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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Disneyland für Patrioten

    Disneyland für Patrioten

    Gerade ist wieder ein Zeppelin mit neuen Gästen aus Moskau gelandet, der Panorama-Panzerzug mit Boden-Luft-Rakete schaukelt Besucher durch den Park, während der Reichstags-Nachbau erstürmt wird oder auf der maßstabsgetreuen Kopie des Roten Platzes eine Übung für die Militärparade am 9. Mai stattfindet – so könnte es demnächst aussehen im Freizeitpark Patriot, den das russische Verteidigungsministerium derzeit vor den Toren Moskaus errichten lässt. Was man auf dem über 5000 Hektar großen Gelände (25 Mal der Berliner Tiergarten) als Besucher bereits geboten bekommt, berichtet Dimitri Okrest auf Snob:

    „Wir müssen unsere Zukunft auf ein stabiles Fundament stellen. Ein solches Fundament ist der Patriotismus. Selbst wenn wir noch so lange darüber debattieren würden, was für ein Fundament, welche feste moralische Basis unser Land haben könnte, wir würden auf nichts Anderes kommen“, erklärte im September 2012 auf einem Empfang für die Jugend in Krasnodar Wladimir Putin. 

    Jetzt zieren die Worte des Präsidenten ein Werbeplakat an der Autobahn M1, das für den Park Patriot wirbt. Der Park ist zwar erst zu 10 Prozent fertig, empfängt aber schon Besucher. Das Getöse hier flaut nie ab, und jetzt ist auch noch der Lärm der Bagger dazugekommen. Die Fläche des Parks beträgt 5500 Hektar, 100.000 Quadratmeter davon sind mit Ausstellungspavillons bebaut. Der Park soll 20.000 Patrioten täglich begrüßen können – ihnen zuliebe wurde der angrenzende Wald für 6000 Autoparkplätze niedergewalzt. Vorläufig kommen jedoch in halbleeren Marschrutkas meist zentralasiatische Bauarbeiter.

    „Ich war früher Lehrer, er war Musiker und der da Arzt. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion arbeiten wir aber alle mehr mit Schaufel und Beton M-300“, erzählt Abdugan, der seit Anfang des Jahres am Park mitbaut.

    Abdugan muss das Projekt zusammen mit seinen Landsleuten bis 2020 vollenden, Verstärkung ist vorhanden: In den Wäldern der Umgebung sind 650 Einheiten von Militärgerät und zwei Baubrigaden stationiert. Die Baustelle, so die Bewohner der umliegenden Dörfer, ist auch nachts in Betrieb. Im Frühling hat Abdugan das „Partisanendorf“ fertiggestellt. Das ist die bisher einzige fertiggestellte Attraktion – bis zu diesem Zielpunkt rumpelt die Marschrutka durch Morast und Bauschutt.

    In der Partisanenhütte hängt ein Foto Stalins an der Wand – Fotos © Dimitri Okrest
    In der Partisanenhütte hängt ein Foto Stalins an der Wand – Fotos © Dimitri Okrest

    Ein Security in schwarzer Uniform rückt sein Barett zurecht. Pünktlich um 10:00 Uhr öffnet er das Tor zum Park. Dann steht er wie erstarrt an der Metalldetektorschleuse und wartet auf Besucher. Gegen 10:00 Uhr fegen die einen Usbekinnen alles zum x-ten Mal durch, während die anderen ihre Plätze an der Kasse einnehmen. Es gibt noch gar keine offiziellen Eintrittskarten in den Park, doch einzelne Gäste schauen schon mal vorbei.

    Partisanen-Darsteller in Rotarmisten-Uniform

    Das Vergnügungs-Partisanendorf soll den Alltag der Untergrundkämpfer zeigen und dem Betrachter das Gefühl geben, dabei zu sein. Die Partisanen hier versuchen, die historische Wahrheit treu nachzustellen – in den Erdhütten liegen Wattejacken, die Bücher sind auf die 30er Jahre datiert. Entlang der makellosen Blockhütten aus noch nicht nachgedunkeltem Holz spazieren Widerstandskämpfer in Rotarmisten-Uniform herum. Auf dem Kopf ein Schiffchen und an den Füßen ungeachtet der brütenden Hitze hohe Stiefel. Ist ja schnurzpieps, dass die Partisanen von Brjansk damals eher wie Bauern und nicht wie Kämpfer der Roten Armee aussahen.

    Hier gibt es einen Keller mit Gurkengläsern und gekeimten Kartoffeln, eine Rote Ecke mit einer Lenin-Büste, einen Stall für sechs Kaninchen, eine Banja und ein Gasthaus. Irgendwo im Abseits finden sich Eisenbahnschienen, an denen Schülern einer Diversantenschule gezeigt bekommen, wie man dort Dynamit befestigt, um deutsche faschistische Okkupanten in die Luft zu jagen.

    „Was ist denn das für ein Keller?“, fragt ein kleines Mädchen, auf Papas Schoß in einer Erdhöhle sitzend.

    „Hier lebten die Onkel und Tanten Partisanen. Damals war ein grooooßer Krieg. Es gab keine Freundschaften, alle haben gekämpft.“

    „Und wer ist das auf dem Foto?“ Die Kleine zeigt auf das Portrait Josef Stalins, das in jedem Bunker hängt.

    „Das ist ein Foto von Stalin, der aaaalle anführte.“

    „Und wo ist dann das Foto von Putin?“

    Armee-Merchandise und Grütze mit Dosenfleisch

    Zwischen Dynamit-Attrappen, Landkarten und Aluminiumgeschirr leuchtet ein LCD-Fernseher, die Stimme aus dem Off erzählt: „Während die Partisanen von Putywl bis in die Karpaten vordrangen, änderten sie die Taktik. Sie verübten nicht mehr nur Anschläge und Sabotageakte, sondern hatten nun genügend Schlagkraft, um die faschistischen Truppen in deren Hinterland zu treffen. Sie befreiten Dörfer und sogar Städte, in denen sie die bittere Wahrheit über die Brutalität der Besatzer zu hören bekamen.“

    „Die Magnet-Buttons mit der Topol-M kosten 300 Rubel [4 Euro], die T-Shirts mit dem Partisanen-Opa 1000 Rubel [13,70 Euro]“, sagt die Verkäuferin in ihrer grünen Uniform müde. Zu Mittag ist die Hitze sogar im Wald unerträglich.  

    Schülern einer Diversantenschule wird gezeigt, wie man mit Dynamit die deutschen Okkupanten stoppt
    Schülern einer Diversantenschule wird gezeigt, wie man mit Dynamit die deutschen Okkupanten stoppt

    Die Verkäuferin hängt gelangweilt am Ausgang des runden Shops herum, der wie eine Hobbithöhle aussieht, niemand steht nach den Spielzeugsoldaten Schlange. Bei großen Veranstaltungen wurden hier schon massenweise Putin-T-Shirts und Schokokonfekt der Sorte Höfliche Bärchen verkauft, doch heute gibt es die nicht. Seufzend erhebt sich die Verkäuferin bei jedem, der hereinkommt, von ihrer Bank, wartet, bis er wieder geht, und kehrt dann zu ihrem Buch zurück. Über dem Dorf ertönt das Lied des Fahrers an der Front:

    Keine Bombe kann uns schrecken,
    Zum Sterben ist’s zu früh –
    Wir haben zuhaus noch was vor.

    Der hier herumsitzende Partisan lässt sein Smartphone in der Jackentasche verschwinden und drückt die soundsovielte Zigarette aus. Gott sei Dank muss er sich nicht der historischen Authentizität zuliebe Papirossy aus Bauerntabak drehen. Da er als Partisan die ungeschriebenen Gesetze des Parks befolgen und genau wie ein Kellner immer beschäftigt wirken muss, verkrümelt er sich in die Küche – die Glut schüren. Aus der Soldatenkantine, in der eine große Familie mit stämmigen Kindern Platz genommen hat, ist soeben die Bestellung eingegangen:

    „Fünf Mal Würstchen. Schön saftige! Und die Soldaten-Grütze, was ist das? Buchweizengrütze mit Dosenfleisch? Na, dann auch fünf Mal. Wo steht denn der Samogon? Kriegt man hier hundert Gramm, wie an der Front?“

    Der Partisan eilt zum Kohlegrill, das Fleisch braten, und jetzt stellt er plötzlich nicht mehr die Zeit des Zweiten Weltkriegs nach, sondern die 1990er, in denen rechtlose „Geister“ auf die Datschen der Generäle geschickt wurden, um dort private Dienste zu verrichten.

    „Die Gestaltung beruht durchgehend auf dem maximalen Einsatz patriotischer Symbolik“

    Am Rand des Kiefernwaldes donnern Salven: Besucher vergnügen sich beim Schießen mit entschärften Gewehren. Ihnen stehen zur Verfügung: ein Dragunow-Gewehr, Kalaschnikows AK-47 und AK-103, eine Mossinka und eine Witjas Maschinenpistole PP-19-01. Strahlend lächeln Mädchen mit umgehängten Maschinengewehren in die Kameras.

    Der Schießanleiter Nikolai sieht begeistert in die Zukunft und verspricht, dass die langersehnten Parkbesucher bald mit einem Zeppelin aus Chimki hertransportiert werden. Für die Mobilität vor Ort werden Segways und eine Panoramabahn auf Schienen sorgen. Während man im Disneyland von Paris in einer Eisenbahn im Stil des 19. Jahrhunderts durch die Landschaft zieht, lädt man die Gäste des patriotischen Lunaparks zur Fahrt in einem Panzerzug mit Boden-Luft-Rakete in einem der Waggons ein.  

    Im Torpedoanhänger werden Snickers in russischer Armeequalität verkauft
    Im Torpedoanhänger werden Snickers in russischer Armeequalität verkauft

    Im Januar 2015 stand hier noch ein Wald: Die Frösche quakten im Sumpf, im nahen Waldort Sjukowo sammelte man Morcheln. Jetzt ziehen Bauarbeiter eine „Stadt der Militärberufe“ in die Höhe. Im Luftfahrtsektor wird es Flugsimulatoren geben, im Sektor der Kriegsmarine echte Schiffe, bei den Luftlandetruppen ein Übungsfeld für Soldaten und Besucher. Geplant sind auch Sektoren für den Generalstab, die Bodentruppen, Raketentruppen und die Weltraumverteidigung.

    „Dieser Sektor soll der heranwachsenden Generation Patriotismus beibringen, mit einem Thema, das Kinder fasziniert: der Weltraum. Die Gestaltung beruht durchgehend auf dem maximalen Einsatz patriotischer Symbolik. Aufgabe aller Sektoren ist es, künftige Vertragssoldaten und Wehrpflichtige anzuziehen. Im Zentrum des Parks befinden sich die Alexander-Newski-Kirche und die Allee der Helden aller Kriege, die der russischen Armee Ruhm gebracht haben“, heißt es in einem Werbefilm auf Youtube. Ob da auch Teilnehmer an den Kampfeinsätzen in Afghanistan, Tschetschenien, Georgien und Syrien geehrt werden, bleibt unerwähnt. Nebenan wird es ein 3D-Kino geben, wo man die Brester Festung verteidigen oder Sturm auf Berlin nehmen kann.

    Eine Kopie von Kreml und rotem Platz für Militärparaden

    Das Militär wird einen eigenen Kreml mit Mausoleum und Lobnoje Mesto haben – sie wollen im Maßstab 1 : 1 den Roten Platz mitsamt dem Historischen Museum, der Basilius-Kathedrale und dem GUM nachbauen. Die Idee ist, dass dieses gigantische Modell während der Proben für die Parade zum Tag des Sieges am 9. Mai die Hauptstadt entlasten soll. Im Winter soll es hier eine Eisbahn geben, auf der dann Eishockey-Turniere stattfinden, wie sie – seiner aktiven Teilnahme an der Nachthockeyliga nach zu schließen – der Oberste Befehlshaber gern hat.

    Alles passiert unter Zeitdruck: Das Kongresszentrum Patriot-Expo, wo moderne Technik ausgestellt ist und neue Gebäude aus dem Boden wachsen, erinnert an Sotschi vor den Olympischen Spielen. Letzten Sommer fand hier die dreitägige Messe Armee – 2015 statt, auf der 300 Kriegstechnik-Exponate von 1500 einheimischen Herstellern präsentiert wurden. Laut Wjatscheslaw Presnuchin, dem Chef der Abteilung für Wissenschaft und Forschung im Verteidigungsministerium, besteht das wichtigste Ziel darin, Hersteller und Anwender militärischer Produkte an einem Ort zusammenzubringen. Das scheint die ehrlichste Beschreibung der Idee hinter diesem Park zu sein.

    Das Maschinengewehr des Schützenpanzers BTR-60 weist in Richtung Westen
    Das Maschinengewehr des Schützenpanzers BTR-60 weist in Richtung Westen

    Über die gesamte Wand des Kongresszentrums erstreckt sich ein Bildschirm – darauf ein Countdown der Tage bis zu den nächsten Konferenzen. Dann leuchten die Gesichter Putins, Medwedews und Schoigus auf – doch weil der Bildschirm defekte Stellen hat, kann man die oberste Führung nicht sofort erkennen. Die VIP-Gesichter werden von muskelbepackten Kerlen abgelöst, die mit Waffen aller Art schießen, mit Fallschirmen aus Hubschraubern springen und Extremisten liquidieren. Auf dem Dach des Gebäudes funkelt rubinrot ein Stern.  

    Die sich träge fortbewegenden Besucher werden von noch trägeren Wachleuten beobachtet. Die dürfen weder lesen noch rauchen noch Sonnenblumenkerne knabbern. Doch was macht man, wenn man die nächsten acht Stunden absolut nichts zu tun hat? Schatten ist hier auch keiner, also schmoren sie in der Sonne und kaufen sich einer nach dem anderen ein Eis. Und fragen einander per Funk:

    Eskimo am Stiel oder ein Hörnchen?“

    Eis wird von einer Usbekin in einem grünen, torpedoförmigen Anhänger der     Militärhandelsorganisation mit der Aufschrift „Armeequalität“ verkauft. Jeden Tag beginnt sie damit, Snickers, Twix und Mineralwasser der Marke Armee auszulegen. Dann bereitet sie gemächlich Hotdogs (150 Rubel [2 Euro]) und Pommes (50 Rubel [70 Cent]) zu.

    „Möchten Sie nicht vielleicht eine Einmannpackung Militärverpflegung? Nur 700 Rubel [9,60 Euro]! Ganz echt – mit Dosenfleisch, Dosengemüse, Knäckebrot, Fruchtgelee und Schokocreme. Außerdem Streichhölzer, die sogar unter Wasser brennen“, preist die Verkäuferin ihre Ware an. Fotos genau solcher Packungen, die bei Donezk weggeworfen worden waren, haben ukrainische User in sozialen Netzwerken verbreitet. Sie waren für sie ein Beweis, dass die Armee des Nachbarlandes am Konflikt mitmischt.   

    Die Läufe aller Waffen weisen Richtung Westen

    Gleich in der Nähe stehen das Raketensystem Topol [dt. Pappel], eine Panzerfähre auf Ketten und ein Brückenlegefahrzeug. Von der Größe her erinnern sie an kämpfende Ents, die wandelnden Bäume aus Herr der Ringe. Angesichts solcher Riesen wirken die Menschen auf dem Platz wie Zwerge. Neben den Giganten steht das Flugabwehrraketensystem Buk [dt. Buche] – für den Kampf gegen bewegliche aerodynamische Ziele auf geringer und mittlerer Höhe, wie es auf dem Schild heißt. Wahrscheinlich das einzige Modell dieses Flugabwehrraketensystems, das Laien je zu Gesicht bekommen. Das Selbstfahrgeschütz in der Größe eines Lastwagens erlangte im Sommer 2014 Berühmtheit, als eine malaysische Boeing 777 in der Ostukraine vom Himmel fiel.

    Über dem leeren Platz, auf dem Panzer, Schützenpanzer, Kampfjets und anderes Kriegsgerät aufgereiht sind, erschallt eine Melodie, die wir aus Filmen über den Großen Vaterländischen Krieg kennen:

    Die Hütte von Feinden verbrannt  
    Die ganze Familie vernichtet.
    Wohin soll jetzt der Soldat,
    Wem seine Trauer klagen?

    Bis auf die Gedenk-Tracklist und die Georgsbändchen an den Zäunen fehlt das, was man patriotische Symbolik nennt, fast vollständig. Im Patriotenpark ist vorerst alles einfach, wie beim Militär: Das hier ist ein Panzer, der kann schießen und schwimmen. Vor jedem Modell sind akribisch genau seine technischen Daten angeführt – Maße, Geschwindigkeit, Kraftstoffreserve, Standardmunition. Wie viele Menschen damit auf einen Schlag getötet werden können, ist nicht angegeben.    

    „Hey, das sieht echt super aus, wow. Stell dich dazu und leg die Arme um sie“, sagt ein Typ zu seiner Freundin, das Handy knipsbereit. Parallel dazu streicht ein Hobbyfotograf über einen Schützenpanzer BTR-60 mit Frontpanzerung und Strahlenschutz.

    Das Maschinengewehr des BTR weist, wie alle Läufe im Vergnügungspark Patriot, Richtung Westen.

     
    Werbefilm für den Militärpatriotischen Park „Patriot

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  • Die verlorenen Siege

    Die verlorenen Siege

    Olympische Spiele in Rio mit oder ohne Russland – darüber entscheidet das Internationale Olympische Komitee (IOC) noch in diesen Tagen. Erst am Montag hatte die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) eine ausführliche Untersuchung über die russischen Doping-Verstöße vorgelegt. Chefermittler McLaren weist darin unter anderem nach, dass bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi 2014 auf staatliche Anordnung hin manipuliert wurde. Russland hatte damals den Medaillenspiegel angeführt.

    Bereits Ende Juni waren die russischen Leichtathleten wegen Dopings für Rio gesperrt worden. Das IOC hatte die Sperre zunächst für nachweislich saubere Sportler gelockert. Schon damals gab es kritische Stimmen, die Vorwürfe gegen die russischen Sportler seien politisch motiviert, Russland würde stärker bestraft als andere Länder, wie etwa China (dekoder bildete die Debatte darüber ab).

    Präsident Wladimir Putin jedoch kündigte noch am Montag die Kooperation Russlands an. Er hat inzwischen zahlreiche Verantwortliche, die im McLaren-Report namentlich genannt sind, entlassen. Sportminister Mutko ist allerdings weiterhin im Amt.

    Viele Stimmen in Russland sehen die Schuld bei Funktionären und ehrliche Sportler als die eigentlich Leidtragenden des Skandals.

    Sport und Medaillen sind oft eng mit dem Selbstverständnis des Staates und dem Selbstbild der Gesellschaft verknüpft: Deswegen betrachtet der Schriftsteller Dmitry Glukhovsky in seinem vielbeachteten Artikel auf dem unabhängigen Portal snob.ru zwar ebenfalls die Funktionäre als die Hauptschuldigen – möchte aber auch weder Fans noch Sportler so leicht aus ihrer Verantwortung entlassen:

    Ich erinnere mich an die allgemeine Stimmung kurz vor den Olympischen Spielen in Sotschi: Niemand glaubte an den Sieg unseres Teams. Diskutiert wurden nur die massiven Veruntreuungen bei den olympischen Bauprojekten, die explodierenden Kosten und verpassten Fristen. Es schien, als wäre diese Klauerei überhaupt der einzige Grund, die Spiele in Russland zu veranstalten – wie auch alles andere, wie schon immer.

    Der Sieg des russischen Teams, der erste Platz im Gesamt-Medaillenspiegel – das war ein wirkliches Wunder. Nach einer Reihe von Niederlagen hatten wir uns schon auf eine erneute Schande eingestellt, das ganze Volk. Wir hatten uns darauf eingestellt, beschämt Witze zu erzählen, uns vor aller Öffentlichkeit selbst zu kasteien. Dennoch hofften wir – ganz leise, jeder für sich, damit man nicht ausgelacht wird.

    Wir wollten unglaublich gerne stolz sein auf unsere Heimat

    Und erst als unsere Jungs und Mädels den ersten Platz belegten, brach das durch. Schließlich war das der erste Sieg des neuen Russlands, der erste große Sieg seit Jahrzehnten.

    Und wir – erinnert ihr euch? – verspürten damals einen heftigen, aufrichtigen Stolz auf unser Land. Niemand blieb außen vor, sogar die nörgelnde liberale Intelligenzija. Wir wollten eben alle unglaublich gern stolz sein auf unsere Heimat, aber die Staatsmacht zwang uns jahrzehntelang dazu, nur Verlegenheit und Scham zu empfinden.

    Das war ein Glücksgefühl: Während wir die Abschluss-Zeremonie der Olympischen Spiele schauten, fühlten wir Russländer uns – unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit – als eine geeinte große Nation, die diesen Triumph verdient hatte. Und wir waren glücklich darüber, dass wir uns wieder auf das Welt-Podest erheben, dass wir friedlich hierher zurückkommen, von allen als Sieger anerkannt, ganz ohne Zwang.

    Diesen Sieg haben wir uns nicht verdient

    Wir mussten damals keine Panzer durch die Ukraine rollen lassen, mussten den Westen nicht mit Jagdbombern ängstigen, erinnert Ihr euch? Uns genügte der Sieg im Sport, uns genügte das Symbol. Wir sehnten uns so sehr nach Anerkennung, und so leidenschaftlich wollten wir uns daran erinnern, wie groß wir einmal waren! Das war ein Rausch.

    Und jetzt stellt sich plötzlich raus: Diesen Sieg haben wir uns nicht verdient. Unsere Sportler haben gewonnen, weil man sie mit Doping vollgepumpt hatte. Das war Mauschelei, Trickserei, eine weitere Lüge. Unser Staat – ganze Ministerien und Geheimdienste – haben geschummelt und gefälscht, geblendet und gelogen, um die ganze Welt und uns alle zu betrügen. Sie haben diesen Sieg erschlichen, haben wie die Gauner sowohl den anderen Länder als auch uns allen einen Bären aufgebunden – und wofür? Für wen? Uns zuliebe?

    Eine Fälschung, ein Potemkinsches Dorf wie unsere Demokratie

    Der Triumph von Sotschi ist offensichtlich genau so eine erniedrigende Fälschung, genau so eine KGB-Spezialoperation wie die Medwedewsche Modernisierung, wie unser Silicon Valley in Skolkowo, wie unsere Demokratie, wie unsere Wiedergeburt aus der Asche. Er hat sich als ein eindimensionales Potemkinsches Dorf entpuppt, als das Sobjaninsche europäische Moskau. Als eine gemalte Feuerstelle, die weder leuchtet noch wärmt; und mitten in die hat man uns mit unserer langen Lügennase hineingestoßen.

    Wir wollten uns einfach nur daran erinnern, wie sich das anfühlt – stolz zu sein auf das eigene Land. Aber sie haben uns mit diesem ergaunerten Sieg für dumm verkauft und dazu gezwungen, an eine Weltverschwörung gegen uns zu glauben. Sie verdrehten unsere Gefühle und beschmierten sie mit Teer und Scheiße, entstellten sie – und hetzten uns auf unsere Brüder. Wir wollten ja gar nicht gegen die Ukrainer kämpfen, wir wollten sie nicht hassen, wir wollten den Westen nicht ständig verdächtigen und ihn fürchten, erinnert Ihr euch? Wir wollten einfach nur, dass man uns endlich als gleichwertig betrachtet. Wir wollten keine Angst, sondern Anerkennung.

    Wir glauben die Lügen, weil das einfacher ist

    Jetzt verlieren wir alles. Der Betrüger wurde in flagranti ertappt. Die Medaillen reißen sie uns vom Hals runter. Man zeigt mit dem Finger auf uns und lacht. Wir träumten von Anerkennung und bekommen Schande.

    Um die Lüge zu verdecken, werden sie uns noch mehr belügen. Auf allen Kanälen werden sie uns wieder sagen, dass das eine Verschwörung sei, Geopolitik, dass versucht werde die Großmacht, die sich von den Knien erhebt, auszurotten, zu zermürben, sie bluten zu lassen. Und wir glauben diese Lügen, weil das einfacher ist und wir anders nicht können.

    Und eben unser störrischer, kompromissloser Unwille die Wahrheit zu hören erlaubt uns keinen Neuanfang. Wir können nicht aus der Asche wiederauferstehen, wir sind ja auch nicht verbrannt, und ein verrotteter Phönix wird nicht wiedergeboren.

    Bis das geschieht, bleiben unsere Siege erschlichen und ergaunert. Aber wir werden laut herausbrüllen, dass wir an sie glauben, denn ein solches Russland braucht keine Liebe, sondern das laute Herausbrüllen, dass man es liebt.

    Das sind die Spiele, die wir alle verdient haben.

     

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  • Vom Osten lernen

    Vom Osten lernen

    Schwere Rezession, hohe Inflationsrate und eine starke Abwertung des Rubels: Die russische Wirtschaft ist auf Talfahrt. Russland, das über knapp 17 Prozent der weltweiten Gas- und 5,5 Prozent der Ölreserven verfügt, ist zu stark abhängig von Rohstoffexporten und zeigt strukturelle Schwächen. Seit dem Krieg in der Ukraine tun außerdem die westlichen Sanktionen ihr Übriges.

    Dabei hatte Putin, gemeinsam mit dem damaligen Wirtschaftsminister Alexej Kudrin, vor knapp einem Jahrzehnt vorgesorgt: Staatsfonds, gespeist aus Einnahmen der Energieexporte, wurden eingerichtet. Hintergrund war damals auch die Angst, durch stetige Verschuldung immer weiter in die Abhängigkeit von Oligarchen und globalen Investoren zu geraten. Nun gibt es bereits den Ministeriumsvorschlag, an diese Reserven zu gehen und einen der Fonds im kommenden Jahr aufzulösen.

    In dieser Situation rät Wirtschaftsexperte Wladislaw Inosemzew in seinem Artikel auf dem unabhängigen Portal snob.ru, von China zu lernen: In den 1980er und vor allem 1990er Jahren hatte die sozialistische Volksrepublik den privatwirtschaftlichen Sektor freigegeben und den staatlichen strikt von ihm getrennt. So wurden die Weichen für einen gewaltigen Entwicklungssprung gestellt.

    Trotz der unermüdlichen Erklärungen russischer Beamter bleibt die wirtschaftliche Situation in Russland äußerst angespannt: Eine Rückkehr zum Wachstum ist bislang nicht absehbar; sogar die erfolgreichsten Unternehmer bezeichnen das Business-Klima als „äußerst feindlich“; Wirtschaftsreformen werden zumindest dieses Jahr nicht mehr in Gang gebracht; die Spannungen zwischen Russland und der übrigen Welt nehmen nicht ab. Das Haushaltsjahr wird mit einem Defizit abgeschlossen, und die bestehenden Rücklagen werden in anderthalb bis zwei Jahren erschöpft sein, vorausgesetzt, die Rohstoffpreise fallen nicht wieder.

    Keine Lösung in Sicht – und so vergeht die Zeit

    Es ist allgemein bekannt, dass heute zwei Gruppen von Ökonomen um den Einfluss auf den Präsidenten konkurrieren. Die einen setzen auf Liberalisierung, die anderen wollen die Rolle des Staates stärken, unter anderem durch zusätzliche Geldemission.

    In einigen Fragen ähneln sich die Positionen der Kontrahenten, doch es gibt mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Der Präsident schwankt, da ihm klar ist, dass beide Varianten erhebliche Risiken bergen. Und so vergeht die Zeit.

    Seit dem Beginn der Krise 2008 – für das Putinsche System in gewisser Hinsicht der erste Warnschuss – sind zehn Jahre vergangen. Aber seitdem ist das Land praktisch auf der Stelle geblieben, insbesondere, wenn man seine „Errungenschaften“ mit dem vergleicht, was in China und Singapur, in Dubai und Riad erreicht worden ist.

    In einer solchen Situation kann man, denke ich, auch einmal sehr ungewöhnliche Vorschläge machen. Einer davon läuft auf etwas hinaus, das sicherlich umgehend mit der Bezeichnung „wirtschaftliche Opritschnina“ versehen würde: die formelle Aufteilung der Volkswirtschaft in einen staatlichen und einen privaten Sektor.

    Trennung der Wirtschaft in einen staatlichen und einen privaten Sektor – „staatliche Opritschnina“?

    Eine kurze Beschreibung dieses Vorschlags sollte meines Erachtens so beginnen: Es ist gar nicht einmal der übermäßig große staatliche Anteil an den Aktiva, der ein ernsthaftes Problem für Russland darstellt, sondern die Verschwommenheit der Grenzen dieses staatlichen Sektors. Dies führt dazu, dass sich die Interessen der Unternehmen und des Staates ständig überkreuzen. Und der Schutz der Staatsinteressen läuft darauf hinaus, dass die Unternehmer in die Enge getrieben werden. Dabei erzielt die Regierung den Großteil der Einnahmen weder durch die mittelständischen oder kleinen Unternehmen noch durch die Besteuerung von Bürgern, sondern aus der Tätigkeit der Großunternehmen oder aus Steuern auf Export und Import. Deswegen besteht der Vorschlag im Wesentlichen darin, die Großunternehmen weiter zusammenzuführen (obwohl man hier einwenden könnte – geht es noch weiter?) und den Druck auf private Unternehmen zu mindern.

    Großunternehmen konsolidieren, Druck auf private Unternehmen mindern

    Was ist damit gemeint? Nehmen wir einige Großunternehmen wie Rosneft, Gazprom, Bashneft, Transneft, die russische Eisenbahn RZhD, Aeroflot, VTB und Sberbank, Rostechnologii und einige andere: Die ersten beiden haben 2015 jeweils über 2 Billionen Rubel [etwa 30 Milliarden Euro] an Steuern und anderen Abgaben in den Staatshaushalt eingezahlt, was insgesamt circa ein Drittel der Staatseinnahmen ausmachte. Alle großen Staatsunternehmen zusammen sichern dem Staatshaushalt über die Hälfte seiner Gesamteinnahmen. Dabei wirtschaften einige von ihnen, sagen wir, nicht besonders effizient. Gazprom etwa hat nach Untersuchungen von Experten innerhalb von sechs Jahren über 2,4 Billionen Rubel [nach heutigem Kurs etwa 35 Milliarden Euro] sinnlos vergeudet. Gleichzeitig sind die Selbstkosten für Produktion und Leistungen des Unternehmens gestiegen und einige Märkte verlorengegangen.

    Der Börsenwert aller „volkseigenen Betriebe“ ist in den vergangenen acht Jahren um mehr als das Fünffache von einer Billion auf unter 200 Milliarden US-Dollar gefallen.

    Der Staat sollte lieber mit dem wirtschaften, was er schon hat, anstatt aus privaten Unternehmen die letzte Kopeke herauszuquetschen, Steuern und Abgaben zu erhöhen, unzählige Inspektionen durchzuführen und so im Endeffekt Unternehmen und Arbeitsplätze zu vernichten.

    Giganten wie Gazprom: cash machines für den Staatshaushalt

    Heute wird im Kreml die Frage diskutiert, ob man einen Teil der Aktien von Staatsunternehmen veräußern sollte, um das Haushaltsdefizit zu decken. Ein anderer Weg wäre besser:

    Die staatlichen Aktienkontrollpakete müssten in einen nationalen Investmentfonds überführt werden. In der Art, wie er gerade in Saudi-Arabien geschaffen wird, oder wie es ihn bereits in Singapur oder in den Vereinigten Arabischen Emiraten gibt. Dieser Fonds sollte sich vorrangig um das Füllen der Staatskasse und um die Effizienzsteigerung staatlicher Unternehmen kümmern und nicht in Fußballclubs, nie in Betrieb gehende Pipelines und Flugzeuge für Manager „investieren“.

    Der Aufsichtsrat, gerne unter dem Vorsitz von Präsident Putin, sollte ausschließlich aus internationalen Profis bestehen, die bislang keine Verbindung zum russischen Business hatten. Schließlich sollte die Leitung aller Unternehmen der Holding erfolgreichen internationalen Managern anvertraut werden, um somit die kommerzielle Tätigkeit dieser Firmen komplett zu entpolitisieren.

    Heute ist es schwer zu verstehen, was Gazprom oder RZhD eigentlich sind. Sind es Sponsoren von großen sportlichen und außenpolitischen Aktionen? Oder Unternehmen, deren Aufgabe in der Steigerung von Core Results besteht? Das Reformziel sollte darin bestehen, diese Giganten in eine Art Cash Machines für den Staathaushalt zu verwandeln.

    Das Gas sollte nicht „nach Osten umgelenkt werden, sondern dorthin verkauft, wo es am meisten Geld bringt; Ölunternehmen sollten keine Schiffswerften bauen, sondern die Förderung flexibel und gleichmäßig steigern; von Zimmern voller Pelzmäntel ganz zu schweigen.

    Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Finanzpläne von russischen Staatsunternehmen die Pläne ähnlicher Unternehmen im Ausland um einiges übersteigen, könnten die Kosten mindestens um ein Drittel gesenkt, die Einnahmen spürbar gesteigert und eine Menge unnötiger Ausgaben gestrichen werden.

    Innerhalb von drei bis fünf Jahren wäre es denkbar, dass sich die Einnahmen aus Steuern, Abgaben und insbesondere Dividenden von 10 bis 15 Staatsunternehmen verdoppeln.

    Mindestens genauso wichtig erscheint ein weiteres Ziel: Die Kapitalausstattung des gesamten nationalen Investmentfonds um das Zwei- bis Dreifache zu steigern und 20 bis 25 Prozent seiner Aktien an ausländische Großinvestoren zu verkaufen.

    Anders ausgedrückt, es ist an der Zeit, einen wirklich staatsmäßigen (und nicht verwaltungsmäßigen) Ansatz für den Umgang mit dem staatlichen Großeigentum zu finden. Das kann dazu führen, dass die Steuereinnahmen dank einer solchen Opritschnina auf mindestens zehn Billionen Rubel [etwa 140 Milliarden Euro] jährlich steigen und somit zwei Drittel des Staatshaushaltes ausmachen. Darüber hinaus würde die Kapitalausstattung der staatlichen Aktiva um 150 bis 250 Milliarden US-Dollar wachsen, was einem Jahreswert an Haushaltseinnahmen entspricht.

    Russland braucht eine stabile, autarke Wirtschaft

    Das Hauptziel besteht nicht nur in der Lösung aktueller Probleme. „Oberstleutnant Putin zu retten“ vor dem unausweichlichen Zusammenbruch des Wirtschaftssystems kann nur dann gelingen, wenn das Land in 10 bis 15 Jahren (und dieser Horizont entspricht meiner Meinung nach seinen Plänen, was seine Regierungszeit angeht), wenn nämlich die weltweite Nachfrage nach fossilen Energieressourcen und anderen Rohstoffen aus Russland rapide fallen wird, über eine stabile, autarke Wirtschaft ohne oligarchischen Einfluss verfügt. Hiermit würde die vorgeschlagene Strategie das wiederholen, was bei der ersten Etappe der chinesischen Reformen von 1980–1990 geleistet worden ist.

    Die russische Führung verfügt über eine stabile Steuerquelle und kann im Falle eines Ölpreisverfalls flexibel reagieren, indem sie den Währungskurs anpasst. Dadurch könnte sie außerhalb des staatlichen Sektors eine maximale Liberalisierung der wirtschaftlichen Tätigkeit zulassen.

    Anders ausgedrückt: Man sollte sich nicht darauf konzentrieren, die existierenden russischen Unternehmen gewinnbringend zu verkaufen, sondern darauf, dass in Russland tausende neue gegründet werden.

    Die Steuerlast für private Unternehmen sollte gesenkt werden, damit dort Raum für neue Arbeitsplätze entstehen kann. So können auch  Arbeitskräfte aufgenommen werden, wenn diese von Staatsbetrieben freigestellt werden.

    Es ist doch ein Unding, dass Gazprom, verglichen mit Shell, nur ein Drittel des Gewinns bringt, dabei aber drei Mal mehr Personal beschäftigt! Oder RZhD, die zwölf Mal mehr Personal beschäftigt als die vergleichbare kanadische Eisenbahn!

    Russland als große Offshore-Zone

    Die Entwicklung des privaten Sektors wird an die Effizienzsteigerung des staatlichen gekoppelt sein. Mehr noch, eine längerfristige Steuerbefreiung sollte Russland für eine gewisse Zeit in eine große Offshore-Zone verwandeln, in die sowohl ausländische als auch einheimische Unternehmen gerne investieren. Dabei sollten sie wissen, dass in 10 bis 15 Jahren, wenn sich das goldene Zeitalter der große Konzerne dem Ende zuneigen wird, die Steuern wieder erhöht werden.

    Indem sie einen effizienten staatlichen Sektor als Stütze schafft, könnte die russische Staatsführung das Land für Investoren attraktiv machen – und weltweit ist der staatliche Sektor durchaus effektiv, wenn der Staat zwar formell Eigentümer ist, die Unternehmen sich aber nach Marktgesetzen entwickeln können.

    Innerhalb dieser 10 bis 15 Jahre könnten unabhängige Investoren, denen sinnlose Kämpfe mit Silowiki erspart blieben, die Grundlage für eine Wirtschaft schaffen, die später die hauptsächliche Steuerlast übernehmen würde – selbstverständlich in kleinen Schritten und sehr vorsichtig.

    Die Erfahrung Chinas als Vorbild

    Ich wiederhole: Die Erfahrung Chinas hat gezeigt, dass die politische Führung zwar die Großunternehmen komplett kontrollieren, gleichzeitig aber eine vorrangige Entwicklung des privaten Sektors erlauben kann. Unabhängig davon, wie erfolgreich sich dieser entwickelt, wird er keineswegs die von oben verordnete „Stabilität“ in Gefahr bringen.

    Russland hat offensichtlich nicht vor, zu einem europäischen Land zu werden, nicht einmal in wirtschaftlicher Hinsicht. Das ist traurig, aber nicht katastrophal. Asien liefert eine Menge beeindruckender Beispiele, wie ein Staat, angefangen mit China bis hin zu Saudi-Arabien, sich vernünftigerweise für die Strategie entscheidet, Wirtschaft und Politik voneinander zu trennen, was mehrheitlich zu beeindruckenden Ergebnissen führt.

    Ich bin überzeugt, dass wir endlich damit beginnen müssen, von anderen zu lernen – wenn schon nicht vom Westen, dann zumindest vom Osten. Denn meiner Meinung nach vermag kein ideologisches Projekt in Reinform, weder eine neue liberale Revolution noch die Rückkehr zur Planwirtschaft, das heutige Regime noch zu retten.

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  • Putin und das Offshore-Kettensägenmassaker

    Putin und das Offshore-Kettensägenmassaker

    Panama Papers und keinen interessiert’s: Obwohl die Leaks darauf hinweisen, dass zahlreiche enge Mitstreiter Putins und höchste Regierungsmitarbeiter über Briefkastenfirmen in dubiose Offshoregeschäfte verwickelt sind – der Kreml hatte sich nach der Veröffentlichung betont gelassen gegeben. Zwar will die Staatsanwaltschaft den Vorwürfen nachgehen, Präsidentensprecher Peskow sprach jedoch von „Spekulationen“ und davon, dass die beteiligten Journalisten von „ehemaligen Angehörigen des amerikanischen Außenministeriums und der CIA“ finanziert würden. Andrej Kostin, Chef der staatlichen Großbank VTB, bezeichnete eine Verstrickung Putins in Offshore-Strukturen als „Blödsinn“.

    Ausführlich berichteten etwa die renommierte Wirtschaftszeitung Vedomosti, die unabhängige Novaya Gazeta oder der unabhängige Online-Fernsehsender Doschd. Regierungsnahe Medien oder auch das reichweitenstarke Staatsfernsehen hatten den Fall zunächst nicht aufgegriffen. Doch selbst wenn es eine breitere mediale Berichterstattung dazu gäbe: Korrupte Politiker überraschen in Russland niemanden, schreibt die renommierte Politologin Ekaterina Schulmann in ihrem Blog auf Snob.ru. Für den globalen Kampf gegen die Korruption machen die Leaks ihr aber dennoch Hoffnung.

    Man muss sich klarmachen, dass der Adressat dieser Enthüllungen nicht das russische Publikum war, sondern die Länder des Westens: ihre Wähler, ihre Medien und ihre Eliten. Die Bürger der Russischen Föderation sind nicht einmal die wichtigsten Protagonisten der Enthüllungen. Der wahre Protagonist ist das weltweite Netz der Geldwäsche, die Internationale der Korruption.

    Im Staatswesen eines gesunden Menschen (im Unterschied zum Staatswesen eines Rauchers) kann es in solchen Situationen zwei verschiedene Konsequenzen geben – oder eine Mischung aus beiden: ethische und juristische.

    ZWEI VERSCHIEDENE REAKTIONEN

    Hier zwei lebhafte Beispiele der einen oder anderen Art: Der Premierminister von Island kündigt seinen Rücktritt an, in Panama leitet die Staatsanwaltschaft eigene Ermittlungen gegen die Offshore-Firmen ein. Wir können sehen, wie ein Land der ersten und ein Land der dritten Welt durchaus konsequent auf die Enthüllungen reagieren.

    Island hat eine ethische Reaktion gezeigt – noch vor der Eröffnung von Strafverfahren: Dem Politiker ist klar, dass diese Art von Veröffentlichungen das Vertrauen in ihn untergräbt, und ohne Vertrauen kann er nicht weiter arbeiten. Panama hat mit rechtlichen Schritten reagiert: Das Land erklärt, dass es sich selbst um das kümmern werde, was auf seinem Territorium stattfindet, und dass es die Recherche der Journalisten genau prüfen werde.

    WIR SIND NICHT DIE ADRESSATEN

    In Russland werden wir weder das eine noch das andere erleben. Die einen Amtsträger werden überhaupt keine Stellungnahmen abgeben, die anderen werden sagen, dass man uns den Informationskrieg erklärt habe und es nichts zu diskutieren gebe. Und eigene Untersuchungen – obwohl wir ja mit Rosfinmonitoring und der Staatsanwaltschaft über entsprechende Dienste verfügen – wird höchstwahrscheinlich niemand einleiten.

    Und genau darum sind wir nicht die Adressaten dieser Enthüllungen. Wir denken immer, dass uns jemand ein bisschen aufschrecken will, so als würden wir im Theater sitzen und uns langweilen – es sei denn, man serviert uns ein Kettensägenmassaker. Aber es ist nicht das Ziel dieser Publikationen, den Leser emotional aufzurütteln. Wichtig ist nicht das Himmelschreiende der Veröffentlichungen, sondern ihre schlagende Beweiskraft. Gerade diese wühlt die Menschen in jenen Ländern auf, in denen es Recht, Gesetz und funktionierende Institutionen gibt.

    DER BEGINN EINER NEUEN ÄRA

    Inwiefern der Beweis erbracht ist, dass russische Staatsangestellte in Offshore-Geschäfte verstrickt sind, kann ich nicht beurteilen: Die schiere Anzahl der Dokumente ist sehr groß, und für eine differenzierte Analyse benötigt man die entsprechende Qualifikation und Kompetenz.

    Aber was ich sehe, ist die enorme, mehrere Jahre dauernde Arbeit eines großen Netzwerks von Autoren aus mehreren Dutzend Ländern. Das übertrifft jedes Vorstellungsvermögen. Derartigen horizontalen Vernetzungsstrukturen gehört die Zukunft, und nicht den vertikalen und gleichgeschalteten.

    Die jetzigen Enthüllungen sollte man deshalb als Beginn einer neuen Ära betrachten. Vor unseren Augen entstehen neue Werte, Strukturen und Praktiken jener Epoche, in der wir leben werden. Egal, ob wir das anerkennen oder nicht. Man muss schon ein sehr beschränkter Mensch sein, wenn man diese Geschichte als Versuch begreift, „etwas Schlechtes über Putin zu sagen”.

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  • „Sie wird zweifellos schuldig gesprochen“

    „Sie wird zweifellos schuldig gesprochen“

    Nadija (russ. Nadeshda) Sawtschenko, Leutnant der ukrainischen Armee, wird in Russland der Prozess gemacht. Ihr wird vorgeworfen, für den Tod russischer Zivilisten auf ukrainischem Territorium  mitverantwortlich zu sein und danach illegal die Grenze nach Russland übertreten zu haben. Die Verteidigung erklärt hingegen, Sawtschenko sei bereits rund zwei Stunden vor dem Tod der Zivilisten gefangen genommen und nach Russland entführt worden. Am 21. und 22. März soll das Urteil verkündet werden. Ihr Schlusswort in dem Prozess hielt Sawtschenko bereits am Mittwoch vergangener Woche, dabei zeigte sie dem Gericht den Stinkefinger und sagte: „Russland wird mich so oder so an die Ukraine übergeben, ob tot oder lebendig.“

    Die Staatsanwaltschaft fordert für die Militärpilotin und Freiwillige des Bataillons Aidar sowie inzwischen auch Abgeordnete des ukrainischen Parlaments 23 Jahre Haft.

    Sawtschenko trat zwischenzeitlich in den Hungerstreik, teilweise nahm sie auch keine Flüssigkeit mehr zu sich. Viele Politiker aus dem Westen, darunter US-Außenminister John Kerry, aber auch Intellektuelle wie die belarussische Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch und der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy forderten die Freilassung der 34-Jährigen.

    Der hochpolitische Fall erregt sowohl in Russland als auch in der Ukraine die Gemüter: Die einen sehen in Sawtschenko eine Mörderin, die anderen eine Märtyrerin. In der Ukraine erfährt Sawtschenko breite Unterstützung von Seiten der Bevölkerung und der Politik, Präsident Petro Poroschenko erklärte sie gar zur „Heldin der Ukraine“. In Moskau und Petersburg wurden hingegen vereinzelte stille Aktionen, die Solidarität mit Sawtschenko zeigten, sofort aufgelöst und endeten teilweise sogar mit Festnahmen.

    Kurz vor der geplanten Urteilsverkündigung sprach Anton Krassowski von snob.ru mit Sawtschenkos Anwälten Mark Feigin und Nikolaj Polosow über den Fall.

     

    Wer ist Nadeshda Sawtschenko?

    Feigin: Sawtschenko ist Oberleutnant der Streitkräfte der Ukraine, die einzige Pilotin der ukrainischen Armee. Formell ist sie Waffensystemoffizier eines Kampfhubschraubers. Das ist das, was in ihren Militärunterlagen steht. Sie ist ein gradliniger, prinzipientreuer und unbequemer Mensch. In der normalen Gesellschaft wäre sie schwer zu ertragen. Damit meine ich, dass Menschen, die nicht ihrem Kreis angehören, sie seltsam finden, sich in ihrer Anwesenheit nicht wohlfühlen. In diesem Sinne haben wir es mit einer typischen Armeeangehörigen des frühen 21. Jahrhunderts in der Ukraine zu tun.

    Ist sie vielleicht durchgedreht? Wenn man sie sieht, wie sie im Gerichtskäfig auf den Stuhl springt, das Geschrei, die ausgestreckten Mittelfinger, fragt man sich: Verhält sie sich angemessen?

    Feigin: Angemessen in Anbetracht der Lage, in der sie sich befindet. Nein, sie ist nicht durchgedreht. Man sollte sie einfach so nehmen, wie sie ist. An sie werden Maßstäbe angelegt, die für die umgebende Gesellschaft ganz normal sind, während sie immer wieder in Extremsituationen war, sei es im Irak, auf dem Maidan oder im Donbass zu Beginn des Krieges.

    Frau, Militärangehörige, Leutnant, Ukraine – da haben wir eine ausgesprochen explosive Mischung.

    Im Irak?

    Feigin: Ja, ein halbes Jahr lang hat sie im Kontingent der Koalition im Irak gedient. Sie war einfache motorisierte Schützin. Für diese sechs Dienstmonate stand ihr eine Belohnung zu: die Aufnahme an der Charkiwer Universität für Luft- und Raumfahrt. Wir haben es also mit einer einzigartigen Persönlichkeit zu tun, hier greifen andere Kriterien. Wenn man alles addiert – also: Frau, Militärangehörige, Leutnant, Ukraine – dann haben wir eine ausgesprochen explosive Mischung.

    Ich vermute, in Russland gibt es Hunderte weiblicher Armeeangehörige, Leutnants. Es gibt sogar weibliche Generäle. Was ist daran besonders?

    Feigin: Pilotinnen gibt es beispielsweise nicht. In Russland ist man der Ansicht, dass eine Frau weder ein Kampfflugzeug noch einen Kampfhubschrauber steuern könnte. Auch in der Ukraine war man dieser Ansicht. Bis Sawtschenko kam. Sie hat mit diesem Stereotyp gebrochen.

    Wie geriet sie in russische Kriegsgefangenschaft?

    Polosow: Das passierte am 17. Juni 2014. In diesem Moment gab es bereits heftige Zusammenstöße, die ukrainische Armee rückte von Norden her in Richtung Lugansk vor, das unter der Kontrolle der Aufständischen war. Sawtschenko ist dann mit den anderen Kämpfern des Bataillons Aidar in die Offensive gegangen.

    Wie unterscheidet sich das Bataillon Aidar von den regulären Streitkräften der Ukraine?

    Polosow: Aidar ist ein Freiwilligenbataillon, das Teil der Streitkräfte der Ukraine wurde. Das sind keine Freischärler vom Schlage der Machnowzi.

    Grob gesagt, hat Sawtschenko nicht gegen den Fahneneid verstoßen, sondern einen Befehl nicht befolgt: Sie hat Urlaub genommen und ist aus dem heimischen Brody in der Oblast Lwiw, wo ihr Regiment stationiert war, in den Donbass aufgebrochen, um die unerfahrenen Rekruten auszubilden, da sie die nötige Erfahrung besaß. Und als am 17. Juni die Offensive begann, ging sie mit. Während eines Panzerdurchbruchs beim Anmarsch auf das Dorf Stukalowa Balka gerieten die Panzer und Schützenpanzer in einen Hinterhalt. Als sie den Gefechtslärm hörte, bewegte Sawtschenko sich darauf zu, traf auf verwundete Soldaten, die bereits getroffen waren; sie leistete Erste Hilfe und versuchte, da sie keine vernünftige Verbindung hatten, im Stab anzurufen, damit die Kämpfer abgeholt werden.

    Sie hat mit dem Mobiltelefon angerufen?

    Polosow: Ja. Dazu ging sie auf die Mitte der Straße. Sie geriet unter Beschuss, ihre Hand wurde durchschossen, ein glatter Durchschuss. Nach einiger Zeit kam dann einer der Freischärler auf sie zu, ein junger Kerl. Wie sie später erklärte, schoss sie nicht auf ihn, trotzdem sie bewaffnet war, weil sie keinen Ukrainer töten wollte. Direkt hinter diesem Jungen tauchte ein zweiter auf, ihr Sturmgewehr wurde ihr abgenommen und sie wurde mit ihrem eigenen Schulterriemen gefesselt und in die Wehrverwaltung von Lugansk gebracht, wo sich zu diesem Zeitpunkt der Stab des Bataillons Sarja befand. Geleitet wurde der Stab zu der Zeit von Igor Plotnizki, dem späteren Oberhaupt der LNR. Sie verbrachte dort eine Woche. Danach wurde sie durch irgendwelche Schächte auf russisches Gebiet gebracht und in ein Auto mit russischen Nummernschildern gesetzt.

    Waren ihre Augen verbunden?

    Feigin: Ihre Augen waren mit einem gelb-blauen Kopftuch mit der Aufschrift „Selbstverteidigung des Maidan“ verbunden.

    Erst beriet man, ob sie in den Kofferraum gesteckt werden sollte, dann wurde sie doch in das Wageninnere gesetzt.

    Wie hat sie dann die russischen Nummernschilder sehen können?

    Polosow: Sie sagte, dass sie zu diesem Auto durch einen Wald gelaufen seien, der von lauter Gräben durchzogen war. Sie stolperten die ganze Zeit und dieses Kopftuch verrutschte immer wieder, sodass sie zumindest sehen konnte, was sich direkt unter ihr, also unmittelbar vor ihren Füßen befand. Erst beriet man, ob sie in den Kofferraum gesteckt werden sollte, dann wurde sie doch in das Wageninnere gesetzt. Eine Zeitlang wurde sie mit diesem Auto transportiert. Schließlich wurde sie in ein drittes Fahrzeug gesetzt, einen Lada Samara. Im Zuge der Ermittlungen hat sich herausgestellt, dass das bereits in der Oblast Woronesh geschah. Das bedeutet, dass sie im Norden der Oblast Rostow über die Grenze und bis zur Oblast Woronesh gebracht wurde. Im Samara saßen zwei Personen in Zivil. Einer saß am Steuer. Sie wurde zu dem zweiten auf den Rücksitz gesetzt. Außerdem war sie gefesselt.

    An einer Kreuzung vor dem Dorf Kantemirowka in der Oblast Woronesh wurde das Fahrzeug von einer Streife der Verkehrspolizei angehalten. Die Verkehrspolizisten schauen ins Fahrzeug, fragen „Ist sie das?“ – „Das ist sie.“ Dann folgen Anrufe und nur wenige Minuten später kommt ein Minibus mit FSB-Mitarbeitern, von denen nur einer nicht maskiert gewesen ist. Sie setzen sie in den Minibus und bringen sie direkt nach Woronesh. Sie kommen an, bringen sie in der Nacht zur Ermittlungsbehörde, wo sie ein Ermittler in Empfang nimmt. Der hält Sawtschenkos Mobiltelefon in den Händen, das ihr in Gefangenschaft abgenommen worden war.

    Danach wurde sie aus dem Gebäude der Ermittlungsbehörde geführt und in den Minibus gesetzt. Sie sagt, man habe ihr Woronesh bei Nacht gezeigt, irgendein Schiff und irgendeine Kirche, dann wurde sie in einen nahegelegenen Vorort gebracht, in die Siedlung Nowaja Usman, wo sich das Hotel Jewro befindet, eine gewöhnliche Fernfahrer-Absteige: ein nicht sonderlich großes, zweigeschossiges Gebäude mit Imbiss im Hof. Dort bringt sie diese ganze Kawalkade bewaffneter Kämpfer auf die zweite Etage in ein Hotelzimmer, das aus zwei Räumen besteht. Sie wird allein in dem einem Zimmer untergebracht, die Bewacher bleiben in dem anderen. Dort verbringt sie eine weitere Woche. Genau zu dieser Zeit wird sie vom Ermittlungsbeamten aufgesucht. Dies ist Nadeshdas Version der Ereignisse.

    Man brauchte jemanden der herumgezeigt werden konnte, von dem man sagen konnte: Hier habt ihr das Gesicht der Junta.

    Warum wurde sie gefangen genommen, warum wurde sie hergebracht und warum wird ihr dieser Schauprozess gemacht?

    Fejgin: Man brauchte wenigstens jemanden von Bedeutung, jemanden, der herumgezeigt werden konnte, von dem man sagen konnte: Hier habt ihr das Gesicht der Junta, das sind sie, die freiwilligen Strafkommandos, wie dieses Aidar. Sie hat am besten gepasst, weil sie eine Frau ist. Die haben wohl damit gerechnet, dass sie leicht zu brechen sei, grob gesagt, um sie zu einem Geständnis zu zwingen unter Androhung einer langen Haftstrafe und so weiter.

    Woher stammt diese ganze Geschichte mit der Richtschützin, die für den Tod der russischen Journalisten Woloschin und Korneljuk verantwortlich sein soll? Konnte sie die Treffer beeinflussen?

    Polosow: Die Feuerleitung ist eine recht komplexe Sache. Wobei Pilot und Artillerist zwei unterschiedliche Dinge sind.

    Davon abgesehen wird sie beschuldigt, den Beschuss von einem Gebiet geleitet zu haben, das von Widerstandskämpfern kontrolliert wurde: Die Anklage behauptet, sie sei in das vom Bataillon Sarja kontrollierte Gebiet vorgedrungen, habe einen Mast bestiegen, die Zielkoordinaten angepasst, sei dann heruntergestiegen, habe die Positionen des Bataillons Sarja umlaufen und sei dabei in Gefangenschaft geraten.

    Was ist das für ein Mast? Konnte man von ihm aus erkennen, dass es sich um Journalisten handelte?

    Polosow: Nein. Die Journalisten konnte man als solche überhaupt nicht erkennen, sie trugen weder besondere Helme noch Flakwesten. Daher wurde dieser Anklagepunkt fallengelassen.

    Ein Gutachten hat festgestellt, dass dieser Mast der einzige Punkt ist, von dem aus man überhaupt hätte Menschen erkennen können. Deshalb wird sie nun des Mordes an Zivilisten aufgrund ihrer persönlichen Abneigung gegenüber der russischsprachigen Bevölkerung der Ukraine beschuldigt.

    Nicht alle Opfer werden untersucht. Warum nicht? Weil der Anklagepunkt in sich zusammenfallen würde, dass sie das Feuer gezielt auf Zivilisten gerichtet hat.

    Kam außer Woloschin und Korneljuk noch jemand bei diesem Beschuss ums Leben?

    Polosow: Es sind nur Freischärler des Bataillons Sarja getötet worden. Allerdings will die Anklage nicht alle Opfer untersuchen. Warum nicht? Weil anderenfalls der Anklagepunkt in sich zusammenfallen würde, dass sie das Feuer gezielt auf Zivilisten gerichtet hat.

    Wie haben in diesem Fall die Ukrainer gezielt feuern können?

    Feigin: Der Beschuss war ja gar nicht gezielt. Die schossen, wohin sie konnten. Sie kennen die ungefähren Koordinaten, also wird nachjustiert und gefeuert. Möglicherweise gab noch ein Zivilist per Telefon ein Signal, so geht das üblicherweise vor sich.

    Im Prinzip kamen damals alle zufällig ums Leben, auch die Journalisten vom WGTRK.

    Das heißt also, als unsere Journalisten getötet wurden, kam ein Anruf aus Moskau und es wurde schlicht befohlen, den idealen Sündenbock  zu finden?

    Fejgin: Ganz genau.

    Wie erklären die Ermittler denn die Tatsache, dass eine Bürgerin der Ukraine auf russischem Gebiet vor Gericht steht wegen der Teilnahme an Kampfhandlungen auf dem Staatsgebiet derselben Ukraine – an denen Russland angeblich nicht beteiligt ist?

    Feigin: Das ist eine Frage der sogenannten Rechtshoheit. Es gibt da den Artikel 12 des Strafgesetzbuchs, nach dem ein ausländischer Staatsangehöriger tatsächlich in Russland vor Gericht gestellt werden kann, wenn eine Straftat gegen einen russischen Bürger oder gegen die Interessen Russlands begangen wurde. Dann kann die betreffende Person strafrechtlich belangt werden. Das Problem ist ein anderes: Da sie der allgemein-strafrechtlichen Linie gefolgt sind, haben sie de facto die Kriegskomponente ausgeklammert, die in der Genfer Konvention geregelt ist. Warum? Weil es sich nicht um einen internationalen, bewaffneten Konflikt gehandelt hat. Warum er nicht international ist? Weil Russland seine Beteiligung daran leugnet.

    Polosow: Sie sprechen zudem nicht davon, dass sie entführt worden ist, sondern sie behaupten, sie sei selbst eingereist. Aus allgemein-humanitären Erwägungen heraus habe Plotnizki, so die Lesart der Anklage, zu einem bestimmten Zeitpunkt gesagt, dass Sawtschenko einfach freigelassen werden müsse.

    Das heißt also, eine Woche lang saß sie in dieser Wehrverwaltung, und dann sagt er: 'Kommt, wir lassen sie frei’?

    Polosow: Ja, sie ist eine Frau und es gibt keine getrennten Toiletten und nur einen einzigen Raum, da können wir sie doch nicht gemeinsam mit männlichen Kriegsgefangenen festhalten, soll er gesagt haben, außerdem müsse sie auch verpflegt werden etc. Dann hat er sie angeblich an einen Mann mit dem Rufnamen „Cap Moisejew“ übergeben, der soll sie anschließend an den ungeregelten Grenzübergang Sewerny in der Nähe von Donezk gebracht und gesagt haben: Du bist frei, geh, wohin du willst. Und aus irgendeinem Grund geht sie nicht in Richtung Charkiw, sondern in Richtung Woronesh.

    Für die Erfüllung des Straftatbestands nach Artikel 322, Abschnitt 1, „Illegaler Grenzübertritt“, bedarf es des unmittelbaren Vorsatzes. Man braucht ein Motiv. Warum gehst du dorthin? Was ist dein Ziel? Sie ist in ihrem Leben noch nie in Russland gewesen. Warum sollte sie dorthin gehen?

    Sich mit diesem Fall zu befassen, ist gefährlich.

    Lass uns über das Verfahren sprechen. Wie seid ihr zu Nadeshda Sawtschenkos Anwälten geworden?

    Feigin: Am 9. Juli 2014 wurde bekanntgegeben, dass sich eine gewisse Nadeshda Sawtschenko auf russischem Staatsgebiet befindet und sich strafrechtlich vor Gericht zu verantworten hat. Und am 10. Juli, also buchstäblich am darauffolgenden Tag, rief mich Ljudmila Koslowskaja an, die Leiterin der Stiftung Offener Dialog. Das ist eine polnisch-ukrainische Organisation mit Sitz in Warschau. Sie sagte: Also, folgende Geschichte: Sawtschenko wurde ein Verteidiger namens Schulshenko zugeteilt, im Augenblick werde im Außenministerium die Frage erörtert, wer sich des Falls annehmen solle, da es ein sehr schwerwiegender Fall sei.
    Zu diesem Zeitpunkt hatten wir bereits die Aufnahmen von Sawtschenkos Befragung gesehen, wo sie Plotnizkis Fragen sehr frech beantwortet. Ich habe mir diese Aufnahmen noch einmal angesehen und nach nur zehn, fünfzehn Minuten gesagt: Gut, ich bin bereit. Der Chef des Konsularischen Dienstes beim Außenministerium der Ukraine rief mich an und sagte: Ich habe hier Vera Sawtschenko sitzen, Nadeshdas Schwester, könnten Sie ihr erklären, was jetzt zu tun ist? Darauf sagte ich: Es ist ganz offensichtlich, dass dieser Fall angesichts des Krieges kompliziert ist und ein politischer sein wird; alles, was ich momentan anbieten kann, ist, dass dieser Prozess sehr öffentlichkeitswirksam vonstatten gehen wird. Es wird nichts von dem geben, was, wie wir wissen, im Falle Senzows vorgefallen ist. Wir wussten bereits, dass Senzow gefoltert worden war. Am selben Tag bekam ich den von Vera Sawtschenko unterzeichneten Auftrag.

    Warum haben sie gerade Euch als Anwälte ausgewählt?

    Feigin: Es wäre ein großer Irrtum zu glauben, dass sich jeder um diesen Fall gerissen hätte. Der Fall ist ja in der Tat toxisch. Kolja [Polosow] wird es bestätigen, er bekam einen Anruf: „Was treibst du da? Das ist dein Ende – sowohl beruflich als auch sonst." Darum ist es lachhaft zu behaupten, es hätte einen ernsthaften Wettbewerb gegeben. Sich mit diesem Fall zu befassen, ist gefährlich. Daher gab es auch in der Anfangsetappe, als der Fall noch nicht das war, wozu er heute geworden ist, nicht wirklich sonderlich viele Interesse.

    Na schön. Doch warum habt ihr euch so auf diesen Fall gestürzt? Er ist politisch und eine Niederlage vorprogrammiert.

    Polosow: Auch wenn es in Russland für solche Fälle keine funktionierende Gerichtsbarkeit gibt, sind wir überzeugt, dass das System dennoch bezwungen werden kann. Wir haben schon Erfahrung: Dies ist nicht unser erster Fall mit großer öffentlicher Resonanz, über den man nicht nur in Russland spricht. Davor haben wir unsere Erfahrung mit Pussy Riot gemacht. Ob diese Erfahrung ein Erfolg oder ein Misserfolg war, ist eine andere Frage. Aus Fehlern lernt man, nur wer nichts tut, macht keine Fehler. Und daher waren wir der Ansicht, dass wir diesen Fall der Nadeshda Sawtschenko schultern können.

    Wenn niemand über den Fall spricht, dann gibt es keinen Fall. Wenn man über eine Person nicht spricht, dann existiert diese Person nicht.

    Verstehe ich das richtig, dass die Tätigkeit eines politischen Anwalts nicht wirklich Anwaltstätigkeit ist, sondern vielmehr ein politisches Statement?

    Polosow: Die Tätigkeit des politischen Anwalts ist mehr als gewöhnliche Anwaltschaft. Es gibt die juristische Ebene, auf der Rechtsmittel eingelegt, bestimmte Prozessentscheidungen angefochten werden, nach Unschuldsbeweisen gesucht und Schuldbeweise angefochten werden. Damit befassen sich hundert Prozent aller Anwälte. Wir fügen dieser Ebene noch die öffentliche Kommunikation mit Politikern verschiedener Schichten hinzu, ob im Ausland oder hier, das spielt keine Rolle.
    Wir helfen dabei, bestimmte politische Rahmenbedingungen zu schaffen. Da wird, wie zum Beispiel im Fall von Nadeshda Sawtschenko, eine Person in die Oberste Rada gewählt, wird Abgeordnete der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und erlangt damit Immunität (die sich Russland übrigens anzuerkennen weigert).
    Dazu kommt noch eine Medienkampagne, um den Kreis derer zu erweitern, die auf die eine oder andere Weise in diesen Prozess involviert sind.

    Verstehe ich richtig, dass in einer solchen Situation die Freilassung keine Priorität ist?

    Feigin: Nein, im Gegenteil. All das ist letztendlich auf die Freilassung ausgerichtet, denn nur das kann die Freilassung des Angeklagten bewirken. Andernfalls, wie im Fall Senzow, wo es keine politische Anwaltschaft gibt, kriegt er trotzdem 20 Jahre. Eins musst du verstehen: Wenn du öffentlich nicht davon sprichst, dass jemand unschuldig ist und du beweist das nicht mit Prozessmitteln, sondern mittels politischer Methoden, dann ist das allen scheißegal, es ist allen gleich. Denn wenn niemand über den Fall spricht, dann gibt es keinen Fall. Wenn man über eine Person nicht spricht, dann existiert diese Person nicht.

    Das ukrainische Justizministerium wird eine Anfrage einreichen über die Auslieferung Sawtschenkos in ihre Heimat.

    Was wird weiter mit Sawtschenko geschehen?

    Feigin: Sie wird zweifellos schuldig gesprochen und verurteilt werden.

    Zu 23 Jahren?

    Feigin: Ob nun zu 20 oder 15 Jahren, für die spielt das überhaupt keine Rolle. Die Urteilsverkündung ist für den 21. und am 22. März angesetzt. Nach zehn Werktagen – am 1. bzw. 2. April wird das Urteil dann rechtskräftig. Ab diesem Moment wird das ukrainische Justizministerium im Rahmen der Konvention über die Auslieferung von Verurteilten aus dem  Jahr 1983, an der auch die Ukraine und Russland beteiligt sind, eine Anfrage einreichen über die Auslieferung Sawtschenkos in ihre Heimat, in die Ukraine, damit sie ihre Strafe dort ableisten kann. Dies ist die wahrscheinlichste Variante.

    Das wäre dann gewissermaßen die Organisation eines Austauschs?

    Feigin: Ja, und die anderen schicken dafür Jerofejew oder Alexandrow nach Russland.

    Habt ihr nicht den Eindruck, dass die Ukrainer selbst gar nicht wirklich wollen, dass sie nach Hause zurückkehrt?

    Feigin: Nein. Denn wenn das der Fall wäre, wenn auch nur etwas davon nach außen dringen würde, dann wäre Poroschenko im A***.

    Warum?

    Fejgin: Das würde bedeuten, jemand spielt mit ihren Leiden ein politisches Spiel. Die ukrainische Gesellschaft, in der es ganz gewiss eine öffentliche Meinung gibt, würde das niemals verzeihen.

    Wird Senzow auch Teil dieses Deals sein?

    Feigin: Nein. Sawtschenko ist ein Sonderfall, das ist eine Kriegsgefangene, die sich im Ergebnis einer militärischen Operation auf dem Gebiet des – faktischen – Feindes wiederfand. Mir wurde gesagt, dass Putin ursprünglich gar nicht über Senzow sprechen wollte. Na schön, die Sawtschenko, das ist eure Gangsterbraut. Aber Senzow? Von dem will ich nicht ein Wort hören, er ist russischer Staatsbürger, wenn wir ihn an euch ausliefern, dann bedeutet das was, bitteschön? Die Krim gehört nicht uns? Doch das ist nur ein Gerücht, das haben mir in der Ukraine Leute erzählt, die mit den Gesprächen im Normandie-Format zu tun haben.
    Ob das so ist oder nicht, kann ich nicht sagen, doch das ist deren Logik: Voilà, die Krim ist unser, den Prozess machen wir, wem auch immer wir wollen.

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  • An der Polarkreis-Route

    An der Polarkreis-Route

    Mehr und mehr gewinnt die sogenannte Polarroute oder Eisroute für Flüchtlinge an Bedeutung, die durch den Norden Russlands nach Europa führt. Neben dem Weg über Norwegen gibt es dabei einen weiteren direkt nach Finnland, das im Unterschied zu seinem Nachbarland EU-Mitglied ist. Natalja Sanejewa hat für SNOB mit Flüchtlingen auf der Polarroute gesprochen. Sie schreibt:

    Kandalakscha ist eine Stadt auf der Fluchtroute im Gebiet Murmansk. Am nächstgelegenen Grenzübergang werden Schengen-Visa, aus welchem Grund auch immer, von russischen Grenzern nicht kontrolliert. Ihre finnischen Kollegen können den Flüchtlingsstrom nicht bewältigen und vermuten hinter der Tatenlosigkeit der Russen politische Motive. Und die Einwohner Kandalakschas sind viel zu beschäftigt, um internationale Nachrichten zu verfolgen: Ihnen geht es ums Business.

    „Und wenn morgen ein Schwarzer mein Nachbar wird?“ fragte ein Passant.

    „Die sind so schwarz wie mein Schal“, sagte der Säufer.

    „Hätte ich ein Gewehr, würde ich alle erschießen“, sagte der Hausmeister.

    Der Inder sagte nichts. Der Inder war gestorben. Nachdem er zwei Wochen im Auto gelebt hatte, bei 30 Grad Kälte. In der Warteschlange an der russisch-finnischen Grenze. Er starb, und Gerüchte über die ruhige kleine Stadt Kandalakscha krochen in beide Richtungen, nach Russland und nach Finnland.

    In Kandalakscha leben an die 33.000 Menschen. Sie schrauben Autos zusammen und arbeiten im Aluminiumwerk. Der Durchschnittslohn beträgt weniger als 25.000 RUB [290 EUR – dekoder], was für eine Provinzstadt nicht schlecht ist.

    Aber diejenigen, die gelernt haben, an Flüchtlingen zu verdienen, machen viel mehr Geld. Jeden Tag überqueren mindestens 15 Flüchtlinge die Grenze zu Finnland. Von jedem verlangen Schleuser anderthalbtausend Dollar.

    Syrer, Afghanen, Pakistaner und Afrikaner warten, bis sie an der Reihe sind und die Grenze überqueren können. Araber, Berber, Kurden, Turkmenen. Lebendiges Geld. Ein Touristenvisum für Russland kostet sie etwa 300 Dollar, auf den ersten Blick ist das der billigste Weg nach Europa.

    Nach den „Sperenzchen“ mit dem Inder gaben die Stadtbehörden zu Protokoll: Alle Flüchtlinge sind in Hotels untergebracht. Mitte Januar veröffentlichte die russische Nachrichtenagentur RIA ein Interview mit einer afghanischen Familie, die angeblich im Hotel Spolochi ein Zimmer zugeteilt bekam. Allerdings ist das Hotel Spolochi seit November 2015 wegen Renovierung geschlossen. Dafür sind zwei andere Hotels proppenvoll mit Flüchtlingen, das Greenwich und das Pomotur. 1500 RUB [17 EUR – dekoder] pro Person und Nacht. Keine Sonderkonditionen.

    In den Hotels sind auch Kinder und Alte. In der Schlange warten ein Afghane mit kleiner Tochter und ein Syrer mit kranker Mutter. Deren Bruder ist Arzt in Helsinki und könnte ihr helfen. Aber die Schlange kommt nur langsam vorwärts, und das Geld geht schnell zu Ende.

    Der Araber Abderrahim hat zwei Tage im Greenwich verbracht. Wir sitzen in Petersburg, in einer kalten Küche mit durchgebrannter Glühbirne. Ich reiße ein gekochtes Hähnchen in Stücke als Brotbelag. Abderrahim lacht. Er ist Koch. Programmierer und Koch. In seiner Heimat konnte er weder in dem einen noch in dem anderen Beruf eine gut bezahlte Arbeit finden.

    Er ist 22, das älteste Kind in einer großen Familie. Vor einigen Jahren hatte sein Vater einen Unfall, er kann nicht mehr arbeiten. Sie haben viele Kredite aufgenommen, fürs Haus, für medizinische Behandlungen. Die jüngste Schwester ist zehn. Ein Jahr lang hat Abderrahim ohne freien Tag gearbeitet und 1000 Dollar gespart. Weitere anderthalb Tausend hat er sich von einem Cousin geliehen.

    „Was hat deine Mutter dazu gesagt, dass du weggegangen bist?“

    „Sie hat mich angefleht zu bleiben. Aber ich musste weg.“

    Da, wo Abderrahim herkommt, ist kein Krieg. Solche Flüchtlinge werden als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnet, ihnen wird Asyl oft verwehrt. Er nahm das Risiko dennoch auf sich. Der kürzeste Weg aus Afrika nach Europa führt über Marokko nach Spanien. Er wurde schon von einigen Tausend illegalen Migranten genutzt. Dann haben sie an der Grenze einen sechs Meter hohen Zaun hingestellt. Wer keine andere Möglichkeit hat und den nötigen Mut, der überquert das Mittelmeer jetzt mit Schlauchbooten. Aber diejenigen, die nicht ertrinken, werden meist festgenommen, zurückgeschickt und mit einem EU-Einreiseverbot für fünf Jahre belegt. Die Variante für Reiche: eine Scheinehe mit einer Frau aus der EU. Das kostet aber 3000 Dollar. Der Weg über Russland ist billiger und schneller. Trotz der Abzocke.

    Abderrahim hatte eigentlich vor, die finnische Grenze bei Wyborg zu überqueren. Aber in Petersburg traf er seine Landsleute, die ihm erklärten: Der einzige Weg aus Russland nach Europa führt über Kandalakscha.

    „Man hat mir die Telefonnummer eines Russen aus Kandalakscha gegeben, er hieß Kirill. Er erklärte mir, dass ich 1500 Dollar an den Schleuser zahlen müsse, um die Grenze zu überqueren. Sagte dann: Komm her mit dem Geld, alles andere erledigen wir. Anders kommst du nicht nach Finnland. Ich hatte nicht so viel Geld, aber ich bin gefahren, wollte zumindest Details erfahren, wie alles so läuft.“

    Jeder Flüchtling in Kandalakscha hat einen eigenen Schleuser. Man darf ihn nicht wechseln, sonst gibts Probleme. Manchmal gibt es Schlägereien unter Schleusern wegen der Kundschaft. Ein Flüchtling bringt den Halbjahreslohn eines Fabrikarbeiters.

    „Kirill hat mich am Bahnhof in Kandalakscha abgeholt, zusammen mit einem Polizisten. Wir sind zu einer Passstelle in der Nähe des Hotels gegangen, dort wurde ich registriert. Dann haben sie mich ins Greenwich gebracht und auf die Warteliste gesetzt. Wir waren zu zweit im Zimmer, bei mir war ein Syrer, ein Autoschlosser, aber in den anderen Zimmern waren viel mehr Menschen, bis zu sieben Personen. In den ersten Tagen lebst du unter guten Bedingungen, später kommst du in andere Zimmer. Die 1500 RUB [17 EUR – dekoder] pro Tag sind eine gigantische Summe für uns. Wenn du nicht zahlst, schmeißen sie dich raus, und das bei 30 Grad Kälte.“

    Das Pomortur ist schlimmer als das Greenwich: Es wird seltener geputzt, sie pferchen mehr Menschen in einen Raum, und der Hof ist voll mit verrosteten sowjetischen Autos. Da drin wohnen die Ankömmlinge aus den ärmsten afrikanischen Staaten wie Kongo, Kamerun, Senegal. Sie haben ihren Schleusern weniger als anderthalbtausend gezahlt, deswegen müssen sie sehr lange warten.

    Die Schleuser kümmern sich um ihre Kunden. Ist das russische Visum abgelaufen, verhandeln sie mit der Polizei. Haben die finnischen Grenzer dich nicht reingelassen, gibt’s den zweiten Versuch kostenlos. Abderrahim sagte Kirill, dass er bald von Verwandten Geld überwiesen bekomme. Daher durfte er den zweiten Tag kostenlos im Hotel übernachten. Am dritten wurde er von der Warteliste gestrichen.

    „Wenn du zahlst, fährst du dann am nächsten Tag?“

    „Nein, etwa eine Woche muss man warten. Es gibt auch Leute, die zahlen mehr, die legen 5000 Dollar hin und kommen dafür ganz oben auf die Liste. Aber während du wartest, musst du die ganze Zeit fürs Hotel zahlen. 100–200 Dollar musst du für die Unterbringung einrechnen. Es gibt dort viele syrische Familien, aber auch genug Afrikaner. Ich verstehe, dass die Grenzen in erster Linie für syrische Flüchtlinge offen sind. Aber meine Familie hungert. Zurzeit wohnen im Greenwich 400 Menschen. Sie gehen selten auf die Straße, hocken meist in ihren Zimmern, da es jeden Moment heißen kann: Morgen gehts los. Die Leute gehen nur raus, um Essen und Zigaretten zu kaufen.

    „Glaubst du, Kirill arbeitet alleine, oder teilt er das Geld mit jemandem?“

    „Viele Menschen sind in das Schleusergeschäft verwickelt. Es gibt viele russische Schleuser, sie alle sind sehr reich. Es gibt Gerüchte, dass Männer aus Moskau kommen, um die Gewinne einzusammeln. Außerdem verkaufen uns die Einheimischen Autos.“

    Die Einheimischen verkaufen alte Shiguli-Modelle für 500 Dollar. Zunächst hatten die Russen ihre Kunden selbst über die Grenze gebracht und sich dafür Minibusse angeschafft. Einer der Schleuser wurde von den Finnen erwischt, das Geld konfisziert, bald beginnt sein Prozess. Jetzt sitzen die Flüchtlinge selbst am Steuer – die Autos lassen sie später in Finnland am Straßenrand liegen.

    „Die Schleuser setzen fünf Flüchtlinge ins Auto, lassen sie vorfahren und fahren hinterher. An der Grenze zu Finnland halten sie Abstand und warten ab, ob sie durchkommen oder nicht.“

    „Sind schon mal welche zurückgekommen?“

    „Ja, viele. Das Wichtigste ist, sich ein gutes Märchen für den Grenzer auszudenken. Sie fragen nach den Reisegründen. Warum darfst du nicht in deine Heimat zurück? Warum ist dort die Situation schlecht? Ein junger Mann aus dem Jemen hat mal erklärt: Ich will in Finnland arbeiten. Stellen Sie sich vor, so hat er das gesagt! Klar, hat man ihn zurückgeschickt.“

    Einmal hat sich eine Schar solcher Flüchtlinge in das entlegene Dorf Kajraly verirrt. Dort wohnen 19 Menschen. Ein paar Kilometer weiter ist die finnische Grenze, aber das interessiert niemanden. Hier wird Holz gefällt, und man sieht sich wochenlang nicht. Und auf einmal tauchen diese merkwürdigen Menschen auf: mit dunkler Haut, halb erfroren, mit farbigen Decken über leichten Jacken. In Kajraly befindet sich das einzige Lokal im Umkreis von Hunderten von Kilometern. Normalerweise schauen drei Menschen pro Tag hier vorbei. Die Einheimischen haben noch nichts über das Geschäft mit den Flüchtlingen gehört, sie sehen überhaupt zum ersten Mal so viele dunkelhäutige Menschen. Das ganze kleine Dorf ist gekommen, um sie sich anzuschauen, man gibt ihnen Kleidung, lässt sie sich aufwärmen, hilft, Autos zu reparieren. Danach sind die Flüchtlinge wieder Richtung Kandalakscha aufgebrochen, für den zweiten Versuch, die Grenze nach Finnland zu überqueren.

    Aber Abderrahim ist in Petersburg geblieben. Arbeit hat er noch keine gefunden. Sein russisches Visum ist abgelaufen. Er hat sich auf einer Couchsurfing-Site angemeldet und übernachtet kostenlos bei verschiedenen Menschen. Nach Hause zurück kann er nicht, er hat ja seiner Mutter versprochen, die Familie von ihren Schulden zu erlösen. Die Polizei hat ihn noch nicht erwischt.

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  • Wer lebt glücklich in Russland?

    Wer lebt glücklich in Russland?

    Dem Dichter und Publizisten Nikolaj Nekrassow ging es gut, er hätte glücklich sein können. Aber er lebte im 19. Jahrhundert und er lebte in Russland und so füllte er seine persönlichen goldenen Jahre mit der Arbeit an einem Poem über die Unentrinnbarkeit des irdischen Leidens. Glücklich sein im Hier und Jetzt, das können Russen nicht, analysiert der Historiker und Chefredakteur des Portals Snob Nikolai Uskow, selbst eine schillernde Figur des modernen intellektuellen Russland. In seinem kulturhistorischen Essay jedenfalls geht er dem russischen Leiden zunächst einmal an die Wurzeln. Erst wenn alles vorbei ist, sagt er, dann wird es bei uns schön! Beerdigungen sind in Russland der Höhepunkt der Glückseligkeit. Wie kann das sein? Uskow ruft dazu auf, es anders zu machen, auch einmal Russland Russland sein zu lassen, und Erfüllung im individuellen Leben zu suchen.

    Können Sie sich diese Frage in einem anderen Land vorstellen, etwa in Frankreich? Wer lebt in Frankreich glücklich? Na, alle doch. Und über den existenziellen Abgrund legen sich augenblicklich die Seerosen von Claude Monet. Platanen, der Duft von Kaffee und frischem Gebäck, Vögelchen in den Tuilerien – in Frankreich gibt und kann es keine Hölle geben, höchstens eine unglückliche Liebe, aber die ist etwas Wunderbares. Selbst der Clochard, der eben unter der Brücke Pont Alexandre III aufwacht, erfreut sich an der lieben Sonne und lächelt den frühmorgendlichen Joggern zu. „Bonjour, M’sieur!“

    Nekrassow stellte seine verzwickte Frage in jener Epoche unserer Geschichte, die man heute beinahe als ihr Goldenes Zeitalter ansieht. Urteilen Sie selbst: Er arbeitete zwischen 1863 und 1878 an seinem Poem. Die Großen Reformen Alexanders II., Dostojewski, Tolstoi, Turgenjew, Ostrowski, Gontscharow, Tschaikowski, Mussorgski, die Akademiemitglieder und Peredwishniki – faktisch entstand das, was später in beträchtlichem Maß den Begriff Russland ausmachen würde. Doch nein, bei Nekrassow finden wir keine Begeisterung über die Epoche. „Schon ärmre Zeiten sah das Land, bösartigere nicht“ – diese Worte lieh er sich bei der damals höchst angesagten Schriftstellerin Nadeshda Chwoschtschinskaja und bewaffnete damit auf ewig alle Russland-Nörgler: Nur so sprach man meiner Erinnerung nach über die Siebzigerjahre und über die Achtziger- und über die Neunziger– und über die 2000er Jahre, von der Gegenwart ganz zu schweigen.

    Wenn wir das Poem Wer lebt glücklich in Russland? aufschlagen, stoßen wir umgehend auf die Quetschprovinz, den Kummerleider-Amtsbezirk, das Kirchspiel Ödendorf. Da ist sie, die Geografie des Goldenen Zeitalters: die Dörfer Flickdorf, Lochdorf, Barfußdorf, Frierdorf, Branddorf und auch Hungerdorf. Nekrassows Absicht zufolge hätte das Poem zu einem Panorama des menschlichen Leidens werden sollen. Bauern, Popen, Gutsbesitzer, Beamte, Handelsleute und sogar der Zar – aus Nekrassows Sicht sind hier alle unglücklich. Unglücklich ist anscheinend auch der Dichter selbst.

    Und das, obwohl der Adlige Nekrassow eine glänzende Karriere machte und der womöglich erfolgreichste Verleger und Redakteur der Geschichte des russischen Zeitschriftenwesens war. Er lebte mit einer Frau zusammen, der Schönheit Awdotja Panajewa, aber in der Wohnung ihres Gatten Iwan Panajew. Diese merkwürdige Konstellation sorgte beim Publikum für die unglaublichsten erotischen Fantasien. Als das gewagte Verhältnis mit den Panajews endete, erlebte Nekrassow weitere aufregende Leidenschaften. Und dazu hatte Nikolai Alexejewitsch auch unglaubliches Kartenglück und gewann Hunderttausende von Rubeln. Dank dem finanziellen Wohlstand konnte sich der Dichter einer weiteren seiner aristokratischen Passionen hingeben, der Hetzjagd. Sein mit Eigenmitteln gekauftes Gut Karabicha im Gebiet Jaroslawl zeugt durchaus anschaulich von den beträchtlichen materiellen Möglichkeiten des Dichters. Und dann erwarb sich dieser vom Schicksal zweifellos verwöhnte Mann plötzlich den Ruf, der größte Leidende der russischen Literatur zu sein. Das Sein bestimmte in keiner Weise sein Bewusstsein.

    Der russische Mensch lebt nie im Frieden mit seiner Zeit. Widerstrebend erträgt er sie, mit aufeinandergepressten Lippen und zusammengezogenen Augenbrauen, ist immer irgendwo abseits, am Rand. Unzufrieden brummt er in den Bart, fantasiert entweder von der Vergangenheit oder von der Zukunft. Dort war oder wird alles anders sein als in der verzwickten Gegenwart.

    Die Nekrassow vorausgegangene Generation adliger Gutsbesitzer hatte von der Aufhebung der Leibeigenschaft geträumt. Nicht etwa deswegen, weil ihnen das in irgendeiner Hinsicht, zum Beispiel für die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft, nützlich gewesen wäre. Im Gegenteil, die Aufhebung der Leibeigenschaft bedeutete ihren Ruin. Doch der Besitz von Leuten war für die adligen Revolutionäre etwas Beschämendes, Schändliches. 1861 hob Zar Alexander II. die Leibeigenschaft dann endlich auf. Die Schande, könnte man meinen, hatte ein Ende gefunden. Doch nein. Nekrassow schreibt:

    Fürwahr, die große Kette brach
    Und sprang in Stücke ganz:
    Das eine Ende traf den Herrn,
    Das andre Ende uns!

    Die „Schande der Leibeigenschaft“ verwandelt sich unerwartet in eine „große Kette“. Alles ist jetzt schlechter als zuvor. Und so wird es in Russland offenbar immer sein: Mit Stalin wurde das Land zu einem Imperium. In der Sowjetunion waren Bildung und medizinische Versorgung kostenlos, und die Kühlschränke quollen über vor Lebensmitteln. Wenn Putin dereinst abtritt, wird man auch über seine Zeit Legenden erfinden und Lieder darüber singen. Daran zweifle ich nicht im Geringsten.

    Glücklich leben in Russland nur die Toten. „Sie haben ausgelitten“, pflegt das hiesige Volk über sie zu sagen. Nekrassow starb an Magenkrebs, es vergingen einige wenige Jahre, und schon begann man sein Jahrhundert als absolut goldenes anzusehen.

    Für Tote gibt es bei uns überall einen Weg, für Tote gibt es bei uns überall Ehren. Endlich sagt man über dich nur noch Gutes. Man begräbt dich mit herzzerreißendem Enthusiasmus. In Russland war Suworow der erste glückliche Leichnam: „In allen Straßen, durch die sie ihn fuhren, standen die Leute dicht an dicht. Alle Balkone und sogar die Hausdächer waren voller bekümmerter, weinender Zuschauer“, erinnert sich Schischkow. Später würde Puschkins und Tolstois Begräbnis folgen. Lenins und Stalins Begräbnis. Wyssozkis Begräbnis, Sacharows Begräbnis. Jelzins Begräbnis. Begräbnis, Begräbnis, Begräbnis. In Russland sind Hochzeiten immer missraten, versoffen und vulgär. Hochzeit – das bedeutet Schlägereien und protzige Uhren wie die von Peskow. Dafür sind die Begräbnisse majestätisch.

    Der Tod ist der Übergang zur Unsterblichkeit, ist der Sieg über das verhasste Leben. Stalin muss etwas in der Art in Bezug auf den nationalen Charakter gefühlt haben. Denn er war es, der das Feiern von Todestagen initiierte. 1937 feierte das Land im großen Stil den 100. Todestag Puschkins. Pioniere salutierten ihm, Bauern brachten Gaben dar und Stachanow-Arbeiter nahmen aus Anlass des Festes erhöhte sozialistische Verpflichtungen auf sich. 1952 feierte die jubelnde Volksmenge den 100. Todestag Gogols. Auf einem Boulevard wurde ein lebensfroher, breitschultriger Bursche aufgestellt, während man Andrejews depressive Jammergestalt den Blicken entzog. Gogol quälen bei seinem Eintritt in die Ewigkeit keine Koliken und Zweifel mehr, er ist selbstbewusst, gesund und fröhlich.

    Übrigens heißt das eindringlichste Poem über unsere Heimat ja Die toten Seelen. Schon seit siebzig Jahren sind wir stolz darauf, der Gefallenen zu gedenken, und scheren uns dabei kein bisschen um die am Leben Gebliebenen. Das wichtigste Ereignis in der Geschichte des Landes ist ein mörderischer Krieg. Mit einem unguten Leuchten in den Augen kämpfen Historiker und die Gesellschaft dafür, dass die Opfer dieses Kriegs so furchtbar wie möglich aussehen: nicht sieben Millionen, sondern zwanzig, nicht zwanzig, sondern siebenundzwanzig, und wenn man auch die Ungeborenen dazuzählt, ganze fünfzig Millionen. Nein, hundert! Der wichtigste Politiker des Landes ist auch sein wichtigster Henker, Josef Stalin. Das wichtigste Heiligtum ist das Grabmal des unbekannten Soldaten. Das Land unterdrückt, quält, mordet, plündert, vertreibt und fordert dann die Asche der glücklich am Leben Gebliebenen zurück, um sie hier zu begraben. Mit allen Ehren. Welch erbitterte Grabenkämpfe führte man wegen der sterblichen Überreste Brodskys und jetzt Rachmaninows.

    „Die Toten haben keine Schande“, sagte Fürst Swjatoslaw Igorewitsch, der Vater des heiligen Wladimir. Letzterem will man übrigens, natürlich zum 1000. Todestag, ein Denkmal aufstellen. Die Toten haben keine Schande, dafür haben die Lebenden so viel, wie sie nur können, die Lebenden leben in Kommunalkas und Baracken, schuften und saufen, verblöden und verrohen. Die Lebenden beneiden die Toten.

    Eine hübsche Erklärung für diese nationale Nekrophilie könnte der spontane Platonismus der russischen Weltanschauung sein, den wir zusammen mit dem orthodoxen Glauben von den Griechen übernommen haben sollen. Die wahre Welt ist ein Jammertal, hier gilt es zu leiden und zu darben, das echte Leben kommt danach, beispielsweise jenseits des Grabs. Der Katholizismus stand tatsächlich unter geringerem Einfluss von Seiten Platons, orientierte sich vornehmlich an den Stoikern und Aristoteles und vermochte deshalb eine Generation glücklicher Menschen zu erziehen, die im Heute leben und sich an Monets Seerosen, der Sonne und dem Wein erfreuen. Denn diesen trinkt man wirklich, um sich zu erfreuen. Den Wodka, um zu vergessen.

    Aus der platonistischen Philosophie lässt sich nach Belieben die Ärmlichkeit russischer Wohnungen ableiten, die schiefen Zäune, verwilderten Gärten, Hoftoiletten, die Müllberge am Straßenrand, die himmelschreiende Vernachlässigung von Ästhetik, Hygiene und guten Manieren. Aber hübsche Erklärungen sind selten zutreffend. Wo elementare Armut und Düsternis vieles bestimmen, darf man nicht nach Philosophie suchen.

    Ich vermute den Grund für unsere ewige Fixierung auf das Jenseits eher in den Eigenheiten des nationalen Staatswesens. Die erdrückende Mehrheit der hiesigen Menschen ist nicht nur von der Macht entfremdet, sondern hat auch das Gefühl, nicht einmal über ihr eigenes Leben bestimmen zu können. Nikolai Alexejewitsch Nekrassow selbst hätte, wenn er in England geboren wäre und dort so einflussreiche Zeitschriften herausgegeben hätte, wie es Sowremennik und Otetschestwennye sapiski waren, nicht traurige Poeme geschrieben, sondern Gesetze, und zwar im Unterhaus. Zur Fuchsjagd auf seinem Gut in der Grafschaft Surrey hätten die einflussreichsten Mitglieder der Whigs, Herzöge und Abgeordnete um sich versammelt, nicht progressive Rasnotschinzy.

    Die denkenden Menschen, die in ganz Europa zur Lokomotive der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft wurden, verdrängte man unsere gesamte Geschichte hindurch von jeglichen Entscheidungsbefugnissen. Im Endeffekt suchte sich ihre Sorge um das Gemeinwohl ein Ventil in harter Kritik am Geschehen, im Gram und in der Verachtung der Gegenwart.

    Glücklich lebten in Russland wohl nur diejenigen, die sich nicht mit verzwickten Fragen quälten, sondern die Dinge anpackten und die Gegenwart als beste aller möglichen Welten ansahen. Solche Macher gab es zu jeder Zeit reichlich und doch waren es lächerlich wenige. Mein Ratschlag zur Krise: Lasst Russland in Ruhe, ihr könnt das Land nicht verändern, aber so habt ihr immer noch die Chance auf ein interessantes und bequemes Leben. Puschkin, dem das Schicksal viel weniger Erfolg schenkte als Nekrassow, wusste das:

    „… Ich murre nicht deswegen, weil die Götter mir versagten,
    In zärtlicher Beschwernis die Steuern zu beklagen
    Oder Zarn zu störn, einander zu bekriegen;
    Ob es der Presse freisteht, Idioten zu betrügen
    Oder ob Zensoren, empfindlich, dumme Schwätzer
    Am Spaltenfüllen hindern, kann mich kaum verletzen.
    Das sind nur Worte, Worte, Worte weiter nichts,
    Auf andre, bessre Rechte leg ich mehr Gewicht;
    Die andre, bessre Freiheit ist mir mehr vonnöten;
    Vom Zaren abzuhängen oder von Proleten –
    Ist das nicht völlig gleich? Gott mit euch!
    Aber keinem
    Je Rechenschaft zu geben, sich selber nur zu meinen
    Beim Schaffen und im Dienst; für Macht und für Livreen –
    Gewissen und Gedanken, den Hals nicht zu verdrehen;
    Zu schlendern hier und dort, nach eigner Lust und Laune
    Die gottgegebne Schönheit der Natur bestaunen,
    Und durch die Schöpfungen von Geist und Kunst verführt,
    In freudiger Entzückung zu zittern tief gerührt.
    – Das nenn ich Glück! Hier liegen Rechte …“

    (Deutsch von Eric Boerner)


    Pushkin zitiert mit freundlicher Genehmigung des Übersetzers.

    Nekrassow zitiert nach: Gedichte und Poeme: Nikolai Alexejewitsch Nekrassow, Nachdichtung von Martin Remané und Rudolf Seuberlich, Berlin [u.a.] 1965 (Aufbau-Verl.)

     

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