked to find that gambling is going on in here!
    Печальный факт состоит в том, что это расследование, сколько бы блестящим оно ни было, ничего не поменяет — ни в России, ни тем более на Западе. Те, кто не верит власти, укрепятся в своем неверии, даже если это расследование выйдет за пределы традиционной аудитории Навального. Для большинства россиян это будет "мутное дело" и "атака в информационной войне" — они слишком апатичны, безразличны и конформны и не отреагируют на это в новогодней суете, как не отреагировали на само отравление Алексея или на самосожжение Славиной. У нас люди молча тысячами умирают от ковида, какое там отравление. Для Запада это внутреннее дело России — в отличие от Боинга, где погибли 298 иностранных граждан, и от Скрипалей, где Россия применила химоружие на территории члена НАТО. Ни к каким новым санкциям это не приведет, Кремль уже давно перешел все красные линии и практически получил карт-бланш на любые действия в границах бывшего СССР (кроме, видимо, Балтии), на Россию махнули рукой, своих проблем хватает. И власть будет все так же привычно талдычить "провокация" и "всевыврети", глядя немигающими рыбьими глазами.
    А дно — дна здесь нет в принципе, это свободное падение в пустоте, […] кто посмеет что-либо сказать стране с ядерным оружием?
    Так что еще раз: огромный респект коллегам, лучи поддержки Алексею — но мир останется прежним, […] и Россия продолжит свой полет в пустоту.[/bilingbox]

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  • Wer treibt hier wen vor sich her?

    Wer treibt hier wen vor sich her?

    Lukaschenko muss zurücktreten, die Gewalt muss enden und die politischen Gefangenen müssen freigelassen werden: Diese drei Forderungen hatte Swetlana Tichanowskaja Mitte des Monats aufgestellt und dem Regime in Belarus eine Frist bis zum 25. Oktober gesetzt, andernfalls werde es einen landesweiten Generalstreik geben. 

    Verschiedene Kommentatoren bewerteten diesen Schritt als gewagt. Denn sollten die Streiks, die heute begonnen haben, nicht so umfangreich und dauerhaft wie erwartet ausfallen, könnte das dem Ruf von Tichanowskaja und ihrem Team erheblich schaden.

    Artyom Shraibman, unabhängiger Analyst und regelmäßiger Autor bei tut.by und Carnegie.ru, hatte sich zuvor ähnlich skeptisch geäußert. Nach den Massenprotesten vom Wochenende jedoch schreibt er auf seinem Telegram-Kanal, dass das Ultimatum schon jetzt erste Erfolge gezeigt habe. 

    Im politischen Kampf ist kaum etwas so bedeutend wie die Frage, wer gerade den Ton angibt. Der September war ein Monat, in dem die Staatsmacht scheinbar dauerhaft den Ton angab. 

    Nun passiert das Gegenteil, die Staatsmacht handelt inkonsistent: Mal wurde eine Demo [zur Unterstützung Lukaschenkos – dek] angesetzt, dann wieder abgesagt, mal gibt es politische Festnahmen, dann werden die Gefangenen wieder freigelassen, mal wird brutal auf der Straße eingegriffen, dann wieder nicht. 

    Man kann es kaum anders beschreiben denn als nervöses Schwanken. Die Gründe für dieses Schwanken sind klar – es ist ist teuflisch schwer zu beurteilen, was nun mit dem Kredit von Russland ist, angesichts der Drohungen im [russischen staatsnahen Sender – dek] NTW und dem Druck wegen der Verfassungsreform. Flaut der Protest nun ab oder nicht? Und die Opposition lässt sich nicht spalten, wie sehr man auch draufhaut.

    Vor diesem Hintergrund ist der erste Akt von Tichanowskajas Ultimatum gelungen. Der Protest ist zurück – zumindest in der Größenordnung des frühen September (über 100.000, vielleicht sogar 150.000 Teilnehmer). Morgen [Montag] ist natürlich der Tag X, aber selbst ohne landesweiten Generalstreik wäre das schon nicht mehr das völlige Versagen, das Skeptiker dem Ultimatum vorhergesagt haben.

    Alles geschieht nach dem Muster, mit dem ich euch wohl schon auf die Nerven gehe: Wer den Ton angibt und ungewöhnliche Züge macht, der bringt seinen Gegner aus dem Gleichgewicht und bringt ihn dazu, Fehler zu machen.

    Aus Angst vor wieder größeren Straßenprotesten ist die Staatsmacht gezwungen, ihre Taktik zu ändern. Das heißt: Entweder folgt eine neue Stufe an Repressionen oder ein noch deutlicheres Zurückweichen (die Freilassung von noch mehr politischen Gefangenen, ein schnellers Voranbringen der Verfassungsreform).

    In beiden Fällen begibt man sich auf dünnes Eis, denn es könnte dem Protest ein Gefühl des Sieges vermitteln: das heißt, neuen Enthusiasmus, oder neuen Antrieb aus Wut über die Brutalität. Es wird eine wichtige Woche. 
     

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  • Nawalny vergiftet – wo bleibt der Protest?

    Nawalny vergiftet – wo bleibt der Protest?

    Stell dir vor, der wichtigste russische Oppositionspolitiker wurde vergiftet – und in Russland geht kein Mensch deswegen auf die Straße. Kaum ein anderer konnte die Massen so mobilisieren wie Alexej Nawalny, der in seinen Recherchen Korruptionsfälle auf höchster Ebene aufdeckte. Doch wo bleibt nun, da nachgewiesen ist, dass Nawalny mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet wurde, der Protest – den es nach der Ermordung etwa von Boris Nemzow durchaus gab? „Es ist eine wichtige Nachricht, was die internationalen Beziehungen betrifft, aber keine, die die Gefühle der breiten Masse erregt”, meint etwa die Politologin Ekaterina Schulmann gegenüber The Bell, und weiter: „Es gibt die, die auch ohne Erklärung der deutschen Bundesregierung wussten, was passiert ist. Und es gibt die, die denken, dass das eine Provokation des Westens ist.”

    Unterdessen gehen einige oppositionelle und liberale Stimmen davon aus, dass Nawalny die Vergiftung eher „aus Versehen” überlebte, etwa, weil der Pilot eine Notlandung wagte – und dabei eine Bombendrohung ignorierte, die überraschenderweise kurz nach der Anfrage der Piloten im Flughafen Omsk eingegangen war. Darüber berichtete das Medium Znak.

    Wo bleiben die Massen, die Nawalny einst mobilisieren konnte, die im vergangenen Jahr gegen die Festnahme des Journalisten Iwan Golunow oder die Wahlfälschungen in Moskau demonstriert haben?
    Der Moskauer Politologe und Historiker Sergej Medwedew macht seiner Empörung Luft auf seinem Facebook-Account, den rund 32.000 Abonnenten wie einen Blog lesen.


    Update, 07.09.2020, 15:45 Uhr: Wie die Charité in einer Pressemeldung bekannt gibt, liegt Nawalny unterdessen nicht mehr im künstlichen Koma und reagiert auf Ansprache.

    Das Überraschendste an der Reaktion auf die Vergiftung Nawalnys ist, dass es keine Reaktion gibt. Naja, ein paar schwache Reflexe gibt es durchaus: Ist ja verständlich, dass der Kreml in tumbem Weiß-von-Nichts verharrt, wie auch schon bei MH17 („beweist das erst mal”), das Außenministerium scheppert mit Töpfen, in die Arena geschickt werden die Altmeister der Narretei Roschal und Posner – der Propagandakessel braut, blubbert, schmatzt wie immer. Doch die Gesellschaft, die Opposition, der Westen sind wundersam ruhig. Nichts Besonderes: Ein Mordanschlag auf den führenden Oppositionspolitiker, das ist doch das Normalste von der Welt, er war ja selbst schuld, hat es ja quasi herausgefordert, also business as usual, weiter im Text. 

    Eindeutige Diagnose – und alle schweigen

    Der Mord an Nemzow vor fünf Jahren glich der Explosion einer Vakuumbombe. Der Kreml erstarrte, Putin verschwand für zwei Wochen, Zehntausende gingen auf die Straße, jetzt dagegen: Stille. Wobei Nawalny am heutigen Tag – bei aller Verehrung für Nemzow und aller Anerkennung seiner Persönlichkeit – eine sehr viel gewichtigere politische Figur ist: Er ist ein Medium, Kopf einer regional gut organisierten Institution, er ist die Politik, der einzige Mann in Russland, der es mit Putin aufnehmen kann, und dessen Name auszusprechen das Regime scheut wie der Teufel das Weihwasser.

    Für viele war die Existenz eines Nawalny der Indikator dafür, dass man trotz des Regimes in Russland leben kann, nach der Logik: Nicht ermordet, nicht im Knast – das heißt, man kann es hier noch irgendwie aushalten. Und jetzt ist er nur zufällig, aus Blödheit der Vollstrecker nicht tot, schon drei Wochen im Koma, unklar, in welchem Zustand er ins Leben zurückfindet, ob er zurückkehren wird nach Russland und in die Politik, die Diagnose ist eindeutig – und alle schweigen.
     
    Aber was heißt hier Nemzow – 2015 liegt lange zurück, noch vor etwa einem Jahr gingen doch alle für den Journalisten Iwan Golunow auf die Straße, und auch gegen die Fälschungen (es klingt fast lächerlich) bei den Wahlen zum Moskauer Stadtparlament. Stellt euch das mal vor: Die Menschen lieferten sich wegen des Moskauer Stadtparlaments den Gummiknüppeln der OMON-Kräfte und der Rosgwardija aus. Und dieselben Menschen akzeptieren ein Jahr später schweigend die Nullsetzung in der Verfassung, den unabsetzbaren Präsidenten, die Wahllokale auf Baumstümpfen – und jetzt den Mordanschlag und die Ausschaltung von Nawalny.

    Die Normalisierung des politisches Terrors

    Innerhalb dieses einen Jahres hat eine schleichende und dadurch umso beängstigerende Normalisierung des politischen Terrors stattgefunden. Soll heißen: Es gab ihn schon immer, aber er hat zumindest einen gewissen Protest hervorgerufen. Doch jetzt wird alles schweigend hingenommen, das ist eben die neue Norm: Folter, Mord, Vergiftung, fabrizierte Verfahren. „Selbst schuld“, „Man soll sich nicht so weit aus dem Fenster lehnen“. Ich weißt nicht, was überwiegt: Gleichgültigkeit, Angst, Kraftlosigkeit, Lähmung … Lesen Sie gern die Geschichte aller totalitären Regime des 20. Jahrhunderts, wir leben wie im Lehrbuch.
     
    Unter ferner liefen steht in den Nachrichten an fünfter Position: In Krasnojarsk wurde eine terroristische Organisation 14- und 15-jähriger Schüler aufgedeckt. Sie hätten Explosionen in Schulen und die Ermordung von Mitschülern geplant und seien schon geständig. Nach Delo Seti und dem Fall Nowoje Welitschije ist das die neue Norm, die Routine des Jahres 2020. 
     
    Wie jetzt weiter? Ein Strafverfahren wegen der Untertunnelung des Kreml? Gegen die Schädlinge des Produktionsbetriebs? Gegen Mörder im Arztkittel? Gegen die Agenten des japanischen und finnischen Geheimdienstes? Ach ja, einen tschechischen Spion haben wir ja schon, die Haft wurde eben erst um drei Monate verlängert …

    Nicht Nawalny liegt im Koma, sondern wir alle.

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    10 Gründe, warum es in Belarus keine russische Invasion geben wird

    Wird Russland in Belarus eingreifen? Und wenn ja: wie? Diese Fragen wurden in den vergangenen Tagen immer wieder diskutiert. Während Lukaschenko im Wahlkampf selbst vor einem ukrainischen Szenario in Belarus gewarnt hatte und sogar russische Söldner verhaften ließ, hat er inzwischen zwei Mal mit Putin telefoniert und um Beistand gebeten. Vermehrt versucht die Staatspropaganda, die Demonstranten, die gegen Wahlbetrug und für die Freilassung der Festgenommenen auf die Straße gehen, in die Nähe der vermeintlich vom Ausland gesteuerten Farbrevolutionen im postsowjetischen Raum zu rücken. Margarita Simonjan, Chefredakteurin des russischen Auslandssenders RT, twitterte, es sei an der Zeit, dass „höfliche Menschen“ für Ordnung sorgten in Belarus.

    In sozialen Netzwerken tauchten unterdessen Videos von schweren Lastwagen ohne Nummernschilder auf, die mutmaßlich zur russischen Rosgwardija gehören und in der Oblast Smolensk auf der Strecke von Moskau in Richtung belarussische Grenze unterwegs waren. Solche Nachrichten sorgten sogleich für Unruhe – doch Beobachter wiegeln ab: Das unabhängige belarussische Portal tut.by etwa wies darauf hin, dass es unlogisch sei, eine russische Invasion in Belarus mittels Lastwagen statt mit Hubschraubern durchzuführen. Zudem seien Truppen der Rosgwardija vor allem für den Einsatz im Inneren bestimmt. Der Journalist und Politologe Kirill Rogow geht davon aus, dass solche Bilder weniger die Demonstranten abschrecken, als den Machtapparat um Lukaschenko stärken sollten – indem sie ihn in dem Glauben wiegten, dass es zu früh sei, den Diktator abzuschreiben. Gleichzeitig weisen einzelne Experten – wie Jens Siegert, der ehemalige Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau – darauf hin, dass Belarus in Russland nicht die gleiche mythisch aufgeladene Bedeutung habe wie Kiew, Odessa oder Charkiw. 

    Dennoch zeigt die Debatte, wie groß die Unsicherheiten und Ängste sind vor einem analogen Szenario wie auf der Krim 2014. Der bekannte belarussische Journalist und Carnegie-Autor Artyom Shraibman nennt auf Telegram zehn Gründe, warum es in Belarus keine russische Invasion geben wird.

    Eine Anfrage an Moskau genüge, so Lukaschenko, und er bekomme „vollumfängliche Hilfe, um die Sicherheit der Republik Belarus zu garantieren“. Er nannte in diesem Zusammenhang den Vertrag über die kollektive Sicherheit (OKVS). Im Folgenden genauer dazu, warum ich nicht an dieses Schreckgespenst glaube:

    1. Russland rettet kein zusammenbrechendes Regime mit Hilfe von Soldaten. Den Staatschef außer Landes bringen – ja, ein Regime retten, das keine Unterstützung im Volk hat – nein.
    Die einzige Ausnahme ist Syrien. Dort herrschte allerdings schon ein Bürgerkrieg, und die russischen Truppen haben keine Gebiete besetzt, sondern vorwiegend Luftangriffe geflogen. Wen sollte man bei uns bombardieren? Die Werkhallen des Minsker Traktorenwerks MTZ oder des belarussischen Automobilwerks BelAZ? Oder die streikenden Mitarbeiter der staatlichen Rundfunkanstalt Belteleradiokampanija

    2. Die Belarussen wollen keine Einmischung von außen und wollen auch nicht Teil Russlands werden. Hier die jüngste Umfrage der Akademie der Wissenschaften: Für einen Beitritt zur  Russischen Föderation sind weniger als sieben Prozent. Für eine engere Union unter 25 Prozent. Alle anderen sprechen sich für freundschaftliche Beziehungen unabhängiger Staaten aus. Belarus ist nicht die Krim, die angeblich irgendwie um Befreiung von den Faschisten gebeten habe. Hier wird keiner Rosen verteilen.

    3. Ein Volk, das nicht um Befreiung bittet, muss man mit massivem Truppeneinsatz im Zaum halten. Mit zehntausenden Besatzungssoldaten. Und wenn sich dann noch Partisanengruppen bilden – was in dem Fall und bei derartigem gesellschaftlichem Aufbegehren wohl unausweichlich wäre – mit hunderttausenden. Und tausenden Opfern. Eine sanftere Lösung gäbe es einfach nicht.

    4. Mit einer solchen Intervention würde Russland das belarussische Volk auf noch längere Zeit verlieren als das ukrainische. Ein Volk, das aktuell Russland gegenüber freundschaftlich eingestellt ist. Nach Umfragen des Wardomazki-Labors sind über 70 Prozent für den Erhalt der Beziehungen in ihrer jetzigen Form, ohne Grenz- und Zollkontrollen. Nur fünf bis sieben Prozent sind für einen Abbruch der Beziehungen.

    5. Dazu kommen noch Massen von Särgen Richtung Heimat und die Vorbehalte des eigenen Volkes, dem man zuvor nicht erklärt hat, dass in Minsk Bandera-Faschisten an die Macht drängen würden, plus Sanktionen des Westens in beispielloser Härte. 

    6. Und all das wozu? Um einen belarussischen EU-Beitritt zu verhindern? Die heutige Opposition wirbt gar nicht für einen solchen. Und es wäre auch absurd angesichts der derzeitigen belarussischen Abhängigkeit von Moskau. Ein Austritt aus der Eurasischen Wirtschaftsunion mit Verlust des Zugangs zum russischen Markt würde einen wirtschaftlichen Stillstand binnen eines Monats bedeuten. Mehr als 70 Prozent unserer Auslandsschulden haben wir gegenüber Russland.

    7. Eine Invasion löst auch nicht das Problem der inneren Stabilität. Die Arbeiter kehren deswegen nicht zurück in die Fabriken, ein Absturz des Bankensystems wäre die Folge, zig Milliarden müssten für humanitäre Bedürfnisse fließen. Und Belarus hat fünf Mal so viele Einwohner wie die Krim. Außerdem hat sich die russische Wirtschaft nach dem Coronavirus selbst noch nicht berappelt.  

    8. Die Demonstranten rufen keine anti-russischen oder pro-westlichen Losungen. Das steht überhaupt nicht zur Debatte. Der Kreml ist nicht blind und sieht das. Russland hat die Folgen der Revolutionen in Kirgisistan und Armenien akzeptiert, wo es auch keine außenpolitischen Ziele gab.
    Moskau orientiert sich immer an der gerade gewinnenden Seite. Und versteht vor allem, dass diese Seite nicht feindlicher ist als jene Regierung, die russische Staatsbürger zu Geiseln ihres Wahlkampfes gemacht hat.  

    9. Lest die Pressemitteilung des Kreml nach dem morgendlichen Gespräch mit Lukaschenko [am Samstag, 15. August – dek]. Da steht viel über Völkerfreundschaft und Feinde, aber kein einziges Wort der Unterstützung für den amtierenden belarussischen Präsidenten. Der Kreml hat eine abwartende Position eingenommen.

    10. Für Juristen. Die Satzung der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) sieht keine militärische Hilfe vor ohne eine äußere Aggression auf ein Mitgliedsland (ein bewaffneter Angriff, der die Sicherheit, Stabilität, territoriale Integrität und Souveränität bedroht). Lukaschenko hat während seines ganzen Wahlkampfs die Russen einer solchen Aggression bezichtigt und jetzt versucht er, eine Bedrohung durch den Westen zu inszenieren.
    Aber eine solche ist in der gegenwärtigen Situation gar nicht so leicht auszudenken. Den Gerüchten zufolge machen sich hochrangige Beamte aus Russland und Europa bereits untereinander lustig über solche Äußerungen. Ein hybrider Angriff, ausgehend vom Telegram-Kanal Nexta, ist nicht in der OVKS-Satzung erwähnt.

    PS: Um ein solches Szenario auch in Zukunft auszuschließen, sollte eine belarussische Übergangsregierung im Falle eines Sieges nicht sofort vor lauter Euphorie die sowjetischen Denkmäler antasten, die staatliche Symbolik ändern oder den Status des Russischen als Amtssprache annullieren. Aber: Es gibt viel zu tun und eine Mehrheit ist (allen verfügbaren Umfragen zufolge) gegen solche Maßnahmen – und so sehe ich keinen Grund zur Annahme, dass die Übergangsregierung austickt und solche Sachen überhaupt anfängt. Alles zu seiner Zeit.

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    Trotz Corona läuft in Russland immer noch vieles nach dem Prinzip Business as usual: Einzelne Stimmen kritisieren in Sozialen Netzwerken, dass die Regierung zwar über ein Maßnahmenpaket zur Stützung der russischen Wirtschaft nachdenkt, bei durchgreifenden Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit aber zaghaft bleibt. Sie glauben, dass die seit vergangenem Freitag verhängten Einreisesperren für Menschen aus Westeuropa die Pandemie nicht eindämmen werden und fordern drastischere Schritte: unter anderem die Vertagung der Volksabstimmung am 22. April und die Absage öffentlicher Siegesfeiern am 9. Mai

    Währenddessen empfiehlt das russische Bildungsministerium, selbst zu entscheiden, ob man in die Schule oder Uni geht oder zu Hause bleibt. All dies ist für den russischen Politikwissenschaftler Sergej Medwedew Anlass für einen Kommentar auf Facebook, den 2000 Menschen geteilt haben.

    Die feige „Empfehlung“ von Sobjanin und dem Bildungsministerium, dass Schulen und Hochschulen „freiwillig“ besucht werden, statt sie komplett zu schließen, ist ein sehr schlechtes Zeichen. Es bedeutet, dass die Behörden mehr Angst vor Panik haben als vor dem Virus selbst – und dass sie eine feige unentschiedene Strategie gewählt haben, um sich der Verantwortung zu entziehen. „Die Eltern spielen in diesem Fall eine größere Rolle“, sagt Sobjanin in seinem Dekret. Also, Stopp mal. Das heißt, nicht die Ärzte, nicht der Epidemie-Stab, sondern die Eltern dürfen entscheiden, ob ihre Kinder potentielle Träger des Virus werden. Das ist nicht nur absurd, das ist kriminell. Man kann nicht ein bisschen schwanger sein, und man kann keine partielle, optionale Quarantäne einführen – entweder Quarantäne oder keine Quarantäne. Schon eine Person, die ausschert, bringt das ganze System zum Einsturz.

    Die Behörden scheinen hin und herzuschwanken zwischen der immer dringlicheren Notwendigkeit einer Quarantäne (da die Lawine ausländischer Nachrichten nicht mehr zu verbergen ist) und der Unmöglichkeit, solche Maßnahmen zu ergreifen. 

    Die Unmöglichkeit ist meines Erachtens rein technischer Natur – wir haben einfach nicht das Niveau an staatlicher und gesellschaftlicher Organisation, an Screenings, Tests, Ausrüstung, Disziplin und strikter Durchsetzung von Gesetzen, wie wir es in China und zum Teil auch in Italien gesehen haben. 

    Der 9. Mai im postapokalyptischen Bühnenbild à la Wuhan?!

    Wie stellen Sie sich den Shutdown der Moskauer Metro vor? Das wäre eine Katastrophe, keine städtische, sondern eine nationale. Das Anhalten der 20-Millionen-Metropole käme einem Herzstillstand des Landes gleich. Außerdem ist es aus rein politischen Gründen nicht möglich, vor dem 22. April und dem 9. Mai den Notstand auszurufen – das alles sollte in der herrlichen Atmosphäre eines Nationalfeiertags stattfinden, nicht in einem postapokalyptischen Bühnenbild à la Wuhan, in Schutzanzügen, unter einer Chlorhexidin-Dusche.

    Daher wird es keine Quarantäne geben, stattdessen feige, halbherzige Maßnahmen wie den freiwilligen Schulbesuch, die „Empfehlungen“, öffentliche Veranstaltungen zu reduzieren (übrigens wenn eine Kundgebung verboten wird, wird das nicht empfohlen, sondern verboten, da gibt es keine Zwischentöne), einen teilweise eingeschränkten Flugverkehr (man nehme nur dieses anekdotische Flugverbot nach Europa, ausgenommen sind die Flüge ins süße Herz der Oligarchen und Abgeordneten nach Großbritannien – da sind doch Kinder, Familien, Häuser!) und so weiter. 

    Die Mächtigen waschen sich die Hände in Unschuld (entschuldigen Sie den Schenkelklopfer) und sagen der Bevölkerung: Die Rettung der Ertrinkenden ist Sache der Ertrinkenden – entscheiden Sie selbst, wie Sie sich schützen wollen! Sollte was sein – wir haben Ihnen eine Empfehlung gegeben und damit sind wir raus.

    „Die Rettung der Ertrinkenden ist Sache der Ertrinkenden“

    Stattdessen kauft die Bevölkerung brav die Mär von „viralen Atemwegserkrankungen“ ab, postet Sprüche, dass jedes Jahr mehr Menschen an Mückenstichen sterben als jetzt an Corona, schimpft auf Panikmacher und Hysteriker und lebt weiter in vollem Genuss und Saus und Braus. Das ist die typische, infantile Reaktion einer unfreien, patriarchalischen, geschlossenen Gesellschaft: Bedrohung wird verleugnet, Angst verdrängt und man verhält sich ostentativ nachlässig.

    Währenddessen ist das Virus hier schon längst angekommen, und nur wenige glauben den lächerlichen Zahlen von 59 erkrankten Menschen [Stand: 15. März 2020] in einem Land mit 146 Millionen Einwohnern, das in alle Richtungen offen ist: Die Chinesen sind ungehindert über den Amur eingereist, ehe im Fernen Osten die Quarantäne verhängt wurde. Und was den europäischen Teil Russlands angeht: Zehntausende sind im Februar und März in die am stärksten verseuchten Regionen Europas gereist und wieder nach Russland zurückgekehrt. 

    Und je länger es geht, desto lächerlicher werden die offiziellen Zahlen sein, die realen Zahlen werden aber in der allgemeinen Sterbestatistik alter Menschen verborgen sein, unter den saisonalen viralen Atemwegserkrankungen und ambulant erworbenen Lungenentzündungen. In den Sterbeurkunden wird wie immer „akute Herzinsuffizienz“ stehen, wie auch beim Tod durch Folter geschrieben wird. Und das alles bestreite mal einer im Nachhinein – eine Insuffizienz hat ja schlussendlich wirklich eingesetzt, alles saubere Fakten. 

    Erinnerung an den schrecklichen Sommer 2010

    Ich erinnere mich an den schrecklichen Sommer 2010, Hitze überall, die Wälder brannten, und Moskau war vom glühenden Smog umhüllt. Damals starben laut inoffiziellen Schätzungen bis zu 40.000 ältere Menschen. Unter ihnen war auch mein 83-jähriger Vater, und als der Polizist schweißgebadet ein Protokoll zur Feststellung der Todesursache verfasste und dann seine Stimme senkte, erzählte er mir, dass allein ihre Abteilung jeden Tag hunderte Todesfälle aufnimmt, in der ganzen Stadt seien es Zehntausende. Dessen ungeachtet gab es jedoch keine Statistik über die hitzebedingte Sterblichkeit, alles löste sich in den üblichen Diagnosen auf, die älteren Menschen gestellt werden.

    Wir sind das freieste Land der Welt!

    Deshalb befürchte ich, dass wir im Modus des freien Schulbesuchs, der freien Quarantäne und des freien Sterbens verbleiben werden. Dabei wird der Mensch sogar frei sein von einer Diagnose – wir sind das freieste Land der Welt! Die Politik hat sich aus der Verantwortung gestohlen und mächtige Nebelkerzen gezündet, die das wahre Ausmaß der Epidemie verbergen. Hinzu kommt noch die normale Nachlässigkeit der Bevölkerung, und dann ist der Punkt erreicht, an dem unsere Atomisierung, unser geringes Sozialkapital, das Fehlen von Vertrauen, Disziplin und sozialer Solidarität und das Lagerprinzip „Stirb du heute und ich sterbe morgen“ zu uns zurückkommen wird wie ein Bumerang. 

    Amtszeiten, Verfassungen, Leben – alles wird annulliert

    Ja, die Epidemie wird bis zum Sommer ihre natürliche Grenze erreichen, und Merkel hat wohl Recht, dass 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung sich anstecken werden, von denen viele nicht einmal ahnen, dass sie krank sind. Doch gleichzeitig werden nicht nur die Verfassung und Putins Amtszeiten annulliert, sondern auch viele Leben, die man hätte retten können, wenn das oben Beschriebene nicht wäre. Doch wann und wer hat in dem Land der großen Errungenschaften je Menschenleben gezählt?

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  • Der Moskauer, den es nicht gibt

    Der Moskauer, den es nicht gibt

    Jemand musste Grigori J. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens nicht-existent. Genauso wie tausende andere Menschen aus der Stadt M.

    Die Parabel des Soziologen Grigori Judin handelt vom Zulassungsprozess zu den Moskauer Regionalwahlen. Um am 8. September als unabhängiger Kandidat antreten zu können, müssen die Anwärter Unterstützer-Unterschriften von mindestens drei Prozent aller Wähler aus ihrem Wahlkreis vorlegen. Laut Moskauer Wahlkommission sollen 13 dieser Anwärter einen zu hohen Anteil nicht-nachvollziehbarer oder gefälschter Unterschriften eingereicht haben. Kommissionschef Valentin Gorbunow erklärte vergangene Woche, dass manche der Unterschriften von Toten Seelen stammten oder von Menschen, die nicht existieren. 

    Zu letzteren gehört Grigori Judin. Bevor es in Moskau zu massiven Protesten gegen die Nichtzulassung von rund 20 Oppositionskandidaten kam, schrieb er auf Facebook einen offenen Brief an den Bürgermeister Sergej Sobjanin. Im Namen der Bewegung „Moskauer Phantome“.

    „Ich dachte, das auf diesem Foto wäre ich. Nun hat sich aber herausgestellt, dass all das nicht passiert ist.“ – Soziologe Grigori Judin / Foto © Schtab Nawalnogo w Moskwe/Facebook
    „Ich dachte, das auf diesem Foto wäre ich. Nun hat sich aber herausgestellt, dass all das nicht passiert ist.“ – Soziologe Grigori Judin / Foto © Schtab Nawalnogo w Moskwe/Facebook

    Liebe Freunde!

    Mir ist etwas Schlimmes passiert.

    Die Sache ist die: Mich gibt es nicht.

    Ich dachte, das auf diesem Foto wäre ich. Dass ich hier für Elena Russakowa unterschreibe, die Kandidatin für die Moskauer Stadtduma aus dem 37. Wahlkreis. Trage Datum und Unterschrift ein unter dem strengen Blick des Ehrenamtlichen, der kontrolliert, dass ich nicht aus dem Formularkästchen rutsche.

    Jetzt hat sich aber herausgestellt, dass all das nicht passiert ist.

    Die Wahlkommission hat bekanntgegeben, dass auf diesem Foto nicht ich abgebildet bin, sondern irgendein Typ, der eine Straftat begeht, indem er meine Unterschrift fälscht. In den letzten 35 Jahren war ich sicher, dass dieser Mensch ich bin, jetzt stellt sich aber raus, dass es mich nicht gibt. Mehr noch: Vielleicht werden sie sich wundern, aber es gibt keine Möglichkeit, zur Kommission zu gehen und ihr zu beweisen, dass alles in Ordnung ist, und dass diese Unterschrift wirklich von mir stammt. Wenn die Kommission entschieden hat, dass es mich nicht gibt, dann weiß sie das besser als ich. 

    Die Sache ist die: Mich gibt es nicht

    Im Übrigen ist alles noch viel schlimmer. Es wäre schon irgendwie möglich, mich mit meiner Nichtexistenz anzufreunden: Ich hätte mich allmählich daran gewöhnt, dass alle durch mich hindurchsehen und theatralisch durch mich hindurchsteigen, wenn ich meine Hand reiche.
    Allerdings gibt es neben mir auch meine Mutter nicht, hunderte meiner Nachbarn aus dem Wahlkreis sowie zehntausende andere Moskauer. Wir alle sind Phantome. We are the nobodies.

    Also, als ein Moskauer Phantom möchte ich sagen, dass dies alles nur aus einem Grund passieren konnte. Weil irgendjemand von Oben gesagt hat: „Diese Kandidaten wird es bei der Wahl nicht geben. Und es interessiert mich nicht, wie ihr das jetzt löst, lasst mich mit diesem Thema in Ruhe.“ Und wie immer in solchen Fällen wurde dieser Befehl bis auf die Ebene der lokalen Wahlkommissionen hinuntergereicht, die ihn im letzten Moment bekamen und entschieden, es so zu machen, wie es halt kommt. Und da alle Unterschriften nun mal echt waren, mussten sie den lebendigen Leuten erklären, dass es sie nicht gibt.

    We are the nobodies

    In Moskau gibt es nur einen Menschen, der einen solchen Befehl erteilen konnte. Er heißt Sergej Sobjanin. Warum er in den vergangenen Tagen schweigt, das kann ich verstehen: Es ist klar, dass er lieber mit Radwegen und Parks in Verbindung gebracht werden möchte, und nicht mit dem Wahnsinn bei den Wahlen. In Moskau aber gibt es nichts und kann es nichts Wichtigeres geben, als die Leugnung der Existenz tausender Moskauer.

    Im Namen der Bewegung „Moskauer Phantome“ rufe ich Sergej Sobjanin dazu auf, seinen Mut zusammenzunehmen und sich mit uns zu treffen, um uns eine einzige Frage zu beantworten: wie er dazu steht, dass massenweise Moskauer zu Personen erklärt werden, die nicht existieren und was er in dieser Angelegenheit zu tun gedenkt. Wenn er so viel Angst vor uns hat, dann sind wir sogar bereit, uns mit ihm bei Tageslicht zu treffen.

    Ich weiß ganz genau, dass die Antwort bei Sobjanin zu suchen ist. Und wenn Journalisten es wollen, dann werden sie schon eine Antwort erzwingen – sie haben es nicht nur einmal bewiesen.
     

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  • Gesetzesbrecher made in Russia

    Gesetzesbrecher made in Russia

    Betrug, so lautet der Vorwurf gegen Regisseur Kirill Serebrennikow, der seit vergangener Woche unter Hausarrest steht. Die ehemalige Chefbuchhalterin seiner Produktionsfirma belastet ihn, er soll staatliche Gelder veruntreut haben.

    Unmittelbar nach einer Festnahme war eine heftige Debatte entbrannt. Seine Unterstützer sehen einen politischen Hintergrund und argumentieren teilweise, dass Gesetze oft so vage oder so rigide formuliert seien, dass es fast unmöglich sei, sie nicht zu brechen – und zwar ganz ohne kriminellen Vorsatz.

    In diese Richtung geht auch der Facebook-Post von Andrei Movchan, Finanzexperte und Leiter des Programms für Wirtschaftspolitik am Carnegie Center in Moskau. Ohne den Namen Serebrennikows zu erwähnen, wirft er die Frage auf: Kann man in Russland überhaupt Geschäfte machen, ohne das Gesetz zu brechen?

    Sehr viele wundern sich: „Was denn, man kommt nicht umhin, die Gesetze zu verletzen, wenn man in Russland Geschäfte macht? Es gibt Gesetze, also befolgt sie bitteschön, und alles wird gut! Mal angenommen, die Gesetze sind schlecht – aber das wisst ihr doch vorher, dann lasst lieber die Finger davon!“

    Hier ein Beispiel, kein allzu ernstes, und auch kein allzu eklatantes. Einfach nur ein Fall, der mir untergekommen ist, eine reale Geschichte: Stell dir vor, du hast eine kleine Firma, die Dienstleistungen anbietet, und du hast Glück – eine ausländische Firma erteilt dir einen Auftrag. Deine Firma heißt beispielsweise OOO Programmist, und der Auftrag kommt von Google höchstselbst. Du bist klein, hast Aufträge über 200.000 Dollar im Jahr, Google ist groß und du tanzt vor Freude wild herum.

    Überall auf der Welt wäre das ein Erfolg und es hieße: Mach weiter und verdien‘ dein Geld. In Russland allerdings besteht nun die wichtigste Aufgabe darin, die Unterlagen für die Devisenbescheinigung bei der Bank und den Geschäftspass korrekt zusammenzustellen. Denn selbst wenn die Devisen nicht ins Ausland sondern ins eigene Land fließen, befindest du dich nun unter minutiöser Aufsicht, und das auch noch auf eigene Kosten (mehr noch: selbst wenn Google in Rubel zahlen würde, würde sich an der Situation nicht das Geringste ändern). 

    Selbst wenn die Devisen nicht ins Ausland sondern ins eigene Land fließen, befindest du dich nun unter minutiöser Aufsicht

    Das Gesetz Über die Devisenregulierung und die Devisenkontrolle hat fünf Kapitel und 28 Artikel, die Anleitung der Zentralbank für die Erklärung über Devisenoperationen ganze 21 Abschnitte und neun Anlagen. Du bist aber auf solche Manöver rundum vorbereitet und deine Buchhaltung reicht ordnungsgemäß Stapel von Dokumenten ein und beantwortet die Rückfragen der Bank zu jedem Zahlungsvorgang (nicht umsonst kostet in Russland selbst das billigste Outsourcing der Buchhaltung immer noch ein Vielfaches von dem, was man für den gesamten Bereich einer tatsächlich aktiven Firma auf Zypern zahlt). Du hast Google sogar dazu gebracht, jenseits des sonst überall auf der Welt ausreichenden Briefwechsels, etwas Vertragsähnliches zu unterschreiben und sogar die Abnahmeprotokolle gegenzuzeichnen (ich weiß nicht wie, aber es ist dir gelungen) – sonst droht Gefängnis, Einfrieren der Gelder und Kontenschließung durch die Bank. Tatsächlich hat die Bank auch so alles einfrieren wollen – auf dem Vertrag fehlte der Stempel – aber du hast geschrien und gefleht, und die von der Devisenkontrolle der Bank haben entschieden, dass es doch geht.

    Kann man in Russland überhaupt Geschäfte machen, ohne das Gesetz zu brechen? / Foto © sajinka2/Pixabay
    Kann man in Russland überhaupt Geschäfte machen, ohne das Gesetz zu brechen? / Foto © sajinka2/Pixabay

    Nun hast du also ein Jahr gearbeitet. Du hast, sagen wir mal, drei von vier Quartalszahlungen erhalten. Eine davon hatte Google allerdings zwei Monate zurückgehalten, es hatte bei denen irgendwelche Komplikationen gegeben, aber Google verzeiht man das, und welchen Unterschied macht das schon für dich? Eine andere Zahlung von Google fiel um 1000 Dollar zu hoch aus; das allerdings wurde bei der nächsten Zahlung berücksichtigt, die dann eben 1000 Dollar weniger betrug. Die vierte Zahlung schicken sie erst im nächsten Jahr, weil bei denen Weihnachten ist und sie noch überprüfen müssen, ob du den Auftrag auch vollständig erledigt hast. Insgesamt also ein normaler Job und nicht der schlechteste Vertragspartner.

    Du verdammst die russische Bürokratie

    Du hast einen Vertrag abgeschlossen (und die Bank hat mehrfach alle Unterlagen erhalten, einschließlich Sonderschreiben zum Thema „Warum 1000 Dollar zu viel?“, „Warum 1000 Dollar zu wenig?“, „Warum zwei Monate später?“ und so weiter). Und hast vergessen, dass es damit nicht getan ist:  Ein Jahr später erreicht dich eine höfliche Aufforderung vom Finanzamt: Innerhalb von fünf Tagen sind die Unterlagen zu allen Devisenoperationen in Kopie vorzulegen. Das tust du und verdammst die russische Bürokratie. Und fünf weitere Tage später wirst du ins Finanzamt zum Gespräch einbestellt, wo man dir im Wortlaut Folgendes verkündet:

    (1) Du hast in erheblichem Maße gegen die Devisengesetze verstoßen.
    (2) Die Verstöße bestehen darin, dass du
    a. die vertragsgemäßen Fristen für den Eingang der Mittel nicht eingehalten hast. Das bedeutet, dass die im Geschäftspass zu diesem Auftrag aufgeführten Daten nicht stimmen, was wiederum bedeutet, dass du nicht nur die Mittel nicht vorschriftsgemäß ins Land verbracht, sondern darüber hinaus staatliche Stellen getäuscht hast.
    b. zudem einen Teil der Mittel nicht erhalten hast, obwohl dies hätte geschehen müssen (dass dieser Teil im Folgejahr eingegangen ist, tut nichts zur Sache, da wir hier ja das Vorjahr prüfen).
    (3) Die Dinge stehen schlecht: Deine Verfehlungen könnten sich auf über 9 Millionen Rubel [ca. 128.600 Euro – dek] belaufen – das ist laut Artikel 193 Strafgesetzbuch ein schwerer Fall und bedeutet bis zu vier Jahre Gefängnis.
    (4) Wir sind jedoch der menschenfreundlichste Staat der Welt, deshalb: Entweder
    a. wir nehmen Verstöße über 6,5 Millionen Rubel [ca. 92.900 Euro – dek] zu Protokoll und stellen deiner Firma einen Bußgeldbescheid über sagen wir insgesamt 5 Millionen Rubel [ca. 71.400 Euro – dek]  nach Artikel 15.25.4 des Ordnungswidrigkeitsgesetzbuchs aus (wir könnten auch die vollen 6,5 nehmen, du siehst ja, hier heißt es: „bis zu 100 Prozent der Summe“), dann gibt es kein Strafverfahren. Sei jetzt nicht sauer – wir haben da bei Bußgeldern unsere Vorgaben, du verstehst schon … Und des Weiteren würden wir dich bitten, dich mit uns zu beraten, wie künftig Verträge abzufassen sind, wir sind ja keine Unmenschen, wir stehen stets mit Rat zur Seite, hier sind unsere Telefonnummern … oder
    b. wir ziehen vor Gericht und klagen parallel nach Artikel 193 auch den Generaldirektor und den Chefbuchhalter an, und dann wird man sehen, was kommt, da läuft dann die Maschine, und wen sie in ihren Fängen hat, den lässt sie nicht los. Du weißt ja, wie das ist: Du willst zurückrudern, aber es ist schon zu spät, dann werden wir nichts mehr für dich tun können.

    Vor der Verhandlung findet bei dir ein Mummenschanz statt, die Konten werden eingefroren und der Buchhalter festgenommen

    Du kannst dich auch ans Gericht wenden. Das wird dich vielleicht nicht zu fünf Millionen verurteilen, sondern zu ein paar Hunderttausend (Artikel 15.25.4 lässt eine Geldstrafe zu, die in zwei Jahressätzen der Zentralbank zur Refinanzierung bezogen auf den Zeitraum des Zahlungsverzugs bemessen wird). Vielleicht findet aber auch lange vor der Verhandlung bei dir ein Mummenschanz statt, die Konten werden eingefroren und der Buchhalter festgenommen (und du kannst von Glück sagen, wenn es nur ihn trifft); dann verlierst du deine Firma und siehst deinen Buchhalter nach einem Jahr wieder, völlig krank und gebrochen. Von den 12 Millionen wirst du wohl 5 zahlen müssen (wenn der Gewinn 20 Prozent betrug, zahlst du also zwei Margen) – nur dafür, dass dein Vertragspartner bei den Zahlungen nicht akkurat vorgegangen ist.

    Alles im Einklang mit dem Gesetz. Ich zitiere: „Einheimische Firmen sind verpflichtet, für den Eingang von Zahlungen in ausländischer Währung oder der Währung der Russischen Föderation durch ausländische Firmen, die gemäß den Bestimmungen eines Außenhandelsvertrages für überlassene Waren, erbrachte Dienstleistungen, übergebene Informationen und Ergebnisse geistiger Arbeit anfallen, einschließlich der Exklusivrechte hieran, innerhalb der vertraglich festgelegten Fristen auf ihr Bankkonto bei den zuständigen Banken zu sorgen.“ Es muss also nicht einfach nur für den Empfang gesorgt werden (wobei auch das Schwachsinn ist), sondern dies auch „innerhalb der in Verträgen festgelegten Fristen“. Du übernimmst also für Google die Verantwortung.

    Diese Bestimmung ist absurd und widerspricht den Grundlagen des römischen Rechts

    Diese Bestimmung ist absurd und widerspricht den Grundlagen des römischen Rechts. Sie ist eine von tausenden Bestimmungen im rechtlichen Minenfeld in Russland, und je weiter ein Unternehmer vorankommt, desto heftiger detonieren diese Minen unter seinen Füßen.

    Du schreibst darüber auf Facebook und bekommst Hunderte Kommentare nach dem Motto: „Gesetze müssen befolgt werden!“, „Ihr habt doch selbst den Rechtsstaat gewollt, und jetzt heult ihr rum“, „Erst alles klauen, und jetzt keine Verantwortung übernehmen wollen“ oder „Was’n Scheißdreck soll’n wir für die Yankees arbeiten, gibt’s in Russland etwa keine Arbeit?“.

    Was machst du bitte sehr, wenn dir durch eine solche Detonation 5 Millionen Rubel [ca. 71.400 Euro – dek] entrissen wurden, aber Google weiterhin mit dir zusammenarbeiten will? Du wolltest aufrichtig das Beste für Russland. Du hast daran geglaubt, dass man, solang man sich nicht in die Politik einmischt, arbeiten kann. Du hast geglaubt, dass du alle Gesetze und Vorschriften beachtest. Du hast gerade an einem großen neuen Projekt gearbeitet, hast deinen Beitrag zur Entwicklung des Vaterlandes geleistet. Und denkst: Teufel nochmal – nächstes Mal bring ich keinen echten Vertrag mit Google zur Bank, in dem es Fristen und Volumina gibt, und keine Stempel und Unterschriften. 

    Und du schusterst dir eine eigene Version zusammen, in der es keine Fristen gibt, und auch keine Beträge – einfach Zahlung nach Rechnungsstellung und acht blaue Stempel mit Google-Wappen. Du unterschreibst im Namen von Google und bringst alles zur Bank und verfasst dann zu jeder Zahlung eine Rechnung und ein Protokoll je nach Zahlungsdatum – und alle sind zufrieden. 

    Beruhige dich, das alles war nur ein schlechter Traum

    Und dann vergehen noch ein paar Jahre, und unsere ständig über sich hinauswuchernden Steuerbehörden erstellen einen Abgleich mit den ausländischen Vertragspartnern. Dann wird man dich um 5 Uhr morgens heimsuchen – mittlerweile wird es sich bei dir laut Artikel 193 um einen besonders schweren Fall handeln, und es werden Urkundenfälschung, Betrug und noch ein paar andere Artikel hinzukommen.

    Beruhige dich, das alles war nur ein schlechter Traum. Nach der Zahlung von 5 Millionen Rubel [ca. 71.400 Euro – dek] und diesem Traum wirst du mit zitternden Händen in durchgeschwitztem Bettzeug aufwachen und schon beim Frühstück auf die Entwicklung des Vaterlandes pfeifen. Deine Firma wird nach Zypern umziehen oder ins Baltikum. Dort gibt es übrigens nicht nur keine Devisenkontrolle – dort kostet die Buchhaltung 1000 Euro pro Jahr und die Steuern auf Erträge bis anderthalb Millionen Rubel [ca. 21.400 Euro – dek] liegen bei Null.

    Eines aber solltest du bedenken: Ohne dich wird es noch schwieriger sein, den Bußgeldplan zu erfüllen, und die im Land Verbliebenen werden auf noch absurderer Grundlage mit Strafen und Haft belegt werden. Ich beneide denjenigen nicht, der als letzter hier übrigbleibt – der wird wohl lebenslänglich eingelocht und bekommt alles abgenommen, eine Begründung, und sei sie noch so absurd, fehlt dann ganz. Oder wird das schon den letzten Tausend blühen, oder gar der letzten Million?

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  • „Patrioten gibt’s bei euch also keine?“

    „Patrioten gibt’s bei euch also keine?“

    Maxim Lossew ist ein Schüler aus der Oblast Brjansk, rund 380 Kilometer südwestlich von Moskau. Kurz nachdem Oppositionspolitiker Nawalny einen Korruptionsbericht über Premier Medwedew vorgelegt hatte, rief Maxim über Vkontakte dazu auf, an einer Unterstützer-Demo für Nawalny teilzunehmen. Eigentlich nichts Ungewöhnliches. Doch Lossew wurde daraufhin von der Polizei zur Unterredung abgeholt – aus dem Klassenzimmer heraus. Die Schuldirektorin Kira Petrowna Gribanowskaja und eine Lehrerin, die ganz zu Beginn als „Raissa Alexandrowna“ angesprochen wird, diskutierten mit den Schülern darüber – und kommen dabei auch auf Themen wie den Krieg in der Ukraine, Patriotismus und die politische Opposition. Dabei zeigen die Schüler großes Selbstbewusstsein gegenüber den regierungsloyalen Lehrkräften.

    Ein Handy-Mitschnitt der Diskussion landete im Internet, Nawalnys Wahlkampfteam verbreitete das Video über Vkontakte. Es wurde bislang bereits über eine Millionen Mal angesehen, die Schüler wurden zu „neuen Helden des russischen Internets“. dekoder bringt die Mitschrift in deutscher Übersetzung. Da die Aufnahme oftmals kein Bild, sondern nur Ton liefert, ist nicht immer einfach zuzuordnen, wer gerade spricht. 

     

    Direktorin [Kira Petrowna]:  Raissa Alexandrowna, darf ich? Für die, die sich für Nawalnys Aktivitäten interessieren: Gut, er fordert die Absetzung unserer aktuellen Regierung, ein „Nein zu Korruption“ und so weiter. Welche konkreten Maßnahmen schlägt er denn vor? An Kundgebungen teilzunehmen? Zu sagen, was der für ein Fiesling ist?     
    Ein Schüler: Er will einfach Antworten hören. Er hat ein Video zu Medwedew gemacht, und jetzt will er Antworten von der Staatsmacht.
    Direktorin: Und?
    Ein Schüler: Die schweigt.
    Direktorin: Moment mal. Nehmen wir an, ihr macht ein Video über Kira Petrowna, schreibt, die ist so und so, kümmert sich nicht um was weiß ich, bei der in der Schule ist der Teufel los; ihr versammelt euch und fordert eine Antwort. Was glaubt ihr, geh ich da hin und rede mit euch?  
    Ein Schüler: Nein.
    Direktorin [aufgeregt]: Eben, er auch nicht! Das ist doch lächerlich! Ein politisches Programm – das wären konkrete Maßnahmen zur Stärkung der Wirtschaft, die Ausarbeitung von Plänen. Das, was der macht, ist reinste Provokation. Versteht ihr? Ihr versteht das noch nicht. Die Wirtschaftslage ist bei uns derzeit sehr instabil, das sage ich geradeheraus. Ein ökonomisches Loch. [Ihre Stimme beruhigt sich wieder etwas] Und was ist die Ursache? Ihr hattet das doch in Sozialkunde und so weiter. Ihr wisst ja, dass es im Grunde im Land eine Wirtschaftsblockade gibt. Na, dann möchte ich mal hören, was ihr wisst: Was erleben wir derzeit? 
    Ein Schüler: Eine Krise.
    Direktorin: Und was hat die Krise ausgelöst?

    [Unverständlich]

    Ein Schüler: Die Sanktionen, die Europäische Union, diese ganze Blockade.  
    Direktorin: Nochmal bitte, wer? Die Europäische Union, richtig? Das heißt, wir haben jetzt eine sehr konsequente und sehr stramme Politik unseres Leaders. Er hat international ein sehr hohes Ansehen. Warum? Wegen seiner Außenpolitik. Die Innenpolitik, klar, die schwächelt. Warum? Ja, weil kein Geld da ist. Und das spüren wir jetzt, vor allem …   
    Ein Schüler: Aber was für eine Außenpolitik wird denn bei uns bitteschön gemacht? Amerika ist gegen uns, Europa ist gegen uns. 
    Direktorin: Und woran liegt das, hm? Weswegen?
    Ein Schüler: Wegen der Krim, weil wir die einkassiert haben quasi.
    Direktorin: Und das findest du schlecht?
    Lehrerin: Haben wir sie denn einkassiert? 
    Ein Schüler: Na, wir sind quasi in eine Krise eingetreten.
    Lehrerin: Es gab ein Referendum

    [Unverständlich]

    Direktorin: Gut, erzähl mir mal, was da aus deiner Sicht passiert ist! Da bin ich jetzt gespannt! Erzähl mir das, vielleicht kenne ich ja irgendeine Sichtweise noch nicht. 
    Ein Schüler: Na, warum haben sie denn gegen uns Sanktionen verhängt?! 
    Direktorin: Das hattest du gerade schon selbst beantwortet.
    Lehrerin: Wegen der Demonstration von Stärke. Weil wir Stärke gezeigt haben. 
    Ein Schüler: Wegen der Krim.
    Direktorin: Weißt du, warum … Ja, warum hat denn der Krieg in der Ukraine überhaupt angefangen?
    Ein Schüler: Na, wegen der Revolution …
    Direktorin: Weswegen?
    Ein Schüler: Wegen dem Machtwechsel.
    Direktorin: Ach, mein Junge, du liest nichts und weißt nichts. Dein Wissen ist sehr oberflächlich. Wie ist dieser ganze Konflikt überhaupt entstanden? Warum hat sich da Amerika eingemischt?
    Ein Schüler: Hat es sich ja gar nicht offiziell.

    [Unverständlich]

    Direktorin: Und wofür hat sich die Krim dann entschieden? Und wie hat Amerika das bewertet?
    Ein Schüler: Haben Sie dort amerikanische Truppen gesehen, in der Ukraine?
    Direktorin: Hast du denn russische Truppen gesehen in der Ukraine?
    Ein Schüler: Ja. [Lachen] 
    Da gibt’s Videos, das können Sie sich gar nicht vorstellen.
    Direktorin: Videos – die sind meistens gestellt.
    Lehrerin: Man darf denen nicht glauben …

    [Unverständlich]

    Ein Schüler: Ich habe etliche Informationen gehört, dass die Freunde von irgendwelchen Leuten …
    Direktorin: Leute! Ich seh schon, ihr betrachtet dieses Problem einseitig. Und euch fehlt der politische Überblick. Das Problem ist ganz klar umrissen: Ihr habt Nawalny gesehen, habt seine Videos angeguckt, das war’s. Und schon denkt ihr so. Eine eigene Meinung dazu habt ihr nicht, nur das, was man euch aufdrückt. Und dann benutzt ihr auch noch manchmal ungeprüfte Quellen oder sogar, wenn man so will, Quellen, die zur Provokation dienen.
    Lehrerin: Wie Marionetten …


    Ein Schüler: Und wenn wir einfach der gleichen Meinung sind wie er?
    Direktorin: Habt ihr denn eine Meinung? Lest erst mal ein bisschen. Ich sag euch das, schaut euch nicht nur diese … Wenn jemand behauptet, dass es hier so schlecht ist, dann seht euch mal andere Quellen an. Warum glaubt ihr nur einer Quelle?  
    Lehrerin: Jeder Fakt gehört dem Zweifel unterzogen! 
    Ein Schüler: Wir betrachten ja nicht nur eine Quelle.
    Direktorin: Na, ihr schaut offenbar nur in eine Richtung.
    Ein Schüler: Unser Fernsehen zeigt ja nur, was dem Staat zuträglich ist …
    Direktorin: Hört ihr nicht Voice of America?

    [Unverständlich]

    Direktorin: Ich sehe schon, die staatsbürgerliche Haltung haben wir euch nicht richtig beigebracht. Was das staatsbürgerliche Bewusstsein betrifft, zeigt ihr große Defizite. Patrioten gibt es bei euch in der Klasse also keine?
    (Einwurf Schüler: Was ist denn ein Patriot? Einer, der die Regierung unterstützt?)
    Direktorin: Ich habe mit Nikita gesprochen … Nikita, willst du ein Patriot sein?
    Lehrerin [unterbricht]: Entschuldigung. Bitte, organisiere doch einfach eine Gruppe und mach einen Subbotnik in deiner Straße.  
    Direktorin: Leute, hebt mal die Hand, wer von euch engagiert sich in einer Freiwilligen-Bewegung?

    [Stille]

    Direktorin: Wozu wurde denn die Freiwilligenarbeit eingeführt? Da haben wir eure staatsbürgerliche Haltung! Ihr braucht euch gar nicht mit Putin und Medwedew da oben zu beschäftigen. Seht euch unseren Bezirk an!
    Ein Schüler: Aber die Freiwilligenarbeit wird doch von Einiges Russland organisiert, oder? Und unterstützt?
    Direktorin: Ja.
    Ein Schüler: Eben, und wir sind gegen Einiges Russland.

    [Gelächter]

    Ein Schüler: Verstehen Sie?
    Lehrerin: Warum sprichst du in der Mehrzahl und redest von „wir“?
    Ein Schüler: Hebt doch bitte mal die Hand, wer gegen Einiges Russland ist.
    Weiterer Schüler: Ich!

    [Gelächter, unverständlich]

    Ein Schüler: Wir sind gegen Einiges Russland.
    Direktorin: Und wofür seid ihr?
    Ein Schüler: Für Gerechtigkeit.
    Weibliche Stimme: Und was ist Gerechtigkeit?
    Weibliche Stimme: Das, was es bei uns nicht gibt.

    [Unverständlich]

    Ein Schüler: Gerechtigkeit ist, wenn sich die Regierung um die Menschen kümmert, nicht nur um sich selbst, … um die einfachen Bürger, nicht um ihre Millionen. Viele Menschen wollen ja in einem freien Staat leben, in einem freien Land …
    Direktorin: Ihr glaubt also, dass sich mit Putin und Medwedew das Leben im Land verschlechtert hat?
    Weiterer Schüler: Ja.
    Ein Schüler: Nein, sie kleben aber an ihren Sesseln. Sie sitzen da schon zu lange.
    Direktorin: Hast du mal in einer anderen Zeit gelebt, anscheinend hab ich da was verpasst? Unter welcher Regierung hast du gut gelebt? 
    Ein Schüler: Ich?
    Direktorin: Unter Putin und Medwedew ist es für dich also schlechter geworden?
    Ein Schüler: Wir kennen unsere Geschichte.
    Direktorin: Allerdings.
    Schüler: Eben …
    Direktorin: Was – eben? Ich frage dich: Konkret du, unter welchem Regierenden hast du gut gelebt?
    Schüler: Wir hatten ja im Grunde nur einen.
    Direktorin [aufgeregt]: Du hast gesagt, es ist schlechter geworden. Dabei habt ihr die wilden 1990er Jahre gar nicht erlebt! Damals hatte jeder, Verzeihung, eine Handwaffe oder Feuerwaffe! Chaos und Willkür im ganzen Land! Ich war damals Studentin! Dass man sich abends nach acht nicht mehr raus auf die Straße traute. Das habt ihr nie erlebt!
    Schüler: Wollen Sie, dass es wieder so wird?
    Lehrerin: Ihr wollt das!
    Schüler: Gerade jetzt wurde ein Mensch wegen nichts eingesperrt. Einfach von der Polizei mitgenommen.
    Direktorin: Das ist Bürgerkrieg.
    Schüler: Das ist Willkür.
    Direktorin: Richtig, Willkür, denn wohin führt jede Demonstration und jede Spaltung der Macht?
    Lehrerin: Zu einer politischen Krise und weiter zum Bürgerkrieg.
    Direktorin: Und weiter zum Bürgerkrieg. Brudermord.
    Lehrerin: Wollt ihr es wie in der Ukraine, so wie es bei uns 1918 war?
    Schüler: Wir wollen diese Regierung nicht.
    Weiterer Schüler: Nein, wir wollen … unsere eigene Sicht der Dinge.
    Eine der Lehrkräfte: Ihr werdet Euer eigenes 1918 erleben …
    Lehrerin: Sagt mal: Könnt ihr das wirklich jetzt erreichen? Und wie?
    Ein Schüler: Na, sich einfach zusammentun.
    Lehrerin: Und dann?
    Schüler: Dann werden wir eine Masse.

    [Stimmengewirr]

    Weiterer Schüler: Eine ordentliche Masse!
    Lehrerin: Eine Masse. Und dann, was dann?
    Ein Schüler: Dann sehen es die Leute wenigstens. Dann sehen sie, dass es Bürger gibt.

    [Unverständlich]

    Lehrerin: Bürger – das ist eine Handvoll Leute, die angeführt werden von Erwachsenen, die sozusagen nichts zu verlieren haben.
    Direktorin: Leute, wir haben zumindest versucht, euch ein wenig zu ermahnen und zu warnen. Was jetzt beginnt, das ist Polemik, und die ist sinnlos. Ihr müsst jetzt ohnehin – ich rate euch, ich bestehe nicht darauf, aber ich rate euch – zu Herzen nehmen, was wir gesagt haben, und entsprechende Schlüsse ziehen. Und ich denke dabei vor allem an eure Zukunft.  
    Lehrerin: Vergesst nicht, das ist entscheidend.
    Direktorin: Ich habe mich bei diesen Regierungsvertretern beschwert. Ich habe versucht, Maxim zu verteidigen. Habe gesagt, dass das nur so eine völlig unnötige jugendliche Dummheit gewesen ist.
    Glaubt mir, der hat es gerade nicht gut. Gar nicht gut. Ich möchte nicht, dass auch nur einer von euch in so eine Lage gerät. Aber jetzt ist es an euch. Alles, was ihr hier sagt, im Klassenzimmer, sind leere Worte. [Unverständlich] Ich sag’s nochmal, werdet anständige Leute und erreicht etwas. Das ist das Richtige.
    Lehrerin [leise]: Aber das hier, das ist kindisch. Leute, ich bitte euch nochmal. Denkt nach, denkt mit … So, Leute, womit fangen wir jetzt an? Mit den Zensuren oder mit den Hausaufgaben …

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