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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Es muss eine völlig andere Aufmerksamkeit für Tonfall und Worte geben“

    „Es muss eine völlig andere Aufmerksamkeit für Tonfall und Worte geben“

    „Wir hoffen, dass wir auch vielen Soldaten helfen konnten, zum Beispiel mit Ausrüstung und einer einfachen Grundausstattung an der Front.“ Mit diesem Satz hat TV-Host Alexej Korosteljow im unabhängigen Fernsehsender Doshd am vergangenen Donnerstag, 1. Dezember 2022, einen Skandal ausgelöst. Es waren zunächst ukrainische Aktivisten und Journalisten, die auf die Äußerung hinwiesen. Korosteljow selbst und auch Doshd-Chefredakteur Tichon Dsjadko entschuldigten sich. Korosteljow schrieb, seine Worte seien „aus dem Kontext“ gerissen worden, was für weitere Kritik sorgte. In Lettland, von wo der exilierte Sender derzeit arbeitet, wurde eine Überprüfung eingeleitet. Manche Stimmen warfen Doshd sogar vor, für den russischen Geheimdienst zu arbeiten. 

    Schließlich verkündete der Sender die fristlose Kündigung Korosteljows, der seit Jahren für Doshd arbeitet und eines der bekanntesten Gesichter des Senders ist. Dies wiederum sorgte für einen Sturm der Entrüstung unter russischen Exiljournalisten. Zwei weitere populäre Doshd-Moderatoren, Margarita Ljutowa und Wladimir Romenski, gaben aus Solidarität mit Korosteljow ihren Rücktritt bekannt. Auch Korosteljows Lebensgefährtin Darina Lukutina kündigte ihren Rücktritt beim Fernsehsender an. „Ich verstehe nicht, wie ein Angestellter geopfert werden kann, um einem Staat zu gefallen, noch bevor dieser Staat ein solches Opfer verlangt hat“, schrieb sie auf Facebook.

    In den Chor an Stimmen, die den Vorgang in den Sozialen Medien heftig diskutierten, mischte sich auch die bekannte Journalistin Xenia Larina, die auch für The Insider und Echo Moskwy arbeitet. Auf Telegram nimmt sie Doshd wie auch Korosteljow in Teilen in Schutz, mahnt zugleich aber eine fehlende Selbstkritik für den gesamten unabhängigen russischen (Exil-)Journalismus an.

    Ich habe die besagte Episode gestern nicht live gesehen, sondern heute, als der Skandal schon auf allen Kanälen tobte.
    Zunächst schrieb ich unterstützende Worte für Ljoscha Korosteljow, dann für Tichon Dsjadko. Später dann sah ich Katja Kotrikadses Stellungnahme zu Beginn der Nachrichten, die Stellungnahme der Redaktion von Doshd mit Erklärungen und Entschuldigungen und mit der Entscheidung, Korosteljow zu entlassen. Das waren herzzerreißende Worte. Katerina ist tough und willensstark, sie hat ihr Gesicht und ihre Haltung in den schwierigsten Live-Situationen unter Kontrolle – hier und jetzt konnte sie die Tränen fast nicht zurückhalten. An ihrem emotionalen Zustand war zu erkennen, wie schwer die Entscheidung über die Entlassung ihres Kollegen war, einen der besten Journalisten von Doshd.

    Doshd-Chat-Bot macht die Verbrechen der russischen Machthaber gegen ihre eigenen Bürger deutlich

    Heute nun habe ich den Beitrag für einen ukrainischen Sender kommentiert. Und habe natürlich gesagt, dass in Live-Situationen niemand vor Fehlern, Versprechern und falschen Bewertungen gefeit ist, vor „Schnitzern“. Und dass ich überzeugt bin, dass es in Alexejs Worten keinen bösen Vorsatz gab.
    In den Doshd-Nachrichten wird regelmäßig hingewiesen auf den Telegram-Chat-Bot für Anrufe und Nachrichten der Mobilisierten und ihrer Angehörigen. Dieser Kommunikationskanal macht die Verbrechen der russischen Machthaber gegen ihre eigenen Bürger deutlich, zeigt die Abscheulichkeit des Regimes, seine ständigen Lügen und seine Verachtung für das eigene Volk.

    Alexejs Worte haben den Sinn dieser Aktion völlig entstellt und pervertiert

    Alexejs Worte haben den Sinn dieser Aktion völlig entstellt und pervertiert. Ja, das war ein missglückter Versuch, dieser kargen Ansage „etwas Persönliches“, etwas „Menschliches“ hinzuzufügen.

    Das passiert jedem. Aber nicht jeder moderiert Live-Sendungen während eines ungeheuerlichen Krieges, der von einem Staat entfacht wurde, dessen Bürger du bist. Hier muss es eine völlig andere Aufmerksamkeit für Details, Tonfall und Worte geben. Und hier stellt sich die überaus wichtige Frage, die überhaupt nicht diskutiert wird in der russischsprachigen Journalisten-Community, unter Journalisten im Exil:

    Sind die gewohnten Standards des Journalismus anwendbar, wenn man einen Pass des Aggressor-Landes besitzt?

    Wer sind wir? Wen vertreten wir? An wen richten wir uns in russischer Sprache? Sind die gewohnten Standards des Journalismus – des freien, professionellen Journalismus – in Kriegszeiten anwendbar, noch dazu, wenn man einen Pass des Aggressor-Landes besitzt? Der ganze Pluralismus, all das „die andere Seite zu Wort kommen lassen“, all die freien Meinungen und Äußerungen? Und was ist überhaupt „die andere Seite“, wenn es die Seite der Invasoren und die Seite der Opfer gibt? Darf man sich das in politischen und militärischen Konflikten als Journalist aussuchen? Finden wir immer den richtigen und genauen Ton, verletzen wir nicht die Grenzen fremder Freiheiten und Rechte, während wir uns außerhalb von Russland befinden? Ich glaube, das sind sehr wichtige Fragen. 

    Wir alle sind besudelt in diesem Krieg und haben kein Recht auf eine besondere Aufmerksamkeit

    Wir alle sind besudelt in diesem Krieg. Und wir haben kein Recht darauf, eine besondere Aufmerksamkeit für uns einzufordern, niemand ist uns Hilfe schuldig dabei, diesen Schmutz abzuwaschen, niemand ist verpflichtet, sich in unsere Situation hineinzuversetzen, uns Visum und Arbeitserlaubnis auf dem Silbertablett zu servieren. Wenn es eine kollektive Schuld und eine kollektive Verantwortung gibt, dann ist die Art und Weise, wie sich jeder identifiziert, persönlich.

    Die Position von Doshd, die mehrfach von deren Journalisten ausgesprochen wurde, ist offensichtlich und braucht keine Bestätigung, denn schon die Sendungen von Doshd sind dafür das wichtigste Zeugnis: Sie bezeichnen den Krieg als Krieg, Russland als Aggressor und Putin als Verbrecher. Das ist das Wichtigste. Und es ist die persönliche Entscheidung eines jeden Journalisten, sich zu einer Redaktion zusammenzuschließen, deren Prinzipien vollständig mit den eigenen Überzeugungen übereinstimmen. 

    Ich habe keine Zweifel, dass Alexej Korosteljow dieselben Prinzipien vertritt, dass er einfach einen „unpassenden Scherz“ gemacht hat, um es in den Worten Bulgakows zu sagen. Ich unterstütze Alexej und bin sicher, dass er nicht ohne Arbeit bleiben wird. Und ich verstehe und akzeptiere die Entscheidung der Doshd-Spitze, die in schwerem Kreuzfeuer steht – sie werden aus allen Richtungen mit Steinen beworfen, von den eigenen Leuten, von anderen, von Europäern und von Russen, von Ukrainern und Letten … Aber sie machen ihre Arbeit. Und sie machen sie gut. Ihren Beitrag zum Sieg über das Böse zu bewerten, steht noch aus. Aber der Sieg ist gewiss. 

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  • Mobilmachung für die Planzahl

    Mobilmachung für die Planzahl

    Auf die Ende September verkündete „Teilmobilmachung“ folgten in Russland vielerorts chaotische Zustände: Neben den kilometerlangen Staus an den Landesgrenzen mehrten sich Berichte von willkürlichen Einberufungen direkt auf der Straße, von missachteten Ausnahmeregelungen und miserabler Ausrüstung für die Einberufenen. Bei einer Sitzung des Sicherheitsrates am 29. September räumte Putin bereits „Fehler“ ein, die korrigiert werden müssten.

    Auch der Umfang der Mobilmachung bleibt vage: Zwar sprach das Verteidigungsministerium zunächst von 300.000 Rekruten, doch Experten befürchten, dass aufgrund fehlender Einschränkungen die tatsächliche Zahl weitaus höher liegen könnte. In einer aktuellen Recherche schätzt Mediazona diese auf knapp 500.000 Soldaten – anhand von sprunghaft angestiegenen Eheschließungen, die für Einberufene kurzfristig und ohne Wartezeit möglich sind. 

    Meduza-Journalist Maxim Trudoljubow geht davon aus, dass der Kreml durchaus konkrete Zielvorgaben macht, wie er auf seiner Facebook-Seite schreibt. Deren Umsetzung auf unterer Ebene erinnert ihn an eine Praxis aus der Stalinzeit, bei der die Erfüllung der Sollzahl wichtiger ist als das „wie“.

    Die kremlsche Panikmobilisierung wird in Zahlen, in „Köpfen“, in „Seelen” gemessen. Die Zahlen – die sind das Wichtigste, obwohl sie gar nicht genannt werden. Eine Schätzung der Menge potentieller Rekruten ist unmöglich, weil die Kriegsziele nicht offengelegt werden. Zu welchem Zweck rekrutiert die Kreml-Armee N Soldaten? Geheimsache. Den Wert von N kennt nur der Kreml. N ist die Hauptsache. Aber N wird nicht nur verschwiegen, sondern ist auch Änderungen unterworfen. Wir wissen von neuen Mobilmachungsplänen für Regionen, die die anfänglichen bereits erfüllt haben. Das ist verrückter als jede Antiutopie. In ihrer Lebensfremdheit und Irrationalität ist diese Arithmetik des Todes unergründlich und furchterregend.

    Rechenschaft von unten – Plan von oben

    Dabei ist sie nicht neu. Kontingente, Zahlen, Pläne und Quoten sind ein fixer Bestandteil der Verwaltungsstrukturen russischer Institutionen, insbesondere der aus der Sowjetunion geerbten „Rechtsschutzorgane“. Reformversuche gab es zwar, doch das Prinzip „Rechenschaft von unten – Plan von oben“ ist nach wie vor in Kraft. Oft werden Kriminalfälle aus nichts erschaffen, um eine Quote zu erfüllen. Die tatsächliche Aufgabe dieses Systems ist – im Gegensatz zur augenscheinlichen – nicht die Aufdeckung, sondern die Erzeugung von Kriminalität. Das war schon in Sowjet- und Postsowjetzeiten so, doch heute erreicht es nie dagewesene Dimensionen des Wahnsinns.

    Die zentrale Bedeutung von Kontingenten bei politischen Projekten war in der sowjetischen Geschichte nicht so sehr für Mobilisierungskampagnen charakteristisch, sondern vielmehr für Repressionen. Kontingente kamen zum Beispiel bei der Kollektivierung und während des Großen Terrors 1937–38 zum Einsatz. Die Regionen lieferten auf Befehl aus Moskau zum Beispiel die Zahlen der erfassten „weißgardistisch-großbäuerlichen Elemente“, und Moskau gab nach unten die „Kontingente“ „erster“ und „zweiter“ Kategorie durch, gab also vor, wie viele zu erschießen und wie viele zu Lagerhaft zu verurteilen seien. Die Regionen versuchten ihrerseits, die Kontingente möglichst zu erfüllen, indem sie wahllos Menschen festnahmen. In diesem diabolischen System gab das Zentrum vor, das wilde Treiben an der Basis zur Aufdeckung der Feinde zu begrenzen – in Wirklichkeit ging die Initiative aber vom Zentrum aus. 

    Das funktioniert auch jetzt bei der Mobilmachungung so. Allerdings glaube ich nicht, dass der Kreml Massenrepressionen geplant hat. Stalin hat Massenrepressionen geplant. Putin hat einen Krieg geplant und dann die Mobilmachung der Menschen für diesen Krieg. Davor hatte er die „Bewahrung des Volkes“ geplant, die Besiedelung des Fernen Ostens, die Unterstützung kleiner Völker, die Förderung von Familien mit Kindern und vieles andere mehr. Das Ergebnis: Der Ferne Osten ist immer dünner besiedelt, die kleinen Völker werden in den Tod geschickt, die Familien verlieren ihre Väter und Ernährer. Es ist ein neuer Großer Terror. Geplant hat er das Leben, herausgekommen ist der Tod. 

    Geplant hat er das Leben, herausgekommen ist der Tod

    Denn so läuft es. Die dünne Schicht aus Verbesserungen und einem gewissen äußeren Glanz, die in den letzten Jahrzehnten aufgebaut wurde, ist weg. Was bleibt, ist das Fundament – ein repressiver Mechanismus, der der Logik geforderter Quoten folgt. Der Kreml ist dabei, den Krieg zu verlieren, aber bevor er in sich zusammenstürzt, kann er durchaus noch – zu aller Entsetzen – die teuflische Schlacht um die Zahl der eingezogenen und in den Tod geschickten Menschen gewinnen.

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  • „Die Verlegung von Truppen ist kein Angriff“

    „Die Verlegung von Truppen ist kein Angriff“

    Die Aufregung war groß, als Alexander Lukaschenko nach einem neuerlichen Treffen mit Wladimir Putin in Sankt Petersburg ankündigte, einen regionalen Truppenverband zusammen mit dem russischen Militär aufstellen zu wollen. Würde der belarussische Machthaber, nachdem er sich über Monate offensichtlich dem Druck des Kreml entzogen hat, doch eigene Truppen in den Angriffskrieg gegen die Ukraine entsenden? 

    Der belarussische Verteidigungsminister Viktor Chrenin versuchte, den Sorgen und Befürchtungen, gerade von ukrainischer Seite, Wind aus den Segeln zu nehmen. Er sagte: „Wir wollen nicht gegen Litauer kämpfen, oder Polen, oder Ukrainer.“ Allerdings senden die belarussischen Machthaber seit Monaten widersprüchliche Signale, denn Lukaschenko unterstützt den russischen Krieg nicht nur mit seiner aggressiven Rhetorik, die der des Kreml in vielerlei Hinsicht ähnelt, sondern auch, indem Russland das belarussische Territorium bis heute für den Abschuss von Raketen in Richtung Ukraine nutzt.

    Die Ankündigung einer gemeinsamen Truppe hielt Lukaschenko, wie man es von ihm kennt, recht schwammig. Was aber steckt hinter dieser Ankündigung? Wie ist sie zu bewerten? Welche Taktik verfolgt Lukaschenko? Und ist sie gleichzusetzen mit einer Entsendung eigener Truppen in die Ukraine? In einem Telegram-Beitrag gibt der belarussische Politanalyst Wadim Mosheiko Antworten auf diese Fragen.   

    Die Verlegung von Truppen ist kein Angriff. Die Alarmisten helfen Putin, der mit verschiedenen demonstrativen Aktionen versucht, sein „Das ist kein Bluff“ zu untermauern.

    Die Angriffe auf ukrainische Städte, Wohnhäuser und Infrastruktur mit zivilen Opfern, das ist zwar immer furchtbar, aber auch nicht neu oder überraschend. Das ist eine Taktik, die Russland bereits eingesetzt hat, und die nichts am Verlauf des Krieges geändert hat.

    Lukaschenkos Erklärungen folgten der absolut gleichen Logik. Seine „Aufstellung eines gemeinsamen regionalen Truppenverbands“ sind sehr allgemeine Worte, die letztendlich eine Verlegung unterschiedlicher Kräfte beschreiben, mehr aber auch nicht. Von einem Einmarsch der belarussischen Armee war keine Rede; eine Aufstellung ist kein Angriff.

    Die einzig konkrete Ankündigung (und auch die eine recht mickrige) war das Versprechen, dass „in nächster Zeit“ russische Soldaten in Belarus aufgenommen und dort stationiert werden, „nicht in großer Zahl“, aber auch „nicht nur tausend Mann“. Auch das ist leider nichts Neues: Seit Beginn des Krieges ziehen sowieso russische Militärangehörige nach Belarus, und zwar zu dem Zeitpunkt und in der Stärke, wie es ihnen beliebt, und das Regime Lukaschenko gewährt ihnen dabei logistische Unterstützung. Hier verweise ich erneut auf meine Drei Prinzipien, die Lukaschenkos Verhalten im Krieg beschreiben:

    1) Wenn ein Stillhalten von Lukaschenko ausreicht, damit der Kreml von Belarus aus agieren kann, dann bekommen und machen die Russen, was sie wollen und wann sie es wollen. Um beispielsweise Flugzeuge der russischen Luftwaffe in den belarussischen Luftraum zu lassen, damit sie die Ukraine angreifen, reicht es, wenn Lukaschenko nicht stört. Das Gleiche gilt für die Ankunft russischer Raketenwerfer, mit denen ukrainische Städte beschossen werden. Die werden so oft und zu dem Zeitpunkt eintreffen, wie es Russland beliebt, und so lange, wie Russland über ausreichend Ausrüstung und Munitionsvorräte verfügt. Unabhängig davon, ob sich derzeit solche russische Streitkräfte in Belarus befinden, was Lukaschenko gesagt hat, oder ob Kyjiw das Kabinett Tichanowskaja anerkennen wird und so weiter.

    2) Wenn von Lukaschenko eine technische Unterstützung verlangt wird, die seine politische Position nicht gefährdet, dann wird er dem Kreml bei allem behilflich sein. Das betrifft die gesamte Logistik, angefangen bei den Flughäfen über die Straßen und Gleisverbindungen, die Behandlung verletzter russischer Soldaten in belarussischen Krankenhäusern bis hin zur Reparatur russischen Kriegsgeräts in belarussischen Fabriken und Werkstätten. Für Minsk würde das alles keine größere Schuld und keine zusätzlichen Sanktionen bedeuten, und es würde an der öffentlichen Meinung in Belarus oder der Ukraine nichts Wesentliches ändern. 

    3) Falls von Lukaschenko konkrete Entscheidungen im militärischen Bereich verlangt werden, ohne die die Dinge nicht in Gang kämen, dann würde er sie nicht treffen und nichts würde geschehen. Ohne einen Befehl des Oberkommandos (und des Oberkommandierenden Lukaschenko) werden die Offiziere der belarussischen Streitkräfte nicht dazu übergehen, auf Befehle aus Moskau zu hören und einen Angriff unternehmen. Ohne Lukaschenkos Befehl werden die belarussischen Mehrfachraketenwerfer vom Typ Polones keinen Beschuss der Ukraine beginnen. Und ohne einen Befehl von Lukaschenko wird es keine Mobilmachung geben. Das bedeutet natürlich nicht, dass eine Eskalation von Seiten Lukaschenkos grundsätzlich ausgeschlossen ist. Doch seine Angst, sich Russland entgegenzustellen ist, gepaart mit seinem Unwillen, noch tiefer in den Krieg hineingezogen zu werden, wobei er sich die eigene Grube immer tiefer gräbt (indem er die ohnehin überaus hohe Abhängigkeit von Russland weiter vergrößert).

    * * *

    Wenn jetzt irgendwann ein paar Tausend russische Soldaten in Belarus eintreffen sollten, wäre das nichts Gutes. Es wäre aber auch nichts Neues und würde weder am Verlauf des Krieges noch an der Position von Lukaschenko oder Belarus etwas ändern.

    Auf solche Dinge muss natürlich auf diplomatischer Ebene und bei der NATO reagiert werden, es ist ein Schritt in eine schlechte Richtung, der unbedingt zu bedenken ist. Aber die belarussische Armee wird hier und jetzt nicht in den Krieg eintreten, also sind auch panische Rufe wie „Ein Wolf, ein Wolf!“ unangebracht.

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  • „Erstmals wird den Leuten klar, dass Putin nicht unbesiegbar ist“

    „Erstmals wird den Leuten klar, dass Putin nicht unbesiegbar ist“

    Russlands Präsident Wladimir Putin hat eine sofortige „Teilmobilmachung“ verkündet. Seine Rede war zunächst für den Dienstagabend angekündigt gewesen, das russische Staatsfernsehen strahlte sie schließlich am Mittwochmorgen, 21. September, aus.

    Wenige Stunden zuvor hatte die Duma noch Änderungen im Strafgesetzbuch beschlossen, die im Falle von „Kriegszeiten“ und „während einer Mobilmachung“ gelten sollen und verschärfte Strafen vorsehen: Demnach drohen für Fahnenflucht bis zu zehn Jahre, für Kriegsdienstverweigerung bis zu drei Jahre Haft. Beobachter werteten dies als ein weiteres Anzeichen für eine Mobilmachung in Russland. Bislang galt diese in Russland nicht, was an der Front zunehmend für Probleme sorgte: Recherchen der Novaya Gazeta Europe zufolge werden mitunter sogar Strafgefangene rekrutiert.

    Die erfolgreiche ukrainische Gegenoffensive hatte den Kreml massiv unter Druck gesetzt. Schon unmittelbar danach wurde das Wort „Krieg“ deutlich häufiger in Polittalkshows des Staatsfernsehens benutzt. Dies heiße allerdings nicht, dass der Kreml keine Kontrolle mehr über das offizielle Narrativ habe, erläuterte etwa dekoder-Gnosist Jan Matti Dollbaum auf 3sat Kulturzeit. Wohl aber könne das bedeuten, „dass das Narrativ sich ändert – dass es eine breitere Bevölkerungsmobilisierung vorbereiten soll“. 

    Dieses Szenario ist nun in Teilen eingetreten – die Teilmobilisierung betrifft offiziell erstmal Reservisten, dass damit auch Wehrdienstleistende in den Krieg geschickt werden, gilt unter manchen Beobachtern als wahrscheinlich. 

    Zugleich hat Russland am gestrigen Dienstag sogenannte „Referenden“ in den Kriegsgebieten DNR, LNR, Cherson und Saporishshja angekündigt. SWP-Expertin Sabine Fischer sieht darin auf Twitter Russlands Versuch, den Status Quo einzufrieren, weitere ukrainische Militäraktionen in den Gebieten als Angriff auf „russisches Territorium“ zu deklarieren und vor allem den Westen zu testen, wie weit dieser (ggf. auch angesichts weiterer nuklearer Drohungen seitens Russlands) an Waffenlieferungen und Unterstützung für die Ukraine festhält. 

    Ebenfalls auf Twitter hat der Soziologe Grigori Judin vergangene Woche kritische innerrussische Töne eingeordnet und Putins eigentliches Dilemma skizziert: Nämlich die Frage, wie lange er in Russland überhaupt eine Alltagsnormalität aufrechterhalten kann angesichts des Krieges, den Russland in der Ukraine führt. Wie lange der „Spagat“ zwischen einer entpolitisierten Mehrheit und einer mobilisierten radikalen Minderheit noch gelingt – die Antwort auf diese Frage könne entscheidend sein für die Dauer von Putins Regime.

    Der Thread von Grigori Judin ist auf Englisch verfasst. dekoder hat ihn dennoch übersetzt: Mit Grigori Judin spricht eine wichtige Stimme des kremlkritischen russischen Diskurses, der sich aufgrund der Zensur in Russland zunehmend auch in die sozialen Medien verlagert hat. Es spricht zudem ein Wissenschaftler, den dekoder mehrfach aus unabhängigen russischen Medien übersetzt hat. 

    Es gibt in Russland drei unterschiedliche Gruppen:

    1) Die Radikalen (15-25 Prozent) – eine beträchtliche, extrem laute Minderheit, die den Krieg aktiv unterstützt, sich einbringt, die Nachrichten verfolgt und in einigen wenigen Fällen sogar an die Front geht. Sie sind das Publikum von Militärbloggern, diversen Telegram-Kanälen und Vampiren wie Wladimir Solowjow oder Olga Skabejewa.

    2) Die Nicht-Einverstandenen (20-25 Prozent) – eine beträchtliche Minderheit, die den Krieg kategorisch ablehnt. Ihre Sichtweise ist in den in Russland ansässigen Medien verboten und wird generell unterdrückt.

    3) Die Laien (50-65 Prozent) – die passive, völlig entpolitisierte Mehrheit, die mit Politik und dem Krieg nichts zu tun haben will.

    Die Laien

    Die Laien bilden die Masse der Jasager, die sich für den Krieg aussprechen, wenn man sie fragt: „Sind Sie für die militärische Spezialoperation oder sind Sie ein Landesverräter, der mit bis zu 15 Jahren Gefängnis bestraft gehört?“

    Die Laien schotten sich so weit wie möglich von Nachrichten über den Krieg ab und wissen nur sehr wenig über die Niederlage in Charkiw

    Sie sind diejenigen, die sorglos ihr Leben genießen, während in der Ukraine Menschen sterben. Das ist natürlich beklagenswert, doch die Kehrseite davon ist, dass sie auch keinesfalls gewillt sind, sich irgendwie selbst aktiv am Krieg zu beteiligen. Sie schotten sich so weit wie möglich von Nachrichten über den Krieg ab und wissen nur sehr wenig über die Niederlage in Charkiw (viele von ihnen könnten nicht einmal sagen, wo die Stadt eigentlich liegt).
    Die offiziellen Radio- und Fernsehnachrichten schützen sie vor solchen Informationen. Nicht unwichtig: Als das Fernsehen begann, harte Kriegspropaganda zu verbreiten, sanken die Einschaltquoten – die Laien wollten weiter ihre Seifenopern, Ernährungsberatung und Stand-up-Comedy sehen, keine langweilige Frontberichterstattung. 

    Die Radikalen

    Für die Radikalen war die ukrainische Gegenoffensive dagegen ein echter Schlag. Sie überboten sich mit Schuldzuweisungen und machten die Militärführung, einander und selbst Putin für diese Niederlage verantwortlich. Erstmals gibt es hitzige Diskussionen zwischen ihnen. Die Tonlagen reichen von relativem Optimismus („wir sollten uns um Putin scharen und Rache nehmen“) bis zu völligem Fatalismus („der Krieg ist verloren, das ist nicht zu ändern“). Was sie eint: Alle Radikalen fordern die totale Mobilmachung der russischen Gesellschaft und eine aggressivere Kriegsführung. Sie sind sich einig, dass es für Russland ein Leichtes gewesen wäre, die Ukraine zu erobern, aber aus irgendeinem Grund (Verrat, Unfähigkeit, Großzügigkeit) führt es den Krieg mit gebundenen Händen. 

    Alle Radikalen fordern die totale Mobilmachung der russischen Gesellschaft

    Diese Diskussion ist bemerkenswert. Erstmals wird den Leuten klar, dass Putin nicht unbesiegbar ist. Es ist kaum zu überschätzen, wie viel Bedeutung dieser Mythos für Russland hat. Der Glaube, dass Putin sich am Ende sowieso durchsetzt, lähmt jedes eigenständige Handeln. Die Radikalen sind wütend auf die Laien, weil die ihr gewohntes Leben weiterführen, während Soldaten sterben, um das Überleben des von der NATO attackierten Landes zu sichern. Die Laien sind wütend auf die Radikalen, weil die versuchen, ihnen im Alltag Politik aufzudrängen, zum Beispiel durch die Einführung von Kriegspropaganda an den Schulen. 

    Risse im Narrativ?

    Manche haben Boris Nadeshdins Aussagen im russischen Fernsehen [der ehemalige Duma-abgeordnete Nadeshdin sagte auf NTW, Putin sei schlecht beraten worden, Russland könne den Krieg in der Ukraine nicht gewinnen – dek] als Anzeichen für Risse im vorherrschenden Narrativ gewertet. Das sind sie jedoch nicht. Nadeshdin ist ein alter Liberaler aus den 1990ern, ein Weggefährte von Boris Nemzow. Nemzow entschied sich, eine echte Opposition gegen Putin auf die Beine zu stellen (mit düsterem Resultat). Nadeshdin dagegen beschloss, nach Putins Regeln einer Pseudo-Opposition zu spielen und trat einer seiner Marionetten-Parteien bei. Der Vorteil dieser Strategie ist, dass man regelmäßig als Prügelknabe in die TV-Shitshows eingeladen wird. So verschafft man sich landesweite Bekanntheit (das nützt bei Wahlen!). Nadeshdin war jedoch ganz offen von Anfang an gegen diesen Krieg, und er ist auch klar gegen Putin – das kann man im russischen Fernsehen nur nicht laut sagen. Seine Einstellung hat sich durch die jüngsten militärischen Rückschläge nicht geändert. Auch die mutigen Äußerungen lokaler Abgeordneter, die ein Amtsenthebungsverfahren Putins fordern, sind kein Zeichen für eine Veränderung. Diese Leute gehören zu den Andersdenkenden und haben schon vorher nach Kräften gegen den Krieg protestiert. Ihr Aufruf ist eine Abschiedsgeste – nun endete ihre Amtszeit, viele dürfen nicht einmal erneut kandidieren.

    Eine totale Mobilmachung ist für die Laien völlig inakzeptabel. Für die Radikalen hingegen ist Putins Zögern, den Kriegszustand auszurufen, nicht mehr tolerierbar

    Trotzdem ist die Lage für Putin prekär. Er braucht die Passivität der Laien, aber auch das Engagement der Radikalen. Deshalb bietet er zwei widersprüchliche Narrative an – eines vom Krieg um Russlands Existenz und ein anderes, wonach alles weiterläuft wie gewohnt. Die Forderung der Radikalen nach einer totalen Mobilmachung ist jedoch für die Laien völlig inakzeptabel. Für die Radikalen hingegen ist Putins Zögern, den Kriegszustand auszurufen, nach den Niederlagen an der Front nicht mehr tolerierbar. Putin hat darauf bisher mit einer gezielten Mobilmachung reagiert – er rekrutiert unter den Radikalen und lässt die Laien in Ruhe. Diese Strategie lässt sich noch eine Weile fortsetzen, aber durch die militärischen Niederlagen wird sie zunehmend erschwert. Es ist unwahrscheinlich, dass Putin der Forderung nachgibt, jetzt die Generalmobilmachung zu verkünden. Dazu wäre erst eine politische Mobilisierung nötig. Doch dafür ist der Zeitpunkt ungünstig. Selbst die Freiwilligen gehen in die Ukraine, weil sie davon ausgehen, dass sie sich einer siegreichen Armee anschließen und Geld verdienen – und nicht, um sich mit einem starken Gegner zu messen. Unter Wehrdienstleistenden wird die Begeisterung noch geringer sein. 

    Kann er eine Niederlage als Sieg verkaufen? Nein

    Kurz: Der Spagat zwischen der Entpolitisierung der Gesellschaft und gleichzeitiger Mobilisierung ihres radikalen Teils wird für Putin angesichts des drohenden großen Rückschlags immer schwieriger. Kann er eine Niederlage als Sieg verkaufen? Nein. Die Radikalen werden sie rundheraus als das bezeichnen, was sie ist. Und die Laien werden ihm nicht verzeihen, dass er ihr tägliches Leben in Mitleidenschaft gezogen hat. Die militärische Niederlage in einem Krieg, bei dem er das ganze Land aufs Spiel gesetzt hat, wird Putin nicht überleben.

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  • „Für alle, die in Gefangenschaft sind“

    „Für alle, die in Gefangenschaft sind“

    Die belarussischen Machthaber um Alexander Lukaschenko gehen weiter gegen Dissidenten und normale Bürger vor, die an den Protesten 2020 teilgenommen haben. In den vergangenen Wochen kam es wieder zu zahlreichen Festnahmen, aber auch zu Urteilen mit langjährigen Haftstrafen. 

    In einem der aufsehenerregendsten Prozesse der letzten Jahre wurden der Jurist und Aktivist Juri Senkowitsch zu elf Jahren sowie der Vorsitzende der Partei BNF Grigori Kostussew und der bekannte Philologe und Intellektuelle Alexander Feduta zu jeweils zehn Jahren Haft verurteilt. Offiziell wurde ihnen vorgeworfen, ein Mordkomplott und einen Staatsstreich gegen Lukaschenko geplant zu haben. Der Fall klingt in seinen verwirrenden Details und Vorwürfen wie eine klassische Räuberpistole. Feduta ist eine prominente Persönlichkeit in Belarus, die zumindest anfänglich Teil des Systems Lukaschenko war. Er hatte 1994 den Wahlkampf geleitet und war daraufhin Lukaschenkos erster Pressesprecher geworden. Vom dann aufwallenden autoritären System sagte er sich los und trat immer wieder als scharfer Kritiker und Aktivist in Erscheinung. Er wurde im April 2021 durch den russischen Geheimdienst FSB in Moskau festgenommen, wohin er aus seinem polnischen Exil gereist war.

    In seinem Schlusswort vor Gericht sagte Feduta: „Legitime Regierungen halten ihre Amtseinführungen nicht heimlich ab; ein rechtmäßig gewählter Präsident läuft nicht mit einer Waffe herum. Lukaschenko ist so verängstigt, dass er selbst in dem Jahr, das er selbst zum Jahr der nationalen Einheit erklärt hat, nur das Schwungrad der Repression antreibt.“ 

    Noch höhere Strafen von bis zu 17 Jahren gab es in einem weiteren Urteil gegen eine Gruppe von jüngeren Leuten, die unmittelbar im Zuge der Proteste 2020 festgenommen worden waren, weil sie Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und Staatsgewalt dokumentiert hatten. Dazu gehört auch Marfa Rabkowa, Koordinatorin der Menschenrechtsgruppe Wjasna96. Sie wurde zu 15 Jahren Lagerhaft verurteilt. Offiziell wurde die Gruppe wegen der „Organisation von Massenunruhen, der Teilnahme daran und der Schulung anderer zur Teilnahme daran“ beziehungsweise der „Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung“ für schuldig befunden. Beide Prozesse und Urteile wurden von großer internationaler Kritik begleitet. Nach dem Urteil sagte Rabkowa: „Wir leben im Zeitalter der verdrehten Wahrheit – das Gute wird bestraft, das Böse gefeiert, die Freiheit ist nur im eigenen Kopf möglich, und selbst dort könnte sie über Artikel 13 des Strafgesetzbuchs, als  ,Vorsatz´, angegriffen werden. Gedankenverbrechen gibt es nicht nur in der dystopischen Fiktion, sondern auch in der belarussischen Realität.“

    Wie lebt man mit solch schlechten Nachrichten und furchtbaren Urteilen, die einen von Tag zu Tag begleiten und die in gewisser Weise zum Alltag für viele Belarussen werden? Der belarussische Schriftsteller Alhierd Bacharevič sucht auf solche schwierigen Fragen in einem Facebook-Post eine Antwort und verschafft sich deutlich Luft.

    Der Krieg der Unmenschen gegen die Menschen geht weiter. Ein Krieg auf Leben und Tod. Ein Krieg bis zum Letzten. 

    Ich denke an sie. An die Feinde. Schaut man die Bilder an, sind sie noch jung. Einer mehr, einer weniger – doch die Mehrheit ist in den besten Jahren. Die Zeit ist eine gerissene Sache: Indem sie gehorsam Unschuldige bestrafen, scheint ihnen, sie würden ihre eigenen Tage verlängern. Sie, die strengen „Richter“ und die harten „Staatsanwälte“, die „Gesetzeshüter“ und andere Unmenschen … Die Teilhabe an den Repressionen ermöglicht ihnen wohl ein besseres Lebensniveau, garantiert ihnen Sicherheit und schützt die Gesundheit. Doch hier kommt das Problem mit der Zeit ins Spiel. Ihr Alter erhöht auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie den Tag der Abrechnung noch erleben. Auch wir werden ihn erleben – und ihnen in die Augen schauen. Die Zeit ist eine furchtbare Sache. Denn wir vergeben und vergessen nichts.

    Ich denke heute an Aljaxandr Fjaduta. Das letzte Mal habe ich ihm im Herbst 2020 die Hand gedrückt, auf dem Bahnhofsvorplatz in Minsk. Damals hatte ich mich schon längst aus literarischen Konflikten von Fjaduta distanziert. Das hinderte uns jedoch nicht daran, einander zu grüßen, uns zu unterhalten und uns respektvoll zu begegnen. Im vergangenen Jahr schrieb ich ihm einige Briefe [ins Gefängnis] – als sie noch ankamen. Wir schrieben einander ausschließlich über Literatur. Und doch drang sie durch die Zeilen – die Zeit. Durch seine Scherze. Durch seinen Schmerz. 

    Eine Verschwörung gegen den Staat? In der Zukunft wird sie in denselben Kapiteln beschrieben werden, in denen man heute über die Attentate auf Hitler lesen kann – unter der Rubrik „Widerstand“.

    Ich denke an Maryna Schybko [Ehefrau von Aljaxander Fjaduta – dek.]. Wie sehr ich sie unterstützen möchte – aber die Worte nicht finden kann. Ich denke an Maryna Adamowitsch [Ehefrau des belarussischen Oppositionspolitikers Mikalaj Statkewitsch – dek.]. Wo finden sie die Kraft, das auszuhalten. Und wie kann man einen Weg finden, die Zeit zu beschleunigen. 

    Ich denke an alle, die in Gefangenschaft sind.

    Ich denke an alle Anarchisten. Ich denke an Mao, Legende des belarussischen Punk, der heute von denen gepeinigt wird, die kraft ihrer beschränkten Vernunft entschieden haben, dass keine Zeit mehr ist. Dass es nur den Dienstherrn und das Auskommen gibt. Aber nein, die Zeit rennt. An das, was sie heute tun, werden wir uns morgen erinnern. Die dummen Diener meinen, dass Bücher nichts bedeuten. Nein. Bücher sind die Komplizen der Zeit. Bücher sind Zeit, die so festgeschrieben wurde, dass sie nicht mehr auszulöschen ist. 

    Journalisten zufolge war das letzte Konzert von Mao und seiner Band im Jahr 2000, gemeinsam mit meiner Band Prawakazyja. Ich erinnerte mich an den Saal im Wohnheim der Pädagogischen Uni. „Der Chef ist hysterisch“, sang ich damals. Oder schrie ich. Ich kann schließlich nicht singen. 
    Aus der Hysterie ist Agonie geworden. Das Ende noch erleben. Die Abrechnung noch erleben. 

    Ich denke an Fedsja Shywaleuski
    Keine Politik? 
    Alles ist Politik. Die Lebenden gegen die Toten.
    Ein talentierter und lebensfroher Musiker ist die beste Zielscheibe. 

    Während ich an all das dachte, beendete ich mein Buch. 
    Für alle, die in Gefangenschaft sind. Für alle, die sich nicht ergeben haben. Für alle, die, wie ich, das Land verließen, sobald klar war, dass die Gefahr allzu nah herangekommen war.
    Für alle, die geblieben sind
    Für alle, die, wie ich, um sich selbst und die Nächsten fürchteten.
    Für alle, die die Angst überwanden, und sei es für eine Minute.
    Für alle, die hier sind. Für alle, die dort sind.
    Und für alle, die denken, dass die Zeit ihnen gnädig sein wird. „Richter“ und „Staatsanwälte“, die „Kulturarbeiter“ mit ihren Literaturspektakeln und -propagandisten. 
    Für die „Pisshosenpublizisten“ und die „Staatspreisträger“.

    Die Zeit ist Krieg. Sie ist Widerstand. Und ein Gerichtsprozess, der bereits im Gange ist.
    Wenn wir es nicht erleben, dann erleben es die, die nach uns kommen.
    Bücher sind keine Menschen, man kann sie nicht vergessen. Deshalb fürchtet ihr sie so sehr. Menschen sind keine Bücher, sie sind zerbrechlich. Deshalb wollt ihr sie so sehr vernichten. 
    Die Zeit aber vergeht.
    Und wir alle stecken mittendrin, in ihrem Mechanismus, dessen Rädchen sich drehen.

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  • „Ich wünsche Putins Russland aufrichtig eine Niederlage“

    „Ich wünsche Putins Russland aufrichtig eine Niederlage“

    Am Wochenende feierten die Einwohner Moskaus den 875. Geburtstag der russischen Hauptstadt. Es gab ein prächtiges Feuerwerk und Konzerte, wo die Menschen ausgelassen tanzten. Rund 900 Kilometer weiter südlich, in der Oblast Charkiw, erlitt die russische Armee zu diesem Zeitpunkt eine ihrer erschütterndsten Niederlagen im Angriffskrieg, den sie seit dem 24. Februar gegen die Ukraine führt. 

    Bis Sonntagabend, so vermeldete es der ukrainische Generalstab, habe man rund 3000 Quadratkilometer zurückerobert. Russische Soldaten flohen panikartig und ließen massenweise militärisches Gerät zurück. Viele Kommentatoren der westlichen Staatenwelt lobten die historische taktische Leistung der Ukraine, manche Medien sahen gar einen „Wendepunkt“ für diesen Krieg erreicht. Das russische Verteidigungsministerium sprach indes von einer „Umgruppierung“ und gab offiziell den Rückzug aus der Oblast Charkiw bekannt. Kreml-Propagandisten und Ultranationalisten schwankten in ihrer Reaktion zwischen offener Kritik an der russischen Führung und ihrer militärischen Strategie oder dem Herunterspielen der Ereignisse. Indes attackierte Ramsan Kadyrow den Kreml direkt. In einer Audioansprache, die er in seinem Telegram-Kanal veröffentlichte, sagte das Oberhaupt der Republik Tschetschenien: „Wenn nicht heute oder morgen Änderungen an der Durchführung der militärischen Spezialoperation vorgenommen werden, bin ich gezwungen, zur Staatsführung zu gehen, um ihr die Lage vor Ort zu erklären.“

    Am Sonntagabend reagierte der Kreml mit militärischen Mitteln auf die Erfolge der ukrainischen Armee. Es wurden Raketenangriffe auf Wärmekraftwerke und energietechnische Infrastruktur gemeldet. In vielen Gebieten der Ostukraine kam es zu flächendeckenden Stromausfällen. Ob der Druck auf Putin und die russische Staatsführung tatsächlich zunimmt, wird sich wohl in den kommenden Tagen zeigen. 

    In den russischsprachigen sozialen Medien wurden die Entwicklungen kontrovers diskutiert, mancherorts keimte gar Hoffnung auf, dass Putins System ins Wanken geraten könnte, gerade in der russischen Exilgemeinde. Auf Facebook verschafft Andrej Loschak in einem emotionalen Beitrag seiner Wut und Hoffnung Luft. In seinem vielfach geteilten Post erklärt der russische Journalist und Dokumentarfilmer, warum er Russland und der russischen Armee eine Niederlage geradezu wünscht.

    Ich denke viel darüber nach, dass ich meinem Land, meiner Armee eine Niederlage wünsche. Aber eine Niederlage ist nicht Putins Tod, er wird da fest in seinem Bunker hocken, eine Niederlage – das sind tote Soldaten, viele davon ganz junge Burschen, die aus keinem guten Leben heraus noch vor Beginn der Kampfhandlungen einen Vertrag unterschrieben haben. Um diese jungen Menschen tut es mir ehrlich leid. Nichtsdestoweniger wünsche ich Putins Russland aufrichtig eine Niederlage. Das klingt monströs, doch nicht ich habe diese Situation geschaffen, in der es wahrhaft patriotisch ist, dem eigenen Land eine Niederlage zu wünschen.

    Wisst ihr, wie es über gefährliche Verrückte heißt: selbst- und fremdgefährdend. Genau das kann man auch über Putins Russland sagen. Das aktuelle Regime ist das absolute Böse, das ist nicht meine persönliche Meinung, das ist seit dem 24. Februar weltweiter Konsens.

    Nicht ich habe diese Situation geschaffen, in der es wahrhaft patriotisch ist, dem eigenen Land eine Niederlage zu wünschen

    Das Land wurde gekapert von einer Gruppe gänzlich unmoralischer Menschen, die ihre miesen kannibalischen Werte nicht mehr nur Russland, sondern der ganzen Welt aufdrücken wollen. Die Putin-Elite bildet sich nach dem Prinzip der negativen Selektion: Karriere machen nur die, die es schaffen, sich beim „Chef” einzuschleimen (so nennt ihn Simonjan) – das heißt, die wirklich schlimmsten Menschen im Land, Arschkriecher, Mitläufer, mit denen derzeit der Staatsapparat auf allen Ebenen vollbesetzt ist. Freie, denkende Menschen, die etwas auf die Beine stellen, braucht dieses Land nicht. Der Streit mit Europa und die wahnsinnige Idee, die UdSSR wiederzuerrichten, hat ein vielfältiges imperiales Lumpenpack an die Oberfläche gespült, ein völlig cringes Publikum, das plötzlich zur kulturellen Elite Russlands wurde.

    Freie, denkende Menschen, die etwas auf die Beine stellen, braucht dieses Land nicht

    Auf das Leben der Menschen und die Entwicklung des Landes spucken sie. Sie haben nur Geopolitik im Kopf. Dass ein Drittel der Menschen in unserem Land keine Toilette im Haus hat, spielt keine Rolle – Hauptsache, man erbeutet so viel fremdes Land wie möglich und etabliert dort mittels blutiger Gewalt die eigene Ordnung (oder besser: Unordnung). Sie sind bereit, jeden dazugewonnenen Zentimeter Land mit Leichen zu pflastern – als hätte Russland zu wenig Land, als würden wir hier alle sterben vor Enge und fehlenden Bodenschätzen.

    Sie nennen das „Russki Mir“ – verflucht seien sie dafür, dass das Wort „russisch“ jetzt mit einer solchen Scheiße assoziiert wird, von der man sich noch lange wird reinwaschen müssen. Putins Russland vernichtet physisch das eigene Volk, das Volk der benachbarten Ukraine, es lässt Belarus keine Chance auf Entwicklung, es droht anderen Nachbarländern ständig mit Einmarsch; das Land ist international der Verbrecher Nr. 1, der die ganze Welt als Geisel nimmt und ihr mit Atomwaffen droht.
    Das ist wie eine Familie von Gopnik-Alkoholikern, die zu anständigen Leuten ins Haus ziehen und deren Leben zur Hölle machen. Ein solches Land zu unterstützen heißt, die Diktatur eines durchgeknallten Egomanen zu unterstützen, die totale Lüge, Korruption, Repressionen, den wirtschaftlichen Ruin und die Verelendung der Bevölkerung, die intellektuelle und kulturelle Degradierung, den Großmachts-Chauvinismus (der nichts gemeinsam hat mit Patriotismus, also der Liebe zur Heimat), die endlos steigenden Rüstungsausgaben, die Isolation und ständige Kriege.

    Putins Russland vernichtet physisch das eigene Volk, das Volk der benachbarten Ukraine, es lässt Belarus keine Chance auf Entwicklung

    Weil Putin, und mit ihm auch ein großer Teil der Bevölkerung, in einen abnormen Zustand gefallen ist, den Dimitri Bykow als „Sünde der Selbsttäuschung“ bezeichnete, ist die menschliche Zivilisation in ihrer Existenz bedroht. Ich denke, die genannten Gründe reichen aus, um Putins dunklem Mordor eine vernichtende Niederlage zu wünschen, die Russland als Teufelsaustreibung dienen könnte. 

    Eine vernichtende Niederlage, die Russland als Teufelsaustreibung dienen könnte

    Es muss uns jedoch klar sein, dass der Sieg des heldenhaften ukrainischen Volkes innerhalb Russlands nichts ändern wird, falls die Russen weiterhin in diesem schlafwandlerischen Zustand verharren. Wir können nicht immer andere die Drecksarbeit für uns machen lassen: Die Ukrainer setzen zwar ihr Leben aufs Spiel, um uns die Chance zu geben, Russland zu heilen, es zur Besinnung zu bringen – doch schaffen können wir das nur selbst. Der Sieg der Ukraine könnte, so seltsam das auch klingen mag, eine heilsame Wirkung auf Russland haben – so etwa wie damals in Schweden, das nach seiner Niederlage bei Poltawa seine imperialen Ambitionen aufgab und heute eines der fortschrittlichsten Länder der Welt ist (im Gegensatz zu Russland, das sich nach Poltawa endgültig in ein Imperium verwandelte). Wir hatten bereits in den frühen 1990er Jahren die Chance, ein normales Land zu werden, und wir haben es versaut. Es wäre furchtbar dumm, es ein zweites Mal zu versauen.

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  • Cancel Culture im Namen des „Z“

    Cancel Culture im Namen des „Z“

    Ich beteilige mich nicht am Krieg, so lautete der Titel des Theaterstücks, das am Moskauer Gogol Center am 29. Juni aufgeführt wurde. Dann fiel der Vorhang. Es war der letzte – für das Gogol Center selbst. Die Moskauer Stadtverwaltung tauschte den künstlerischen Leiter aus, gab dem Haus wieder seinen alten Namen Gogol Theater, wollte aber nicht von „Schließung“ sprechen.

    Zum experimentellen und schließlich international ausgezeichneten und renommierten Gogol Center war das Theater 2012 geworden, als Kirill Serebrennikow die Leitung übernahm. So viel künstlerische Freiheit jedoch währte nicht lange, 2017 wurde Serebrennikow verhaftet und unter Hausarrest gestellt. Im Juni 2020 wurde er wegen angeblicher Veruntreuung staatlicher Gelder schuldig gesprochen und zu einer dreijährigen Bewährungsstrafe verurteilt. 2022 hat Serebrennikow Russland verlassen. Im Mai eröffnete der Wettbewerb in Cannes mit seinem Film Tchaikovsky's Wife. Dabei sprach sich Serebrennikow nicht nur gegen den Krieg aus, sondern auch gegen ein Verbot russischer Kultur. Außerdem forderte er, den Oligarchen Roman Abramowitsch wieder von der EU-Sanktionsliste zu nehmen – was ihm heftige Kritik einbrachte.

    Um Konzertabsagen und „Verbote“ russischer Kultur im Ausland ist in Russland eine Diskussion entbrannt. Michail Piotrowski etwa, Direktor der Sankt Petersburger Eremitage, heizte diese kürzlich in einem Interview mit der staatlichen Rossijskaja Gaseta an – das die Zeitschrift Osteuropa ins Deutsche übersetzt hat: Darin bezeichnete er den „Angriff auf unsere Kultur“ als „Abziehbild von dem, was zu Sowjetzeiten bei uns los war“. 

    Solche Kritik greift Alexander Baunow auf, bis zum Angriffskrieg in der Ukraine Chefredakteur von Carnegie.ru, und fragt: Wer ist es tatsächlich, der heute die russische Kultur zerstört?

    Viele finden es seltsam, über die Schließung eines Theaters zu weinen, während woanders Theater zerbombt werden. Dennoch wissen wir alle, dass der Angriff auf das Gogol Center von denselben Leuten initiiert und unterstützt wird wie der Angriff auf Mariupol, wobei das Gogol Center schon früher angegriffen wurde. Der Fall Serebrennikow war offenbar nur die Probe für die folgenden Schließungen, Verbannungen, Bombardierungen und Angriffe.

    Wenn man sich anschaut, wie die russischen Politiker bei ihrer Suche nach Vorwürfen gegen Feinde und Kampfziele mit Schaum vor dem Mund zwischen Faschisten, der NATO, den Angelsachsen und Transpersonen wechseln, fällt auf, dass sie sich neuerdings für die Wörter Cancelling und Cancel Culture begeistern. Im Namen der Kultur, in der alles erlaubt ist, kämpfen sie nun für die Freiheit und gegen „die Verbotskultur“.

    Ein Ende ist nicht in Sicht

    Dieser Kampf begann schon Ende Februar mit der Schließung von Grisha Bruskins Einzelausstellung in der Tretjakowka, als man es weltweit noch gar nicht geschafft hatte, auch nur eine einzige russische Ausstellung abzusagen. Und an dem Tag, an dem das Gogol Center und noch drei weitere Theater geschlossen wurden, erreichte der Kampf seinen vermeintlichen Höhepunkt – vermeintlich, weil das Ende noch nicht in Sicht ist. Uns erwarten noch die Entfernung russischer und ausländischer Bücher aus den Buchhandlungen, die Änderung der Lehrpläne, Verbote von Konzerten, Filme, die im Giftschrank landen, Kunsträte und Samisdat. 

    Paul McCartneys Songtitel ‚Back in the USSR‘ war offenbar prophetisch

    Die karnevaleske Verbrennung von Sorokins Büchern durch die Jugendorganisation Naschi 2004 im Park beim Bolschoi Theater erwies sich im Nachhinein als genauso prophetisch wie Sorokins Bücher selbst. Insofern ist es nicht überraschend, dass wir in einem Land leben, in dem es kein Gogol Center geben kann. Wir leben in einem Land, in dem Grebenschtschikow und DDT wieder zu Musikern geworden sind, die man nur in Privatwohnungen hören, und in das Paul McCartney erneut nicht einreisen kann. Wäre die Verbreitung von Musik, wie damals, vom Plattenverkauf abhängig, würden diese Platten längst nicht mehr verkauft. Auch Paul McCartneys Songtitel Back in the USSR war offenbar prophetisch. Denn streng genommen wird die Sowjethaftigkeit nicht anhand der Flaggenfarbe bestimmt, sondern genau daran: Sind die Beatles und ein Gogol Center dort möglich? Die Antwort ist: negativ. 

    Dieses Moskau und dieses Land gibt es nicht mehr

    Das Gogol Center ist natürlich der Ort, an dem ich häufiger war als an jedem anderen Ort in Moskau in den letzten zehn Jahren, und es ist ein weiterer Beweis dafür, dass es dieses Moskau (und dieses Land) nicht mehr gibt. Menschen, die in Nostalgie nach der realen (oder meistens eher imaginären) Sowjetunion schwelgen, klagen gern, unsichtbare Feinde hätten ihnen ihr Land gestohlen, und sind blind dafür, dass sie selbst einigen Dutzend Millionen ziemlich konkreter Menschen das Land gestohlen haben. Vielleicht sogar der Mehrheit – hieß es doch, dass es vor dem Krieg nicht nur ein paar Exoten gut ging, sondern tatsächlich der Mehrheit. Aber jetzt heißt es plötzlich, ohne den Krieg sei es ihnen schlecht gegangen. Wobei sich ein paar gerade sehr darüber freuen, wie sie sich am unsichtbaren Feind rächen, indem sie ihren Mitbürgern geliebte Dinge wegnehmen.

    Unauflöslicher Widerspruch

    Die Zerstörung der russischen Kultur in Russland geschieht unter Wehklagen über die ach so schlimme Cancel Culture gegen alles Freie und Russische, und wird begleitet von eifrigen Gesprächen über Importsubstitution. Der unauflösliche Widerspruch liegt auf der Hand. Stellen Sie sich mal ein Konstruktionsbüro oder eine Fabrik vor, wo erfolgreiche, konkurrenzfähige Autos produziert werden, die bei internationalen Wettbewerben ausgezeichnet werden und auf dem inländischen und internationalen Markt gefragt sind. Genau so eine Fabrik war, wenn man so will, das Gogol Center, und so ein Industriezweig war das russische Theater. Seltsamerweise sind wir es gewohnt, herausragend im Ballett zu sein, dabei waren wir in den letzten Jahren im Theater nicht weniger erfolgreich. Und während man darüber spricht, dass die Russen vom internationalen Markt ausgeschlossen werden, nur weil sie Russen sind, macht man jetzt eben jene Fabrik dicht, die auf dem Markt ausgesprochen erfolgreich gewesen ist. Das ist es nämlich, was gerade mit dem Gogol Center und dem gesamten Theater geschieht – einem der wenigen Industriezweige, die auf internationalem Niveau konkurrenzfähig waren.

    Das unsichtbare Z um den Hals

    Und das geschieht nicht wegen der Qualität des Produkts, sondern wegen des stereotypen Denkens im Obkom (ein echter Kerl fährt einen Moskwitsch), und weil die Erzeuger und die Käufer dieses Produkts sich niemals ein unsichtbares oder ein sichtbares Z um den Hals hängen würden. 

    Aber das gilt auch für alle anderen Industriezweige: Es wird keinen technischen Fortschritt oder sonst irgendeinen Durchbruch in Russland geben, solange das wesentliche Kriterium nicht das Wissen oder die Kompetenz eines Menschen ist, und auch nicht, was er herstellt. Sondern nur, ob er willens ist, sich den letzten Buchstaben des lateinischen Alphabets umzuhängen. 

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  • Putins permanenter Ausnahmezustand

    Putins permanenter Ausnahmezustand

    Alle politischen Handlungen und Motive lassen sich auf die Unterscheidung von Freund und Feind zurückführen, so schrieb es 1927 Carl Schmitt. Zahlreiche russische Politikwissenschaftler meinen, dass man den deutschen Philosophen lesen müsse, um die russische Politik zu verstehen. Schon seit geraumer Zeit stellt die Staatspropaganda Russland als eine „belagerte Festung“ dar: Die ausländischen Feinde hätten auch im Inneren ihre „Agenten“, sie alle zusammen wollen Russland genauso in die Knie zwingen wie schon in den 1990er Jahren, so die Verschwörungserzählung.

    Für viele Wissenschaftler bildet diese Erzählung die zentrale Legitimitätsbasis des Systems Putin: Da das Realeinkommen schon seit 2014 sinkt und der sogenannte Krim-Konsens auch an seine Grenzen stößt, bleibe dem Regime nur noch das Feindschema übrig, um sich nach innen zu legitimieren. Um dies fortzuerhalten, müsse der Kreml das Land in einem dauerhaften Ausnahmezustand halten – ein anderer zentraler Begriff aus der politischen Theorie von Carl Schmitt.

    In einem kurzen Beitrag auf Facebook beschreibt der Journalist Maxim Trudoljubow die Funktionsweise dieses Ausnahmezustands – und warum er ein integraler Bestandteil des Systems Putin ist.
     

    Krieg ist für Putin die natürliche Form der politischen Existenz. Solange er an der Macht ist, wird der Krieg nicht aufhören. Der Krieg und sein Regime sind untrennbar miteinander verbunden.

    Er hat mit einem Krieg angefangen (damals in Tschetschenien), und er wird mit einem Krieg aufhören. Wann immer sich der von ihm geschaffene Ausnahmezustand und die Kriegserregung legten und das Leben verdächtig ruhig wurde, verlor er an Unterstützung und zettelte einen neuen Krieg an. Sobald seine Kriege weniger Blut und Leid forderten, setzte er zu einer neuen Runde an. Tschetschenien, Georgien, Ukraine, Syrien, Ukraine.

    Putins gesamte Macht gründet auf dem Ausnahmezustand

    In Friedenszeiten konnte er der Gesellschaft nichts geben. Nicht einen einzigen Tag hat er während seiner Regierungszeit den De-facto-Ausnahmezustand ausgesetzt, der für einzelne Bevölkerungsgruppen und Gebiete immer wieder in einen De-facto-Kriegszustand überging.

    Putin muss keinen Krieg erklären oder den Ausnahmezustand verhängen, denn seine gesamte Macht gründet auf dem Ausnahmezustand. Er hat jederzeit Zugang zu sämtlichen Instrumenten der Gewalt, zu sämtlichen administrativen und finanziellen Ressourcen. Er kann Kriege beginnen und Kriege stoppen. Er kann Heilung bringen (indem er während des Direkten Drahts über medizinische Hilfe entscheidet). Er kann aus dem Nichts Dinge erschaffen: ein Haus, eine Brücke, eine Straße dort, wo es vorher keine gab und wo es beim normalen Lauf der Dinge – das heißt, wenn die Gesetze befolgt würden – auch keine geben könnte.

    Paradoxerweise würde die Ausrufung des Kriegsrechts oder des Ausnahmezustandes in Russland dem Präsidenten nicht die Hände lösen (die sind sie ihm sowieso nicht gebunden) oder die Verantwortung von ihm nehmen (die liegt sowieso nicht bei ihm, sondern bei sterblichen Beamten), sondern ihm im Gegenteil mehr Verantwortung geben. Er müsste auf die Frage antworten: „Wie, ging es bei diesem ganzen Krieg also nur um Sewerodonezk?“ Er müsste verborgene Möglichkeiten demonstrieren und Ressourcen auffahren, die es nicht gibt. Dieser Krieg legt die geringe Größe und die begrenzten Möglichkeiten des russischen Staates bloß, der in normalen Zeiten größer wirken will, als er ist, indem er die Backen aufbläst. Aber das zuzugeben, käme für Putin dem Tode gleich.

    Mal begrenzte Operation, mal Weltkrieg

    Dieser unausgesprochene Putinsche Dauer-Ausnahmezustand hilft ihm zu manövrieren. Es wäre für ihn von Nachteil, das als Krieg zu betrachten, weil eine „Spezialoperation“ es ihm erlaubt, die Ziele laufend zu ändern – mal von einer „Entnazifizierung“ der ganzen Ukraine zu sprechen, dann wieder von der Rettung der Bevölkerung im Donbass. Doch wann immer es ihm nützt, gibt er zu verstehen, dass es doch ein Krieg ist, nämlich ein Krieg gegen den gesamten NATO-Block, wie seine Propagandisten stellvertretend für ihn sagen. Auf diesen Krieg kann man alles schieben, er ermöglicht Geheimhaltung, erlaubt es, Ausgaben zu verbergen, Diebstähle, Fehler und sogar die Zahl der Toten zu verschweigen, Vorwürfe wegen wirtschaftlicher Probleme abzuwehren – „das ist alles der Feind!“. Deshalb ist es mal eine begrenzte Operation, mal ein Weltkrieg. Je nach medialer Situation.

    Putin wird nicht aufhören, weil er ohne den Krieg die Macht nicht halten kann

    Er wird nicht aufhören, weil er ohne den Krieg die Macht nicht halten kann. Sobald dieser Krieg vorbei ist – auf die eine oder andere Weise –, geht auch Putin zugrunde. Möge mit ihm nur auch der permanente Krieg zugrunde gehen.

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  • Was können wir denn dafür?

    Was können wir denn dafür?

    Ist das wirklich nur Putins Krieg? Inwiefern tragen auch gewöhnliche Bürgerinnen und Bürger Russlands eine Mitschuld – solche, die mit der Politik im Land in der Regel gar nichts zu tun haben wollen? Mariupol, Butscha, Kramatorsk: Zeugnisse von Tod und Zerstörung, von immer neuen Gräueltaten in der Ukraine werfen diese Fragen stets aufs Neue auf.

    Anton Dolin fühlt sich derzeit an Ereignisse aus der Zeit der Jahrtausendwende erinnert, als aus dem jungen Premierminister Wladimir Putin plötzlich der neue Präsident des Landes wurde. Nach den wilden 1990er Jahren trat Putin als Garant für Stabilität auf. Der unausgesprochene Gesellschaftsvertrag lautete: Der Kreml sorgt für wirtschaftliche Prosperität, dafür mischen sich die anderen gesellschaftlichen Akteure nicht in die Politik ein. In einem vielbeachteten Kommentar auf Facebook schreibt der Journalist und Filmkritiker jedoch: Das Ungeheuerliche gab es bei Putin schon von Anfang an. Die kollektive Schuld, so Dolin, liegt darin, dass es toleriert wurde.

     

    Wo beginnt Putin? 
    Dort, wo er sein Ende gefunden hat. Genauer gesagt dort, wo er heute angekommen ist und uns alle hingeführt hat.

    Ich will vorausschicken: Ja, ich bin Filmkritiker und kein Politikanalyst. Doch es hat sich ergeben, dass ich von 1997 bis 2002 Korrespondent des Informationsdienstes von Echo Moskwy war. Im Pressepool von Putin – damals noch Premierminister und [nach Jelzins Rücktritt am 31. Dezember 1999 – dek] kommissarischer Präsident – reiste ich mit ihm durchs Land. Arbeitete nach der Explosion des Wohnhauses auf der Kaschirskoje Chaussee in den Trümmern. Berichtete über Parlaments- und Präsidentschaftswahlen und erhielt sogar von der Zentralen Wahlkommission eine Urkunde für tüchtige Arbeit.  
    Was dann kam, sollte, wie mir scheint, allgemein bekannt sein. Doch aus irgendeinem Grund ist es nicht für alle offensichtlich, selbst jetzt nicht.

    Putins Macht und seine Politik stehen auf vier Fundamenten, die in den ersten beiden Jahren seines Aufstiegs gelegt wurden.

    1. Operation „Nachfolger“

    Wer durch eine „Spezialoperation“ Präsident wurde, wer nicht gewählt, sondern durch eine Verschwörung der Eliten eingesetzt wurde, der kann nicht an demokratische Wahlen glauben. Das und nur das ist der Grund für die Fälschungen und die Verachtung der Wähler seit über 20 Jahren.  

    2. Die Explosionen der Wohnhäuser 1999

    Wie gesagt, ich war dort. Natürlich sind Zeugen und Experten nicht dasselbe. Es fehlt mir an Informationen, um mit Sicherheit den FSB für diese Übeltat (Explosionen von Wohnhäusern in mehreren Städten mit über 300 Toten und etwa 2000 Verletzten) verantwortlich zu machen und nicht die tschetschenisch-arabischen Söldner unter der Führung von Emir Ibn al-Chattab. Doch die Geschichte mit dem Rjasaner Zucker („FSB-Übungen“, bei denen Agenten Säcke mit Hexogen in den Hausflur schleppten) konnte bis heute niemand überzeugend erklären. Naja, und an das Schicksal des Experten in dieser Angelegenheit – Alexander Litwinenko – können sich vermutlich alle erinnern.

    Aber versuchen wir mal uns nicht auf das „Wer ist schuld?” zu konzentrieren, sondern auf das „Wer hat davon profitiert?” Die Terroristen haben nichts gewonnen; es gab von ihnen keine Androhungen, sie haben keine Verantwortung übernommen und keinerlei Forderungen gestellt. Putin und der FSB jedoch hatten in der Folge verängstigte, geeinte Wähler, ein überzeugendes Motiv für den Zweiten Tschetschenienkrieg, sprunghaft in die Höhe geschnellte Umfragewerte für den Silowik-Premierminister [Putin – dek] und einen diskreditierten Moskauer Bürgermeister Lushkow, der als Hauptkonkurrent bei der bevorstehenden Präsidentschaftswahl galt. 
    Warum hielten über all die Jahre eigentlich viele klar denkende Menschen die Version „der FSB sprengt Wohnhäuser“ für verschwörungstheoretischen Quatsch? Etwa, weil derartige Übeltaten nicht ins Bild der korrupten Bürokraten-Gauner-Diebe passen? Genauso haben sie auch nicht geglaubt, dass Putin die Ukraine angreift. „So einer ist Putin nicht.“ Nun ja. 
    (Ich erwarte mit Schrecken „ukrainische Terroranschläge“ in Russland. Von unseren Leuten.)

    3. Der Zweite Tschetschenienkrieg

    Den Emotionen der Massen, ihrem Schrecken und ihrer Rachsucht ein Ventil geben, den gordischen Knoten des unlösbaren Konflikts zerschlagen, na und einfach einen „kleinen siegreichen“ organisieren. Nach offiziellen Angaben gab es 1000 zivile Opfer – nach denen von Amnesty International 25.000. 

    Vieles ist wiederzuerkennen: Die Bombardierungen des dicht besiedelten Grosny, das praktisch dem Erdboden gleichgemacht wurde. Die Geheimhaltung der Verlustzahlen. Die strenge Kontrolle der Berichterstattung über den Konflikt in allen Medien. Das Verbot, Tschetschenen in der Presse zu Wort kommen zu lassen. Die Entmenschlichung des Feindes: Es gab keine Menschen, sondern ausschließlich „Kämpfer“, sie wurden nicht getötet, sondern „liquidiert”. Es war kein Krieg, sondern eine „antiterroristische Operation“. Und natürlich das von den Russen geliebte „im Klo abmurksen“.

    Ich erinnere mich gut an einen Streit mit einem ehemaligen Schulkameraden und Journalistenkollegen über diesen Krieg. „Es wurden dort tausende Menschen umgebracht!“, sagte ich. „Nicht Menschen, sondern Banditen-Gesindel“, parierte er kategorisch. Ich war erschüttert und erzählte ein paar Monate später auf dem Geburtstag eines Freundes einem anderen Kumpel (der heute erfolgreicher Kommunist und Anti-Putinist ist) von diesem Dialog. Der wiederum verwandelte meine Geschichte in eine Kolumne just über meine „Demokraten-Schizophrenie“. Jetzt erinnere ich mich, dass ich dort milde als „der gute Mensch aus einem schlechten Radiosender“ bezeichnet wurde. 
    Überhaupt etablierte und verbreitete sich der Ausdruck „Demokraten-Schizo“ genau in dieser Zeit. So nannte man die, die in den Tschetschenen Menschen sahen. 

    4. Die Zerschlagung von NTW

    Die Zerstörung des unabhängigen Fernsehsenders, der fähig war, Gegenkandidaten zur amtierenden Regierung wirksam zu unterstützen – das war der wichtigste Schritt des frühen Putins. Damals zeigte sich auch, dass sich Putin nicht im Geringsten von Demonstrationen und Protesten beeindrucken lässt. Plus seine Erklärung der Politik durch Wirtschaft: „ein Streit unter Wirtschaftssubjekten“ und basta. Damals begann der Weg, der im März 2022 mit der vollständigen Vernichtung aller Medien endete, die auch nur ein Deut an Unabhängigkeit besaßen.  

    All das gab es von Anfang an

    Nichts Neues. Kein bisschen. 
    Verachtung der Demokratie;
    Erbarmungslosigkeit gegenüber dem eigenen Volk;
    Entmenschlichung und Dämonisierung eines anderen Volkes;
    Hass auf die Meinungsfreiheit.
    Erstens, zweitens, drittens, viertens.
    All das gab es von Anfang an, als derart viele in Putin den vielversprechenden Jungpolitiker sehen wollten.

    Ich erinnere mich haargenau an einen Parteitag der Union der Rechten Kräfte im Vorfeld der Wahl (auch da bin ich gewesen), wo viele einflussreiche Liberale – die Mehrheit, wie es damals schien – dazu aufriefen, Putin zu unterstützen. Laut gegen ihn äußerte sich nur einer: der Menschenrechtler Sergej Kowaljow. Jaja, ein „Demokraten-Schizo“. 

    Über Putins Evolution zu diskutieren hat keinen Sinn. Wichtig ist eine andere Frage: Warum hat die Gesellschaft (nicht nur die russische) mit all dem seinen Frieden gemacht und das als normal empfunden, was heute die ganze Welt in Grauen versetzt? 

    Hier ist eine mögliche Antwort auf die für viele Russen so quälende Frage: „Was können wir denn bitteschön dafür?“ Unsere Schuld liegt darin, dass vielen von uns aus diversen Gründen vor 20 Jahren zulässig schien, was heute ungeheuerlich scheint.
    (Und es scheint nicht nur so: Es ist ungeheuerlich.)

    Ich persönlich fühle mich schuldig dafür, dass ich 2001, nachdem ich all das gesehen hatte, nur abwinkte und entschied, Filmkritiker zu werden. Womöglich war das falsch.

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  • Das Massaker von Butscha

    Das Massaker von Butscha

    Straßen voller Leichen, Folterspuren, gefesselte Hände, Schüsse in den Hinterkopf – die Bilder aus der ukrainischen Stadt Butscha lösen weltweit Entsetzen aus: Wie kann so etwas überhaupt sein, im 21. Jahrhundert? 

    Mit der Rückeroberung der Stadt bei Kyjiw bot sich den ukrainischen Soldaten ein Bild des Schreckens: Es gibt erdrückende Hinweise, dass die russische Armee ein grausames Massaker an der Zivilbevölkerung verübt hat. Zahlreiche ukrainische Politiker sprechen von Völkermord, auch einzelne Politiker im Westen sehen dafür handfeste Anzeichen.

    Russland weist jede Verantwortung für das Massaker von sich: Die Bilder, so heißt es aus dem Verteidigungsministerium, seien eine weitere „ukrainische Provokation“. Für viele unabhängige Stimmen aus Russland fügt sich das Blutbad jedoch ins große Bild: Folter, Vergewaltigungen, Morde – all das sei etwa in russischen Gefängnissen schon seit geraumer Zeit alltäglich. Insgesamt, so der Politologe Sergej Medwedew, sei die Kultur der Gewalt und Straflosigkeit eine gesellschaftliche Norm in Russland. Auch für den Soziologen Grigori Judin sind die Gräueltaten in Butscha mehr als Kriegsexzesse. Das erklärt er in einem Twitter-Thread, den dekoder ins Deutsche übersetzt hat.

    Leider bin ich von den Gräueltaten im besetzten Butscha nicht überrascht. Die Menschen unterschätzen das Narrativ, das in Russland aufgebaut worden ist, um den Krieg zu rechtfertigen. Für die meisten Beobachter klingt das so jenseitig, dass sie es allzu leicht abtun. Aber es funktioniert.

    Das Narrativ, das Putin von den ersten Kriegstagen an angelegt hat, dreht sich um die „Entnazifizierung” der Ukraine. Der Nazismus gilt in Russland (wie überall anderswo) als das absolut Böse. Es gilt jedoch als Böses von außen – Russland ist per Definition frei vom Nazismus (wir haben ihn besiegt!).

    Daraus folgt, dass der Nazismus ein externer Feind ist, den es um jeden Preis zu besiegen gilt. Die anfängliche Sichtweise war, dass Nazis in der Ukraine die Macht ergriffen haben, während die Durchschnittsukrainer einfach Russen sind – bloß mit dummen Ideen bezüglich ihrer Identität und einer albernen Sprache.

    Das hieß, dass diese Entnazifizierung durch einen Regimewechsel zu bewerkstelligen wäre und die Ukrainer befreit werden müssten. Offensichtlich ist dieses Konzept gescheitert, als die Ukrainer begannen, mutig Widerstand zu leisten. Eine ganz natürliche Schlussfolgerung ist, dass die Ukrainer offenbar schwer vom Nazismus infiziert sind.

    Also heißt Befreiung Säuberung. Dazu habe ich mich ausführlicher geäußert.

    Und genau in dieser Art haben sich die Äußerungen offizieller Redner in letzter Zeit geändert. So sagt Margarita Simonjan zum Beispiel: Wir haben unterschätzt, wie tief der Nazismus die ukrainische Gesellschaft durchdrungen hat. Nun bedeutet Befreiung Säuberung.

    Das wirkt sich auf die Handlungsweisen der Bodentruppen aus. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein russischer Soldat, der eine ukrainische Stadt besetzt (ich weiß, das ist ein unangenehmes Gedankenexperiment). Welche Einteilungen und Unterscheidungen würden Sie im Umgang mit der lokalen Bevölkerung vornehmen?

    Ihre Grundannahme ist, dass dieses Land von Nazis besetzt ist und dass Sie hier sind, um es zu befreien. Natürlich leisten die Nazis Widerstand; die, die Widerstand leisten, sind Nazis. Ihre primäre Aufgabe ist es, die Nazis von den armen Ukrainern zu separieren und die Stadt vom Nazismus zu säubern.

    Deswegen sehen wir in der Nähe von Mariupol schon Filtrationslager im Einsatz. Der Filtrationsprozess wird laut Berichten an vielen Orten innerhalb Russlands vollzogen. Das wiederum bedeutet, dass das ganze Konzept der Filtration vorgeplant war. Noch einmal: Das Narrativ der Reinheit ist an dieser Stelle zentral.

    Und deswegen habe ich ernsthafte Zweifel, dass diese Gräueltaten einfach nur Kriegsexzesse sind. Jeder Krieg befördert das Schlimmste im Menschen zu Tage, speziell wenn die Befehlshaber skrupellose Übeltäter sind. Die systematischen und konsequenten Handlungen sind jedoch mehr der Art und Weise geschuldet, wie der Krieg gerechtfertigt wird, als dass sie auf Affekte wie Rache zurückzuführen sind.

    Wenn Sie den Eindruck haben, diese Reinheitslogik erinnere Sie an Nazi-Gedankengut, dann ist da meiner Meinung nach viel Wahres dran. Ich werde wahrscheinlich einen weiteren Thread dazu schreiben, warum Russland wahrscheinlich nicht immun ist gegen Nazismus.

    Ich fürchte, das Schlimmste steht noch bevor. Ich hoffe, ich irre mich.

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