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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Zitat #12: „Meine Stadt stirbt einen qualvollen Tod“

    Zitat #12: „Meine Stadt stirbt einen qualvollen Tod“

    „Ich war in der Hölle“, schreibt die ukrainische Journalistin Nadeshda Suchorukowa über ihre Heimatstadt Mariupol. Die Stadt, der sie inzwischen entkommen konnte, wird seit Tagen von der russischen Armee belagert und heftig beschossen – auch Wohnhäuser, Krankenhäuser und andere zivile Einrichtungen. Die verbliebenen Bewohner sind abgeriegelt von der Außenwelt, von Strom, Wasser, Internet und Lebensmitteln. Die Stadt am Asowschen Meer gilt als strategisch wichtig zwischen den von Russland kontrollierten Donbas-Gebieten und der Krym.

    Auf ihrer Facebook-Seite schildert Suchorukowa Erlebnisse aus der Belagerung – dekoder dokumentiert einen Ausschnitt daraus. 

    Die Leichen deiner Nachbarn und Bekannten holt niemand ab. Die Toten liegen in Hausfluren, auf Balkonen, in Höfen. Und du hast kein Fitzelchen Angst. Denn die größte Angst kommt beim nächtlichen Angriff.

    Wisst ihr, was dem nächtlichen Angriff ähnelt? Der Tod, der alle Adern aus dir herauszieht. Schlafen darf man nachts nicht. Denn man träumt friedliche Träume. Du tauchst aus ihnen auf und fällst in den Alptraum.

    Zuerst kommen Geräusche. Fiese metallische Geräusche, als würde jemand einen riesigen Zirkel drehen und die Entfernung zu deinem Schutzraum messen. Um ihn genauer zu treffen. Dann kommt die Rakete. Du hörst, wie ein riesiger Hammer auf das Metalldach schlägt, und dann ein fürchterliches Knirschen, als würden sie mit einem riesigen Messer die Erde aufschlitzen oder als würde ein gewaltiger Riese aus Metall in schmiedeeisernen Stiefeln über deine Erde gehen und Häuser, Bäume, Menschen zertreten. Du sitzt da und merkst, dass du dich nicht mal bewegen kannst. Du kannst nicht wegrennen, schreien nützt nichts, verstecken nützt nichts. Er findet dich sowieso, wenn er will.

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    Warum Putin die Ukraine grundsätzlich missversteht

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  • Warum Putin die Ukraine grundsätzlich missversteht

    Warum Putin die Ukraine grundsätzlich missversteht

    Wladimir Putin hat die „Entnazifizierung“ als eines seiner Ziele bei dem Angriffskrieg auf die Ukraine genannt. Er bezeichnet die politische und kulturelle Elite des Nachbarlandes als „Nazis“, so auch den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky, der Jude ist und der einer Familie von Holocaust-Überlebenden entstammt. Seit Jahren – vor allem seit dem Beginn der Maidan-Revolution Ende 2013, der Annexion der Krim und dem Krieg im Osten der Ukraine – bedienen der Kreml und russische Staatsmedien das Bild, die Ukraine sei von einer „faschistischen Junta“ gekapert worden und müsse von dieser befreit werden. Gleichzeitig baut der Kreml seit Jahren verstärkt Beziehungen zu rechtsextremen Parteien, Politikern und Aktivisten in Europa auf, um sie für seine Belange einzuspannen.

    Die Rhetorik des Kreml zieht dabei bewusst eine Verbindung zum Vermächtnis der Sowjetunion und ihrem Sieg über den Faschismus im Großen Vaterländischen Krieg 1945. Allerdings seien viele der alten Losungen heute nicht mehr als hohle Floskeln, meint etwa der russische Intellektuelle Lew Rubinstein: „Wörter der Nachkriegszeit wie ,Nazismus‘ und ,Faschismus‘ haben im sowjetischen und postsowjetischen Propaganda-Diskurs allmählich ihre ursprüngliche Bedeutung verloren. Sie entbehren heute jeglichen semantischen Inhalts. Sie, diese Wörter, werden als reine Instrumente verwendet, als vermeintlich starke und überzeugende rhetorische Figuren.“

    Putins verkündeter Plan einer „Entnazifizierung“ der Ukraine fußt auf einem kolossalen Unverständnis der ukrainischen Gesellschaft, meint Artyom Shraibman. Auf seinem Telegram-Kanal erklärt der belarussische Politikanalyst, warum dieser Plan von vornherein realitätsfern war – mit nun immer fataleren Folgen.

    Entschuldigt, dass ich so lange nicht geschrieben habe. Die Evakuierung aus der Ukraine und Fragen der Grundversorgung am neuen, sicheren Ort haben mir alle Zeit und Energie genommen. Einzig ein Interview für Echo Moskwy anlässlich seiner Schließung habe ich geschafft zu geben. Doch sie haben das Video auch von Youtube gelöscht, darum wiederhole ich meinen Grundgedanken hier. 

    Putins Hauptfehler ist nicht, dass er die Stärke seiner Armee überschätzt und die des ukrainischen Widerstands und das Ausmaß der Sanktionen unterschätzt hat. Auch nicht, dass er an den propagandistischen Quatsch über das ukrainische Brudervolk glaubt, die auch Russen seien. Oder an den Quatsch mit der volksfeindlichen Nazi-Junta (mit einem Juden an der Spitze), von der sich diese Auch-Russen befreien wollen und dabei nur auf Hilfe warten.

    Es gibt ein sehr viel ernsthafteres Problem in der Weltanschauung solcher Leute wie Putin. Fast alle, die aus dieser sowjetischen militär-tschekistischen Kultur kommen, teilen diese Weltanschauung. Das sind die, die in den 1990ern in Russland „Rot-Braune“ und später dann „Watniki“ genannt wurden. Auch jüngere Silowiki haben diese Leerstelle im Bewusstsein und auch ältere Autokraten wie Putin oder Lukaschenko.

    Keine Vorstellung von einer Gesellschaft, die sich selbst helfen kann

    Diese Leute können nicht begreifen, dass irgendwelche Gruppen von Menschen in der Lage sind, horizontal zu interagieren und ohne Oberhirten zu leben. Für sie existiert nur die Vertikale, nur die Kaserne. Nur die Eliten und eine darunter versammelte Hammelherde. Sie sind es gewohnt, in einer solchen Gesellschaft zu leben und über sie zu bestimmen – also müssen ihrer Ansicht nach wohl alle Gesellschaften so sein. 

    Hätte dieser Mythos irgendetwas mit der Realität zu tun, so wäre der Plan, Kiew schnell zu erobern, den ukrainischen Staat zu enthaupten und dem neuen Regime eine Kapitulation aufzuzwingen – verbunden mit einer „Entnazifizierung“ und weiterer Unterwerfung – völlig machbar.

    Die Ukraine ist keine Kaserne. Man kann sie nicht enthaupten, das ist ein völlig anderer Organismus

    Aber selbst wenn man die für alle Welt offensichtliche Ausbremsung der russischen Kriegsmaschinerie außer Acht lässt, die seltsamen ungedeckten Landeoperationen, das Versagen bei der Übernahme der Kontrolle über den Luftraum, das Versagen in der Versorgung und Logistik: Selbst dann ist der Plan apriori nicht machbar. Denn die Ukraine ist keine Kaserne. Man kann sie nicht enthaupten, das ist ein völlig anderer Organismus. 

    Nehmen wir einmal an, dass die militärische Stärke ausreicht, um den Widerstand der ukrainischen Armee zu brechen – was derzeit alles andere als offensichtlich ist, wenn man die sinkende Kampfmoral der Angreifer und die erstarkende Wut der Verteidiger bedenkt. Aber stellen wir uns das einmal vor.

    Was soll mit der Partisanen-Bewegung geschehen? Sollen hunderttausende Soldaten eines Besatzungs-Korps einmarschieren? Wo will man die hernehmen, wenn 90 Prozent der ins Land einmarschierten Reservetruppen es nicht schaffen, die großen Städte einzunehmen? Soll es eine Blockade der Städte und damit dort eine humanitäre Katastrophe geben? Wenn es bereits jetzt – hier wie dort – zu freiwilliger Kriegsgefangenschaft kommt – wie will man sich dann vor Fahnenflucht schützen in einer Armee, die sich selbst im Klaren darüber ist, dass sie für eine vollumfängliche Vernichtungsoperation gekommen ist und nicht für eine „chirurgisch-exakte Demilitarisierung“? 

    Der Kreml hat keine Exit-Strategie

    Wer wird sich nach einem blutigen Gemetzel, das ein solches Szenario erforderlich macht, einem Besatzer unterwerfen? Wie nachhaltig werden Vereinbarungen mit den Marionetten, die man an Selenskys Stelle platziert? Wie viele Tage werden die nach Abzug des Besatzungs-Korps überleben? Wo soll die Bürokratie herkommen, um ein besetztes Land mit 40 Millionen Menschen zu verwalten, die dem Besatzer gegenüber maximal feindlich gesinnt sind? Woher soll das Geld dafür kommen bei eingefrorenen Reserven und Sanktionen à la Nordkorea? Wie und wer überhaupt kann die Besatzung organisieren, wenn momentan schon die Organisation des Einmarsches nicht so richtig klappt? 

    Dass der Kreml in dieser Situation keine Exit-Strategie hat, ist heute das globale Hauptproblem – natürlich nach der humanitären Katastrophe in der Ukraine. Selbst wenn die gesamte russische Armeeführung begreift, welche Aufgabe da vor ihnen steht – ein Rückzug würde den politischen Tod Putins bedeuten. Und womöglich nicht nur den politischen.

    Mit dem Rücken zur Wand und als Gefangener seiner mystisch-paranoiden Einstellungen könnte Putin jeden Befehl geben. Das Schicksal der Welt könnte an einem bestimmten Punkt in den Händen der obersten Militärführer Russlands liegen, denen dann obliegt, den Befehl auszuführen oder Mensch zu bleiben

    Auf dem Weg in die Katastrophe des russischen Staates liegen leider noch sehr viele unschuldige Opfer und diesen Fakt kann ich psychologisch immer noch nicht akzeptieren. Allem Anschein nach folgt nach diesem schrecklichen Preis wirklich so etwas wie eine Entnazifizierung. Doch nicht für die Ukraine.

     

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  • Wer kann Putin noch aufhalten?

    Wer kann Putin noch aufhalten?

    „Das Schlimmste steht uns noch bevor“ – Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian zeigte sich ernüchtert, nachdem der französische Präsident Emmanuel Macron am gestrigen Donnerstag erneut mit Wladimir Putin telefoniert hatte. Putin wolle die vollständige Eroberung und Unterwerfung der Ukraine, hieß es aus dem Elysée.
    In einer zweiten Gesprächsrunde zwischen der Ukraine und Russland einigte man sich unterdessen immerhin auf „humanitäre Korridore“, damit Zivilisten die umkämpften Gebiete verlassen können. 

    Unterdessen eskaliert der Krieg in der Ukraine weiter – und auch die Repressionen nach innen nehmen zu in Russland: Erste unabhängige Medien – der TV-Sender Doshd und der Radiosender Echo Moskwy – stellten nach Website-Blockaden wegen angeblicher „Falschinformationen“ den Betrieb ein. Das Onlinemedium Meduza ist bei vielen in Russland nur noch über VPN erreichbar, Znak stellte die Arbeit ein, es gibt Berichte über Blockaden von Facebook, seit Tagen sind Soziale Medien verlangsamt. Allein für das Wort „Krieg“ im Zusammenhang mit der „Spezialoperation“ in der Ukraine drohen in Russland drakonische Strafen. Landesweit wurden bei Antikriegsaktionen laut OWD-Info bislang mehr als 8000 Menschen festgenommen.

    Was kann Putin dazu  bewegen, den Krieg zu stoppen? Kann der Druck von innen, der zunehmende Unmut in Gesellschaft und Elite dieses kritische Moment erreichen – mit der Dauer des Kriegs und sich allmählich entfaltender Wirkung von Sanktionen? Wirtschaftswissenschaftler Andrej Nekrassow und Historiker Andrej Subow geben Einschätzungen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Und teilen eine gemeinsame Hoffnung:

    Was kann Putin dazu  bewegen, den Krieg zu stoppen – das fragen Andrej Nekrassow und Andrej Subow / Foto © kremlin.ru unter CC BY SA 4.0

    Andrej Nekrassow: „Fast noch mehr von der Realität abgekoppelt als Putin selbst“

    Wirtschaftswissenschaftler und Oppositionspolitiker Andrej Nekrassow ist in einem Post auf Facebook wenig optimistisch, was ein Umdenken in Elite oder Gesellschaft angeht. Er argumentiert, dass die russische Armee immer noch bei weitem überlegen sei, und dass die russische Gesellschaft aufgrund der Propaganda größtenteils fest hinter dem Präsidenten stehe. Außerdem habe Putin vor dem Krieg massive Geldreserven angehäuft. Insgesamt sei das russische Regime daher viel besser aufgestellt als etwa das von Kuba oder Venezuela – die schon seit Jahren Sanktionen und Wirtschaftskrisen trotzen. „Wenn man das Tabakdosen-Szenario ausschließt“ [der russische Kaiser Paul wurde angeblich mit einer Tabakdose erschlagen], dann gibt es für Nekrassow „nur schlechte oder ganz schlechte Szenarien“: 

    Ich sehe völlig unbegründete Euphorie und Siegesgewissheit. Angesichts der taktischen Fehler der russischen Armee, des gescheiterten Blitzkriegs und der westlichen Sanktionen ist die Öffentlichkeit, die sich mit der Ukraine solidarisiert (ob im Westen, in der russischen Opposition oder in der Ukraine selbst), in Illusionen versunken und hat sich fast noch mehr von der Realität abgekoppelt als Putin selbst. 

    Ich werde versuchen, ein wenig Realismus einzustreuen.

    Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die Wirtschaftssanktionen in den nächsten Jahren in keiner Weise die Stabilität des Putin-Regimes beeinflussen werden: Den Russen wird es schlechter gehen. Die Wirtschaft wird einbrechen. Aber das kümmert Putin nicht. Er hat genug Geld für die Gehälter der Silowiki und für die Waffenproduktion, um ein weiteres Jahrzehnt zu überstehen. Sogar für Ärzte und Lehrer wird etwas übrigbleiben. Für die Regimestabilität reichen jedoch die Silowiki.

    Die Sanktionen wirken ausschließlich langfristig. Es geht um Jahre und Jahrzehnte. Mittelfristig haben die Sanktionen keine Auswirkungen auf die Fähigkeit Russlands, eine aggressive Außenpolitik zu betreiben. […]

    So oder so – Selensky wird kapitulieren. Wie diese Kapitulation aussehen wird, spielt keine große Rolle, wichtig ist, dass Putin sie als seinen Sieg darstellen wird und dass das Regime sich dadurch nur stabilisiert. Ich glaube, Putins [wirkliche] Forderungen sind ein neutraler Status sowie die Anerkennung der LNR/DNR und der Krim. Ich würde diesem Szenario 70 bis 80 Prozent geben.  

    Ich will niemanden zu irgendetwas auffordern, aber wenn Selensky sich ohnehin für die eine oder andere Variante der Kapitulation entscheiden muss, dann besser früher als später. Es würden weniger Menschen sterben. Die Siegesgewissheit der Bevölkerung wird aber nicht zulassen, dies früher zu tun. Eine Kapitulation zu einem Zeitpunkt, an dem die meisten Ukrainer glauben, sie würden gewinnen, würde aus Selensky eine politische Leiche machen. Am Ende kommt es höchstwahrscheinlich zum selben Ergebnis, allerdings mit viel mehr Toten auf beiden Seiten.

    […]

    Die Realität hat gezeigt, dass die russische Wirtschaft in den Jahren, in denen sie unter „schrecklichen Sanktionen“ stand, nicht nur nicht zusammengebrochen ist, sondern ihre Reserven um 250 Milliarden [US-Dollar] erhöht, gleichzeitig ihre Auslandsverschuldung um mehr als 250 Milliarden gesenkt hat und so weiter. Den Menschen ging es schlechter, das Wirtschaftswachstum lag bei Null, es gab aber nicht mal annähernd eine Katastrophe, das System wurde nur stabiler. Heute ist eine Katastrophe noch unwahrscheinlicher. Die Konstruktion ist zu stabil. Und ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob die Veränderung der äußeren Umstände zwischen 2021 und 2022 bedeutender ist als die zwischen 2013 und 2016.

    Original


    Andrej Subow: Kleptokratie vs. Putin 

    Langfristig scheint ein wirtschaftlicher Niedergang Russlands nicht nur für Nekrassow unvermeidbar. Ein Schicksal wie Nordkorea oder Iran mit allumfassender Aggression nach innen und außen stünde Russland bevor, so der Tenor. Historiker Andrej Subow jedoch hält auf Facebook dagegen – die massiven westlichen Sanktionen könnten vielmehr ein Umdenken in der Elite bewirken:

    Derzeit herrscht in der [kleptokratischen] Elite Schrecken und Frustration. Der wichtigste Satz in den Büros des Kreml, an der Lubjanka und auf dem Staraja Ploschtschad ist jetzt: „Er hat uns betrogen.“ Denn mit dem russisch-ukrainischen Krieg hat Putin ihr ganzes schönes Leben auf Null gesetzt – ihr Geld und ihre Villen an den besten Orten der Welt sind seinetwegen für sie nun unerreichbar. Und jetzt verlangt er auch noch mehr Loyalität, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass die Komplizenschaft in diesem Krieg viele von ihnen zu Kriegsverbrechern und zu Angeklagten in Den Haag macht. Das war mit Putin so nicht abgemacht. Außerdem würde ihnen das Gespenst des Großen Terrors durch die Köpfe geistern, wenn das nun von der ganzen Welt geächtete Regime seine Aggression fortsetzt, und langfristig auch die Aussicht, zu radioaktiver Asche zu zerfallen. Für die Besitzer von Hochseeyachten, Rolls-Royce- und Lamborghini-Sammlungen, von Meisterwerken der Malerei und gemütlichen Villen in den Weinbergen der Toskana ist das alles keine rosige Perspektive.

    Von einem Tag auf den anderen haben diese Leute ihre Loyalität zu Putin aufgekündigt. Warum sollten sie auch alles verlieren, was sie angehäuft haben, und dazu auch noch ihr eigenes Leben? Ohne sie ist Putin aber kein großer Tyrann mehr, sondern nur noch ein alter Mann, der sich in einem Bunker versteckt. Zwar kann er auf den sprichwörtlichen roten Knopf drücken, den Charlie Hebdo so geschickt dargestellt hatte, aber niemand wird seinem Befehl folgen. Die paar Fanatiker zählen nicht – die werden einfach isoliert, genauso wie der Tyrann selbst.

    […]

    Hätte Putin den Krieg in der Ukraine in zwei Tagen gewonnen und der Westen keine vernichtenden Sanktionen verhängt, dann hätte er die Loyalität und sogar die mystische Begeisterung der Elite – wie Hitler 1939 bis 41 – und die volle Unterstützung des Volkes. Die Intelligenzija wäre gespalten und isoliert gewesen.

    Putin hat den Krieg aber verloren, der Blitzkrieg ist gescheitert, hat sich im März-Schlamm der ukrainischen Schwarzerde festgefahren. Die Sanktionen haben sich wirklich als vernichtend erwiesen, genauso wie es der alte Präsident Biden versprochen hatte.

    Putin ist nun ganz allein. So allein ist nicht mal der Iran, wo sich das Ajatollah-Regime durch eine religiöse Volksrevolution gefestigt hat (wie übrigens auch das bolschewistische Regime in Russland 1917–22), oder Nordkorea, wo ein antikolonialer Krieg des Volkes in Despotismus mündete. In beiden Fällen führte die Revolution zu einem vollständigen Wechsel der Eliten. Russland wird seit 30 Jahren von einer langweiligen, ideenlosen Kleptokratie regiert – einer Kleptokratie, die vom Bolschewismus das von ihm zermalmte Volk geerbt hat. 

    Putin hat die Kleptokratie auf Null gesetzt, er kann nicht mehr ihr Leader sein, er kann sich nirgendwo mehr in der Welt sehen lassen, für die Menschheit ist er der gefährlichste Kriegsverbrecher, der Züge eines Wahnsinnigen trägt. Er wird in den nächsten Tagen verraten. Nicht er, sondern ein neuer Leader wird der Elite ihr schönes Leben zurückzugeben, die Beziehungen zum Westen wiederherstellen, die Freigabe ausländischer Bankkonten und die Aufhebung der Beschlagnahmung ihres Vermögens erwirken. Es sollte jemand sein, der nicht durch die aktuellen Verbrechen befleckt ist und der sie idealerweise lautstark verurteilt. Jemand, der aus ihrer Mitte kommt, mit dem es sich reden lässt.

    Uns droht also kein neuer Stalinismus, auch kein iranischer oder nordkoreanischer Weg. Die Massen Russlands bleiben stumm, es wird keine Volksrevolution geben. Aber es wird sehr sehr bald eine Palastrevolution geben: etwa wie bei der Absetzung Chruschtschows 1964 oder beim Tod von Kaiser Paul in der Nacht vom 11. auf den 12. März 1801 oder wie bei dem merkwürdigen Tod Stalins im März 1953. […]

    Original

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  • Undiplomatische Diplomatie

    Undiplomatische Diplomatie

    Das russische Säbelrasseln an der Grenze zur Ukraine hat sich längst zu einer euro-atlantischen Sicherheitsfrage ausgewachsen. In den letzten Tagen hat US-Präsident Biden sowohl mit Russlands Präsident Putin wie auch mit dem ukrainischen Präsidenten Selensky telefoniert. Von Russland forderte Biden Deeskalation, dem ukrainischen Präsidenten versicherte er, dass die USA im Fall eines russischen Angriffs der Ukraine „entschlossen“ reagieren würden. 
    Unterdessen drohte der Kreml im Fall von Sanktionen mit dem vollständigen Abbruch der Beziehungen. Moskau dementiert Angriffspläne und wirft vielmehr der NATO und der Ukraine Provokationen vor. In einem Mitte Dezember veröffentlichten Abkommensentwurf forderte Moskau, dass die NATO von einer Osterweiterung absehe, Waffen aus der Region abziehe und Manöver dort beende.

    Diese Forderungen Russlands analysiert Alexander Baunow, Chefredakteur von Carnegie, in einem Facebook-Post – und auch, wie mit solcher „undiplomatischen Diplomatie“ am besten umzugehen sei.

    1. Nicht nur großes Geld, sondern auch Diplomatie liebt die Stille. Das russische Außenministerium hat Washington per Internet ein Abkommen zur Unterzeichnung geschickt. Das ist ungewöhnlich.

    2. In diesem Abkommen sind nötige Zugeständnisse der Gegenseite aufgelistet, aber keine, die Russland einzugehen bereit wäre. Dabei liegt der Unterschied zwischen Diplomatie und militärischen Siegen gerade darin, dass alle Zugeständnisse machen.

    3. Bis auf wenige Ausnahmen braucht Diplomatie Zeit. Fristen setzt man nur dann, wenn man Taten folgen lassen möchte. Und enge Fristen mit harten Konditionen nur dann, wenn man es gleich doppelt möchte. Oder wenn man sicher ist, dass die gegnerische Seite keine Wahl hat. 

    Das neue Abkommen bemängelt keine Einzelheiten, sondern das gesamte Agieren des Westens

    4. Neben den ungewöhnlich direkten und übertriebenen/unerfüllbaren Forderungen in dem von Moskau vorgelegten Entwurf, steht darin auch noch alles, womit Russland unzufrieden ist und was es ändern möchte.

    5. In den vergangenen Jahren versuchte Russland immer wieder, über einzelne Punkte der westlichen Politik zu verhandeln, die Moskau missfielen: NATO-Osterweiterung, Militärstützpunkte, Austritt aus dem ABM-Vertrag und demzufolge Stationierung einer Raketenabwehr in Osteuropa, Unterstützung von Regierungswechseln und so weiter. Das neue Abkommen bemängelt keine Einzelheiten, sondern das gesamte Agieren des Westens und fordert, es als Ganzes zu ändern.

    6. Diese Forderungen sind für das Russland, das wir seit dem Ende der 1980er Jahre kennen, unmöglich, unerfüllbar, überhöht … Für ein Zeitalter der Konfrontation von Supermächten sind sie jedoch durchaus denkbar.

    7. Was veranlasst Russland wie eine Supermacht zu handeln? Wladimir Putin verweist immer nachdrücklicher auf die Ergebnisse seiner Regierungszeit, der sogenannten Putinära, für die russische Geschichte. In dieser Gesamtschau ist nicht nur der Status Quo der Ukraine, sondern auch der auf der Weltbühne nicht hinnehmbar. 

    Was veranlasst Russland wie eine Supermacht zu handeln?

    8. Wir stecken in einer globalen Perspektive fest, in der das postsowjetische Russland eines Gorbatschow und Jelzin als Norm gilt, Putins Russland hingegen als Abweichung, als Anomalie. Doch Putin ist schon länger an der Macht als Gorbatschow und Jelzin zusammen, und wird es (auch im Hinblick auf die Präsidentschaftswahl 2024) vielleicht noch länger bleiben.

    9. Der schlichte Vergleich der historischen Zeiträume (sogar ohne Berücksichtigung der wirtschaftlichen Entwicklung, der Modernisierung des Militärs und so weiter) erlaubt ihm, seine Regierungszeit als Norm und jene seiner Vorgänger als kurze Abweichung in der Geschichte Russlands zu betrachten, als eine Seite im Geschichtsbuch, die es möglichst schnell umzublättern gilt. 

    10. Innerhalb dieses Koordinatensystems sind die Ergebnisse der 1980er und 1990er Jahre nicht unumkehrbar. Neben den oben genannten Forderungen enthält der Entwurf für das Abkommen erstmals eine öffentliche Forderung der russischen Regierung, die gesamten Ergebnisse der 1980er und 1990er Jahre neu zu bewerten, nicht nur bestimmte Details.

    Revision der gegenwärtigen Ordnung

    11. Die neuesten Aktionen zielen darauf ab, der Welt mit allen Mitteln zu demonstrieren und ihr klarzumachen, dass Russland die gegenwärtige Weltordnung nicht als Norm betrachtet. Und ehe man es sich versieht, kann man dann – nach einigen Jahren nicht öffentlicher Gespräche, die ganz öffentlich mit überhöhten Forderungen eingeläutet wurden – zur Revision der gegenwärtigen Ordnung schreiten. Das wäre noch die glimpflichste Entwicklung der Ereignisse.  

    12. Das Abkommen, das man dem Westen zur Unterzeichnung vorlegt, wurde aufs Geratewohl erstellt. So eine Diplomatie ist nur zu bemühen, wenn man den diplomatischen Rahmen möglichst bald verlassen möchte, quasi: Wir haben es versucht, alle haben es gesehen (maximale Öffentlichkeit), wir haben die diplomatischen Mittel ausgeschöpft, nun schreiten wir zur Tat. Kampfhandlungen wären die härteste Fortsetzung dieser undiplomatischen Diplomatie. Der stellvertretende Außenminister Sergej Rjabkow hat bereits erklärt, dass Russland mit der Reaktion des Westens auf seine Vorschläge unzufrieden sei.

    13. Dennoch könnte das alles auch eine Diplomatie in Zeiten einer neuen Direktheit darstellen, neuer Formen und kategorischer Gesten. Das Antwort-Repertoire des Westens ist nicht allzu groß. Es gibt die Wahl zwischen dem Furchtbaren für alle und dem wenig Überzeugenden. Beides möchte man nicht. Deshalb bemüht man sich, das von Russland in ungewohnter Manier begonnene Gespräch vorerst nicht durch eine harsche Antwort abbrechen zu lassen. Denn die harsche Antwort könnte genau das sein, worauf Russland aus ist.

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  • Der Fall Timanowskaja: Wie man einen internationalen Skandal baut

    Der Fall Timanowskaja: Wie man einen internationalen Skandal baut

    „Ich wurde unter Druck gesetzt, man versucht, mich gegen meinen Willen außer Landes zu bringen.“ Mit diesen Worten wandte sich die belarussische Leichtathletin Kristina Timanowskaja am Sonntag aus Tokio an das Internationale Olympische Komitee.

    Das Belarussische Olympische Komitee hatte zuvor den Abzug der Sportlerin von den Olympischen Spielen erklärt und dies offiziell mit ihrer „emotional-psychischen Verfassung“ begründet. Kritiker sehen den tatsächlichen Grund allerdings in Aussagen Timanowskajas, die sie zwei Tage zuvor auf ihrer Instagram-Seite gemacht hatte: Dort hatte sie sich darüber empört, dass sie nun kurzfristig und unabgesprochen in einer weiteren Disziplin (4-mal-400-Meter-Staffel) antreten müsse – anstelle ihrer Kolleginnen, die nicht an den Spielen teilnehmen konnten, weil Sportfunktionäre bei den Dopingtests geschlampt hätten.

    Timanowskaja musste am Sonntag letztlich nicht nach Belarus ausreisen, wo sie nach eigenen Angaben womöglich Repressionen erwartet hätten. Kurz nach dem Vorfall am Flughafen von Tokio veröffentlichte der Telegram-Kanal Nik i Maik den mutmaßlichen Mitschnitt eines Gespräches, in dem Nationaltrainer Juri Moissewitsch und ein weiter Sportfunktionär Timanowskaja die Ausreise nahelegen und auch, in der Angelegenheit von nun an zu schweigen. Dimitri Nawoscha, Gründer des Sportportals sports.ru, spricht von einem „epochalen Dokument“: „Eine Mischung aus Lügen, direkten Drohungen, Victimblaming (,Du zerstörst das Schicksal anderer Menschen‘), Überredungen (,Mach es fürs Team!‘) – ein Dogmen-Mix aus Orthodoxie und Komsomol.“

    Der im Juni nach Kiew geflohene politische Analyst Artyom Shraibman kommentiert den Vorfall um Timanowskaja auf seinem Telegram-Kanal und sieht darin seine bereits mehrfach geäußerte These über den Machtapparat Lukaschenkos bestätigt: „Das System verliert an Kompetenz und macht einen Fehler nach dem anderen.“ 

    Der Fall der Athletin Timanowskaja demonstriert höchst anschaulich, wie ein bürokratisches System – das sich im vergangenen Jahr jegliche Selbstkontrolle abgewöhnt und innere Checks and Balances sowie die Reste von Kritikfähigkeit aufgegeben hat – wie dieses System aus einer völlig unbedeutenden Episode einen internationalen Skandal macht.

    Ausländische Journalisten fragen oft: Warum musste man denn gleich Sanktionen provozieren, um Protassewitsch festzunehmen? Warum musste man sich ausgerechnet 80 Prozent [der Wählerstimmen – dek] andichten vor einem Jahr?

    Doch dafür gibt es keinen Grund. Das System funktioniert nicht so, dass es bei der Entscheidungsfindung alle Risiken abwägt. Die Anreize sind hier anders gelagert: Um jeden Preis gilt es, das zu löschen, was den Zorn des Ersten [Mannes im Staate – dek] entflammen könnte. Und wenn der Zorn entbrannt ist, dann muss er mit doppeltem Einsatz gelöscht werden.

    Ich bin ziemlich sicher, dass sich alles wie folgt entwickelt hat: Timanowskaja veröffentlicht ein Video mit Kritik an den Sportfunktionären, die die Dopingtests von anderen Athletinnen vergeigt haben und nun Timanowskaja zwingen, an deren Stelle zu laufen. Telegram-Kanäle greifen das Video auf.

    Wenn Lukaschenkos Zorn entbrannt ist, dann muss er mit doppeltem Einsatz gelöscht werden

    Das Fernsehen läuft in dem Modus: Auf alles eindreschen, was Telegram-Kanäle aufgreifen. Im Endeffekt ist Timanowskaja nun die Anti-Heldin aller Nachrichtensendungen im Staatsfernsehen. Lukaschenko schaut Fernsehen und ist wütend: Wir haben ihr doch alles gegeben, haben sie auf unsere Kosten trainiert, und sie zieht da ihre Show ab und postet solche Sachen. Lukaschenko greift zum Hörer und fordert, Timanowskaja von den Spielen abzuziehen und sie mit dem nächsten Flugzeug nach Hause zu schicken.

    Die Sportfunktionäre beeilen sich, die Weisung auszuführen, aber es sickern schon Informationen durch. Also denken sie sich eine Version aus über eine ärztliche Untersuchung und eine instabile Gefühlslage der Läuferin [als offizielle Erklärung des Rückzugs von den Spielen – dek]. Die Läuferin bestreitet aber, dass sie überhaupt untersucht worden sei. Internationale Medien greifen die Geschichte auf und machen daraus einen Skandal, der durchaus zum Ausschluss von Belarus aus dem IOC oder anderen Sanktionen im Sportbereich führen kann.

    Ich wette – sollte es so kommen – dann wird im nächsten Stadium von einer geplanten Provokation und einer im Voraus gekauften Timanowskaja die Rede sein. Sie hat ja auch einen verdächtigen Nachnamen [ähnlich zu dem von Swetlana Tichanowskaja – dek]. Und alles im Rahmen eines hybriden Kriegs, nach dem gescheiterten Blitzkrieg. Alles, damit die Region Grodno an Polen fällt. Oder ist es jetzt die Region Gomel an Japan?

    Aber im Ernst: Bei dieser Geschichte geht es nicht nur um die Mechanismen, wie unser Staat funktioniert, sondern auch um dessen Reputation. Hätten Sportfunktionäre irgendeines anderen Landes als Belarus – und vielleicht abgesehen von Nordkorea – beschlossen, einen Sportler zum Flughafen zu bringen, der wegen einer Meinungsverschiedenheit mit seinen Vorgesetzten von den Spielen abgezogen wurde, hätte dem niemand Beachtung geschenkt. Aber in unserem Fall ist selbst im fernen Japan jedem klar, was Timanowskaja im Vorzeigeland der europäischen Sicherheit droht.

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    „Geiseln verurteilt man nicht!“

    Nach über 90 Minuten Befragung im staatlichen Sender ONT sagt Roman Protassewitsch einen Satz, dessen Botschaft viele Belarussen nur zu gut verstehen: „Und ich möchte nie wieder in die Politik verwickelt werden, oder in irgendwelche schmutzigen Spiele oder Streitigkeiten.“ Es ist ein Satz, den viele Belarussen in den vergangenen 26 Jahren verinnerlicht haben: sich nicht in die Politik einmischen. Denn, wenn sie es tun, wenn sie ihren Unmut gegenüber Alexander Lukaschenko auf die Straße tragen, wenn sie sich oppositionell betätigen, gibt es womöglich Probleme mit den Machthabern. 

    Solche Probleme hat eben nun der 26-jährige Protassewitsch, der vor zehn Tagen auf spektakuläre Art und Weise zusammen mit seiner Freundin Sofia Sapega festgenommen wurde: Das Ryanair-Flugzeug, in dem er saß, wurde während eines Flugs von Athen nach Vilnius zu einer Zwischenlandung in Minsk gezwungen. Vergangenen Donnerstag strahlte der Staatssender ONT besagtes Interview aus, in dem Senderchef Marat Markow Protassewitsch über seine Arbeit für den Telegram-Kanal Nexta, über die Opposition um Swetlana Tichanowskaja, über seine Zeit und Rolle beim „Asow“-Bataillon in der Ukraine und viele andere Themen sprechen lässt. 

    „Heute haben wir die öffentliche Hinrichtung von Roman Protassewitsch erlebt“, kommentierte der Historiker Alexander Fridman das ausgestrahlte Gespräch, in dem der Interviewte nicht etwa seine Sicht auf die Dinge und seine Überzeugungen darlegt. Protassewitsch fungiert als Überbringer von althergebrachten Narrativen, alten Botschaften in neuem Gewand und ein paar gänzlich neuen Bonmots der Staatspropaganda. So sei die Opposition um Tichanowskaja und Pawel Latuschko in der Diaspora nur an Geld interessiert, der Westen und die EU würden die Opposition und so letztlich auch die Proteste finanzieren, zudem habe ein Teil der Opposition selbst die Notlandung mit Protassewitsch inszeniert, um die belarussische Führung zu diskreditieren und Sanktionen durch die internationale Staatenwelt zu provozieren. 

    Das TV-Gespräch löste international vehemente Kritik aus. Auch auf belarussischer Seite wurden viele Stimmen laut – darunter die Eltern Protassewitschs –, die mutmaßten, dass das Interview unter Druck, möglicherweise unter Folter, entstanden sei. Der Menschenrechtler Sergej Ustinow analysierte dazu die Wunden an Protassewitschs Handgelenken und sein offensichtlich geschwollenes Gesicht und verglich dies mit den bekannten Foltermethoden des belarussischen KGB. Nikolaj Chalesin, Gründer des Belarus Free Theatres, urteilte, dass man Protassewitsch für seine Aussagen nicht schuldig sprechen dürfe und dass das Gespräch ein neuerlicher Beweis dafür sei, dass die Machthaber vor Gewalt, Niedertracht und Zynismus nicht halt machen: „In Belarus leben wir in einer Zeit, in der sich Beispiele für Schwäche, Verrat und Laster mit Beispielen für verzweifelten Mut, unglaubliche Stärke und überwältigende Liebe abwechseln. Dies sind die Zeichen des Krieges – der Wechsel von Hässlichkeit und Schönheit. Und es ist nicht an uns, über diejenigen zu urteilen, die nicht unsere Seite gewählt haben.“ Der Politologe Waleri Karbalewitsch kommentierte, dass viele Aussagen Protassewitschs vor allem an einen adressiert seien – nämlich an Lukaschenko selbst. Protassewitsch äußert dabei auch die Hoffnung, dass Lukaschenko ihn aufgrund seiner angeblichen Beteiligung am Krieg der Ukraine gegen die prorussischen Separatisten nicht an die Machthaber der Luhansker Volksrepublik ausliefere. Karbalewitsch schreibt: „Ein weinender Feind, der um Gnade und Nachsicht von Alexander Grigorjewitsch bittet, ist die politische Dividende, die alle negativen Folgen aufhebt: die Sperrung des Luftraums, Wirtschaftssanktionen und so weiter. Ein moralisch gebrochener Gegner ist Balsam für eine traumatisierte Seele.“

    In dem Gespräch, das im Original über vier Stunden gedauert haben soll, nannte Protassewitsch auch einen Chat, über den bekannte Belarussen die Proteste im Sommer 2020 geplant und organisiert haben sollen. So fiel auch der Name des renommierten politischen Analysten Artyom Shraibman, der am Tag nach der Ausstrahlung der Sendung Belarus verließ und sich nun in der Ukraine befindet. In einem Post, den er über seinen Telegram-Kanal und über Facebook verbreitete, erklärte er seine Beweggründe für die hastige Flucht und auch seine Beteiligung an besagtem Chat.

    Was für eine Ironie. Am Morgen des 3. Juni erscheint im Medienprojekt Redakzija ein Beitrag, der mit meinen Worten endet, ich würde mich nicht direkt gefährdet fühlen und Belarus deswegen nicht verlassen. Und schon abends packe ich eilig meine Sachen zusammen und mache mich auf den Weg.

    Ich finde es wichtig zu sagen warum. In dem Interview auf ONT hat Roman Protassewitsch gesagt, ich hätte beratend zur Seite gestanden in einem Chat, den man bezeichnen könnte als Koordinationszentrum der Revolution: Love Hata [dt. Liebeshütte].

    Ich kann nur raten, warum und ob aus eigenem Willen – doch Roma hat übertrieben, was meine Beteiligung angeht. Ich war tatsächlich bis Ende Herbst 2020 in diesem Chat, der seinerzeit als einfacher Online-Treffpunkt für Blogger begonnen hatte. Aber mit zunehmendem Umfang der Proteste wurde dieses Thema zum zentralen Diskussionspunkt.

    Mich hat interessiert, live zu beobachten, wie diejenigen miteinander kommunizieren, die ab August als Koordinatoren der belarussischen Revolution bezeichnet wurden. Diese Bezeichnung passt jedoch bei weitem nicht zu allen in diesem Chat, und die Besprechung der Details bevorstehender Aktionen geschah aus Sicherheitsgründen in Audiokonferenzen der Koordinatoren. Aus eben jenen Sicherheitsgründen habe ich an keiner dieser Konferenzen teilgenommen.

    Doch es ging dabei natürlich nicht nur um Sicherheit. Entschuldigt den Pathos: Ich vertrete schon lange die Position, dass ein Analyst nicht Teilnehmer sein kann oder darf an den Prozessen, die er analysiert, genau wie ein Fußballkommentator bei einem Spiel nicht gleichzeitig Feldspieler sein kann. Viele kritisieren mich für diese Zurückhaltung, doch Politik ehrlich analysieren und gleichzeitig politisch aktiv sein, das könnte ich nicht.

    Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht genau, ob die belarussischen Geheimdienste überhaupt ein auf Verhaftung abzielendes Interesse an mir hatten. Es gibt Gerüchte über die Vorbereitung eines Strafverfahrens, doch das lässt sich momentan schwer belegen. Paradoxerweise wussten die Silowiki über die Existenz dieses Chats, seine Themen und Teilnehmer mindestens seit Mitte Herbst. Ich wurde sogar schon im Dezember auf ONT in der Teilnehmerliste gezeigt, vor einem halben Jahr. Und nichts ist passiert.

    Ich habe damals nicht das Land verlassen, weil mir bewusst war, dass man mir eigentlich nichts vorwerfen kann. Trotz der geleakten Screenshots aus dem Chat und obwohl die Geheimdienste sicherlich einen riesigen Fundus solcher Screenshots haben, wusste ich genau, dass da keine „Strippenzieherei“ von mir zu finden ist, weil es sie tatsächlich auch nicht gab. Höchstens, wenn man sie in Photoshop malt. Es gab von mir keinerlei Beratung jenseits einer grundlegenden Beschreibung dessen, wie ich die Lage im Land sehe, also das, was ich auch in Interviews und Artikeln sage.

    Doch im heutigen Belarus ist selbst die Nichtbeteiligung an dem, was die Staatsmacht für ein Verbrechen hält, keine ausreichende Absicherung mehr. Im Fall tut.by, bei dem es formal um Steuern des Unternehmens geht, sitzt der politische Block der Redaktion ein, Leute, die vermutlich keinerlei Ahnung davon haben, wie viel Steuern gezahlt werden.   
    In meinem Fall ist das genau die gleiche Situation. Allein die Tatsache, dass ich vor vielen Monaten in diesem Chat dabei war und jetzt die laute Äußerung von Protassewitsch, dazu ein Moderator, der in Bezug auf mich extra nachgefragt hat – das bedeutet den Übergang in eine ungemütliche Risikozone. Dieses Gefühl wurde stärker, als ich an eben jenem Abend draußen an meinem Hauseingang etwas bemerkte, das sehr nach Beschattung aussah. 

    Ich weiß nicht, ob mir Verhaftung drohte. Sie strahlten Romans Interview aus, ohne mich vorher festzunehmen, obwohl ich mich nicht versteckt hatte. Möglicherweise wäre auch jetzt wieder alles ausgegangen wie vor einem halben Jahr, also folgenlos. Doch unter diesen Vorzeichen einfach weiterhin ruhig im Land zu leben und zu arbeiten, wäre schwierig gewesen. Daher musste ich die schwere Entscheidung treffen, zu gehen. Beide Alternativen – Untersuchungshaft oder tägliche Erwartung der Untersuchungshaft – wären sowohl für mich als auch für meine Nächsten schlimmer gewesen.
    Im Grunde war’s das schon. Ich danke für die Aufmerksamkeit, für die Anteilnahme und für die vielen Angebote zu helfen. Meine Situation ist ungleich einfacher als die derer, die im Gefängnis sitzen oder auf die Entlassung ihrer Angehörigen warten müssen. Deswegen wäre es an meiner Stelle eine Sünde zu verzagen. Ich arbeite weiter, wie ich bisher gearbeitet habe. Ich werde mein Bestes geben, meine gewohnte Herangehensweise an Analysen beizubehalten, auch wenn man versucht, aus mir den Berater von irgendjemandem zu kneten. Ich habe niemanden beraten und habe es auch nicht vor. 
    Dann bis bald in der Heimat. Alles geht vorüber.

    PS: Groll gegen Protassewitsch gibt es nicht und kann es auch nicht geben. Wir wissen nicht, welchen Keller in Luhansk und welches Schicksal für seine Freundin man ihm ausgemalt hat für den Fall, dass er das Interview ablehnt. Geiseln verurteilt man nicht. 

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  • Der Biden-Putin-Tango

    Der Biden-Putin-Tango

    Das Großaufgebot russischer Truppen und schweren Kriegsgeräts an der Grenze zur Ukraine hatte „internationale Besorgnis“ ausgelöst. Was soll das russische Säbelrasseln: Nur Muskelspiele oder droht gar ein weiterer Krieg? Die USA sagten der Ukraine Unterstützung zu und forderten Moskau zur Deeskalation auf. Der ukrainische Präsident Selensky drang außerdem auf einen Aktionsplan für eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. 

    Nachdem Biden Putin angerufen hatte und einen gemeinsamen Gipfel vorschlug, verhängten die USA tags drauf neue Sanktionen gegen Russland – unter anderem wegen des SolarWinds-Cyberangriffs. Putin ging in seiner Rede zur Lage der Nation am 21. April auf die Situation an der Grenze zur Ukraine nicht ein, warnte stattdessen den Westen, gewisse „rote Linien“ nicht zu überschreiten. Verteidigungsminister Sergej Schoigu allerdings gab am 22. April den Rückzug der russischen Truppen bekannt. Danach informierte das russische Außenministerium wiederum über Pläne, eine „Liste unfreundlicher Staaten“ einzuführen, die USA soll auf dieser Liste stehen, so Außenamtssprecherin Sacharowa.

    Kriegsgefahr gebannt? Alles wieder gut? Politikwissenschaftlerin Lilija Schewzowa ist weniger optimistisch und analysiert auf Facebook den „Tango“, den Biden und Putin tanzen: „Moskau in die Schranken weisen und gleichzeitig kooperieren: Dieses Geschaukel endet jedes Mal mit einer Eskalation“, warnt sie.

    Ein Schritt vor, ein Schritt zurück – der Biden-Putin-Tango / Foto © Dimitri Asarow/Kommersant
    Ein Schritt vor, ein Schritt zurück – der Biden-Putin-Tango / Foto © Dimitri Asarow/Kommersant

    Es scheint, als sei der Krieg aufs nächste Mal verschoben. Doch die jüngste Eskalation der Spannungen entlang der Linie zwischen Russland und dem Westen verdeutlicht eine beunruhigende Dynamik.
    Erstens: Russland ist bereit, das Schachbrett der Weltordnung vom Tisch zu fegen. Als Anlass könnte bereits ausreichen, dass der Kreml sich beleidigt fühlt oder den Verdacht hegt, man könne ihn ignorieren. Allein die Drohung, das Brett vom Tisch zu werfen, wirkt, weil sie beim erpressten Objekt Verunsicherung hervorruft.
    Zweitens: Der Westen hat es versäumt, eine Antwort zu finden, wenn er von Russland herausgefordert wird. Bislang versuchen die liberalen Demokratien den Kreml mit einer zweigleisigen Taktik zu beschwichtigen. Kurz gesagt, mit einer Kombination zweier sich ausschließender Prinzipien: Eindämmung und Dialog.

    Eindämmung und Dialog

    Diese Zweigleisigkeit ist eine Reaktion auf das Phänomen, das Russland mittlerweile darstellt: Einerseits ist Russland ein Gegenspieler der liberalen Demokratien. Andererseits ist es in für den Westen lebenswichtige Prozesse eingebunden und teilweise in den Westen integriert (durch die dort verkehrenden Privatiers und die Mitgliedschaft in europäischen Institutionen).
    Besonders schwer hat es da Europa. Wie soll Brüssel einen Staat mit Sanktionen belegen, der Mitglied des Europarats ist? Wie soll es einen Handelspartner bestrafen? Also beschränkt sich die EU gezwungenermaßen darauf, „Besorgnis“ zu äußern angesichts der russischen Schachzüge, die es mittlerweile zu Hauf gibt.

    Nawalnys drohender Tod ist für Brüssel kein Anlass für Sanktionen

    Aus der Unvereinbarkeit von Eindämmung und Dialog erwachsen weitere Probleme: Die liberalen Demokratien sind zum Beispiel nicht in der Lage, einen Mechanismus zu schaffen, der den feindlichen Handlungen Moskaus zuvorkommt. Die EU hatte nie vor, wegen der russischen Eskalation an der ukrainischen Grenze Sanktionen einführen. Erst, wenn Russland die Grenze überschritten hätte, hätte Brüssel über solche Schritte nachgedacht. Wenn Nawalny nicht bis zum Ende des Monats freikommt, will der Europarat über ein Aussetzen der russischen Mitgliedschaft nachdenken. Doch sein drohender Tod ist in Brüssel kein Anlass für Sanktionen.
    Der Westen kann keine roten Linien für die Zukunft ziehen, deren Übertretung durch Russland dann eine Reaktion erfordert. Er kann kein Preisschild an etwas drankleben, das noch nicht passiert ist. Wenn der Westen die Sanktionsmaschine anwirft, dann reagiert er damit auf bereits Geschehenes. Und hofft darauf, dass Moskau den Preis für die Risiken versteht. Aber das Verständnis für die Risiken und deren Preise geht in Moskau und den westlichen Regierungen auseinander. Für den Kreml ist Risikobereitschaft vielleicht das einzige Mittel, sein Ziel zu erreichen.

    Väterlicher Klaps auf den Hintern 

    Nun haben die USA direkt die Initiative ergriffen, um auf Russlands Sünden an den USA zu reagieren, auf die Eskalation an der ukrainischen Grenze und auch auf Nawalny. Die Reaktion ist eben jene Zweigleisigkeit. Washington geht offenbar davon aus, dass seine Ankündigungen den Preis für die russische Eskalation ebenfalls eskalieren zu lassen, diesmal in Moskau Gehör finden.
    Vielleicht kündigen die Amerikaner im informellen Austausch an, notfalls harte Maßnahmen zu ergreifen. Aber die Sanktionen, die Biden öffentlich nennt, wirken eher wie ein väterlicher Klaps auf den Hintern.

    Biden will eindeutig keine Konfrontation mit Russland. Es geht ihm nicht darum, Putin in die Knie zu zwingen. Er brennt nicht darauf, die russische Wirtschaft zu zerstören oder einen Rachefeldzug gegen Putins engsten Kreis zu starten.
    Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Weiße Haus erkannt hat, dass es unmöglich ist, den Kreml zu zwingen, seine Denkweise und sein Weltbild zu ändern. Folglich muss es einen Weg finden, mit einem gefährlichen Spieler zu koexistieren, bei dem jederzeit das Weimar-Syndrom auftreten kann.
    Biden will, wie er es selbst formulierte, einen „Modus vivendi“. Man kann Washington verstehen. Den USA steht der Weg aus einer innenpolitischen Krise bevor. Die USA müssen sich aus Afghanistan zurückziehen – eine für sie dramatische Aufgabe. Sie müssen eine Antwort auf ihre größte Herausforderung finden – China. Zu diesen Kopfschmerzen kommen der Iran und Nordkorea. Deshalb ist es Biden wichtig, das Thema Russland einzufrieren.

    Sie werden sich wohl nicht gegenseitig mit Schuhen bewerfen

    Kurz gesagt, Biden hat sich für eine Beschwichtigungstaktik mit Elementen der Eindämmung entschieden (die sich im Anfangsstadium befindet). Infolgedessen beobachten wir ein surreales Szenario: Vertreter der amerikanischen Regierung kündigen an, dass es den Kreml teuer zu stehen kommt, wenn Moskau das Schachbrett weiter herumschwenkt. Gleichzeitig bereiten die Repräsentanten beider Präsidenten ein Treffen vor, bei dem sich die Staatsmänner aller Voraussicht nach nicht gegenseitig mit Schuhen bewerfen werden. Putin spricht auf einem von Biden organisierten Klimagipfel. Moskau schlägt Washington vor, den Dialog zur Abwehr von Cyberattacken wieder aufzunehmen. Fast ein Neustart!
    Der Kreml hat sein Ziel erreicht – er hat Amerika gezwungen, ihm zuzuhören und ein Angebot zu machen. Es geht nicht mal so sehr um Putins persönliche Ambitionen. Sondern darum, dass Russland von den USA abhängig ist – als Achse seiner Legitimität
    Man könnte einwenden: Stimmt gar nicht! Die USA haben ihre Führungsrolle eingebüßt, jetzt ist China für Moskau viel wichtiger. Mhm, ja klar, Russland hat seine Truppen an der ukrainischen Grenze zusammengezogen, um die Aufmerksamkeit Pekings zu erregen.

    Der Kreml hat sein Ziel erreicht – er hat Amerika gezwungen, ihm zuzuhören und ein Angebot zu machen

    Aber was bekommt Biden, wenn er Putin einen Dialog anbietet? Die schmerzlosen amerikanischen Sanktionen könnten im Kreml den Eindruck erwecken, Amerika sei unentschlossen. Und das könnte den Kreml zu neuen Manövern veranlassen. Abgesehen davon versteht Putin unter einem Status quo in der Ukraine etwas anderes als die Ukraine selbst oder die westlichen Staaten. Wie soll man unter diesen Umständen einen Modus vivendi erreichen? Fragen über Fragen …
    Währenddessen hat der Kreml sein Ziel erreicht und nimmt den Druck raus. Denn auch das ist eine Demonstration der Macht – die Kontrolle über den Zünder zu behalten. Putin hat dem Westen ja angekündigt, dass er den Verlauf der „roten Linie“ bestimmen wird. 
    Tatsächlich hat der Kreml eine weitere Möglichkeit, dem Westen zu antworten – indem er die unzufriedenen Russen niederwalzt. Wenn das mal nicht scharfsinnig ist: die russische Gesellschaft zu zwingen, für die westlichen Belehrungen zu bezahlen.

    Geschaukel endet mit Eskalation

    Und was weiter? Wir sollten bedenken: Biden ist nicht der erste US-Präsident, der versucht, eine zweigleisige Politik gegenüber Russland zu fahren – Moskau in die Schranken zu weisen und gleichzeitig zu kooperieren. Dieses Geschaukel endete jedes Mal mit einer Eskalation. Denn die Unvereinbarkeit der systemischen Prinzipien ist am Ende stärker als die gemeinsamen Interessen.
    Sollten die Möglichkeiten der Einflussnahme schwinden, wird sich der Kreml immer mehr auf die Instrumente der Gewaltausübung verlassen müssen – im Inneren wie im Äußeren. Nicht einmal aufgrund einer Lust an Gewalt, sondern in Ermangelung anderer Überzeugungsmittel. 
    Vermutlich wird der Dialog zwischen Russland und dem Westen auch diesmal mit einem kalten Regenschauer enden. Aber jeder neue Fehlschlag wird die Risiken erhöhen, indem er die Eskalation auf eine neue Stufe treibt und den Preis erhöht, den man dafür bezahlen muss.
    Genau deshalb ist die Zukunft beunruhigend. Und die kurzen Lichtblicke sollte man nicht mit einem Wetterumschwung verwechseln.

    PS: Jetzt wurde Tschechien zum Testfeld für die Effektivität der westlichen Zweigleisigkeit und vor allem der europäischen Solidarität.

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    „Symptom einer politischen Krankheit im Endstadium“

    Am vergangenen Freitag haben die russischen Behörden erklärt, das Online-Medium Meduza in die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ aufzunehmen. Das Exilmedium (mehr zur Vorgeschichte hier) hat seinen Sitz im lettischen Riga und ist seit seiner Gründung 2014 zu einem der populärsten unabhängigen russischsprachigen Medien avanciert, aus dem auch dekoder regelmäßg übersetzt. Als sogenannter „ausländischer Agent“ muss Meduza alle Beiträge mit einem entsprechenden Vermerk kennzeichnen und die Finanzen offenlegen, bei Verstößen droht eine Geldstrafe und letztlich die Blockade. „Das ist eine langsame Erdrosselung“, sagtе Meduza-Chefredakteur Iwan Kolpakow im Interview auf Doshd

    Schon während der Solidaritätsproteste für Nawalny im Januar und Februar waren die Behörden massiv gegen einzelne Medien und Medienschaffende vorgegangen, im April hatte außerdem die Festnahme von vier RedakteurInnen des Studentenmagazins Doxa für Aufsehen gesorgt.

    Vom Agentengesetz jedoch waren bislang Auslandsmedien wie die BBC oder Golos Ameriky (Voice of America) betroffen, ansonsten vor allem NGOs wie die Menschenrechtsorganisation Memorial und das unabhängige Meinungsforschungsinstitut Lewada. 2020 hatte die Duma außerdem Verschärfungen des 2012 ins Leben gerufenen Gesetzes beschlossenen, wonach auch Einzelpersonen als „ausländischer Agent“ bezeichnet werden können – und zwar auch dann, wenn das Geld, das sie aus dem Ausland empfangen haben, gar nicht in Zusammenhang mit irgendeiner politischen Tätigkeit steht. Die EU bezeichnete die Einschränkung unabhängiger Medien in Russland am Samstag als „extrem besorgniserregend“.

    „Ausländischer Agent“ – Maxim Trudoljubow nimmt das Vorgehen gegen Meduza auf Facebook zum Anlass, den Begriff vor allem auf den symbolischen Gehalt hin zu hinterfragen.

    Mitbürger zu „ausländischen Agenten“ zu erklären – das ist ein zynischer und selbstgerechter politischer Trick. Vielfach erprobt, in unterschiedlichen Epochen und unter unterschiedlichsten Bedingungen – in revolutionären Situationen und in solchen mit einer einzigen „siegreichen“ Partei. Die schlichte Einstufung des Opponenten als äußerer Feind macht den innenpolitischen Dialog zum Krieg. Da ist kein parlamentarischer Disput mehr, kein Disput zwischen Parteien, kein öffentlicher Dialog mit Veröffentlichungen und angriffslustigen Gegendarstellungen, nicht mehr Pamphlet um Pamphlet, nicht ein Wort, das das andere gibt. Hier ist Schluss mit lustig, übereinander Lachen ist verboten – keine Witze, Meme und Satire mehr. Die andere Seite führt das Gespräch aus einer Position der Gewalt heraus. Das passiert, wenn die, die momentan  am Ruder sind, keine Argumente mehr haben. Das ist wie eine Vergewaltigung.

    Aber das ist nicht alles. Es ist nicht nicht nur Zynismus und Selbstgerechtigkeit von Menschen mit Villen in Südfrankreich. Es ist der Beweis für die Transformation des Regimes, das sich immer weiter ändert, um der sogenannten ersten Person Schutz zu gewähren – was wiederum seine, also des Regimes, einzige Mission ist. Ob „er“ (das Regime und sein Gesicht mit dem Anfangsbuchstaben P) will oder nicht – der endgültige Schritt, jegliche politische Gegner, nicht registrierte, nicht anerkannte, unverständliche Akteure als „die Anderen“ zu klassifizieren und ihnen ein Label anzuheften, das ist das eindeutige Symptom einer politischen Krankheit im Endstadium, die viele Namen hat: Totalitarismus, Faschismus, alles Mögliche, über das man nicht diskutieren möchte. 

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    „Die russische Propaganda hat sich selbst besiegt“

    Eine Corona-Impfung in Moskau zu bekommen ist ungefähr so einfach wie sich ein Brot zu kaufen – auf diese Formel hat es vergangene Woche Sergej Medwedew gebracht. Der Politologe fügte hinzu, dass der Impfstoff allerdings nur in Moskau so einfach zu bekommen sei; in den Regionen geht die „Massenimpfung“ mit Sputnik V dagegen nur langsam voran.

    Bislang haben landesweit rund fünf Prozent der Gesamtbevölkerung mindestens ihre Erstimpfung erhalten. Dabei gehört Russland zu den am schlimmsten betroffenen Ländern der Welt und hat als erstes Land überhaupt einen Impfstoff für die breite Anwendung zugelassen.

    Warum ist die Impfquote in Russland dann so niedrig, fragt der Journalist Maxim Trudoljubow auf Facebook.

    Die Mehrheit der Russen (62 Prozent) will sich nicht gegen Covid impfen lassen, 64 Prozent denken, dass es sich bei diesem Virus um eine biologische Waffe handelt (was muss wohl bei denen im Kopf vorgehen, die das eine wie das andere denken?)

    Gleichzeitig liegt Russland unbestritten an der Weltspitze, was die schnelle Entwicklung eines wirksamen Impfstoffs gegen Covid betrifft. Und es bildet die Weltspitze, was die Hilfe für andere Länder bei der Impfung betrifft: 39 Länder haben den russischen Impfstoff zugelassen, darunter zwei EU-Staaten, die nicht die EU-Zulassung abgewartet haben – Ungarn und die Slowakei.

    Natürlich ist das ein Sieg. Die Frage ist: ein Sieg über wen?
    Die russische Propaganda hat sich selbst besiegt und die eigenen russischen Bürger. Die jahrelange Verbreitung von Verschwörungstheorien und diversem antiwissenschaftlichem Unsinn hat dazu geführt, dass sich in dem Land, das in der Impfstoffentwicklung an der Spitze steht, die Menschen vor Impfungen fürchten. Das führt zu Todesfällen, die zu vermeiden wären, und zur Isolation in der Weltgemeinschaft, denn das Tempo der Impfung ist wahrhaft ein Wettrennen. Die Länder mit der größten Impfquote werden füreinander die Grenzen öffnen.

    In Russland ist die Impfquote niedrig. Hier führen Israel, die Vereinigten Arabischen Emirate und Großbritannien das Feld an, aber mittlerweile auch die USA, wo es anfangs große Probleme gab. Dies sind Daten der Universität Oxford.
    Russland ist wohl das einzige Land auf der Welt, wo das Angebot an Impfstoff die Nachfrage übersteigt.
    Die PR-Kampagne sollte zur Anerkennung des russischen Erfolgs führen, und zwar weltweit. Doch betrachtet man die gigantischen Möglichkeiten der russischen Propagandamaschine – würde es sich dann nicht vielleicht lohnen, sie für die  Anerkennung der Erfolge Russlands in Russland selbst einzusetzen?

    Schon allein aus diesem Grund ist Propaganda nicht einfach nur eine Technologie, sondern eine Waffe, die wir gegen uns selbst richten.

    P. S.: Und womit wurde eigentlich Putin geimpft, und warum haben sie es nicht gesagt? Das hätte doch die Impfkampagne vorangebracht. Wurde er gar nicht geimpft, ist er also ein Impfgegner? [Oder doch geimpft, mit – dek] Moderna, das als ein besonders gutes Mittel gilt, was man aber nicht laut sagen darf?

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  • Schluss mit lustig

    Schluss mit lustig

    Nur einen Tag nach der Verurteilung des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny, nach zahlreichen Festnahmen, Hausarresten und eingeleiteten Strafverfahren kommt das nächste Urteil: Der Journalist Sergej Smirnow muss 25 Tage in Haft. Er habe am 20. Januar mit einem Retweet gegen das Protestgesetz verstoßen.

    Sergej Smirnow ist Chefredakteur des Online-Portals Mediazona. Es wurde von den Pussy-Riot-Mitgliedern Nadeshda Tolokonnikowa und Maria Aljochina nach deren Haft ins Leben gerufen und legt in seiner Berichterstattung den Fokus auf das russische Straf- und Justizwesen.

    Das Urteil gegen Smirnow nur einen Tag nach dem Prozess gegen Nawalny hat gerade in der liberalen Szene Russlands für Aufruhr gesorgt. Was es mit Tweet und Urteil auf sich hat – das kommentiert der Republic-Kolumnist Iwan Dawydow auf Facebook:

     Links der verwechselte Smirnow, rechts der tatsächliche Rapper Oxxxymiron  – Tweet  „Zur Frage nach den führenden Köpfen bei den Protesten. Dieses erbärmliche Geschöpf heißt Oxxxymiron.“ /  Screenshot @eskovoroda/Twitter / Foto © Igor Klepnew/flickr
    Links der verwechselte Smirnow, rechts der tatsächliche Rapper Oxxxymiron – Tweet „Zur Frage nach den führenden Köpfen bei den Protesten. Dieses erbärmliche Geschöpf heißt Oxxxymiron.“ / Screenshot @eskovoroda/Twitter / Foto © Igor Klepnew/flickr

    Irgendwann einst, vor langer Zeit, nach einer der vielen Protestaktionen hat ein putinfreundlicher Mitbürger ein Foto von Smirnow ins Netz gestellt mit dem Kommentar: „Dieses erbärmliche Geschöpf heißt Oxxxymiron.“ Der Mann hatte keinen Witz gemacht – die sind alle im Krieg, da gibts keine Witze –, sondern einfach zwei berühmte Menschen verwechselt, die an der Protestaktion teilgenommen hatten: den Hiphopper Oxxxymiron und Mediazona-Chefredakteur Sergej Smirnow.
     

    Aber Smirnows Freunde hatten es natürlich nicht vergessen, und Witze über Leute, die Smirnow auch nur irgendwie ähneln (was, entschuldigt bitte, meistens einfach Leute mit Glatze sind), wurden in ihrem Bekanntenkreis zur Regel. Sergej wurde getagged, und Sergej hat die Witze blind retweetet.

    Im Vorfeld des 23. Januar hat der Leadsänger der Punkband Tarakany (dt. Kakerlaken) Dimitri Spirin ein Foto veröffentlicht mit dem Logo „Nawalnys Team“ und der Aufschrift „Dimitri Spirin für Nawalny, 23. Januar, 14.00.“ 

    Mit etwas Mühe kann man erkennen, dass sich Spirin und Smirnow irgendwie ähneln. Der Twitter-User nemozhnya (ich weiß nicht, wer das ist) hat es jedenfalls erkannt. Und hat Spirins Tweet mit einem Kommentar retweetet: „Seit wann ist Smirnow denn bei der Moskauer Band Tarakany? Und sagt gar nichts über Mediazona, und die Unterschrift ist so merkwürdig – ‚Dimitri Spirin‘“. Aus guter alter Gewohnheit hat Smirnow den Witz retweetet.

    Und ab da ist Schluss mit lustig. Erst gab es eine Hausdurchsuchung bei Sergejs Mutter (unter seiner Meldeadresse, wo er schon lange nicht mehr wohnt). Die Durchsuchung dauerte vier Stunden, die Mutter durfte währenddessen niemanden anrufen und fühlte sich danach, gelinde gesagt, nicht so gut.  

    Danach wurde Smirnow selbst festgenommen. Auf der Straße, als er mit seinem kleinen Sohn unterwegs war. Die Einsatzkräfte wollten nicht warten, bis Smirnows Frau runterkommt und den Sohn abholt (in den Kommentaren unten wird übrigens eine weniger kannibalische Version angeführt). Zum Glück hatte sich Sergej draußen gerade mit einem Kollegen getroffen, der den Jungen dann nach Hause brachte.

    Auf der Polizeiwache stellte sich dann heraus, dass man Smirnow bestrafen wolle wegen „Aufrufs zur Teilnahme an einer nicht-genehmigten Demonstration am 23. Januar“. Seine Freunde haben ganz Twitter durchwühlt und fanden genau einen Tweet, der vor dem 23. geschrieben wurde und zumindest irgendeine Verbindung zu den Ereignissen hatte: „Am 23. Januar werden in Moskau etwa Null Grad.“ Auf der Demo war Sergej gar nicht, er hat die Arbeit seiner Korrespondenten koordiniert. Denn Arbeit gab es an dem Tag für Mediazona natürlich genug. 

    Es gab auch noch andere Versionen, doch dann trat der Ermittler in Erscheinung und es wurde klar, dass man Smirnow ausgerechnet für den Retweet des fremden Scherzes vor Gericht bringen wollte. Sie wollten ihn bis zur Verhandlung auf der Wache behalten, doch weil es in den Medien und Sozialen Netzwerken ordentlich Lärm gab, hat man ihn unter der Bedingung entlassen, dass er zum Gerichtstermin erscheint.

    Heute [am 3. Februar – dek] war der Prozess. 25 Tage Haft.

    Ich denke, dass diese Geschichte – und es geht hier nicht um Ausmaß oder Bedeutung, sondern nur um die Anschaulichkeit – sogar mehr über den Wahnsinn aussagt, dem der Staat verfallen ist, als der Prozess gegen Nawalny. 

    Sergej Smirnow gehört natürlich freigelassen. Wie auch alle anderen politischen Häftlinge.
     

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