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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Diktatur ohne allmächtigen Diktator

    Diktatur ohne allmächtigen Diktator

    1450 politische Häftlinge hat die Menschenrechtsorganisation Wjasna mittlerweile in Belarus registriert. Die Zahl steigt seit dem Jahr der historischen Proteste unaufhörlich. Die Dunkelziffer dürfte, davon gehen Experten aus, noch wesentlich höher liegen. Viele sehen davon ab, sich offiziell als „politischer Häftling“ führen zu lassen, da dies Repressionen für Freunde und Angehörige nach sich ziehen könnte. Die Machthaber um Alexander Lukaschenko gehen also nach wie vor gegen jeglichen Widerstand vor und versuchen, diesen bereits im Keim zu ersticken. 

    Das Ausmaß der Proteste vor zwei Jahren scheint Lukaschenko derart getroffen zu haben, dass er alles dafür tut, eine weitere Eruption von Proteststimmung mit aller Gewalt zu verhindern. Deswegen soll das System auch auf die Zeit nach Lukaschenko vorbereitet und in seinen autoritären Strukturen gestärkt werden. Wie das aussehen kann und welche Tücken damit verbunden sind – das analysiert Waleri Karbalewitsch in seinem Beitrag für das Online-Medium SN Plus

    Lukaschenko hat eine Sitzung zu Gesetzentwürfen abgehalten, die Korrekturen im staatlichen Verwaltungssystem vorsehen. Die Sitzung war begleitet von langen und konfusen Ausführungen, in denen er versuchte, den Sinn und Zweck der Neuerungen zu erklären. Aus diesen widersprüchlichen und wenig konkreten Äußerungen war der Inhalt seiner Ideen nur schwer zu erahnen. Man kann nur vermuten, dass er das autoritäre System auch im Falle seines Ausscheidens aus dem Amt aufrechterhalten sehen will. Damit seine persönliche Sicherheit, die Sicherheit seiner Familie und seines engsten Kreises gewährleistet ist.

    Er erklärt das folgendermaßen:

    „Heute sind wir da. Morgen vielleicht auch. Aber übermorgen definitiv nicht. Also müssen wir eine Basis schaffen, Stabilität … Damit das System robust ist und niemand daran rütteln kann. Das ist der Schlüssel zu unserer Zukunft. Wir werden uns aus dem aktiven Geschehen zurückziehen, aber wir werden weiterleben und beobachten, wie sich das Land entwickelt … Meine Aufgabe ist es, der neuen Generation ein vernünftiges System zur Verwaltung von Staat und Gesellschaft zu hinterlassen. Das ist der Sinn.“

    Ein Charakterzug von Lukaschenkos politischem Stil ist es, Dinge zu sagen, indem er sie verneint. Wenn er etwas strikt ablehnt, ist es vermutlich genau das, was er will. Und auch jetzt hören wir:

    „Auf keinen Fall sollte man diese Gesetzentwürfe und Gesetze auf sich selbst beziehen: ‚Wo werde ich morgen sein, wo wird Golowtschenko, Andreitschenko oder Kotschanowa, Sergejenko sein und so weiter.‘ Auf gar keinen Fall! Wir müssen davon Abstand nehmen und die Gesetze für morgen machen.“

    Ja, so haben sich das alle gedacht.

    Die Macht soll einer herrschenden Nomenklatura gehören

    In Lukaschenkos Vorstellung soll das politische Regime der Zukunft kein Regime der persönlichen Macht sein. Deshalb sieht die neue Verfassung vor, dass im Falle des Ausscheidens des Präsidenten seine Befugnisse nicht auf den Premierminister übergehen, wie das bei der alten Verfassung war, sondern auf den Vorsitzenden des Rates der Republik. Weil der Regierungschef nach Ansicht Lukaschenkos seine Macht missbrauchen könnte. Lukaschenko sagt:

    „Stellen Sie sich vor, der Premierminister führt nach dem Ausscheiden des Präsidenten Präsidentschaftswahlen durch, was dann seine Aufgabe ist. Das Budget, die Wirtschaft, die Finanzen und so weiter – alles ist in einer Hand. Richtig? Richtig. Das Ergebnis wäre in jeder Demokratie recht vorhersehbar … Das ist doch wahrscheinlich nicht ganz korrekt. Es muss schließlich ein System von Checks and Balances, von Machtgleichgewicht geben …“

    Aber andererseits will Lukaschenko die Macht auch nicht dem Volk geben und die Bürger die Regierungsorgane in freien Wahlen selbst wählen lassen. Genau deshalb hat er sich überlegt, dass das nicht gewählte Organ Allbelarussische Volksversammlung als oberste staatliche Instanz eingesetzt werden soll.

    Mit anderen Worten, eine Art hybrides Regime, bei dem die Macht nicht – so wie bisher – einer Person gehört, sondern einer herrschenden Nomenklatura, die sich auf verschiedene Institute verteilt, die völlig unabhängig vom Volk agieren. Also eine Diktatur ohne allmächtigen Diktator.

    Eine komplexe und schwierige Aufgabe. Denn es ergibt sich sofort eine Reihe von Problemen.

    Erstens zeigt die Erfahrung weltweit, dass das Ausscheiden des Diktators in personalistischen Regimen normalerweise eine politische Krise auslöst. Weil es keine echten Mechanismen der Machtübergabe gibt.

    Das Hauptproblem besteht darin, dass die grundlegenden Staatsinstitute in derartigen Systemen nicht funktionieren. In Belarus existieren die Nationalversammlung mit ihren zwei Kammern, das Verfassungsgericht und die normalen Gerichte nur als Dekoration. Dasselbe kann man über die Allbelarussische Volksversammlung sagen. Auch die Regierung arbeitet exakt in dem von Lukaschenko vorgegebenen engen Rahmen. Und zu erwarten, dass diese atrophierten Institute bei Lukaschenkos Abgang plötzlich zum Leben erwachen und anfangen zu funktionieren, ist ein wenig naiv.

    Als ob das nicht genug wäre, fügt Lukaschenko dieser kaputten Maschine ein weiteres Element in Form der Volksversammlung hinzu. Damit wird das simple, einer Deichsel vergleichbare System der Alleinherrschaft übermäßig verkompliziert. Ein autoritäres Regierungsmodell kann naturgemäß nicht komplex sein. Komplex, vielschichtig, mehrstufig und pluralistisch sind demokratische Systeme. Aber der Autoritarismus muss homogen, eindeutig und mit starren hierarchischen Mechanismen ausgestattet sein, die nach dem Motto funktionieren: „Ich Chef – du Idiot.“

    Wichtig ist der Hinweis, dass die Volksversammlung im Prinzip nicht dazu gedacht war, einen Staat zu verwalten. 1200 Menschen, die sich einmal im Jahr versammeln, sind nicht nur nicht in der Lage, irgendwelche wichtigen Entscheidungen zu treffen, sie können nicht einmal ernsthafte staatspolitische Fragen erörtern. Alle sechs bisherigen Volksversammlungen dienten lediglich dazu, vorgefertigte Dokumente durchzuwinken. Es ist per Definition unmöglich, dieses dekorative Institut in ein echtes Regierungsorgan zu verwandeln. Das einzige, wozu die Volksversammlung dank ihrem neuen Status fähig ist, ist es, das Verwaltungssystem endgültig aus dem Gleichgewicht zu bringen, das auch so aus dem Gleichgewicht geraten wird, sobald der zentrale Pfeiler weg ist: der Alleinherrscher.

    Hier sollten wir uns an die Erfahrung aus Gorbatschows Perestroika erinnern. Der schlanken und einfachen sowjetischen Ordnung wurden Elemente eingepflanzt, die für sie schädlich waren. In die Planwirtschaft wurde das Virus der Rentabilität, der Eigenfinanzierung und unternehmerischen Selbstverwaltung eingeschleppt. In das totalitäre politische System unter der Führung der KPSS – das Virus der Glasnost. Aus heutiger Sicht scheinbar ganz harmlose Dinge. Aber in der Folge ist das System nach kürzester Zeit zusammengebrochen.

    Ich wage die Prognose, dass Lukaschenko sich eigenhändig eine Mine in sein neu geschaffenes System legt. Denn das kann nur so lange funktionieren, wie er selbst an der Macht bleibt.

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  • Im Wendekreis des Nobelpreises

    Im Wendekreis des Nobelpreises

    Alexander Lukaschenko behauptet seit Beginn des russischen Angriffskrieges immer wieder, dass die Ukraine und auch die NATO einen Angriff auf Belarus planen würden. Genau dies hat der belarussische Machthaber nun auch vordergründig angeführt, um die Aufstellung einer gemeinsamen regionalen Truppe mit Russland auf den Weg zu bringen. Mittlerweile sollen bereits rund 9000 russische Soldaten in Belarus angekommen sein. Die neu geschaffene Einheit soll an der Grenze zur Ukraine stationiert werden. Zudem laufen Vorbereitungen, den Zivilschutz zu bewaffnen und Bunkeranlagen im ganzen Land auszurüsten. Auch gibt es immer wieder Hinweise, dass Lukaschenko doch planen könnte, seine Armee aufzustocken. In den vergangenen Wochen hat die Staatsführung auch immer wieder Treffen mit seinen Sicherheitsbehörden abgehalten. Trotz dieser Drohgebärden hat Lukaschenko immer wieder dementiert, in den Krieg gegen die Ukraine mit eigenen Truppen aktiv eingreifen zu wollen. Könnten diese Entwicklungen jedoch ein Hinweis darauf sein, dass Putin und seine Armee den Druck auf den widerwilligen Nachbarn erhöht haben, um ihn doch zum Eingreifen zu zwingen? In jedem Fall sind dies alles auch Zeichen dafür, dass Lukaschenkos Macht durch den Kreml offensichtlich untergraben und damit ausgehöhlt wird.

    Wie souverän kann der belarussische Machthaber überhaupt noch agieren? Ist er mittlerweile ein Getriebener der Umstände, in die er sich vor allem seit 2020 selbst manövriert hat? Was bedeutet dies für die Unabhängigkeit von Belarus? Mit diesen und anderen Fragen beschäftigt sich der belarussische Politanalyst Waleri Karbalewitsch in seinem Beitrag für das Online-Medium SN Plus. Dies tut er vor dem Hintergrund der Bekanntgabe des Friedensnobelpreises, der unter anderem an den belarussischen Menschenrechtler Ales Bjaljazki geht – dem als Häftling Lukaschenkos eine besondere Rolle im Spiel um die Macht zufallen könnte.

    Beinahe unbemerkt ging das in diesem Jahr achte Treffen von Lukaschenko und Putin über die Bühne. Diesmal in Sankt Petersburg, am Rande eines informellen GUS-Gipfeltreffens, das zeitlich mit Putins 70. Geburtstag abgestimmt worden war. Die eher ephemere GUS hat als Organisation ihre Bedeutung längst eingebüßt. Und um die Oberhäupter der postsowjetischen Staaten zu versammeln, muss Moskau erfinderisch werden. So werden die Präsidenten der GUS-Länder zu Feierlichkeiten eingeladen, etwa zum Tag des Sieges. Und die werden dann zu informellen Gipfeltreffen erklärt. Jetzt haben sie sich also ausgedacht, Putins runden Geburtstag als Anlass zu nehmen. Womit eine Absage wie eine demonstrative Respektlosigkeit gegenüber dem russischen Präsidenten aussieht. (Diesmal sind übrigens die Präsidenten von Kirgistan und Moldau nicht angereist.)

    Die Gespräche zwischen Lukaschenko und Putin dauerten rund eine Stunde. Vermutlich war es eine Fortsetzung ihrer kürzlich nicht zu Ende gebrachten Diskussion in Sotschi. Inzwischen ist etwas für die belarussisch-russischen Beziehungen sehr Wichtiges passiert: Moskau hat Belarus für seine Verluste durch das russische Steuermanöver eine Kompensation in Form einer „Rückerstattungsakzise“ für belarussische Raffinerien zugesagt. 

    Im Gegenzug stimmte Minsk einer Vereinheitlichung der Steuergesetze mit Russland zu, wogegen sich die belarussische Führung jahrelang gewehrt hatte. Aus einer Reihe von Gründen: Erstens bedeuten jegliche Veränderungen im Steuersystem eine Erschütterung wirtschaftlicher Subjekte und der Wirtschaft insgesamt. Zweitens ist anzunehmen, dass die Steuergesetze nach russischem Vorbild vereinheitlicht werden. Dass Russland seine Steuern an die belarussischen Bestimmungen anpasst, ist schwer vorstellbar. All das bedeutet, dass Belarus der Möglichkeit beraubt wird, selbständig seine eigenen Steuern für die steigenden Preise und Akzisen zu erheben. Steuerpolitik ist ein wichtiger Bestandteil der wirtschaftlichen Souveränität eines jeden Staates. Zugunsten Russlands gibt Belarus diese jetzt auf. Außerdem wird ein supranationaler Ausschuss für Steuerangelegenheiten eingerichtet, der diesen ganzen Prozess beobachten und kontrollieren soll. Wodurch Russland auf die gesamte Steuerdatenbank von Belarus, auf alle belarussischen Steuerzahler, Zugriff erhält. Der Preis dafür sind 500 Millionen US-Dollar pro Jahr, die Belarus von Russland als Kompensation für das Steuermanöver erhält. Für den Verzicht auf einen bedeutenden Teil der wirtschaftlichen Souveränität ist das nicht viel.

    Vor einem Jahr, als von den Bündnispartnern 28 Programme der wirtschaftlichen Integration beschlossen wurden, wurde ihr Inhalt von Experten diskutiert. Viele waren der Meinung, sie seien nichts als leere Deklarationen. Möglicherweise wäre es dabei auch geblieben, wäre es nicht zum Krieg und einer verschärften internationalen Isolierung von Belarus gekommen. Jetzt aber, angesichts dieser Verflechtungen, opfert Lukaschenkos Regime im Kampf ums Überleben Stück für Stück immer mehr Teile seiner staatlichen Souveränität.   

    Der Kampf um die Preise

    Am 6. Oktober hielt Lukaschenko eine Sitzung zum Thema Preispolitik und Inflation ab. Am selben Tag unterschrieb er die Direktive Nr. 10 „Über die Unzulässigkeit von Preiserhöhungen“, in der festgelegt ist, dass Personen, die die Forderungen dieses Dokuments missachten, zur Verantwortung zu ziehen sind bis hin zur strafrechtlichen Verfolgung.

    Das Thema Preise ist in Belarus seit Lukaschenkos Amtsantritt aktuell. Seine gesamte Regierungszeit hindurch kämpft er gegen die Preissteigerungen. Doch mit sehr kümmerlichen Ergebnissen. Die Inflationsrate in Belarus war in den letzten 30 Jahren eine der weltweit höchsten. Dass diese Direktive in wirtschaftlicher Hinsicht sinnlos ist, ist klar. Längst ist bewiesen, dass der Kampf gegen die Preiserhöhungen mit administrativen Methoden nicht effektiv ist. Weil er mehr Schaden als Nutzen bringt und zur Warenverknappung und Zerstörung der Unternehmensstrukturen führen kann. Zudem ist die Inflation heute ein globales Problem – eine Folge der Covid-Pandemie und der wachsenden Preise für Energie und Lebensmittel aufgrund des russischen Kriegs gegen die Ukraine

    Zweifellos ist der Erlass dieser Direktive ein politischer Akt. Den Lukaschenko schon oft unternommen hat: Es ist ein Versuch, zum Wirtschaftspopulismus zurückzukehren. Doch in den letzten Jahren ist im Land zu viel passiert, als dass er mit so primitiven Tricks sein Image aufbessern könnte. Man sollte hier aber auch beachten, wie konsequent Lukaschenko auf eine Mobilmachungsökonomie setzt. Es herrscht ein Kampf gegen das Unternehmertum, die Arbeitsbedingungen für Gewerbetreibende und für Anbieter im Agrotourismus werden immer schlechter. Lukaschenko ordnete die Mobilisierung von Studenten und Schülern für die landwirtschaftliche Arbeit an, verlangte ein Verbot der freien Wohnsitzwahl innerhalb des Landes für Verwaltungsbeamte und Fachkräfte. Denn das Jahr 2020 hat gezeigt, dass die Marktwirtschaft eine sozialpolitische Schicht hervorbringt, die für den Fortbestand der Diktatur eine echte Bedrohung darstellt. 

    Der zweite belarussische Nobelpreis

    Vor zehn Jahren noch hätten die Belarussen nicht einmal davon träumen können. Aber heute haben sie den zweiten Nobelpreisträger innerhalb von sieben Jahren. Der prominente Menschenrechtler Ales Bjaljazki wurde mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Gewissermaßen erfährt die Welt dank des Nobelpreises von Belarus.

    Der Sprecher des belarussischen Außenministeriums, Anatoli Glas, ließ sogleich verlauten, dass der Friedensnobelpreis politisiert worden sei. Ein seltsamer Vorwurf. Denn von allen Nobelpreisen ist er der einzige, mit deutlich politischem Subtext. Wie soll man schließlich außerhalb des politischen Raums für Frieden kämpfen? Krieg und Frieden sind die zentralen politischen Herausforderungen der Gegenwart. Daher kann ein Friedenspreis per se nicht unpolitisch sein.    

    Der Krieg in der Ukraine spielte in diesem Jahr eine wichtige Rolle bei der Nominierung, wie auch die Vorsitzende des Nobelkomitees, Berit Reiss-Andersen, bestätigte. Den Friedenspreis zu vergeben und dabei diesen großen Krieg in Europa seit 1945 zu ignorieren, der die ganze Welt erschüttert, wäre unlogisch. Die Preisträger mussten irgendwie damit zu tun haben. Andererseits: Während dieses erbarmungslosen Krieges Kandidaten für einen Friedensnobelpreis zu finden, ist nicht gerade einfach.

    Das Nobelkomitee entschied sich gegen eine Auszeichnung von Politikern, obwohl unter den Nominierten auch Wolodymyr Selensky, Alexej Nawalny und Swetlana Tichanowskaja waren. Die Lösung war, den Preis an Menschenrechtler bzw. Menschenrechtsorganisationen der drei am Krieg beteiligten Länder zu vergeben – was in der Ukraine für Unmut sorgte: Warum werden Vertreter der angreifenden Länder genauso ausgezeichnet wie jene, die die Opfer der Aggressionen repräsentieren?

    Während in Russland und der Ukraine Organisationen geehrt wurden (Memorial und Center for Civil Liberties), fiel die Wahl in Belarus auf eine konkrete Person: Ales Bjaljazki. Obwohl man auch da das Menschenrechtszentrum Wjasna hätte auswählen können, dessen Leiter der belarussische Preisträger ist. Vermutlich wurde diese Entscheidung von mehreren Faktoren beeinflusst: Vor allem ist daran zu erinnern, dass Ales Bjaljazki schon fünf Mal für den Friedensnobelpreis nominiert war. Das heißt, er hatte diesbezüglich eine lange Geschichte. Der zweite wichtige Faktor war, dass Bjaljazki derzeit zusammen mit seinen Wjasna-Anhängern hinter Gittern sitzt. Noch dazu bereits zum zweiten Mal. Jetzt „winkt“ ihm eine saftige Lagerhaft (die Verhandlung liegt noch vor ihm). Er ist als politischer Häftling und Gewissensgefangener anerkannt.

    Zudem sei darauf verwiesen, dass dieser Nobelpreis für Belarus ein Nachhall des Kataklysmus von 2020 ist. Die damaligen Proteste waren eine Zeitlang das größte Medienereignis weltweit. Daher kann man es auch so sehen, dass diese Auszeichnung jene Zehn- und Hunderttausende Belarussen erkämpft haben, die vor zwei Jahren monatelang auf die Straße gingen. Der Preis für Bjaljazki, der hinter Gittern sitzt, sollte die internationale Aufmerksamkeit auf die über tausend politischen Häftlinge in Belarus lenken.

    Was die Reaktion der Regierungen betrifft: Viele meinten, das Nobelkomitee bringe mit dieser Auswahl das belarussische Regime in eine schwierige Situation. Nach dem Motto: Es sei ihm unangenehm, dass sich ein Nobelpreisträger in Haft befindet. Aber auch eine Entlassung wäre peinlich, denn das würde ja aussehen, als ließe Lukaschenko sich von der internationalen Gemeinschaft moralisch unter Druck setzen. Vielleicht stimmt das ja. Vielleicht ist aber auch alles viel einfacher.

    Denn Lukaschenko hat plötzlich einen sehr wichtigen politischen Gefangenen. Den kann er als teure Ware einsetzen und vom Westen ein stattliches Lösegeld verlangen.

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    Steuermanöver (BY)

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  • Der Flug des schwarzen Schwans

    Der Flug des schwarzen Schwans

    „Um ehrlich zu sein, hätte ich nicht erwartet, dass sich die Operation derart hinziehen würde.“ Das sagte Alexander Lukaschenko in einem Gespräch mit der US-amerikanischen Nachrichtenagentur AP in Bezug auf den Krieg, den Russland bereits seit dem 24. Februar gegen die Ukraine führt. Bevor der Kreml seine Truppen aus dem Norden des Landes in den Donbass und in den Süden der Ukraine verlagert hat, war der Krieg bekanntlich auch von belarussischem Staatsgebiet aus geführt worden. Die Monitoring-Gruppe Belaruski Hajun will herausgefunden haben, dass russische Truppen allein von Belarus aus über 630 Raketen in Richtung Ukraine abgeschossen hätten.

    Seit Wochen scheint der belarussische Machthaber eine zweigleisige Strategie gegenüber seinem Kollegen Wladimir Putin zu verfolgen: In der Öffentlichkeit unterstützt er den Krieg Russlands mit hehren Worten der Loyalität. So auch am Tag des Sieges, als Lukaschenko sagte, dass die Belarussen kein Recht hätten, Russland nicht zu unterstützen. Zudem bediente er das vom Kreml gesetzte Narrativ, indem er behauptete, der Westen würde den Nazismus in der Ukraine befördern. Immer häufiger aber mischen sich auch Töne der Kritik und der Distanzierung in Lukaschenkos Reden, was auf die schwierige innenpolitische Lage für den Langzeitautokraten hinweisen könnte. Ebenso auf den Versuch, sich neuen politischen Handlungsraum gegenüber Russland verschaffen zu wollen. Denn einige Belarussen bekunden ihren Unmut gegenüber der Unterstützung des Krieges durch zahlreiche Sabotageakte an den Eisenbahnstrecken in Belarus, was im Volksmund in Bezug auf den Partisanenmythos des Zweiten Weltkrieges bereits Schienenkrieg genannt wird.

    Was hat Lukaschenko vor? Wie steht es überhaupt um seine Unterstützung in der belarussischen Gesellschaft? Fürchtet sich der Autokrat vor einer Proteststimmung, die trotz scharfer Repressionen neu aufkeimen könnte? Der belarussische Politikanalyst Waleri Karbalewitsch versucht in einem Beitrag für das Online-Portal SN Plus Antworten auf diese und andere drängende Fragen zu finden. 

    Viel wurde darüber geschrieben, dass Lukaschenko versucht, seinen außenpolitischen Kurs von 2014 bis 2020 zu wiederholen. Dass er Russlands Krieg gegen die Ukraine und Moskaus Konflikt mit dem Westen nutzen will, um die Beziehung zu den USA und zur EU aufzutauen. Genauso ist anzunehmen, dass Lukaschenko während dieses neuen russisch-ukrainischen Krieges intuitiv versucht, die acht Jahre alte Erfahrung in Bezug auf die gesellschaftliche Stimmung zu nutzen.

    Noch 2014, als der russisch-ukrainische Konflikt begann, hatten unabhängige Meinungsforscher festgestellt, dass zwei Drittel der belarussischen Bevölkerung Russland unterstützen. Die Mehrheit der Belarussen hatte also eine stärkere prorussische Haltung als das offizielle Minsk, das Kurs auf eine (wenn auch nur bedingte) Neutralität nahm. Diese Situation war für die Machthaber sogar ein wenig unbequem, weil es Moskau zusätzliche Hebel zur Einflussnahme auf Belarus an die Hand gab. 
    2020 hat Lukaschenko die Unterstützung der Bevölkerungsmehrheit verloren. Sämtliche unabhängige Experten erklärten einhellig, dass er die Situation nicht ändern kann und bis zum Ende seiner Herrschaft lediglich der Repräsentant einer Minderheit bleiben wird.

    Stimmung in der belarussischen Gesellschaft anders als 2014

    Doch jetzt kam der „schwarze Schwan“ angeflogen: Russlands Krieg gegen die Ukraine, bei dem sich Moskau belarussisches Territorium zunutze machte. Dieses Ereignis hatte vorwiegend negative Folgen für das herrschende Regime: Es wurde zum Mit-Aggressor, es gab neue und härtere Wirtschaftssanktionen und es herrscht Antikriegsstimmung im Land und anderes mehr.

    Möglicherweise hat die aktive politische Unterstützung Lukaschenkos für Russland bei diesem Krieg neben den bekannten Faktoren (der starken Abhängigkeit vom Kreml) auch einen anderen Sinn. Lukaschenko hatte wohl gemeint, dass die Bevölkerung in Belarus – ganz wie 2014 – Russland auch in dem jetzigen Krieg unterstützen würde, dass also die prorussische Stimmung der Bevölkerungsmehrheit und die absolut prorussische Position der Staatsführung im Einklang stehen würden. Und dass Lukaschenko erstmals seit 2020 die Unterstützung der Mehrheit erhalten und der gesellschaftliche Rückhalt breiter wird. Dass er wieder „Präsident des Volkes“ wird, nicht länger ein „Präsident der OMON“. Sprich: Der Krieg würde das Regime legitimieren. Und die Opposition, die die Ukraine aktiv unterstützte, würde erneut marginalisiert und sich wie vor 2020 in einem Ghetto wiederfinden.

    Haben sich diese Hoffnungen erfüllt? Was sagt die Meinungsforschung?

    Laut den soziologischen Daten von Professor Andrej Wardomazki geben nur 24 Prozent der Belarussen Russland die Schuld an dem Krieg, und 52 Prozent meinen, dass die Ukraine und der Westen daran Schuld seien. Es scheint, als hätte Lukaschenko bekommen, was er wollte.

    Wobei die 52 Prozent auch nicht die zwei Drittel von 2014 sind. Und es wird noch interessanter: Es stellt sich heraus, dass nicht 52 Prozent, sondern nur 43 Prozent einen realen Krieg von Russland gegen die Ukraine unterstützen. Und 62 Prozent sprachen sich dagegen aus, dass die Russen belarussisches Territorium für den Angriff auf die Ukraine nutzen.

    Krieg in der Ukraine bringt Lukaschenko kaum politisches Kapital

    Das bedeutet, dass es Lukaschenko nicht gelungen ist, eine überzeugende gesellschaftliche Unterstützung für seine Position zum Krieg in der Ukraine zu erreichen. Ich glaube kaum, dass ihm eine Fortsetzung der Kriegshandlungen zusätzliches politisches Kapital einbringen wird.

    Eine andere Sache ist, dass der Krieg in der Ukraine neue Spaltungen in der Gesellschaft zutage förderte. Wie sich zeigte, hegt ein gewisser Teil der auf Proteste ausgerichteten Community prorussische Sympathien. Das bedeutet, dass nicht alle, die gegen Lukaschenko sind, demokratischen Werten anhängen. Das wurde schon 2020 klar. Aber die derzeitige Tragödie in der Ukraine hat diese Stimmungen an die Oberfläche gespült.
    Lukaschenko hat auf der Sitzung vom 19. April bekanntermaßen verkündet, den Kurs der politischen Repressionen zu verstärken. Dazu gehörte der Schritt, die repressive Gesetzgebung zu verschärfen.

    Mit Androhung der Todesstrafe gegen innere Feinde

    Am 27. April verabschiedete das belarussische Repräsentantenhaus einen Gesetzesentwurf, der für „den Versuch, einen terroristischen Akt zu verüben“ die Todesstrafe vorsieht. Hier muss man betonen, dass diese Gesetzesneuerungen im beschleunigten Verfahren durchgesetzt werden: Die Gesetzesvorlage zur Änderung des Strafgesetzbuches wurde bereits in zweiter Lesung angenommen.

    Bemerkenswert ist, dass die Todesstrafe nicht für den terroristischen Akt selbst, sondern schon für einen Versuch vorgesehen ist. Da der Begriff des Terrorismus in Belarus von der Obrigkeit sehr breit ausgelegt wird, lässt er sich mit jedweder oppositioneller Betätigung in Verbindung bringen. Hierzu gehört insbesondere die Teilnahme an Protestaktionen. Beispielsweise wurden gegen die Politiker Pawel Latuschko und Swetlana Tichanowskaja Anschuldigungen aufgrund von „Terrorismus“-Paragraphen erhoben. 

    Das Repräsentantenhaus verabschiedete darüber hinaus ein Gesetz, das es den Truppen des Innenministeriums erlaubt, zur Unterdrückung von „Massenunruhen“ großkalibrige Waffen einzusetzen. Friedliche Protestaktionen gelten in Belarus bekanntlich als „Massenunruhen“.

    Die Urteile in den „politischen Verfahren“, bei denen die Opposition Haftstrafen zwischen 10 und 18 Jahre erhielt, werden bereits als „stalinistisch“ bezeichnet. Solche Urteile ergingen gegen Bürger der UdSSR in den 1930er und 1950er Jahren. Wir können in Belarus jetzt vom Aufkommen einer „stalinistischen Gesetzgebung“ sprechen. Das Land kehrt konsequent in jene finsteren Zeiten zurück.

    Protest-Stimmung und Sabotageakte 

    Logischerweise stellt sich die Frage: Warum so plötzlich? Die Massenproteste sind zerschlagen. Es scheint keinerlei äußerlich sichtbare Bedrohungen für das herrschende Regime zu geben. Warum also so eine Hektik, den Druck auf die Silowiki zu erhöhen, solche drakonischen Gesetze zu verabschieden?

    Ich denke, neben dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb sieht die Staatsführung eine Zunahme radikaler Stimmung im protestbereiten Teil der Gesellschaft. Das zeigt sich in den Sozialen Netzwerken. Es wird diskutiert, ob die friedlichen Proteste 2020 nicht ein Fehler waren und man nicht entschlossener hätte vorgehen sollen. Auch die Sabotageakte an Eisenbahnstrecken und die Aktivität der Cyberpartisanen lassen die Machthaber zu stärkeren Repressionen greifen. Angst hat schließlich große Augen.

    Wenn aber die Kommunikation mit der Gesellschaft einzig und allein darin besteht, die Daumenschrauben immer fester anzuziehen, dann hat dieses soziale Modell keine Zukunft. Man raubt diesem Land jede Perspektive, wenn man im 21. Jahrhundert mitten in Europa ein Nordkorea errichtet.

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    Zitat #10: „Lukaschenko kapiert nicht, wie massiv er die Belarussen verprellt hat“

    „Wir brauchen keine starken Anführer – wir brauchen eine starke Gesellschaft“

    „Das Jahr 2020 öffnete vielen die Augen“

    Harter Kurs voraus

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  • „Der Krieg mit uns selbst“

    „Der Krieg mit uns selbst“

    Laut des russischen Verteidigungsministeriums sollen die „militärischen Aktivitäten“ in der Ukraine bei Kiew und Tschernihiw deutlich reduziert werden. Man wolle sich vor allem auf den Donbass konzentrieren. Allerdings gingen die Angriffe von russischer Seite auch nach dieser Ankündigung weiter. Es gab auch das erste Treffen seit Wochen zwischen Vertretern der Ukraine und Russland in Präsenz. Doch ob die Verhandlungen wirklich eine Annäherung gebracht haben, wird sich erst zeigen müssen. Bisher wird das eher skeptisch gesehen.

    Belarussische Medien wie Zerkalo berichteten am Dienstag von einem Rückzug russischer Truppen aus der Ukraine nach Belarus, das der Kreml von Anfang an als Aufmarschgebiet für den Angriffskrieg genutzt hat. Immer wieder gab und gibt es Hinweise, dass der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko eigene Truppen in den Krieg schicken könnte, was bis heute allerdings nicht passiert ist. Ein Grund könnte sein, dass Lukaschenko die innenpolitischen Folgen eines solchen Schritts fürchtet. Denn die große Mehrheit der Belarussen scheint gegen den Krieg zu sein. Mittlerweile kämpfen mehrere Gruppen mit belarussischen Freiwilligen auf Seiten der Ukraine. Und im Land selbst haben Belarussen durch diverse Protestaktionen oder Sabotageakte beispielsweise an den Eisenbahnstrecken, über die russisches Gerät transportiert wird, ihren Unmut gegenüber dem Krieg zum Ausdruck gebracht. Ein weiterer Grund: Der Widerstand innerhalb der belarussischen Armee gegen den Kriegseinsatz ist einfach zu groß.

    Die Belarussen befänden sich in einer komplexen moralischen und emotionalen Zwickmühle, meint der belarussische Autor Maksim Shbankou. Nach einer begonnenen friedlichen Revolution im Jahr 2020, die aber nicht zu einem Wechsel der Regierung geführt hat, seien sie nun Teil einer Gemengelage, die durch Lukaschenkos fatale Abhängigkeit vom Kreml entstanden ist. In dieser unheilvollen Situation würden sich auch bekannte Komplexe und Schuldgefühle bemerkbar machen und altbekannte Unsicherheiten in Bezug auf das kollektive Ich der Belarussen. In einem Stück für das belarussische Online-Portal SN Plus seziert der in Vilnius lebende Shbankou die momentanen Selbstvergewisserungsversuche und -möglichkeiten der Belarussen.

    Belarussischer Protest gegen Russlands Krieg in der Ukraine / © Belarusian Canadian Alliance
    Belarussischer Protest gegen Russlands Krieg in der Ukraine / © Belarusian Canadian Alliance

    Der Krieg arbeitet in zwei Richtungen: Er pustet die Hirne durch und erhöht den Grad des Wahnsinns. Klar, die Führung des Landes liegt im Koma. Unangenehm, wenn du selbst nicht im Land bist. Plötzlich schämst du dich, dass hier nicht geschossen wird und du nicht schießt. In die richtige Richtung. Irgendwie peinlich, jetzt shoppen zu gehen. Den Newsfeed zu scrollen – ist eine billige Ausrede: Scheinbar auf dem Laufenden zu sein, aber doch dran vorbei. Du wartest auf eine Invasion oder Raketen. Du weißt nicht mehr genau: Ist es gut oder schlecht, dass Vilnius so nah an Minsk liegt? Seltsam, Filme anzuschauen. Keine Filme zu schauen ist noch seltsamer. Uncool, Russisch zu sprechen. Und du weißt nicht, wo man eine kugelsichere Weste kauft. Unser Film hat Schnellvorlauf integriert. Der Plot schwimmt und schmilzt. Es bleiben nur die einfachen Dinge. Ohne Angst aufwachen. Rausgehen. Die Katze füttern. Sich selbst für schuldig an allem erklären. 

    Die beste Frage des russisch-ukrainischen Krieges: Wie hält man es mit den Belarussen? Am häufigsten hört man das von den Belarussen. Alle anderen kümmert es nur schwach – im Zusammenhang mit Alltagsgeopolitik oder öffentlicher Rhetorik. Sie leben von anderem. Aber wir haben ja nur uns. Unsere Firmenstrategie ist die aggressive Selbstaufopferung: Wir verhören uns selbst, wir richten und verurteilen uns, wir nageln uns selbst ans Kreuz. Wenn man es durchschaut hat, tatsächlich eine hervorragende Form der traumatischen Eigenwerbung. 

    Vielleicht nimmt man uns so wenigstens wahr. 

    Wir sind schuld, dass wir Lukaschenko nicht besiegt haben

    Die erste ukrainische Front ist dort, wo Kiew belagert wird, Iskander in Geburtskliniken einschlagen, ausgebrannte russische Panzer liegen und Wohngebiete flächenbombardiert werden. Die zweite ist in den Köpfen einzelner belarussischer Klugscheißer. Die sich nicht entscheiden können, was sie tun sollen: Reue zeigen oder gekränkt sein. Für alle Fälle wählen sie einfach beides.

    Was hat uns gekränkt? Dass wir im Sandkasten vergessen wurden. Dass wir so großartig sind – aber nur schwach geliebt werden. Prag macht dicht, London will uns nicht, die Grenzer lächeln nicht.

    Dass Europa uns einen Kampf schuldig ist – aber diese Schuld nicht einlöst. Dass Schengenvisa zu kurz sind und die Überweisungen zu lange dauern. Dass die Belarussen nicht im Trend und überhaupt kaum auf der Agenda sind – dabei war das Thema noch gar nicht durch. Dass sie uns blöde mit Lukaschenko verwechseln – und jetzt auch noch mit Putin.

    Plus, wir sind schuld, dass wir Lukaschenko nicht besiegt haben. Und jetzt auch noch Putin.
    Ein triumphales Tribunal. Humanitäre Selbstverstümmelung. Und was nun? Wir wurden so gemacht. Wir haben uns so gemacht. Vermeintliche Papierschiffkapitäne. 

    In einer Situation, in der Dächer einstürzen und Züge brennen, fliegt unser kulturelles Gepäck wie der Koffer eines überstürzt Flüchtenden in alle Winde und legt intime Details grundlegender geistiger Übungen dem zufälligen Betrachter zum Urteil vor. Geistige Klammer namens postsowjetischer Intellektualismus.

    Alles hier besteht aus populären Illusionen, ausgebremstem Transitiv und emotionalen Rückschlägen. In einer solchen nach fremden Vorbildern zusammengebauten Welt bewegen Klugscheißer die Massen und säen das ewig Gute, diktieren Bücher die Regeln, erhalten die Beleidigten Blümchen, triumphiert die Vernunft, herrschen höhere Werte. Und das klangvolle Wort eines Nobelpreisträgers wiegt mehr als eine Ladung Marschflugkörper aufs nächste heiße Ziel.

    Wir warten auf private Tänze im Wahnsinn der globalen Katastrophe

    Hier laufen zwei im postsowjetischen Raum populäre Legenden in einem gemeinsamen Schwung zusammen: intellektuelle Selbstverliebtheit und provinzielle Unterlegenheit. Erstere erlaubt es jedem beliebigen Individuum, das halbwegs „Habermas“ aussprechen kann, im Namen des besten Teils der Nation auf Sendung zu gehen. Letztere bringt einen dazu, sich beleidigt und minderwertig zu fühlen, selbst wenn man es in die höchste Liga geschafft hat. Der traumatische Messianismus bringt komplexbehaftete Helden zum Vorschein und fordert im Gegenzug obligatorische Knickse und regelmäßige Reue. Aber muss man überhaupt sagen, dass beide oben beschriebenen Märchen ausschließlich in unserer Fantasie existieren?

    Die Nation ist eine Abstraktion. Das Volk eine Verallgemeinerung. Ein Konzept. Ein rhetorisches Mittel. Wollen die Russen Krieg? Eine inhaltslose Frage, die nach Konkretisierung schreit. Ist der Dichter schuld, dass er Schriftsteller und nicht Scharfschütze ist? Selbes Spiel. Oder: Ist Belarusse ein Makel oder ein Qualitätsmerkmal? Ebenso. Frag gefälligst konkreter.

    Sich für die Hölle zu entschuldigen ist ausschließlich dann sinnvoll, wenn du – und zwar genau Du und nicht eine angenommene „Nation“ oder ein „Volk“ – irgendwie in der Lage warst, die Geschehnisse zu beeinflussen. Und das nicht getan hast. Mit anderen Worten, Reue erfordert Beteiligtsein.

    Ein in Asphalt gewalztes Land möchte bestimmt nicht an einem Panzertango teilnehmen. Und ohne den verlieren alle Reueakte und weitere Wortakrobatik sofort ihren Wert, wenn wir den Mund aufmachen.
    Noch eine Videoansprache. Noch eine Petition. Ein neues Wortpaket. Eine frische Geste. Und noch ein Kommentar hinterher. Wer hat denn gesagt, dass unsere Konzepte etwas wert sind? Wer hat entschieden, dass die Orks Partituren brauchen?

    Wir sind schön, laut, leicht verbeult – und stehen noch auf einem leeren Bahnsteig. Wir warten auf private Tänze im Wahnsinn der globalen Katastrophe. Wir senden im Namen derer, denen das scheißegal ist. Wir sind bereit, fremde Schuld auf uns zu nehmen, die wir niemals begleichen können. Noch immer zu wenig Liebe? Stellt euch drauf ein, es wird schlimmer.

    Es hat uns alle zugedeckt. So leben wir weiter.

    Die zweite ukrainische Front – das ist der Krieg mit uns selbst. Mit der erdachten Mission und dem erträumten Status. Mit der Facebook-Brunft und der Youtube-Extase. Mit der ewigen Promo-Aktion der eigenen Minderwertigkeit und dem Pseudo-Partisanentum.

    Ein jeder hat sein Gewicht. Seine Geschichte. Und seine Front. Wir brennen wie wir können.

    Alles Weitere ist Agitation und Propaganda.
     

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    Lukaschenkos Macht und Putins Krieg

     „Ich, eine Bürgerin der Republik Belarus, bin gegen die Beteiligung von Belarus beim russischen Militärangriff auf die Ukraine. Ich fordere den Abzug der russischen Truppen aus Belarus. Ich möchte, dass mein Land ein Territorium der Sicherheit ist und sich nicht an Aggressionen beteiligt.“ Dies schrieb die belarussische Lyrikerin Julia Cimafiejeva am gestrigen Sonntag wie viele andere auf Facebook. Es entwickelte sich ein Flashmob, dem sich viele Belarussen anschlossen, um auch gegenüber den Ukrainern auszudrücken, was sie von einem möglichen Einstieg Alexander Lukaschenkos mit eigenen Truppen in Russlands Krieg halten. Am Wochenende hatte es Hinweise gegeben, dass die belarussische Armee anscheinend in der Phase der Mobilmachung sei. Auch zwei Marschflugkörper waren von Belarus in Richtung Ukraine abgefeuert worden, allerdings, wie Lukaschenko selbst mitteilte, von der russischen Armee. Dennoch ist Lukaschenko bereits tief in den Krieg verstrickt. Im Land stehen mehr als 30.000 russische Soldaten und entsprechendes Gerät. Anscheinend werden verwundete russische Soldaten auch in belarussischen Krankenhäusern versorgt, zudem unterstützen die belarussischen Machthaber den Kreml hinsichtlich der Logistik, Militäraufklärung oder Dienstleistungen für die russische Armee. Dass Lukaschenko aktiv in den Krieg eingreifen könnte, ist nach wie vor nicht ausgeschlossen. Es gibt Berichte von Truppensammlungen in der Nähe der west-belarussischen Stadt Brest.

    In dieser aufgeheizten Atmosphäre fand am gestrigen Sonntag das umstrittene Referendum zur Verfassungsreform statt, dessen vorläufiges Ergebnis in den frühen Morgenstunden am Montag verkündet wurde. Demnach hätten 65 Prozent der 6,8 Millionen Wahlberechtigten für die Reformvorschläge gestimmt, die sich insgesamt so zusammenfassen lassen: Es soll gewisse Machtverschiebungen auf andere staatliche Organe wie die Allbelarussische Volksversammlung geben, allerdings bleibt die zentrale Führung beim Präsidenten, also bei Lukaschenko. Der kann sich ab der nächsten Wahl, die für 2025 angekündigt ist, noch für zwei Legislaturperioden um das Amt bewerben. Was bedeutet, dass er theoretisch bis 2035 regieren kann. Eine zentrale Neuerung, die die Reform vorsieht, ist die Aufhebung des militärisch neutralen Status von Belarus, der in der Verfassung von 1994 festgeschrieben ist. Damit können ab sofort auch längerfristig russische Truppen in dem Nachbarland stationiert werden, sowie auch russische Atomwaffen, die Wladimir Putin am Sonntag in Alarmbereitschaft versetzt hat. 

    Das Referendum sowie Lukaschenkos Rolle im Krieg wird von der belarussischen Opposition massiv kritisiert. „Das ist ein Hochverrat am Staat, ein Hochverrat am Volk“, urteilte die Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja in Vilnius. „Die Hauptbedrohung unserer Souveränität ist Alexander Lukaschenko“, sagte der im Exil befindliche Oppositionspolitiker Pawel Latuschko. Auch an der Echtheit des Wahlergebnisses gibt es von vielen Seiten Zweifel, da der Auszählungsprozess noch intransparenter als sonst gestaltet wurde. Die Namen der Wahlkommissionsmitglieder wurden geheim gehalten, Exit-Polls waren untersagt und in der in Belarus üblichen Vorwahl, die am vergangenen Dienstag begonnen hatte, gibt es traditionell diverse Manipulationsmöglichkeiten. Die Opposition hatte dazu aufgerufen, die Stimmzettel mit zwei Kreuzen ungültig zu machen. Viele Belarussen nutzten die Stimmzettel auch, um ihren Protest gegen den Krieg zum Ausdruck zu bringen. „Nein zum Krieg“ konnte man auf Zetteln lesen, die abfotografiert durch die sozialen Medien gingen. Zahlreiche Belarussen nahmen den Wahltag trotz der äußerst repressiven Atmosphäre zum Anlass, auf die Straße zu gehen. Hunderte versammelten sich vor allem in Minsk, in Hinterhöfen, auf Plätzen; reihten sich in Menschenketten auf, fuhren hupend durch die Stadt oder skandierten vor dem Verteidigungsministerium Losungen für die Ukraine und gegen den Krieg. An der ukrainischen Botschaft in Minsk beten die Menschen, bringen Blumen und andere Zeichen der Anteilnahme. Die Proteste wurden von der Staatsmacht auseinandergetrieben, rund 800 Personen festgenommen.

    Minsk wurde von der russischen Führung am Wochenende, wie schon ab 2014, für angekündigte Friedensverhandlungen mit der Ukraine ins Spiel gebracht. Eine russische Delegation war dafür bereits am Sonntag in der belarussischen Hauptstadt angekommen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky lehnt es allerdings ab, nach Belarus zu reisen. Er fordert einen sofortigen Waffenstillstand und den Abzug der russischen Truppen. Seit Montagmittag verhandeln die Delegationen aus der Ukraine und aus Russland, an der die beiden Staatsoberhäupter allerdings nicht teilnehmen, an der belarussisch-ukrainischen Grenze. 

    Der belarussische Politanalytiker Waleri Karbalewitsch diskutiert in seinem Beitrag für das belarussische Online-Medium SN Plus die Rolle Lukaschenkos im russischen Krieg gegen die Ukraine und analysiert, welche Folgen möglich wären.

    Belarus – das Aufmarschgelände für den Angriff

    Lukaschenko hat wiederholt erklärt, dass von unserem Staatsgebiet aus nie eine militärische Gefahr für die Ukraine ausgehen würde, dass Belarus an keinem Krieg teilnehmen würde, solange es nicht angegriffen wird. Am 22. Februar sagte Lukaschenko bei einem Festakt zum [bevorstehenden – dek] Tag des Vaterlandsverteidigers: „Denken Sie immer daran: Die Staatsführung und ich als Präsident werden immer alles dafür tun, damit Belarus eine friedliche kleine Insel auf diesem verrückt gewordenen Planeten bleibt.“

    Fast wie eine Verhöhnung wurde im Entwurf der neuen Verfassung folgender Punkt ergänzt: „Die Republik Belarus schließt eine militärische Aggression von seinem Gebiet gegenüber anderen Staaten aus.“

    All diese hehren Wünsche werden durch den militärischen Angriff auf die Ukraine vom belarussischen Staatsgebiet aus durchkreuzt – selbst wenn die belarussischen Streitkräfte nicht selbst daran teilnehmen.

    Lukaschenko hat erklärt: „Der an unserer belarussischen Südgrenze verbliebene Teil der russischen Truppen wurde – und das sage ich offen und ehrlich – natürlich vom russischen Generalstab mit hoher Wahrscheinlichkeit – das weiß ich aber nur aus den Medien – in dieser Operation eingesetzt.“

    Also fragen die russischen Generäle Lukaschenko nicht nur nicht um Erlaubnis, belarussisches Gebiet in dem Krieg zu nutzen, sondern informieren ihn nicht mal darüber. Die Information muss er den Medien entnehmen. So ist Belarus jetzt zu einem Durchgangshof für die russischen Truppen geworden.

    Übrigens: Laut einer Definition der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1974 gilt das Bereitstellen des Hoheitsgebiets für eine Aggression gegenüber einem Drittland ebenfalls als Aggression.

    Spannungen, aber kein Krieg

    Bis zum Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine, hatte das offizielle Minsk rhetorisch eine radikalere und aggressivere Position zum Westen. Das Wort Schurken erklang gegenüber Politikern der Nachbarstaaten aus Lukaschenkos Munde wie ein tägliches Pflicht-Zitat. Putin und seine Umgebung hatten sich das nicht erlaubt und die Opponenten mit unverhohlenem Zynismus „unsere westlichen Partner“ genannt. Lukaschenko hatte somit das laut gesagt, was der russische Leader aus welchen Gründen auch immer nicht aussprechen wollte, und dadurch in gewisser Hinsicht als Pressesprecher des russischen Präsidenten fungiert.

    Außerdem redete das offizielle Minsk nicht nur, sondern tat auch viel dafür, um den westlichen Nachbarn Probleme zu bereiten: Die Landung des Flugzeugs mit Protassewitsch am Minsker Flughafen, die Migrations-Krise und so weiter. Lukaschenko initiierte auch neue belarussisch-russische Militärübungen auf dem belarussischen Staatsgebiet. So zumindest hatte er das behauptet. Eine solche politische Linie erlaubte Lukaschenko, Putin gegenüber seine Loyalität zu demonstrieren im Austausch gegen diverse Dividenden. Und es dem Westen heimzuzahlen.

    Jedoch interessierte ihn nur die Verschärfung der Spannungen, die Existenz im Ausnahmezustand, die Schaffung einer belagerten Festung, die niemand angreift. Er wollte wohl kaum einen echten Krieg. Denn das bedeutet eine enorme Erschütterung für das Volk und den Staat mit unvorhersehbaren Folgen.

    Ein Krieg lohnt sich nicht für Lukaschenko

    Ein vollumfänglicher Krieg zwischen Russland und der Ukraine, der auch noch das Staatsgebiet von Belarus einbezieht, bereitet Lukaschenko daher sehr viele Probleme.

    1. Ein Krieg – insbesondere mit der Ukraine – ist sehr unpopulär in Belarus. Davon zeugen Meinungsumfragen. Er ist darüber hinaus auch unpopulär bei Lukaschenkos Anhängern. 

    2. Russlands Aggression gegen die Ukraine ist langfristig eine Bedrohung für die Unabhängigkeit von Belarus. Denn Putin akzeptiert die Folgen des Zusammenbruchs der Sowjetunion nicht. Russische Politiker machen keinen Hehl daraus, dass die Existenz eines belarussischen Staatsgebildes [für sie] nur irgendein Missverständnis ist. Lukaschenko wiederholt seit 27 Jahren, dass wir und die Russen ein Volk seien, dass Russland unser großer Bruder sei und so weiter. Und nun könnte diese ganze Politik der „brüderlichen Integration“ zu unerwarteten Konsequenzen führen. Putin könnte sagen: Wenn wir doch ein Volk sind – wozu braucht ihr dann einen eigenen Staat?  

    3. Wie sehr Lukaschenko auch eine Beteiligung der belarussischen Armee an diesem Krieg vermeiden mag – für die Weltgemeinschaft bleibt es Fakt, dass Belarus der einzige Helfer des Aggressors ist. Das belarussische Staatsgebiet wird für den Angriff auf die Ukraine genutzt. Belarus und Russland haben sich praktisch gegen die ganze Welt gestellt. Dieses Brandmal lässt sich nicht mehr abwaschen. Und es ist schlimmer als das Brandmal „Diktator“. 

    4. Dass sich russische Truppen (in wachsender Zahl) auf belarussischem Gebiet befinden, heißt für Lukaschenko ein Kontrollverlust über das Land, das er fast drei Jahrzehnte als sein Eigentum betrachtet hat. Das ist der Verlust der militärischen Souveränität. Russische Generäle verfügen über belarussisches Gebiet, wie sie wollen. Das ist sehr unangenehm für jeden Staatschef. Es war kein Zufall, dass der kasachische Präsident Kassim-Schomart Tokajew nicht zögerlich war mit dem Abzug der OVKS-Truppen aus seinem Land.

    5. Der Krieg vereinfacht alle Beziehungen erheblich, er unterteilt die Situation in Schwarz und Weiß, ohne Schattierungen. Für Lukaschenko bedeutet das eine drastische Verengung des Handlungsspielraums in den Beziehungen zum Kreml. Für Ausweichmanöver, Balanceakte und Finten wird es immer weniger Möglichkeiten geben. So muss etwa die unangenehme Entscheidung zur Anerkennung der Donezker und Luhansker Volksrepublik gefasst werden. Das Problem ist hier nicht nur die negative Reaktion der Weltgemeinschaft. Bald kommt die Frage nach der Eingliederung der Volksrepubliken in den „Unionsstaat von Belarus und Russland“. Dann werden womöglich auch Abchasien, Südossetien und Transnistrien beitreten wollen. Es würde dann ein Unionsstaat aus russischen Marionetten. Der Status von Belarus fiele schlagartig auf das Niveau jener nicht anerkannten, kleinen halbstaatlichen Gebilde. Das Bild als völlige Marionette Putins (und das ausgerechnet in der Zeit, in der Letzterer ein klar unangemessenes Verhalten an den Tag legt) – das wäre sicher nicht das Finale der politischen Biografie Lukaschenkos, von dem er geträumt hat.     

    6. Ein ganz realer Konflikt mit der Ukraine, also nicht mehr auf der Ebene der Rhetorik – das ist für das offizielle Minsk in jeglicher Hinsicht unvorteilhaft. Nehmen wir allein den ökonomischen Aspekt. Der Handelsbilanzüberschuss zwischen Belarus und der Ukraine beträgt 4,5 Milliarden US-Dollar. Wenn dieser Handel wegfällt, entstehen für Belarus größere Einbußen als durch westliche Sanktionen.

    7. Die USA und Großbritannien haben neue Wirtschaftssanktionen gegen Belarus verhängt, ausdrücklich wegen der Beteiligung an der Aggression gegen die Ukraine. Offensichtlich hat die EU vor, genau das gleiche zu tun. Zudem werden die Sanktionen gegen Russland zum Teil auch Belarus treffen.

    8. Der Krieg hat die wirtschaftlichen Probleme in Belarus deutlich verschärft. Der Rubelkurs ist nach unten gesaust. Das Fehlen von Fremdwährungen bei den Banken, in den Wechselstuben, an den Bankautomaten, die sich davor bildenden Schlangen – all das könnte ein Vorbote für noch viel ernstere Probleme und sogar unkontrollierbarer Prozesse werden.

    Genau deswegen versucht Lukaschenko, irgendwelche Erklärungen zu vermeiden, und tut so, als ob gar nichts los wäre und die Ereignisse im Süden die Belarussen nichts angingen. Doch im Informationszeitalter ist das unmöglich.

     

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  • Belarus bin ich!

    Belarus bin ich!

    Am heutigen 4. November findet in Minsk die lang erwartete Sitzung des Obersten Staatsrates statt, des höchsten Gremiums des Unionsstaates zwischen Russland und Belarus. Dort sollen die 28 Programme unterschrieben werden, die die beiden Länder auf dem Weg zur Integration vereinbart haben. Dabei geht es um bis dato nicht im Detail bekannte „Harmonisierungspläne“ in den Bereichen Währung, Steuern, Finanzmarkt und makroöknomische Rahmenbedingungen. Zudem soll der gemeinsame Kampf gegen Terrorismus gestärkt werden. 

    Aufgrund der drastischen Corona-Situation in beiden Ländern findet die Sitzung im Online-Format statt, sodass auch kein persönliches Treffen von Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin vorgesehen ist. Zwischen den beiden Autokraten scheint es seit einer langen Zeit der demonstrativen Harmonie wieder einmal zu kriseln, man provoziert sich gegenseitig mit Sticheleien – wie schon häufig in den vergangenen 15 Jahren. So nahm Putin, obwohl dies angekündigt war, nicht an der Sitzung der Eurasischen Wirtschaftsunion Mitte Oktober in Minsk teil. Im Gegenzug gewährte Lukaschenko dem angereisten russischen Außenminister Sergej Lawrow keine persönliche Audienz. Der aber ließ durchblicken, wie schon häufiger im vergangenen Jahr, wie wichtig Russland das Verfassungsreferendum anscheinend ist, das für das Jahr 2022 in Belarus angekündigt ist. 

    Am 22. Oktober tauchten in russischen Medien die Ergebnisse einer scheinbar geheimen Umfrage auf, die das russische, im Staatsbesitz befindliche Meinungsforschungsinstitut WZIOM in Belarus durchgeführt hat, obwohl es über keine offizielle Lizenz für solche Umfragen im Nachbarland verfügt. Die Ergebnisse sind für Lukaschenko, gelinde gesagt, wenig schmeichelhaft. Denn 55 Prozent der Befragten geben an, Lukaschenko überhaupt nicht zu vertrauen, während 50 bzw. 48 Prozent der Befragten die inhaftierten Oppositionellen Maria Kolesnikowa und Viktor Babariko als beliebteste Politiker des Landes nennen. Zudem sprechen sich 66 Prozent der Befragten gegen eine stärkere Integration mit Russland aus. Unbekannt ist, wie die brisanten Ergebnisse den Weg an die Öffentlichkeit finden konnten und ob die Umfrage möglicherweise ein Fake ist. In jedem Fall sorgte sie in den sozialen Medien für genügend Gesprächsstoff und Spekulationen um die Stoßrichtung eines solchen Manövers. Dabei wurde vielerorts um solcherlei Fragen debattiert: Inwieweit meinen es die beiden Staaten ernst mit der Integration? Inwieweit ist Lukaschenko dem Kreml nützlich, die Integration voranzutreiben? Oder ist die Integration – wie auch andere Schritte, so beispielsweise die Verfassungsreform – eine Strategie, um Lukaschenko von mehreren Seiten unter Druck zu setzen und ihn letzten Endes strukturell soweit einzukreisen, dass er seine Macht aufgeben muss? Dies könnte Russland den Einfluss in Belarus ermöglichen, den es abseits des mitunter launischen und schwer zu kontrollierenden Lukaschenko schon lange sucht. Jedenfalls ermöglichte der Radiosender Echo Moskwy, der sich überwiegend im Besitz der Gazprom-Media Holding befindet, am 26. Oktober auch noch ein Interview mit Swetlana Tichanowskaja. Darin sagte sie, dass der Kreml ihrer Meinung nach als Mittler bei der Machtübergabe in Belarus infrage käme. 

    Die Anspannung vor dem heutigen 4. November ist also groß. Der politische Beobachter Paulyk Bykowski hält es für möglich, dass die Papiere letztlich unterzeichnet werden, aber dass sich Lukaschenko bei der Umsetzung der Vereinbarungen nicht drängen lässt. Denn sein größter Trumpf sei das Versprechen einer Integration, um den Kreml immer wieder zu Krediten und billigem Öl und Gas zu drängen. Eine tatsächliche Integration, mit Strukturen außerhalb seiner Kontrolle, würde Lukaschenko in Gefahr bringen, seine Macht einzubüßen. Wieder andere wie Alexander Klaskowski meinen, dass es durchaus möglich sei, dass es erst gar nicht zu einer Unterzeichnung kommt – wie schon am 8. Dezember 2019, als ebenfalls eine neue Vereinbarung in Sachen Unionsstaat anstand, die Entscheidung aber vertagt wurde. 

    Währenddessen verstärkt Lukaschenko in Belarus weiter seine Kontrolle auf unterschiedlichen Ebenen, was der Politologe Waleri Karbalewitsch in einem Stück für das Medium SN Plus vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse analysiert. Dabei hinterfragt er auch die Intensivierung der militärischen Zusammenarbeit zwischen Russland und Belarus, die immer deutlichere Formen annimmt. 

    Der Staat wird militarisiert

    Da staatliche Politik mittlerweile vor allem aus politischen Repressionen besteht, wächst natürlich das relative Gewicht der Sicherheitsbehörden, der Silowiki. Die staatlichen Institutionen entwickeln sich in Richtung Militarisierung, Militärregime und Polizeistaat. Die Silowiki sind in Lukaschenkos Staat zum systembildenden Element geworden.

    Die Personalentscheidungen vom 18. Oktober illustrieren diese Entwicklung auf drastische Weise. Justizminister ist nun nicht mehr ein Jurist, sondern ein Generalmajor der Miliz, nämlich der ehemalige stellvertretende Innenminister Sergej Chomenko. Bei seiner Ernennung erläuterte Lukaschenko den Grund für diesen Wechsel. Die Erklärungen lassen sich wie folgt interpretieren: Vom Justizminister werden Tempo und Entschlossenheit bei repressiven Maßnahmen verlangt, also besteht keine Notwendigkeit eines peniblen juristischen Prozedere.

    Ein noch markanteres Beispiel dafür, wo das Land hinsteuert, ist die Ernennung von Oleg Tschernyschow zum stellvertretenden Präsidiumsvorsitzenden der Nationalen Akademie der Wissenschaften. Der ist ehemaliger Kommandeur der Spezialeinheit Alfa beim Komitee für Staatsicherheit (KGB) und ehemaliger stellvertretender Vorsitzender des KGB, In den unabhängigen Medien wurde jüngst viel darüber geschrieben, dass die Schulen in Kasernen umgewandelt würden und die Miliz dort die Kontrolle übernimmt. Es scheint, als sei nun die Akademie der Wissenschaften an der Reihe. Eine verstärkte Kontrolle des KGB über die Akademie der Wissenschaften bedeutet, dass dem Regime jetzt die politische Loyalität der Mitarbeiter dort wichtiger ist als wissenschaftliche Erkenntnisse.

    Am 11. März 2021 wurde Wadim Sinjawski, General der Miliz, zum Minister für Katastrophenschutz ernannt. Er erklärte in einer Mitteilung an die Mitarbeiter des Ministeriums, dass das Ministerium im Falle eines Ausnahmezustands die Aufgabe hat, mit der Waffe in der Hand Unruhen im Land zu unterbinden. Schließlich sei ein Offizier des Katastrophenschutzministeriums ein „Vermittler der Ideologie des Staates“. Aus dieser Erklärung geht hervor, dass die Bekämpfung von Bränden und Überschwemmungen nur zweitrangig ist.

    Die staatlichen Institutionen ändern sich also in ihrer Funktion. Anstatt ihren eigentlichen Pflichten nachzugehen, beschäftigen sie sich immer stärker mit der Bekämpfung von Regimegegnern und der Sicherstellung politischer Loyalität.

    Unterstützung für das Regime wird jetzt zur Einstellungsvoraussetzung für eine Arbeit in einer staatlichen Einrichtung. Das soll auch im Arbeitszeugnis vermerkt werden. Berufliche Qualitäten der Mitarbeiter sind da zweitrangig.

    Als Initiator für Gesetzesänderungen tritt in letzter Zeit vor allem das Innenministerium auf. Mal will das Ministerium Abonnenten „extremistischer“ Telegram-Kanäle zu Mitgliedern extremistischer Organisationen erklären. Mal will es Belarussen, die ins Ausland gegangen sind und es wagen, die Zustände im Land zu kritisieren, die Staatsbürgerschaft entziehen.

    In einem normalen Land liegt das Recht für Gesetzesinitiativen vor allem beim Parlament. In Belarus wird dies bislang von der Präsidialadministration und der Regierung übernommen. Jetzt tritt die Miliz in den Vordergrund. Symbolisch verdeutlicht es wieder einmal, welche Zeiten in Belarus angebrochen sind.

    Dissidententum in Sachen Corona

    Am 19. Oktober hielt Lukaschenko eine Sitzung zur epidemiologischen Lage im Land ab. Der Schwerpunkt seiner Rede bestand darin, dass zur Eindämmung von Corona-Infektionen keine außerordentlichen Einschränkungen vonnöten sind. Er verbat der Miliz, die Maskenpflicht zu kontrollieren und diejenigen zu bestrafen, die im öffentlichen Raum keine Maske tragen.

    Lukaschenko ließ eine sehr eigenartige Einstellung zum Impfen erkennen:

    „Ich kann nicht verbieten, dass Menschen geimpft werden, aber Sie werden bitteschön keinen Druck auf die Menschen ausüben.“

    Und der wichtigste Hinweis an die Adresse der höheren Beamtenschaft: „Wem spielt ihr denn damit in die Hände?“ Ein kleiner Wink, dass es eben Feinde sind, die strenge Einschränkungen vorschlagen.

    Daraufhin hob das Gesundheitsministerium am 22. Oktober die Maskenpflicht im Land auf. Sie hatte nur 13 Tage bestanden. Und das vor dem Hintergrund steigender Corona-Zahlen.

    Dieses eigenartige Dissidententum ist eine Fortsetzung der Politik, die die belarussische Regierung 2020 verfolgt hatte. Also ein Kleinreden der Gefahr und die Weigerung, wie in anderen Ländern Einschränkungen zu erlassen.

    Der Starrsinn Lukaschenkos hat den gleichen Ursprung wie seine Anstrengungen, in der Konfrontation mit der protestierenden Bevölkerung zu beweisen, dass er Recht hat. Nach dem Motto: Ich habe die Präsidentschaftswahl wirklich mit 80 Prozent gewonnen, und alle, die anderer Meinung sind, sind vom Westen gekaufte Banditen, Extremisten und Terroristen.

    Ganz ähnlich ist Lukaschenkos Covid-Dissidententum gelagert. Er gibt selbst zu, dass seine Haltung zu Covid-19 einer der Gründe für den massenhaften Unmut in der Gesellschaft war. Umso schlimmer für die Menschen: Der Führer des Volkes, kann nicht irren. Niemals und nirgendwo. Selbst wenn man sich dafür der ganzen Welt entgegenstellen und einen sehr hohen Preis bezahlen muss.

    Lukaschenkos Argument, die ganze Welt habe erkannt, dass der belarussische Ansatz zur Bekämpfung des Virus richtig sei, und er werde deshalb keinen weiteren Lockdown einführen, hält keiner Kritik stand. Schließlich ist in den europäischen Ländern die Bevölkerungsmehrheit bereits geimpft oder ist auf dem Weg dorthin.

    Doch es gibt hier noch eine weitere Erklärung. In anderen Staaten, selbst in denen mit einer liberalen Ideologie, übernahmen die Regierungen während der Zuspitzung der Coronakrise die Aufgabe, das Leben und die Gesundheit der Bürger zu schützen. Und das war der Grund für die strengen Maßnahmen, die die Kontakte zwischen den Menschen auf ein Minimum reduzieren sollten.

    In Belarus hingegen enthebt Lukaschenko den Staat eines Teils seiner Aufgabe, die ja darin besteht, das Leben und die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. Er bürdet diese Verantwortung den Bürgern auf: „Jeder soll über seine Geschicke so bestimmen, wie er es für nötig hält … Keinerlei Druck auf die Leute … Alles freiwillig … Masken, Schutzmaßnahmen und Impfungen sind ganz allein eine freiwillige Angelegenheit eines jeden einzelnen“.

    Das heißt, der Staat befreit sich teilweise von Pflichten, wie auch in anderen Bereichen, entledigt sich einer weiteren Aufgabe. Als ob die Aufgabe der Behörden lediglich sei, die Menschen im Krankheitsfall zu behandeln. Vorsorgemaßnahmen zur Reduzierung der Kontakte? Das ist nicht unsere Aufgabe.

    Militärische Zusammenarbeit mit Russland

    Im Rahmen der Sitzung von Vertretern der Verteidigungsministerien von Belarus und Russland am 20. Oktober gab es hochtrabende Erklärungen.

    Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu verkündete, dass Belarus und Russland als Antwort auf die Bedrohung durch den Westen eine neue Militärdoktrin des Unionsstaates verabschieden würden. Das Dokument solle demnächst auf einer Sitzung des Hohen Rates des Unionsstaates beschlossen werden, die um den 4. November herum angesetzt wird.

    Diese Neuigkeit ist allerdings drei Jahre alt. In Wirklichkeit ist die Militärdoktrin keineswegs neu: Das Dokument lag schon vor drei Jahren vor und sollte am 13. Dezember 2018 auf einer Sitzung des Ministerrates des Unionsstaats verabschiedet werden. Minsk hatte jedoch die Unterzeichnung der Doktrin blockiert, als Zeichen des Protests gegen ein „Ultimatum“ des russischen Premierministers Dimitri Medwedew, der eine Politik des „Zwangs zur Integration“ verkündet hatte. Am 19. Dezember 2018 hat Wladimir Putin die Doktrin dann einseitig verabschiedet. Minsk sabotiert den Vorgang bis heute.

    Desweiteren, so Schoigu, hätten die Verteidigungsminister von Russland und Belarus Dokumente unterzeichnet, die den Betrieb zweier russischer Militärobjekte in Belarus verlängern. Es handelt sich um die Radarstation des Raketenfrühwarnsystems bei Baranowitschi und das Fernmeldezentrum der Kriegsmarine in Wileika.

    Doch es fehlen jegliche Einzelheiten zu diesen Papieren: Unter welchen Bedingungen werden diese Objekte weiterbetrieben? Um welchen Zeitraum wurde verlängert?

    Interessant ist auch, dass Informationen über die Unterzeichnung allein von russischer Seite verbreitet wurden. Auf der Internetseite des belarussischen Verkehrsministeriums heißt es, die Minister hätten eine Verlängerung des Abkommens lediglich „erörtert“, was die Einrichtung der Radarstation bei Baranowitschi und des Fernmeldezentrums Wileika „zu den bestehenden Bedingungen angeht“(!).

    Und das bedeutet, dass die Frage noch nicht endgültig geklärt ist. Die Unterzeichnung ist für die Sitzung des Hohen Rates am 4. November vorgesehen.

    Wie dem auch sei, die militärische Zusammenarbeit von Belarus und Russland ist jedenfalls intensiver als die Integrationsprozesse in anderen Bereichen des Unionsstaates. Die militärische Präsenz Russlands auf belarussischem Territorium wird stärker. Mit allen negativen Folgen für die Souveränität von Belarus. 

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  • Wird Lukaschenko nervös?

    Wird Lukaschenko nervös?

    Das Goethe-Institut in Minsk und der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) müssen auf Druck der belarussischen Machthaber ihre Arbeit im Land einstellen. Ein Schritt, der international vielfach kritisiert und als Reaktion auf das vierte Sanktionspaket der EU gedeutet wurde. Am 16. Juni 2021 hatten die EU-Außenminister beschlossen, massiv die Sanktionen gegen die belarussische Führung auszuweiten. In der vergangenen Woche sagte Alexander Lukaschenko auch, dass die Sicherheitsbehörden „terroristische Schläferzellen“ enttarnt und zerschlagen hätten. Diese stünden in Verbindung mit Deutschland, der Ukraine, den USA, Polen und Litauen. Daraufhin verfügte der Staat die Schließung der Landesgrenze zur Ukraine. Im Fokus der „antiterroristischen“ Operation stehen dabei Mitglieder des ehemaligen Telegram-Kanals Einheiten der zivilen Selbstverteidigung (blr. Atrady hramadsjanskai samaabarony), der von den Behörden als extremistisch verboten wurde. Dutzende Mitglieder des Kanals wurden festgenommen, einige stehen bereits vor Gericht.

    Zudem erschien am 3. Juli im staatlichen TV-Sender ONT ein Beitrag, der angeblich „terroristische Aktivitäten“ in Belarus beweist. Dies sorgte im Land für hitzige Diskussionen. In dem Beitrag wird ein offenbar inszeniertes Attentat auf Grigori Asarjonok gezeigt, einen der berüchtigsten Fernsehmoderatoren der Staatspropaganda, der für den Staatssender CTV arbeitet und regelmäßig gegen die Opposition hetzt. In dieser Atmosphäre beging die Staatsführung am 3. Juli den „Tag der Unabhängigkeit“ mit zahlreichen Veranstaltungen im ganzen Land.

    Wird Lukaschenko angesichts einer schwächelnden Wirtschaft nun doch nervös oder ist es bloß Säbelrasseln? Der politische Analyst Waleri Karbalewitsch erörtert in seinem Beitrag für das Medium SN Plus mögliche Folgen der Sanktionen und diskutiert verschiedene Szenarien, mit der die belarussische Führung auf die Strafmaßnahmen reagieren könnte. 

    Sei vorsichtig mit deinen Wünschen – sie könnten in Erfüllung gehen.
     

    Englisches Sprichwort

    Mögliche Folgen der Sanktionen

    Nach eingehender Betrachtung des von der EU erlassenen Papiers ist klar, dass die sektoralen Sanktionen, sagen wir mal, nicht in der radikalsten Form ergangen sind. Das wird zum Beispiel daran deutlich, dass das wichtigste Kaliprodukt, das nach Europa exportiert wird, nicht auf der schwarzen Liste steht. Und Belaruskali hat nicht darunter zu leiden, sondern unter dem blockierten Zugang zum litauischen Hafen Klaipėda, über den 97 Prozent der belarussischen Exporte von Kalidüngern abgewickelt werden. So muss eine neue Route über einen russischen Hafen im Leningrader Gebiet erschlossen werden.

    Außerdem treten die Sanktionen teilweise erst mit Beginn des kommenden Jahres oder sogar noch später in Kraft. Wenn es also um die Auswirkungen der Sanktionen geht, so sind die in den nächsten Monaten nicht zu erwarten.

    Nichtsdestotrotz beginnt das Land, mit den sektoralen Sanktionen zu leben. Diese unterscheiden sich von zielgerichteten (gegen einzelne Unternehmen oder Oligarchen gerichtete) Sanktionen dadurch, dass sie schwieriger zu umgehen sind. Ein Unternehmen kann man verkaufen, der Name oder Eigentümer kann sich ändern, mit ganzen Branchen lässt sich das jedoch nicht machen.

    Die Verluste für die belarussische Wirtschaft lassen sich nur schwer beziffern. Es gibt Schätzungen, nach denen Belarus 15 Prozent seines Exports verliert. Immerhin geht ein Viertel der belarussischen Exporte von Erdölprodukten in Mitgliedsstaaten der EU, im Jahr 2020 waren das rund 600 Millionen US-Dollar. Darüber hinaus wurden 10 Prozent der Kaliexporte, für rund 200 Millionen US-Dollar in die EU geliefert.

    Premierminister Roman Golowtschenko erklärte, die Verluste durch die Sanktionen würden nicht mehr als 2,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen. Unabhängige Wirtschaftswissenschaftler nennen Werte von 7 bis 14 Prozent. Diese große Schere ergibt sich durch unterschiedliche Berechnungsmethoden. Die einen zählen nur den unmittelbaren Schaden, andere berücksichtigen auch mittelbare Verluste (Kosten durch die Suche nach Wegen zur Umgehung der Sanktionen, ausbleibende neue Vertragsabschlüsse, den Umstand, dass ausländische Geschäftspartner Unternehmen meiden, die auf der Sanktionsliste stehen und so weiter).

    Die Sanktionspolitik des Westens ist jedoch ein Prozess – der wurde nun in Gang gesetzt, und es ist unklar, wo und wann er zum Halten kommt. So erklärte jüngst Victoria Nuland, Mitarbeiterin für politische Angelegenheiten im US-Außenministerium: „Die EU ist einen Schritt voraus, indem sie sektorale Sanktionen gegen die belarussische Wirtschaft und jene Bereiche verhängt hat, von denen Lukaschenko abhängig ist. Wir werden versuchen nachzuziehen“. 

    Die Sanktionen des Westens verstärken die Abhängigkeit des Landes von Russland. Allerdings könnte der Umstand, dass der russische Oligarch Michail Guzerijew auf der Sanktionsliste landete, Unternehmen aus Russland von Belarus abschrecken. Man könnte leicht auf der schwarzen Liste der EU und von den USA landen.

    Das gefährliche Thema Krieg

    Die Regierung in Belarus hat auf die Sanktionen mit aggressiver Rhetorik, Drohungen gegen den Westen und Erpressungsversuchen reagiert: So hat sich beispielsweise der Strom illegal einreisender Migranten aus Belarus nach Litauen drastisch verstärkt.

    Doch unsere Aufmerksamkeit weckt Folgendes: Seit dem 9. August 2020 schürt Lukaschenko in der Bevölkerung Angst vor einem möglichen Krieg mit dem Westen. Angesichts der sektoralen Sanktionen der EU und der USA erlangt diese Rhetorik einen neuen Sinn. 

    Bei einer Rede am 22. Juni 2021 in der Festung von Brest setzte Lukaschenko einen starken Akzent auf die Frage nach einem möglichen neuen Krieg. Er erklärte: „Im vergangenen Jahr haben wir die modernsten Technologien eines hybriden Krieges erfahren müssen. Die Belarussen fragen immer öfter: Was ist los, werden wir in den Krieg ziehen? Wie denn, Belarussen. Wir sind schon lange im Krieg. Der Krieg hat einfach andere Formen angenommen … 80 Jahre sind vergangen, und …? Ein neuer heißer Krieg … Und weiter? Eine Intervention?“

    Indem er in der Bevölkerung Angst vor einem Krieg schürt, versucht Lukaschenko, künstlich das Modell einer „belagerten Festung“ zu konstruieren, die politischen Repressionen zu rechtfertigen sowie die Nomenklatura und die eigenen Anhänger zur Verteidigung des Regimes zu mobilisieren.

    Eine solche Rhetorik könnte jedoch das Gegenteil bewirken. Das Volk will keinen Krieg und hat Angst davor. Die Gefahr, dass ein bewaffneter Konflikt entfesselt wird, weckt im historischen Gedächtnis des Massenbewusstseins traumatische Archetypen. Die Belarussen, sogar die Anhänger Lukaschenkos sind wohl kaum gewillt, für Lukaschenko in den Krieg zu ziehen. Dessen Figur wird zunehmend mit Kriegsgefahr assoziiert. Auch der Effekt einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung sollte nicht vernachlässigt werden.

    Der Normalbürger sieht, dass das Ausmaß der Probleme – und zwar nicht nur der wirtschaftlichen –, die Lukaschenko zu verantworten hat, größer und größer wird. Der Preis für Lukaschenkos Verbleib an der Macht wird mit jedem Tag höher. Auch für seine nähere Umgebung, einschließlich seiner Hof-Oligarchen.

    Aus der Geschichte sind diverse Beispiele bekannt, dass Wirtschaftssanktionen und äußere Konflikte Auswirkungen auf die Stabilität eines politischen Regimes hatten. Mitunter wird ein Regime dadurch gefestigt. Manchmal ist das Gegenteil der Fall.

    Es gibt einige Beispiele, dass autoritäre Regime sich in einem bewaffneten Konflikt mit einem äußeren Feind befinden, ihn verlieren und dann zusammenbrechen. So stürzte die Diktatur der Obristen in Griechenland 1974 nach der Niederlage im Zypern-Konflikt mit der Türkei. Die Militärdiktatur in Argentinien brach 1983 nach dem verlorenen Falklandkrieg gegen Großbritannien zusammen. Das Regime von Slobodan Milošević trat wegen des Kosovo einen Krieg gegen die gesamte Welt los, verlor ihn und wurde im Jahr 2000 nach Protesten der Bevölkerung gestürzt.

    Dies einfach als Anregung zum Nachdenken.

    Das Spiel mit Roman Protassewitsch

    Der Umstand, dass Roman Protassewitsch und Sofija Sapega in Hausarrest überführt wurden, ist ein Hinweis, dass das Regime eine Vielzahl von Schachzügen unternimmt und den oppositionellen Journalisten als wichtige Figur einsetzt.

    Die Regierung hat sich entschieden, angesichts der dramatischen Folgen von Protassewitschs Festnahme (Schließung des Luftraums und sektorale Sanktionen durch die EU) den Gefangenen vollends auszunutzen und aus der Affäre eine möglichst große politische Dividende herauszupressen. Romans Einwilligung „mit den Ermittlungsbehörden zusammenzuarbeiten“ eröffnete der Regierung die Möglichkeit, – an unterschiedliche Adressaten gerichtet – gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.

    Aufgabe Nummer eins ist natürlich die Diskreditierung der Opposition. Die „entlarvenden“ Erklärungen von Protassewitsch sollten all das Negative über die politischen Opponenten unterfüttern, das ein ganzes Jahr schon wie ein Wasserfall aus den Kanälen des belarussischen Staatsfernsehens strömt. Hinzu kommt die Diskreditierung der westlichen Länder. Roman soll „Beweise“ geliefert haben, dass die Proteste von westlichen Geheimdiensten gesteuert worden seien. Das alles richtet sich an das inländische Publikum.

    Um den Skandal mit der erzwungenen Landung Russland gegenüber zu „verkaufen“, hat die belarussische Regierung betont, dass Roman im Donbass gekämpft habe. Das hat intensives Interesse bei den russischen Medien gefunden. Zur Lösung dieses Problems wurde die „Volksrepublik Luhansk“ ins Spiel gebracht – erfolglos, wie sich später herausstellte.

    Der Hausarrest für Sofija Sapega, die die russische Staatsangehörigkeit besitzt, ist ebenfalls eine Geste an Moskau, eine Demonstration des grenzenlosen „Humanismus“ der belarussischen Behörden.

    Eine andere aufdringliche Demonstration des Humanismus ist an das westliche Publikum gerichtet. In Europa wurde geschrieben, dass Protassewitsch möglicherweise gefoltert wurde. Und die Medien-Kampagne gegen Lukaschenkos Regime stützte sich unter anderem auf das Mitgefühl für ein Opfer des diktatorischen Regimes (und nicht nur auf die Verletzung der Flugsicherheit). Romans gesunde, muntere und lächelnde Auftritte vor der Öffentlichkeit sollten diese Thesen widerlegen. Auf gleiche Weise ist auch Romans Überführung in Hausarrest zu verstehen.

    Mit den öffentlichen Auftritten von Protassewitsch wollte das offizielle Minsk zudem versuchen, die Wirtschaftssanktionen des Westens, wenn nicht zu verhindern, so doch abzumildern.

    Ein weiterer Aspekt dieses endlosen belarussischen Dramas steht in Verbindung mit der Psychologie der einen Person: Das Phänomen eines reuigen, moralisch gebrochenen Feindes erklärt in der belarussischen Politik vieles. Unter Lukaschenko als Präsidenten wurden sämtliche politischen Häftlinge dazu gedrängt, Gnadengesuche zu schreiben. Das war für den Staatschef von grundsätzlicher Bedeutung.

    Nach den vom Regime inszenierten Auftritten Protassewitschs kann man nun auch Menschlichkeit walten lassen. Es gibt derzeit 515 politische Häftlinge in Belarus. Allerdings zeigt man sich nur gegenüber Juri Woskressenski und Roman Protassewitsch „menschlich“ (Sofija Sapega soll lediglich Protassewitsch Gesellschaft leisten). Diese politischen Gefangenen haben nicht nur öffentlich vor der Kamera Reue gezeigt, sondern stehen jetzt auf der anderen Seite der Barrikaden. Das ist das Handlungsmuster für alle politischen Häftlinge, die vorzeitig aus dem Gefängnis freikommen wollen.

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    Lukaschenkos Büchse der Pandora

    Eine der wichtigsten Entscheidungen seiner gesamten Amtszeit – so nannte Alexander Lukaschenko am 17. April eine Neuerung, die er eine Woche später verkündet hat: Sollte dem Präsidenten etwas zustoßen, soll seine Macht einem neuen Dekret zufolge an den belarussischen Sicherheitsrat übertragen werden. 

    Ebenfalls am 17. April hatten der belarussische KGB und der russische FSB verkündet, ein angeblich geplantes Attentat auf Lukaschenko vereitelt zu haben. Dem Politologen Alexander Feduta und zwei weiteren Männern wird vorgeworfen, einen Umsturz in Belarus geplant zu haben. Lukaschenko vermutet dabei eine Beteiligung amerikanischer Geheimdienste. Auch Putin erwähnte den Fall in seiner Rede zur Lage der Nation. Im belarussischen Staatsfernsehen sprach ein ehemaliger KGB-Mitarbeiter sogar von einer geplanten Invasion aus Litauen, mit Geländefahrzeugen und Maschinengewehren. 

    Fürchtet Lukaschenko ernsthaft um sein Leben? Während der genaue Wortlaut des Dekrets noch nicht bekannt ist, wird derzeit viel spekuliert, was es damit auf sich hat: Eine Art Lebensversicherung für Lukaschenko, wie Iryna Chalip in der Novaya Gazeta meint? Oder handelt es sich womöglich um Vorbereitungen auf einen Machttransfer nach kasachischem Szenario, wie Artyom Shraibman auf Telegram vermutet?

    Für den belarussischen Politologen Waleri Karbalewitsch ist das Dekret vor allem eins: verfassungswidrig und damit hochgefährlich. Ein Kommentar auf SN Plus
     

    Bei einem Subbotnik am 17. April macht Alexander Lukaschenko eine große Ankündigung – es gehe um eine der wichtigsten Entscheidungen seiner Regierungszeit / Foto © president.gov.by
    Bei einem Subbotnik am 17. April macht Alexander Lukaschenko eine große Ankündigung – es gehe um eine der wichtigsten Entscheidungen seiner Regierungszeit / Foto © president.gov.by

    Was unmittelbar ins Auge springt, ist der absolut verfassungswidrige Charakter dieser Entscheidung. Schließlich schreibt die geltende Verfassung genau vor: Wenn der Präsident seine Verpflichtungen nicht erfüllen kann, werden seine Vollmachten an den Premierminister übergeben. Das ist alles klar und deutlich.

    Ein präsidiales Dekret kann nicht die Verfassung ersetzen, das ist nicht rechtmäßig. Außerdem möchte ich daran erinnern, dass Abschnitte der Verfassung, die die Tätigkeit der Regierungsorgane regeln, nur mit einem Volksentscheid beschlossen werden können und nicht anders.

    Selbst in Monarchien kann der Monarch nicht einfach nach eigenem Gutdünken entscheiden, wer nach seinem Abgang auf dem Thron sitzen soll. Es gibt ein Gesetz zur Regelung der Thronfolge. 

    Demnach ist das geplante Dekret mit einem solchen Inhalt ein Sabotageakt an der Verfassung. Erstmals seit 1996 beabsichtigt Lukaschenko derart klar und offensichtlich die Verfassung zu verletzen. Da im Sicherheitsrat die Silowiki überwiegen, schlägt Lukaschenko quasi vor, den Militärs die Macht zu übertragen. Damit würde eine Struktur zum höchsten Regierungsorgan, die von niemandem gewählt und von der Verfassung nicht vorgesehen ist. 

    Sabotageakt an der Verfassung

    Unter diesen außergewöhnlichen Umständen wird besonders deutlich, dass im Land ein Regime der persönlichen Macht herrscht, ein personalisiertes Regime. Gewichtige Entscheidungen über den Staatsapparat trifft ein einzelner Mensch, ausgehend von seinen persönlichen Interessen. Alle weiteren staatlichen Organe sind reine Dekoration. Niemand kann Lukaschenko sagen, er breche die Verfassung. Weder das Verfassungsgericht, noch die Staatsanwaltschaft, noch die zwei Kammern der Nationalversammlung würden wohl auf irgendeine Weise auf den offensichtlich verfassungswidrigen Sabotageakt reagieren. 

    Es stellt sich natürlich die Frage: Warum so plötzlich? Warum wollte Lukaschenko nicht auf die neue Verfassung warten (das Referendum ist für Anfang 2022 angesetzt), um diese Neuerung darin festzuschreiben, warum ändert er das Regierungssystem stattdessen mit solchen Sondermethoden? 

    Es stellt sich natürlich die Frage: Warum so plötzlich?

    Allem Anschein nach glaubt Lukaschenko wirklich an diesen Verschwörungsmythos und leidet an einer traumatischen Störung. Es sagt etwas über seinen Geisteszustand aus, dass ihn sogar die Karikatur eines Umsturzes zu hektischem Handeln bewegt, zu verzweifeltem Herumzerren an diversen Regierungshebeln, um die Situation unter Kontrolle zu halten. Einen Menschen, der sich in einem solchen Zustand befindet, kann man leicht manipulieren – was der KGB offenbar auch tut.

    All das passiert zu einem Zeitpunkt, wo sich scheinbar alles beruhigt hatte: Die Hauptgefahr für das Regime ist gebannt, der Protest auf ein Minimum heruntergefahren, die Regierung hat die Situation im Lande unter Kontrolle und nichts zu fürchten. Lukaschenko sieht das jedoch anders, wie sich zeigt. Er lebt jeden Tag in Erwartung eines Anschlags auf seine Machtstellung. Nur in so einem Zustand kann man sich solche Dekrete ausdenken. Mit dieser Entscheidung zeigt Lukaschenko, dass die politische Krise im Land noch nicht überwunden ist, auch wenn die Staatsmedien seit Monaten den Sieg verkünden. Aber Sieger verhalten sich anders.

    Verzweifeltes Herumzerren an diversen Regierungshebeln

    Sollte Lukaschenko dem aktuellen Premierminister (Roman Golowtschenko) misstrauen, dann müsste er, so könnte man meinen, einen anderen ernennen, dem er vertraut. Aber nein. Lukaschenko setzt mehr Hoffnung auf ein Kollektivorgan (den Sicherheitsrat) als auf eine konkrete Person. Schon früher hat er mehrfach behauptet, dass man seinem Nachfolger nicht so viel Macht übertragen darf, dass man die Vollmachten des Präsidenten unbedingt auf mehrere Zweige der Staatsgewalt aufteilen muss. Hier gilt die gleiche Logik.

    Doch hier ergibt sich noch ein Problem. Mit dem geplanten Dekret demonstriert Lukaschenko, dass die Verfassung an Geltungskraft verliert. Und wenn das so ist, dann besteht – „wenn es morgen keinen Lukaschenko mehr gibt“ – eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die politischen Prozesse unkontrolliert und außerhalb des rechtlichen Rahmens ablaufen werden. Warum geht Lukaschenko davon aus, dass im Sicherheitsrat Entscheidungen per Abstimmung und nicht durch Gewalt getroffen werden? Wenn es kein Gesetz gibt, ist alles erlaubt. Mit dem Verfassungsbruch öffnet Lukaschenko die Büchse der Pandora, und entlässt einen gefährlichen Geist aus der Flasche.

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    Schwarze Flecken im System

    Über sechs Millionen Mal wurde der Film bereits geschaut. Die Rede ist von Solotoje dno (dt. Goldgrube) des belarussischen Aktivisten und Journalisten Stepan Putilo, der mit seinem Telegram-Kanal Nexta die Proteste in Belarus seit dem 9. August 2020 begleitet und geprägt hat. In dem Film, der in seiner Machart an die Videos von Alexej Nawalny erinnert, verfolgen Putilo und sein Team Spuren der systematischen Korruption im Hause Lukaschenko. Es geht um Luxus-Immobilien, dunkle Geschäfte und teure Autos. Man kann ihn als Versuch deuten, den Mythos von Lukaschenko als Antikorruptionskämpfer und ehrlichen Mann aus dem Volk zu zerstören. 

    Zudem zeigt er, wie Aktivisten und Oppositionelle bemüht sind, Lukaschenko und seinen weiterhin rigide agierenden Machtapparat mit unterschiedlichen Mitteln unter Druck zu setzen und aus den Angeln zu heben. Dass die Machtvertikale in Belarus alles andere als stabil zu sein scheint, demonstrieren auch die Ämterrochaden der vergangenen Wochen. Zeigt das System möglicherweise Nervosität? 

    Am morgigen Donnerstag, dem 25. März, begeht die Opposition den traditionellen Tag der Freiheit, den Dsen Woli. Eine offizielle Demonstration in Minsk wird es nicht geben. Die Autoritäten haben eine Genehmigung abgelehnt. Stattdessen kam es in diesen Tagen im ganzen Land zu zahlreichen Festnahmen. So wurden alle 35 Teilnehmer eines belarussischen Sprachkurses inhaftiert. Auch das sind Zeichen dafür, dass Lukaschenko die Opposition sehr ernst nimmt.

    Der Politologe Waleri Karbalewitsch demonstriert in seiner aktuellen Analyse für Swobodnyje nowosti Plus, dass der Machtapparat gegen Attacken nicht so immun ist, wie es manchmal scheint.

    Der Mythos der Unbestechlichkeit

    Es ist nicht so, dass in diesem Film irgendwelche sensationellen Fakten präsentiert werden, von denen niemand etwas wusste. Einem politikinteressierten Publikum ist fast alles, was darin gezeigt wird, schon lange bekannt. Die unabhängigen Medien haben viel über Korruption berichtet.

    Allerdings haben sich im vergangenen Jahr viele Belarussen in die Politik eingeschaltet, die sich früher nicht dafür interessiert haben. Und für diese Menschen ist der Inhalt des Films eine Entdeckung. Für sie sind die weißen Flecken der belarussischen Politik nun zu schwarzen mutiert.

    Doch das Problem der Korruption weist bei uns eine Besonderheit auf. In Russland hat sich Alexej Nawalny mit dem Thema Korruption in der Politik einen Namen gemacht. In Belarus hingegen stand das Problem bis heute nur am Rande der öffentlichen Aufmerksamkeit. Die Protestwelle seit dem 9. August 2020 wurde nicht durch Korruption ausgelöst, sondern durch ganz andere Dinge.

    Korruption gilt in Belarus als etwas ganz Eigenes, weil es Lukaschenko gelungen ist, der Öffentlichkeit ein mythenhaftes System der belarussischen Gesellschaft und seiner eigenen Gestalt zu verkaufen. Es heißt, dieses Modell biete keinen fruchtbaren Boden für Korruption, denn hier habe man einen Staat ohne Reiche errichtet, eine Gesellschaft der sozialen Gleichheit. Angeblich hätte der volksnahe, ehrliche Präsident in Belarus nicht zugelassen, dass das Volksgut zerhackstückt wird; die Konzerne seien in staatlicher Hand geblieben – nicht die Oligarchen hätten sie sich einverleibt wie in Russland oder der Ukraine. Korruption ist im öffentlichen Bewusstsein in erster Linie an Privatisierung gekoppelt. Und Lukaschenko lässt regelmäßig hiesige Oligarchen einsperren; das hat dem einfachen Volk gefallen.

    Diesem Konstrukt, auf dem Lukaschenkos Image aufgebaut ist, versetzte Putilos Film einen Schlag. Es hat sich gezeigt, dass eine Person mit grenzenloser Macht das Volksgut uneingeschränkt für sich nutzen kann, wenn es keine Kontrolle seitens der Gesellschaft gibt. 

    Die Machthaber haben ihre moralische Autorität bereits mit der Präsidentschaftswahl und den darauf folgenden Ereignissen eingebüßt. Der Film ist gewissermaßen ein weiterer Nagel im Sarg. Er hilft zu zeigen, dass die Korruptionsimmunität des belarussischen Gesellschaftsmodells ein Mythos ist. Und der, der seinem Status nach das moralische Vorbild des Regimes sein sollte, entpuppt sich als Symbol seiner moralischen Krise. Der Film erklärt in gewisser Hinsicht, warum Lukaschenko so sehr an der Macht festhält.

    Ein spezieller Fonds für den Präsidenten

    Als Lukaschenko am 13. März nach der Teilnahme am Minsker Langlauf auf die Fragen der Journalisten antwortete, versuchte er sich zu rechtfertigen. Das gelang ihm nur mäßig. Es fiel ihm nichts Besseres ein, als zum wiederholten Mal an sein verblasstes Image vom ehrlichen Politiker zu erinnern: „Das Schlimmste für mich wäre, euch zu enttäuschen. Ich werde nie etwas sagen und dann etwas anderes tun […], das schwöre ich euch.“ Doch dieses Propaganda-Klischee zieht längst nicht mehr. Und was anderes hat er nicht zu bieten. Die Antwort auf die Frage, wozu ein einzelner Mensch so viele Residenzen braucht (im Film ist die Rede von 18), ist Lukaschenko letztlich schuldig geblieben. Schlimmer noch, er hat die zentrale Idee des Films – die Korrumpiertheit des Regimes – faktisch bestätigt. Seine Skianzüge bekommt er demnach von dem Unternehmer Sergej Teterin geschenkt.

    Aber noch wichtiger ist, dass Lukaschenko zugegeben hat, eine sogenannte eiserne Reserve zu haben, die sich über die Jahre akkumuliert, für den Notfall: „Das Geld, das ich zum Beispiel jetzt in der Pandemie verwende – Boni für Ärzte, den Kauf von dringenden Medikamenten und Ähnliches –, dieses Geld ist nicht im Budget vorgesehen.“

    Die Rede ist von einem besonderen Präsidentenfonds, den Lukaschenko ganz zu Beginn seiner Tätigkeit eingerichtet hat. Dieser Fonds ist in keinem Gesetz vorgesehen und wird vom Präsidenten persönlich verwaltet. Das veranlasste die Presse seinerzeit, über zwei belarussische Budgets zu schreiben – einem Staatsbudget und einem Präsidentenbudget. Aus welchen Quellen sich dieser Fonds speist, ist ungewiss. Unabhängige Medien vermuten, dass das Geld vor allem aus den breit angelegten kommerziellen Tätigkeiten des Präsidialamts stammt. In all den Jahren seit der Gründung des Fonds gab es keinerlei Informationen, keinerlei Rechenschaft über die Verwendung des Geldes oder seiner Menge. Es gab auch keine unabhängige Kontrolle über die Ausgaben.

    In der Vergangenheit sah sich Lukaschenko unter dem Druck der Kritik und unangenehmen Fragen der Presse mehrfach gezwungen, die Existenz eines Schattenbudgets öffentlich einzuräumen. Zum letzten Mal wurde der Fonds während der Präsidentschaftswahl 2006 erwähnt. Damals hatte der Präsidentschaftskandidat Alexander Kosulin ihm vorgeworfen, Gelder aus Waffengeschäften veruntreut zu haben, und gefragt: „Wo ist das Geld, Sascha?“

    Jetzt hat Lukaschenko faktisch zugegeben, dass der außerbudgetäre Präsidentenfonds nach wie vor existiert. Und er darin immer noch keinen Korruptionsaspekt sieht. Lukaschenko ist davon überzeugt, dass er das Recht hat, frei über mithilfe von Staatsstrukturen eingenommene Ressourcen zu verfügen, ohne vor jemandem Rechenschaft ablegen zu müssen. Und wenn er daraus Mittel für die Bedürfnisse der Gesellschaft entnimmt (wie jetzt, um das Gesundheitssystem zu unterstützen), dann betrachtet er das als Ausdruck seiner Großherzigkeit und Humanität.

    Vertiefung der internationalen Isolation

    Genau zu derselben Zeit musste Lukaschenko einräumen, dass sich das Land in internationaler Isolation befindet. Er stellte fest, dass man bereits beginne, Belarus an allen Fronten zu bedrängen, und erklärte: „Beachten Sie meine Worte: Wir haben keine Freunde in der Welt.“

    So hat das Internationale Olympische Komitee (IOC) den Rücktritt Alexander Lukaschenkos von seinem Posten als Chef des belarussischen Nationalen Olympischen Komitees (NOK) nicht gebührend gewürdigt und die Wahl seines Sohnes Viktor Lukaschenko als seinen Nachfolger nicht akzeptiert. Seinen Worten zufolge forderte das IOC stattdessen, nicht nur den Präsidenten selbst, sondern auch seinen Sohn sowie den Chef des belarussischen Eishockey-Verbands Dimitri Baskow aus dem Nationalen Olympischen Komitee auszuschließen. Das Internationale Olympische Komitee wollte offenbar keine Zugeständnisse an das offizielle Minsk machen und schlug den vorgeschlagenen Kompromiss aus. Das ist eine weitere internationale Niederlage für die Lukaschenko-Familie.

    Gleichzeitig kam es zu Reibereien mit dem Eurovision Song Contest. Die Europäische Rundfunkunion erklärte, dass das Lied Ja nautschu tebja [dt. Ich werde dich lehren – dek], mit dem die belarussische Band Galasy ZMesta das Land beim Wettbewerb vertreten sollte, gegen ihre Regeln verstoße, weil darin politische Motive erkennbar seien. Es besteht die Möglichkeit, dass unser Land von der Teilnahme am Wettbewerb ausgeschlossen wird.

    Das Regime verpuppt sich

    Das Regime reagierte auf diese Angriffe mit einer Verschärfung des Kampfes gegen seine Opponenten, mit der Mobilisierung von Ressourcen sowie der Säuberung des Staatsapparats. Außerdem mit einem künstlich provozierten diplomatischen Konflikt mit den polnischen Nachbarn.

    Als am 11. März Kaderpositionen im Sicherheitsbereich neu besetzt wurden, setzte Lukaschenko neue Akzente bei den Aufgaben der Armee. Aus seinen Worten ist zu schließen, dass die Hauptbedrohung für den Staat jetzt weniger von außen als von innen ausgeht. Folglich muss sich die Armee auf den Kampf gegen den inneren Feind konzentrieren.

    Damit fand die Neuverteilung der Schlüsselposten im Sicherheitsapparat ihren Abschluss, die mit dem Beginn der politischen Krise eingesetzt hatte: Nach dem 9. August 2020 hatte Lukaschenko den Posten des Vorsitzenden des KGB, des Vorsitzenden des Komitees für Staatskontrolle, des Innenministers, des Generalstaatsanwalts, des Vorsitzenden des Zollkomitees und des Vorsitzenden des Staatlichen Komitees für Gerichtsgutachten neu besetzt. Der Staatssekretär des Sicherheitsrates wurde zweimal ausgewechselt. Und am 11. März wurden dann schließlich der Vorsitzende des Ermittlungsungskomitees und der Minister für Katastrophenschutz neu ernannt.

    Bemerkenswerterweise gab es bei den Führungsposten der anderen Ministerien und Behörden seit dem Regierungswechsel im Juni letzten Jahres praktisch keine Veränderungen, die bleiben unangetastet. Das alles deutet darauf hin, dass innerhalb der Sicherheitsstrukturen etwas heimlich gärt. Lukaschenko zweifelt an deren Loyalität und wirbelt deshalb wie wahnsinnig die Führungsetagen durch.

    Die Entlassung des Ermittlungskomiteevorsitzenden Iwan Noskewitsch aus dem Amt war absehbar. Medienberichten zufolge hieß es, dass dieser Bereich Lukaschenko am wenigsten Loyalität zollt. Aus dem Zentralapparat des Komitees waren schon zahlreiche Mitarbeiter entlassen worden. Es wundert deshalb eher, dass Iwan Noskewitsch bis jetzt auf seinem Posten saß.

    Sehr bezeichnend ist, dass zum neuen Vorsitzenden des Ermittlungskomitees Dimitri Gora ernannt wurde, der zuvor 26 Jahre lang beim KGB war. Immer häufiger besetzen Generäle des Komitees für Staatssicherheit Schlüsselposten im Staatsapparat.

    Genauso bezeichnend ist, dass der ehemalige Polizeichef der Region Grodno Wadim Sinjawski zum neuen Minister für Katastrophenschutz ernannt wurde. Also niemand aus den Reihen des Katastrophenschutzministeriums selbst, sondern jemand aus einer anderen Sicherheitsbehörde. Vielleicht soll der Katastrophenschutz so mehr für den Kampf gegen Proteste geschärft werden als gegen Feuersbrünste.

    Das Regime verpuppt sich, es wird immer verschlossener, monolithischer und reagiert auf jeden Impuls von außen mit Aggression.

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    „Belarus wird zum kranken Mann Europas“

    Mittlerweile sind die Massenproteste in Belarus nahezu zum Erliegen gekommen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Kälte, Corona, Erschöpfung und die anhaltenden Repressionen. Dennoch gibt es jede Woche dutzende kleinere Protestaktionen im ganzen Land, auf die der Machtapparat Alexander Lukaschenkos weiterhin mit rigorosen Festnahmen reagiert. Zudem geht das System gezielt gegen die Symbolik der Proteste wie beispielsweise der weiß-rot-weiße Flagge vor. Es dürfte klar sein: Das Land befindet sich in einer tiefen Krise, deren Lösung noch nicht absehbar ist. 

    Der bekannte politische Analyst Waleri Karbalewitsch seziert in seinem thesenartigen Beitrag für die Zeitung Swobodnyje nowosti Plus die Ereignisse seit der Präsidentschaftswahl am 9. August 2020, erklärt ihre Bedeutung für das politische System Lukaschenkos und die Auswirkungen auf gesellschaftspolitische Dynamiken. Dazu wagt er einen Ausblick in die Zukunft.

    1. Der Hauptgrund für den revolutionären Ausbruch ist, dass das belarussische Gesellschaftsmodell, das Alexander Lukaschenko vor einem Vierteljahrhundert erschaffen hat, seine Ressourcen aufgebraucht hat und zu einer Bremse für die Entwicklung des Landes geworden ist.
    Innerhalb der belarussischen Gesellschaft hat sich ein großes Protestpotential angestaut, das sich im Sommer 2020 entladen hat. Hier kamen mehrere Faktoren zusammen, die eine Situation des „perfekten Sturms“ geschaffen haben. In den 26 Regierungsjahren Lukaschenkos hat ein Generationenwechsel stattgefunden. Die Gesellschaftsstruktur hat sich gewandelt. Die Zahl der Menschen, die in privaten Strukturen arbeiten, ist gestiegen. Soziologische Umfragen zeigen, dass die Belarussen heute eine der marktfreundlichsten Nationen Europas sind.

    2. Der belarussische Frühling ist eine Revolution der wachsenden Erwartungen. Während das Durchschnittseinkommen in Belarus in den letzten zehn Jahren faktisch gesunken ist, sind die Ansprüche der Gesellschaft gestiegen. Lukaschenko wurde für die meisten Belarussen zum Symbol der Stagnation und der Ausweglosigkeit.

    3. Der Prozess, der in den Staatsmedien als Transformation von Belarus zum IT-Land gezeichnet wurde, hatte unerwartete, weil politische Folgen. Neue Technologien und damit neue Wirtschaftszweige, zum Beispiel die IT-Branche, brachten Arbeitnehmer mit anderen Werten und einem anderen Lebenswandel hervor. Sie beförderten einen Konflikt, einen stilistischen Bruch zwischen denjenigen, die in der digitalen Sphäre mit einer horizontal organisierten Netzkultur leben, und der im Land vorherrschenden autoritären Machtvertikale. Unter anderem führte das zu einer anderen Wahrnehmung der Rolle der Frau in Gesellschaft und Politik.

    4. Der Machtapparat hat sein Informationsmonopol eingebüßt. Das Internet, neue Medien und soziale Netzwerke haben das alte Kommunikationssystem des herrschenden Regimes mit der Gesellschaft zerstört. Das war ein wichtiger Faktor für den gesellschaftlichen Aufbruch.

    Das Regime hat seine moralische Autorität verloren

    5. Genau wie die autoritären Herrschaftsmethoden stößt das archaische sozioökonomische und politische System bei den meisten auf Ablehnung. Wir haben eine sich modernisierende Gesellschaft, die Veränderungen und sich vom Staatspaternalismus befreien will, und auf der anderen Seite ein Regime, das den Status quo konserviert. Die Gesellschaft ist über den Staat hinausgewachsen, seine Rahmen sind ihr zu eng geworden. Lukaschenko ist nicht einmal aufgefallen, dass er und das Land in verschiedenen historischen Epochen leben.

    6. Das seit einem Vierteljahrhundert bestehende belarussische Modell basiert nicht auf dem Vertrauen der Gesellschaft in die politischen Institute, sondern auf dem Vertrauen in Lukaschenko. Die Legitimität des Regimes gründete in vielerlei Hinsicht auf dem persönlichen Charisma des Staatsoberhaupts. So führte die Krise des Vertrauens in seine Person zu einer heftigen politischen Krise. 

    7. Das Ergebnis der jüngsten Ereignisse war die Desakralisierung der Macht als solche. Bisher waren in Belarus die staatlichen Institute der einzige Mechanismus, der die Belarussen zu einer Gesellschaft vereinte. Andere Mechanismen wie Nation oder Zivilgesellschaft gab es nicht im vollumfänglichen Sinn. Jetzt weigert sich der Staat, diese einigende Funktion zu erfüllen. Im Gegenteil, die Regierung hat die Gesellschaft ganz bewusst gespalten und einem Großteil der Bürger faktisch einen Bürgerkrieg erklärt. Der Staat ist zu einer Gefahr für die Gesellschaft geworden.

    8. Das Regime hat seine moralische Autorität verloren. Die Ereignisse des vergangenen Jahres haben bei dem Großteil der Bevölkerung die Illusionen hinsichtlich dessen zerstört, was der Staat Lukaschenkos in Wahrheit ist. Die Belarussen sehen die Macht nun als ungerecht und unmoralisch. Auf diese Weise wurde die belarussische Revolution, genau wie die ukrainische Revolution von 2014, zu einer Revolution der Würde.

    9. Innerhalb weniger Monate, im Eiltempo, hat sich die Gesellschaft enorm entwickelt. Die Philister sind zu Bürgern geworden, mit dem metaphorischen Beinamen die „Unglaublichen“. Das Volk wurde zum politischen Subjekt, das das Regime sich weigert anzuerkennen.

    10. Im Laufe der letzten Monate hat sich in Belarus eine Zivilgesellschaft formiert, horizontale Verbindungen wurden geknüpft. Eine große Infrastruktur der sozialen Bewegung ist entstanden, ganze Häuser und Viertel haben sich zusammengeschlossen und kommunizieren über Chats. Anstelle von staatlich initiierten Korporativen haben sich spontan selbstorganisierte Berufsverbände gebildet. Es gibt Chatgruppen von Medizinern (Die weißen Kittel), Sportlern und so weiter. Dieser Prozess findet zu einem wesentlichen Teil auf den digitalen Plattformen statt, das heißt auf einer postindustriellen Basis.

    Die Proteste haben nicht zu einer Spaltung der Eliten geführt

    11. Der Werdungsprozess der belarussischen Nation ist abgeschlossen. Gewöhnlich formiert sich eine Nation im Kampf gegen einen äußeren Feind (ein Imperium, ein Mutterland). Im Fall von Belarus formierte sich die Nation im Kampf gegen das herrschende Regime – ein weiteres Paradox der belarussischen Revolution. So ist es kein Zufall, dass traditionelle Symbole zum Symbol der Revolution wurden: die weiß-rot-weiße Flagge und das Pahonja-Wappen.
    Und wir haben in diesen Monaten erstmals gesehen, dass es eine belarussische Diaspora gibt (als Teil der belarussischen Nation), die den Protest aktiv unterstützt.

    12. Das korporative Staatsmodell hat eine Niederlage erlitten. Die Belegschaften von Staatsunternehmen haben sich den Protesten angeschlossen – die stellen ein Schlüsselelement des belarussischen Gesellschaftsmodells und ein wichtiges Kontrollinstrument für die politische Loyalität der Arbeitnehmer dar.


    13.  Der prinzipiell friedliche Charakter des Protests, der im Gegensatz zur ausnehmenden Brutalität des herrschenden Regimes steht, ist ein weiteres Phänomen der belarussischen Revolution. Wenn es gelingt, ein hartes, konsolidiertes politisches Regime auf friedlichem Wege zu besiegen, wäre das eine einzigartige Erfahrung einer demokratischen Transformation.

    14. Die Proteststimmung in der Gesellschaft, der „Aufstand der Massen“, hat allerdings nicht zu einer „Krise der Obrigkeit“, einer Spaltung der Eliten geführt, was nach sämtlichen Theorien eine notwendige Voraussetzung für den Sieg der Revolution ist. Die Erwartung, dass der Staatsapparat unter dem moralischen und psychologischen Druck des Volkes zu bröckeln beginnt oder auf die andere Seite der Barrikaden wechselt, hat sich nicht erfüllt. Warum?

    a) Weil wir in Belarus ein starkes und konsolidiertes autoritäres Regime haben. Nicht ein einziges staatliches Institut ist vom Volk gewählt, ist dem Volk Rechenschaft schuldig oder untersteht seiner Kontrolle. Alle Institute sind gänzlich unempfänglich für abweichende Gesinnungen. Für Gegner des Regimes gibt es im Staatsapparat und dem politischen System als Ganzem keinerlei Anknüpfungspunkte. Seit einem Vierteljahrhundert existiert die Opposition im Modus vom Status her außerhalb des Systems. Es gibt eine feste Machtvertikale, die Lukaschenko von oben persönlich bestimmt. Der Staatsapparat existiert unabhängig vom Volk und reagiert deshalb nicht auf dessen Forderungen, sondern bleibt loyal gegenüber dem, der ihn geschaffen hat.

    b) In Belarus ist der Staat in allen Bereichen des öffentlichen Lebens überaus präsent. Er dominiert nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch die soziale Sphäre (Wohnungs- und Kommunalwirtschaft, Medizin und Bildung), die Medien, die Kultur und so weiter. Der Staat ist der größte Arbeitgeber. Das ermöglicht der Regierung eine staatliche Kontrolle der Gesellschaft. Politische Repressionen werden nicht nur durch die Rechtsschutzorgane und die Sicherheitsdienste umgesetzt, sondern durch alle staatlichen Strukturen. Dabei steht die Umsetzung der Repressionen, und nicht die Erfüllung der eigentlichen Funktionen, heute im Mittelpunkt der Arbeit der Staatsorgane.

    Der Staat wird auf das politische Regime reduziert

    15. Die einzige Antwort des herrschenden Regimes auf die neue Herausforderung ist es, auf nackte Gewalt und präzedenzlose politische Repressionen zu setzen. Alle, die gegen Lukaschenko sind, werden zum Freiwild deklariert. Gesetze gelten für sie nicht.

    16. Der Kult der rohen Gewalt charakterisiert sehr gut das Unvermögen des herrschenden Regimes, sich an die neue Realität anzupassen. Das Regime hat kein Narrativ für die Zukunft, außer der Erhaltung des Status quo, der auf Angst und Gewalt beruht. Lukaschenko versteht nicht einmal die Notwendigkeit eines Zukunftsnarrativs.

    17. Seit Monaten befindet sich das Land psychologisch im Zustand eines Bürgerkriegs. Und der Krieg ist nicht einmal mehr kalt. Mehrere Menschen wurden getötet, Hunderte waren Prügel und Misshandlungen ausgesetzt, mehr als dreißigtausend wurden verhaftet.

    18. In der Konfrontation des Regimes mit der Revolution gab es einen Komplettausfall der staatlichen Funktionen. Die Staatsorgane haben aufgehört, ihre Pflichten zu erfüllen. Die belarussische Außenpolitik ist de facto dabei, zerstört zu werden, das Land verliert seinen internationalen Subjektstatus. Die radikale außenpolitische Kursänderung innerhalb von wenigen Tagen hat eindrücklich gezeigt, dass die Außenpolitik in einem autoritären Regime nicht dem Schutz der nationalen Interessen dient, sondern lediglich ein Mittel zum Zweck ist, ein Instrument der Macht eines einzelnen Menschen. Mehr nicht.
    Vollständig zerstört sind das Rechtssystem und die Organe der Rechtsprechung, ohne die die Existenz eines intakten modernen Staates unmöglich ist.
    Nach und nach werden im Land Unternehmens-, Kultur- (z. B. das Kupala-Theater) und Sportstrukturen zerstört, die im Verdacht stehen, gegenüber dem herrschenden Regime nicht loyal zu sein. 
    Auf diese Weise entledigt sich der Staat seiner Funktionen und bewahrt nur die, die dem Machterhalt dienen: die Straforgane. Staatliche Institute, die gesellschaftliche Bedürfnisse erfüllen sollen, richten sich auf Selbstbedienung ein, um die eigenen Interessen vor den Forderungen der Gesellschaft zu schützen. Der Staat wird auf das politische Regime reduziert.

    19. Lukaschenko, der seit einem Vierteljahrhundert als Garant für Stabilität galt, ist paradoxerweise zu einem der Hauptfaktoren für die Destabilisierung des Landes geworden. 

    20. Bisher richtete sich Lukaschenko über den Kopf der staatlichen Institute und der Nomenklatura hinweg an das Volk, dabei fußte seine Alleinherrschaft auf der Unterstützung des Volkes. Jetzt, da die Unterstützung der Gesellschaft weg ist, ist er auf den Staatsapparat angewiesen. Das bedeutet, dass die Rolle, das politische Gewicht der Nomenklatur, zunimmt.

    Eine Niederlage für die letzte postsowjetische Utopie

    21. Das Regime wird zunehmend militarisiert. Die Sicherheitsstrukturen sind zum systembildenden Element des Lukaschenko-Staats geworden. Und sie werden ihren Anteil an der Macht einfordern. Ein Anzeichen für diesen Trend ist die Tatsache, dass Lukaschenko mit dem Beginn des Revolution die Schlüsselpositionen im Sicherheitsapparat neu besetzt hat.

    22. Die belarussische Gesellschaft hat ein tiefes psychologisches Trauma erlitten. Mit diesem Trauma wird auch das Regime leben müssen. Wir sind eine traumatisierte Gesellschaft. In den kommenden Jahren wird sich das Land im Zustand eines posttraumatischen Syndroms befinden.

    23. Die belarussische Revolution hat der letzten postsowjetischen Utopie einen vernichtenden Schlag versetzt. Sie zerstörte ein Projekt, das auf der Illusion beruhte, man könne Fortschritt ohne demokratische Transformation gewährleisten, und zwar indem man die grundlegenden Elemente der sowjetischen Vergangenheit konserviert. 

    24. Die Stärke des Staatsapparats hat Lukaschenko geholfen, an der Macht zu bleiben. Aber rohe Gewalt kann weder seine persönliche Legitimität oder die Legitimität des herrschenden Regimes gewährleisten noch die politische Krise überwinden. Der Großteil der Bevölkerung ist Lukaschenko gegenüber äußerst negativ gestimmt, und ihr aktiver Teil demonstriert Bereitschaft, den Protest fortzusetzen. Die Metapher, Lukaschenko sei Präsident des OMON, beschreibt die momentane Situation sehr gut.

    25. Der Überdruss am Autoritarismus à la Lukaschenko hat dazu geführt, dass das Pendel der öffentlichen Stimmung weit in die andere Richtung ausgeschlagen ist. Belarus ist reif für eine vollwertige Marktwirtschaft und eine liberale Demokratie.

    26. Mit den früheren Methoden wird sich Lukaschenko nicht an der Macht halten können. Es entsteht eine Situation, die der Klassiker der Revolutionsliteratur auf die Formel gebracht hat: Die Obrigkeit kann nicht wie einst regieren. Das heißt, um zu überleben, muss das autoritäre Regime in Belarus notwendigerweise härter und undemokratischer werden als bisher.

    27. Das Ergebnis ist, dass sich im Land zwei entgegengesetzte, auseinanderstrebende Tendenzen zeigen. In den nächsten Monaten werden wir ein noch härteres autoritäres Regime erleben, und auf der anderen Seite eine politisierte, revolutionisierte, in Bewegung gekommene Gesellschaft, die den Geschmack der Freiheit gekostet hat. Der Deckel auf dem brodelnden Kessel gerät immer mehr unter Druck. Das heißt, der Konflikt wird sich zuspitzen und unversöhnlicher werden, die politische Krise wird sich verschärften.

    28. Belarus wird von der Insel der Stabilität in absehbarer Zukunft zum „kranken Mann Europas“ und des ganzen postsowjetischen Raumes werden. Das ist der unausweichliche Preis für ein Vierteljahrhundert lähmender Stagnation.
    Wir können schon heute sagen, dass die belarussische Revolution in die Geschichte eingegangen ist und entscheidenden Einfluss auf die weitere Entwicklung des Landes haben wird. Schließlich geht eine Revolution nie spurlos vorüber. Die belarussische Gesellschaft steht vor großen Veränderungen.         

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