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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Pack die Badehose ein

    Pack die Badehose ein

    Zum ersten Mal seit acht Monaten ist am vergangenen Samstag ein russischer Urlaubsflieger wieder im türkischen Antalya gelandet. Zuvor lagen die Beziehungen zwischen den beiden Ländern auf Eis, nachdem die Türkei im November einen russischen Kampfjet an der Grenze zu Syrien abgeschossen hatte. Auch sämtliche Charterflüge in das bei Russen beliebte Urlaubsland waren eingestellt.

    Ende Juni schließlich standen die Zeichen plötzlich wieder auf Annäherung: Der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan hatte in einem Brief sein Bedauern über den Abschuss geäußert, kurz darauf gab es ein 40-minütiges Telefonat zwischen Putin und Erdogan. Noch am gleichen Tag ließ der Kreml verlauten, dass Russen wieder in die Türkei reisen könnten, das Charterflugverbot wurde aufgehoben. Für Ende Juli ist nun sogar ein Treffen auf Ministerebene geplant.

    Wie sich mit dem politischen Kurs auch die offizielle Rhetorik auf einen Schlag wieder änderte und warum das schon keinen mehr wundert, analysiert Andrej Archangelski auf slon.ru.

    Der komplette Wandel in den Beziehungen zu einem ganzen Land hängt einzig und allein von einem Anruf Wladimir Putins ab. Das ist keine Neuigkeit, das ist Realität. Wir erinnern uns zum Beispiel daran, wie sich die offizielle Rhetorik nach einem einzigen Satz von Putin änderte: „Nehmen Sie direkten Kontakt zu den Franzosen auf und arbeiten Sie mit ihnen wie mit Verbündeten!“

    Das Beeindruckende ist nicht einmal das Tempo, in dem sich die offizielle Tonart ändert. Vielmehr sind innerhalb der sieben Monate, die seit dem Riss in den Beziehungen zur Türkei vergangen sind, dermaßen viele hässliche Worte über das Nachbarland gefallen, dass man meinen sollte, es gäbe kein Zurück mehr. Zahllose Sprecher, Radio- und Fernsehmoderatoren sowie Experten, die zur weiteren Eskalation der Spannungen zum Einsatz kamen, redeten so, als käme nach ihnen die Sintflut, als würde sich die Situation zu ihren Lebzeiten auf keinen Fall mehr ändern. Das Leben zeigt jedoch, dass sich sogar in so konservativen Bereichen wie den internationalen Beziehungen mehr als einmal pro Jahr etwas tun kann.

    In solchen Momenten treten fundamentale Widersprüche offen zutage: zwischen dem Weltbild dieser Menschen (Russland ist von Feinden umzingelt, und so war das schon immer) und der Wirklichkeit der modernen Welt – in der der Begriff „Feind“ im Grunde genommen gegenüber keinem einzigen Land angemessen ist. Das Wort „Feind“ ist in Bezug auf den internationalen Terrorismus angemessen, darüber herrscht in der Welt Konsens. Was aber die Beziehungen zwischen den Ländern betrifft, so geschieht alles Mögliche, auch Tragisches – doch irgendwann, und sei es erst nach Jahrzehnten, bitten alle auf die eine oder andere Art einander um Entschuldigung, verzeihen ihrerseits und beginnen Gespräche. Weil es anders nicht geht.

    Hate Speech ist reine Formsache

    So blitzartig, wie in Russland die eine Rhetorik von der entgegengesetzten abgelöst wird, drängt sich eine Überlegung auf: nämlich, dass die gesamte gegenwärtige Hate Speech mittlerweile als reine Formsache wahrgenommen wird, als eine Art Konvention. Wie ein Fragment der sowjetischen Doppelmoral: Im Partkom muss man den „faulenden Kapitalismus“ anprangern, und dann kauft man auf dem Schwarzmarkt amerikanische Jeans.

    Als die große Propaganda begann, im Februar/März 2014, konnte man sich gar nicht vorstellen, dass das eine reine Formsache ist. Im Gegenteil, die ganze Wirkung beruhte auf dem Eindruck, dass hier nur echte Gefühle im Spiel seien, eine neue Aufrichtigkeit sozusagen. Entrüstung, Empörung – das alles konnte man doch wohl nicht vortäuschen. Die Vorstellung, dass die Empörung einfach ein Werkzeug ist, das man jeden Moment wieder abschalten kann, hätte vor zwei Jahren noch bedeutet, den Glauben daran zu verlieren, dass auf der Welt überhaupt irgendetwas ernsthaft existiert.    

    Es ist ein schwerer Schlag gegen die Eitelkeit der Benutzer jener Hate Speech, dass die Menschen Propaganda mittlerweile schon als rhetorisches Mittel wahrnehmen: Jedes Mal, wenn das geschieht, wird den Menschen nämlich klar, dass einfach nur ihre Gefühle missbraucht werden (die ihnen eben jene Propaganda untergejubelt hat).

    Wenn der Staat eine 180 Grad-Wende vornimmt, kann man das als „derzeit für uns von Vorteil“ auffassen, doch rein menschlich ist es schwierig, damit zurechtzukommen.

    „Sie waren im Mai in der Türkei? Schämen Sie sich nicht?“, wirft ein regierungstreuer Radiomoderator einem Hörer vor.

    „Ich war nicht bei Erdogan“, antwortet der. „Ich war bei Freunden, die in der Türkei leben.“

    Ein Jubelschrei geht durch die Tourismusbranche

    Es ist bezeichnend, dass die Entspannung ihren Anfang in der Tourismusbranche nahm. In den Medien verbreitete sich schnell, dass diese Branche die Nachricht „mit einem Jubelschrei“ aufgenommen hätte. Auch das ist eine Emotion, nur diesmal eine positive. Und das Wichtigste an dieser Geschichte ist, dass die im Tourismus Beschäftigten ihre Freude nicht verbergen – obwohl ihnen wahrscheinlich klar ist, dass das nicht allen gefallen wird.

    Die Pressesprecherin des Tourismusverbandes sagt im Interview: „Das Charter-Programm (in die Türkei) lässt sich innerhalb eines Monats wieder voll aufnehmen. Und dass die Leute fahren werden, steht sowieso außer Zweifel.“ Ähnliches meint sogar Vizepremierministerin Golodez.

    Der Grund dafür ist ganz einfach: Die Türkei bietet das ideale Preis-Leistungs-Verhältnis für den Touristen aus Russland, sie ist das ganze Jahr über das beliebteste Urlaubsziel. Ein Schlag gegen dieses Ziel bedeutet den langsamen Tod der Branche. Und umgekehrt: Die Wiederaufnahme bedeutet ihr Leben. Wir respektieren die Entscheidung des Staates, sagt die Branche, doch wir machen kein Hehl aus unserer Freude darüber, dass die Welt besser geworden ist und nicht schlechter, und versucht doch mal, uns vorzuwerfen, dass wir uns freuen, dass die Welt besser und nicht schlechter geworden ist.       

    Das Paradox des Lebens in Russland besteht darin, dass es der hiesigen Geschäftswelt lange Zeit nicht nur an politischen, sondern auch an weltanschaulichen Überzeugungen komplett fehlte. Sie konnte nur immer wieder wiederholen: „Wir sind keine Politiker.“

    In den vergangenen Jahren konnten die Unternehmer sich dann davon überzeugen, dass es zwischen Wirtschaft und Politik eine direkte Verbindung gibt. Und dieses Verständnis, so wagen wir zu hoffen, hat wenigstens in manchen Köpfen für einen Umschwung gesorgt. Von der Politik hängt im Fall der Türkei das Leben Tausender Reiseagenturen im ganzen Land ab und außerdem das Befinden von Millionen Touristen.   

    Humanisten und Pazifisten des Jahres 2016: die Reiseveranstalter

    Ein weiteres Paradoxon besteht darin, dass Pazifismus und Humanismus in Russland keine Tradition haben. Das heißt, sie haben keinen auch nur irgendwie ernstzunehmenden Platz im Massenbewusstsein, ungeachtet dessen, dass diese Wörter in den 80er Jahren gehäuft verwendet worden waren. Die ersten wirklichen Humanisten und Pazifisten des Jahres 2016 waren keine Persönlichkeiten aus Kultur oder Sport, keine Intellektuellen mit Brille oder ohne (manche von ihnen haben sich als Eins-a-Militaristen entpuppt), sondern die völlig neutralen Reiseveranstalter.

    Wer arbeitet im Tourismus? Ganz normale Leute, deren Ansichten man wahrscheinlich größtenteils als patriotisch bezeichnen kann. Andererseits sind sie Menschen von Welt, denen man nicht so leicht einreden kann, dass überall Feinde lauern. Und der Militarismus stellt eine Bedrohung für ihre Branche dar.

    Nimmt man all diese Dinge zusammen, kommt einem unweigerlich das bekannte Zitat von Marx in den Sinn, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt. Der Jubelschrei bezeugt, dass die Gesellschaft Russlands komplexer geworden ist. Derzeit sind die im Tourismus Beschäftigten die überzeugtesten Humanisten unseres Landes, sie wissen jetzt, warum Frieden besser ist als Krieg, denn sie haben es am eigenen Leib gespürt. Und je weniger Feinde Russland hat, desto besser ist es – für sie und für alle.

    Sobald die Konvention nicht mehr zwingend ist, ist sie plötzlich spurlos verschwunden

    Aufschlussreich wird ein Blick auf die Zahlen der Türkei-Touristen schon im nächsten Monat sein – die werden den Kriegstreibern eine Lehre sein, die dazu aufrufen, „trotzdem keinen Urlaub in der Türkei zu machen“. Ausgehend von diesen Zahlen wird man auch Rückschlüsse ziehen können, wie stark oder schwach die Propaganda das Verhalten der Menschen beeinflusst.

    Es wird sich auch zeigen, dass die Leute jetzt schon wissen, dass sämtliche, auch die härtesten, Worte nichts wert sind und nichts von dem Gesagten es verdient, besonders ernst genommen zu werden. Allen ist klar, dass das eine Konvention ist, die sie einhalten, solange die Notwendigkeit besteht. Doch konnte diese Konvention die grundlegenden Gesetze des Marktes nicht aushebeln. Wie in der Sowjetzeit wird sie als ärgerliche Beeinträchtigung des Lebens aufgefasst. Und sobald die Einhaltung der Konvention nicht mehr zwingend ist – ist sie plötzlich spurlos verschwunden.

    So erklärt sich wohl auch das Tempo, in dem man in unserem Land aufhört, von jemandem schlecht zu sprechen, und beginnt, neutral oder sogar mit Sympathie von ihm zu reden – und so erklärt sich die Bereitschaft der Mehrheit, einen anderen Gang einzulegen.

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  • Die Fragen der Enkel

    Die Fragen der Enkel

    „Es gab einen Mord.“ Der FSB-Beamte im sibirischen Tomsk muss sehr erschrocken sein. Der junge Mann vor ihm ließ nicht locker: „Es gab einen Mord und ich möchte wissen, wer die Verantwortlichen sind.“

    Der Mord, zu dem Denis Karagodin seit jenem Tag forscht, liegt viele Jahrzehnte zurück: Es geht um seinen Urgroßvater Stepan Karagodin. Der Kosake war Bauer, hatte neun Kinder und wurde in den Jahren des Großen Terrors unter Stalin vom NKWD verhaftet und als „japanischer Spion“ erschossen.

    Stepan Karagodins Schicksal ist kein Einzelfall, genauso wie das seiner Familie: Mehr als eine Million Menschen fielen in den Jahren 1937/38 dem Großen Terror zum Opfer. Mehrere Jahre wusste keiner in der Familie Karagodin, wo der Vater war, ob er überhaupt noch lebte. Irgendwann Mitte der 1950er Jahre erfuhr die Familie dann, dass Stepan Karagodin „rehabilitiert“ sei. Da war er schon fast 20 Jahre tot.

    Denis Karagodin gibt sich nicht zufrieden mit der „Entschuldigung“ aus den 1950er Jahren. „Jede Generation meiner Familie hat versucht, sein Schicksal zu rekonstruieren“, sagt er kürzlich im Interview mit Radio Svoboda. Karagodin möchte die Schuldigen zur Verantwortung ziehen. Sammelt seit Jahren Dokumente, die den Mord an seinem Urgroßvater belegen, rekonstruiert den Ablauf der Ereignisse und die Namen der Beteiligten. Alles hat er auf seinem Blog dokumentiert. Denis Karagodin sieht den FSB als Nachfolgeorganisation des NKWD in der Verantwortung, und er lässt nicht locker.

    Iwan Kurilla beschreibt auf slon.ru, was Karagodins Nachforschungen für die russische Gesellschaft bedeuten könnten.

    Jahrelang wusste keiner in der Familie, wo Stepan Karagodin war –  Foto © Denis Karagodin

    Dieser Tage ging die Geschichte von Denis Karagodin durch die Medien: Ein Absolvent der Tomsker Universität, der zu den Todesumständen seines Urgroßvaters Stepan forscht, Anfang 1938, in der Zeit des Großen Terrors. Nach der Verurteilung im „Prozess gegen die Spionage- und Sabotagegruppe von Harbinern und Deportierten aus dem Fernen Osten“ sowie als „Gruppenführer des japanischen Militärnachrichtendienstes“ wurde Stepan Karagodin Anfang 1938 vom NKWD erschossen.

    Denis ging zum FSB und verlangte, Nachforschungen zum Tod seines Urgroßvaters anzustellen und die Schuldigen an diesem Verbrechen festzustellen. In Russland erscheint ein solcher Schritt naheliegend – und gleichzeitig unmöglich.    

    Das Gebot „sich ja rauszuhalten“     

    Millionen von Menschen haben in den Jahren des Staatsterrors in der UdSSR ihre Verwandten verloren, bekamen während des Tauwetters der Ära Chruschtschow lückenhafte Informationen zu deren Rehabilitierung  und dann in Gorbatschows Perestroika ein etwas genaueres Bild – diesen Verlust erlebten sie als persönliches Leid. Der Staat hatte ihnen die Angehörigen entrissen und diese posthum (oder im Glücksfall auch noch zu Lebzeiten, nach Jahrzehnten im Gulag) von Schuld freigesprochen – und dafür konnte und musste man ihm „danke“ sagen.     

    Die Generation, die die Stalinzeit erlebt hat, hatte den Staat fürchten gelernt und ihren Kindern das Gebot mitgegeben, „sich ja rauszuhalten“. Eine besondere, fast abergläubische Angst empfanden die Bürger vor den Organen der Staatssicherheit.

    Wahrscheinlich war die politische Ruhe der relativ wenig repressiven Breshnew-Zeit teilweise der Fügsamkeit der Bevölkerung zu verdanken. Die wusste aus der Erfahrung ihrer Eltern, dass der Staat anfangen kann zu töten. Kein Wunder, dass allein der Gedanke, Ansprüche gegen den Staat geltend zu machen, erst dem in der Zeit nach Breshnew geborenen Urenkel eines Hingerichteten in den Sinn kam.

    Verbrechen als Verbrechen benennen

    Denis Karagodin warf die Frage auf nach der Verantwortung des Staates und der konkreten Terror-Vollstrecker. Und zwar nicht die Frage nach der politischen Verantwortung, über die man schon seit dem XX. KPdSU-Parteitag gesprochen hatte, sondern die ganz banale Frage nach der strafrechtlichen Verantwortung.

    So ist es doch: Die Ermordung eines unschuldigen Menschen, egal durch wen, verlangt nach Ermittlungen und nach Bestrafung der Täter. Falls die Täter einen Befehl ausgeführt haben, dann muss sich die Strafe auf die ganze Befehlskette erstrecken. Ist seither zu viel Zeit vergangen und aus diesem Befehlsgefüge niemand mehr am Leben, dann müssen in strafrechtlichen Ermittlungen die Namen festgestellt und Verbrechen als Verbrechen benannt werden.

    Die Vergangenheit aufarbeiten

    In Russland hat es weder eine Kommission zur nationalen Versöhnung noch ein Tribunal für die Henker gegeben. Wie Alexander Etkind in seinem kürzlich erschienenen Buch Kriwoje gore (Verzerrtes Leid) aufzeigt, hat die russische Gesellschaft daher die Folgen des Gulag bis dato nicht verarbeitet. Sie schwingen noch mit in Kultur und Wissenschaft, in der Beziehung der Menschen untereinander und der Menschen zum Staat.

    Oft heißt es, eine völlige Verurteilung des Stalinismus sei in Russland nicht möglich, denn im Unterschied zu Deutschland, wo die Entnazifizierung von den Besatzungsmächten vorgenommen wurde, habe die UdSSR keine militärische Niederlage erlitten und sei daher gezwungen, ihre Vergangenheit selbst aufzuarbeiten. Die politische Kräftebalance erlaube es angeblich nicht, die Frage nach den Verbrechen des Staates unter Führung der Bolschewiken zu stellen.

    Verfechter der stalinistischen Sowjetunion reduzieren den Streit oft auf die Opferzahlen: Sind die nicht übertrieben? Waren es wirklich Millionen und nicht eher nur Hunderttausende Getötete? Als würde die Verlagerung der Diskussion in den Bereich der Statistik es obsolet machen, über das tragische und kriminelle Erbe des Staates zu sprechen.  

    Konkretes Schicksal statt trockene Statistik

    Denis Karagodin hat nun sein Modell der Vergangenheitsbewältigung vorgeschlagen: persönliche Ermittlung und eine persönliche Klage wegen Tötung seines Urgroßvaters. Das ist ein konkretes Schicksal, keine trockene Statistik. Die Archive des FSB bergen Geheimnisse von Spitzeln und Henkern – ob sie wohl auf die Forderung eines Bürgers hin geöffnet werden?

    Es ist zu erwarten, dass die Geschichte Karagodins Vorbildwirkung hat. Auch Angehörige anderer in den Jahren des Terrors Verurteilter könnten vor Gericht ziehen. Dass der Staat darauf mit Einverständnis reagiert, ist nicht gesagt. Womit aber will er begründen, solche Ermittlungen zu verweigern?

    In der Sowjetzeit war Angst das Hauptargument. Heute wird sich die Judikative, um solche Ermittlungen zu umgehen, irgendeine juristisch fachkundige Antwort überlegen müssen, die ihrerseits Anstoß für eine Diskussion innerhalb der Gesellschaft sein kann. Jener Diskussion, die es bei uns weder in den 50er- noch in den 80er-Jahren gab.  

    „Große Geschichte“ und familiäres Gedächtnis

    In den 80er-Jahren fand die Ent-Stalinisierung in den Medien und bei Aktivisten statt. Vielen kam das vor wie eine Art Propaganda: Journalisten schrieben über Repressionen, Memorial sammelte Dokumente von Verfolgten, doch im Grunde blieben die Bürger „Konsumenten“ dieser Informationen und hatten sie irgendwann satt (beteuern jedenfalls jene, die sich gegen eine neuerliche Diskussion zur sowjetischen Vergangenheit aussprechen).
    Jetzt aber geht es um die Rekonstruktion von Familiengeschichte, und in diesem Zusammenhang kann die Ent-Stalinisierung zu einer persönliche Angelegenheit von Hunderttausenden Staatsbürgern werden.     

    Erinnerungsforscher bemerkten vor einiger Zeit, dass das Interesse der Russen an ihren familiären Wurzen rasant ansteigt. Genealogische Forschungen, Familienchroniken, das Durchforsten von Dokumentenarchiven, Geburtsurkunden und Gräbern der Vorfahren verbreiteten sich überall in Russland, in ganz unterschiedlichen sozialen Schichten. Den Platz des „Geschichtslehrbuchs“ nimmt immer öfter die Familiengeschichte ein – als Teil der Landesgeschichte. Und wenn es in diesen Familiengeschichten noch offene, aufgeschlagene Seiten gibt, dann versucht die Enkelgeneration, diese endlich zu schließen.   

    Vielschichtiger als ein Geschichtslehrbuch

    Auf der Website von Memorial finden sich immer mehr Informationen zu Verfolgten, die Sparte wird oft angeklickt. Die Initiative Posledni Adres (dt. Letzte Adresse) montiert auf die Bitte Angehöriger hin Schilder an Häuser, wo Opfer des Staatsterrors abgeholt wurden. Diese wirkungsvolle Bewegung zur Aufarbeitung der Familiengeschichte ist etwas ganz anderes als der Kampf der Intelligenzija in den Medien um das richtige Verständnis der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts. Das neue Gedenken ist komplexer und vielschichtiger als ein Geschichtslehrbuch.  

    Es gibt eine deutliche Parallele zwischen dem Fall Karagodin und der Aktion Bessmertny polk (dt. Unsterbliches Regiment). In beiden Fällen wenden sich Nachkommen ihrer Familiengeschichte zu; sie schreiben ihre Großväter in die Geschichte des Landes ein und betrachten die Geschichte des Landes mit den Augen ihrer Großväter. Im Fall des Unsterblichen Regiments entschloss sich der Staat, die Initiative der Bürger zu unterstützen. Wird er bereit sein, auch andere Initiativen zu unterstützen? Können Bürger den Staat dazu bringen, sich zu verändern?

    Man würde gern dran glauben, dass es auf diese Fragen eine positive Antwort gibt.

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  • Aus und vorbei für Paragraph 282?

    Aus und vorbei für Paragraph 282?
    282 – „Artikel gegen Gedanken-Verbrechen"? Foto © F Andrey (flickr)
    282 – „Artikel gegen Gedanken-Verbrechen“? Foto © F Andrey (flickr)

    Ursprünglich gedacht als Paragraph gegen jede Art von Diskriminierung („… Schüren von Hass und Feindschaft sowie Erniedrigung von Individuen oder Gruppen …“), gilt Artikel 282 mittlerweile als Gummi-Paragraph des Russischen Strafrechts schlechthin: So wurden auch die Künstler, die sich 2005 an der Kunstausstellung „Achtung, Religion!“ in Moskau beteiligt hatten, nach Paragraph 282 verurteilt – ohne, dass ihre tatsächlichen Absichten berücksichtigt worden wären. Ihnen wurde vorgeworfen, die religiösen Gefühle orthodoxer Gläubiger verletzt zu haben.

    In jüngster Zeit wurden außerdem immer wieder Nutzer Sozialer Netzwerke unter Anwendung von Paragraph 282 zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, etwa wegen Reposts oder Likes politisch strittiger Inhalte.

    Ausgerechnet Abgeordnete der rechtspopulistischen Liberal-Demokratischen Partei (LDPR) haben nun Mitte des Monats eine Gesetzesinitiative in der Staatsduma ergriffen, den umstrittenen Artikel 282 aus dem Russischen Strafgesetz zu streichen – mit dem Argument, der Paragraph könne zu leicht ad absurdum geführt werden und legalisiere letzten Endes politische Zensur.

    Auf slon.ru argumentiert Oleg Kaschin, warum es vielleicht gerade gut ist, dass dieser Vorschlag aus Reihen der LDPR kommt – und weshalb er sogar Aussicht auf Erfolg haben könnte.

    Eines sei gleich vorweggenommen – die Schlagzeile In der Staatsduma wurde vorgeschlagen ... ist so ziemlich die peinlichste, die man sich denken kann, sie macht eine inhaltliche Erörterung eigentlich gleich überflüssig.

    Wenn nämlich in den Nachrichten steht, dass in der Staatsduma etwas vorgeschlagen wurde, bedeutet dies in den meisten Fällen, dass irgendein einzelner Abgeordneter im Zuge einer eigenen kleinen Medienkampagne den Journalisten wieder einmal von einem seiner Einfälle erzählt hat, aus dem dann höchstwahrscheinlich nicht einmal ein Gesetzentwurf wird. Eigentlich ist das einzige Ziel, das die Abgeordneten damit verfolgen, selbst in die Schlagzeilen zu kommen.

    Das sollte man stets im Hinterkopf haben, wenn von Initiativen seitens Abgeordneter in der heutigen Staatsduma die Rede ist. Allerdings sollte der Vorschlag der LDPR-Abgeordneten Michail Degtjarjow, Alexej Didenko und Iwan Sucharew, den Artikel 282 zu streichen, doch ein bisschen – wenn auch nicht wesentlich – ernster genommen werden als die üblichen hanebüchenen Ideen, die aus der Staatsduma kommen.

    Nicht etwa, weil es sich um besonders ernstzunehmende Abgeordnete handelt. Aber wir haben es hier mit dem sehr seltenen Fall zu tun, dass eine lange geführte und höchst brisante öffentliche Diskussion eine offizielle Dimension bekommt, und sei es auch nur symbolisch. Und solche Gelegenheiten sollte man beim Schopf packen und die Debatte mit allen Mitteln vorantreiben.

    Drei Monate vor den anstehenden Parlamentswahlen sollte man trotz all der offensichtlichen Unzulänglichkeiten bedenken, dass sich die Parteien der Systemopposition ein wenig Populismus leisten können. Außerdem hat die besagte LDPR schon längst den zweifelhaften Ruhm einer Partei, die vom Kreml gelegentlich genutzt wird, um die öffentliche Meinung zu verschiedenen strittigen Fragen zu sondieren.

    Das abscheulichste Gesetz des Russischen Strafrechts

    Im Erfolgsfall könnte die Abschaffung des Artikels 282 Realität werden. Denn letzten Endes hat der Kreml nicht so viele Optionen, die einerseits einen tatsächlichen Tauwettereffekt hätten und verkantete Schrauben lösen würden, andererseits aber auch nicht als Zugeständnis an jene Kräfte verstanden würden, denen der Kreml nicht gerne Zugeständnisse macht (die so genannten „Liberalen“, „Bolotnaja-Aktivisten“, Fünfte Kolonne usw.). In diesem Sinne erscheint die Initiative der LDPR zumindest durchaus realistisch und realisierbar.

    Artikel 282 ist in der Tat das abscheulichste Gesetz des Russischen Strafrechts. Es ist zwar weder der infamste Artikel (dieser Rang sollte dem neuen Artikel 212,1 zuteil werden, bei dem dreimalige Verwaltungshaft zu einem Strafverfahren und Freiheitsentzug führt – wie im Fall des einsitzenden Aktivisten Ildar Dadin) noch betrifft er die Massen (als „volksnah“ gilt Artikel 228 über Erwerb, Besitz, Verbreitung, Herstellung und Weiterverarbeitung von Drogen; auf seiner Grundlage werden Tausende zu Haftstrafen verurteilt; seine Anwendung in der Rechtsprechung lässt auf grenzenlose Missbrauchsmöglichkeiten dieses Artikels seitens der Verurteilenden schließen), und seine Abscheulichkeit lässt sich nicht an den üblichen Kriterien festmachen.

    Es gibt sogar ein T-Shirt mit der Zahl 282

    Die Zahlenkombination 282 ist sogar denen ein Begriff, die noch nie das Strafgesetzbuch der Russischen Föderation aufgeschlagen haben: Sie ist in aller Munde, gar zu einem Mem geworden, taucht in Politikerreden und Künstlerinterviews auf, und sogar die Buchhandlung Falanster hatte ein T-Shirt mit der Zahl 282 im Angebot.

    Die Ablehnung dieses Paragraphen eint Nationalisten, die einst als erste sein repressives Potential kritisierten, mit Linken und Liberalen (wobei es unter den Liberalen auch die verbreitete Auffassung gibt, dass ein solches Gesetz trotz allem notwendig ist und die Probleme, die im russischen Kontext mit diesem Paragraphen verbundenen sind, lediglich durch die falsche Anwendung zustande kommen) – und seit kurzem auch mit LDPR-Abgeordneten.   

    Die offizielle Formulierung des Gesetzestextes: „Handlungen, die auf das Schüren von Hass und Feindschaft sowie Erniedrigung von Individuen oder Gruppen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Rasse, ihrer Nationalität, ihrer Sprache, ihrer Herkunft, ihrer Konfession oder ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe gerichtet sind und öffentlich oder mithilfe von Massenmedien oder Informations- und Telekommunikationsnetzwerken begangen werden, einschließlich des Internets […]“ fängt zwar mit dem Wort „Handlungen“ an, impliziert aber keinerlei Handlungen: Eine „Handlung” kann in den Medien oder im Internet einfach nur ein Wort oder ein Bild sein – mehr braucht es nicht.

    Artikel gegen „Gedanken-Verbrechen“

    Anders gesagt: Paragraph 282 betrifft das menschliche Denken und sieht die strafrechtliche Verantwortlichkeit für bestimmte sprachliche Äußerungen vor. Wie offizielle Gutachten bereits oft gezeigt haben, kann aber jedes Wort beliebig interpretiert werden, und so ist es nur allzu gerechtfertigt, diesen Artikel als Artikel gegen Gedanken-Verbrechen zu bezeichnen: Du hast vielleicht nicht direkt zu etwas aufgerufen, hast es aber impliziert; hier hast du das Gutachten und hier das Urteil, bitte sehr.

    Wenn das heutige Russland einen Strafparagraphen hat, der dem sowjetischen Artikel 58 aus der Stalinzeit entspricht, so ist es ebendieser: ein offenkundiger schriftlicher Beleg für die Einschränkung der Meinungsfreiheit im Land.

    Die Befürworter des Artikels 282 berufen sich gerne auf die Erfahrung europäischer Länder, in denen Meinungsäußerungen ebenfalls bestraft werden können, vor allem die Leugnung des Holocaust. Dies ist ein bewährter scholastischer Trick der Verfechter, die stets mit Sorgfalt und liebendem Eifer im Ausland nach Analogien zu russischen Niederträchtigkeiten suchen und dabei ignorieren, dass in diesen Ländern Dinge existieren, die in Russland völlig undenkbar wären – zum Beispiel ein unabhängiges Gericht.

    Ein Artikel im Schlafmodus, unter Putin zum Leben erweckt

    Im Grunde genommen ist die Geschichte des Artikels 282 und seine bisherige Anwendung das beste Argument gegen ihn: Er entstand mit dem ersten postsowjetischen Strafgesetzbuch der Russischen Föderation, das im Übrigen dieser Tage sein 20. Jubiläum hat. In den ersten Jahren blieb der Artikel jedoch im Schlafmodus. Unter Jelzin wurde niemand auf seiner Grundlage verurteilt oder inhaftiert, erst in den frühen Putin-Jahren nach den Ausschreitungen auf dem Manegenplatz (als Fussballfans nach dem Public Viewing eines WM-Spiels Autos und Geschäfte im Moskauer Zentrum zertrümmerten) wurde ein Paket von Anti-Extremismus-Gesetzen verabschiedet und Artikel 282 zum Leben erweckt.

    Wie so oft war der erste nach dem Artikel Verurteilte nicht etwa ein bekannter Oppositioneller, sondern die exotisch anmutende Randfigur Witali Tanakow aus der Republik Mari El, der ein Buch aus der Perspektive eines heidnischen Priesters geschrieben hatte, der den christlichen Glauben verleugnet. Tanakow kam vor Gericht und wurde wegen „Schüren von Hass auf die soziale Gruppe russischer Christen“ angeklagt. Wahrscheinlich wäre er dafür auch inhaftiert worden, wenn die Anklage nicht dank seines guten Anwalts ins „Schüren von Hass auf die soziale Gruppe der Angestellten des Kulturministeriums“ abgemildert worden wäre, in deren Folge Tanakow zu 120 Stunden Arbeitsdienst verurteilt wurde.

    Bei dem Urteil von 2006 klang „soziale Gruppe der Angestellten des Ministeriums“ noch wie die Pointe eines unlustigen Witzes, aber die weitere lawinenartige Gesetzesanwendung machte den Witz zur Routine.

    Auf einmal gab es Prozesse zum Schutz der sozialen Gruppen, der Milizangestellten, der wohlhabenden Bürger, der Fußballfans oder der Gopniks, und der Antifaschist Igor Chartschenko wurde für das Schüren von Hass auf die „soziale Gruppe der Skinheads“ angeklagt.

    Der Wahnsinn dauerte bis 2011, als ein Urteil des Obersten Gerichts der breiten Auslegung von sozialen Gruppen Einhalt gebot und den haarsträubenden Urteilen ein Ende setzte.

    2011 war eine liberale Zeit: Medwedew war Präsident, die Modernisierung lief, das Tandem Putin-Medwedew zerbrach, das Land versuchte sich von seinen abscheulichsten Eigenschaften zu befreien.

    Tauwetter dauert in Russland nie lange

    Eine Weile lang diente Artikel 282 als Standart-Dreingabe zur Absicherung (sollte der Hauptanklagepunkt sich zerschlagen) in Verfahren zu tatsächlicher Gewalt; beispielsweise, wenn ein Islamist, der einen Bombenanschlag in Dagestan verübt hatte und zusätzlich in Sozialen Netzwerken zum Mord an Ungläubigen aufrief. Oder wenn ein Moskauer Nazi, der einen Tadschiken niedergestochen hatte, mit Ausgaben von Mein Kampf Handel trieb.

    Aber Tauwetterperioden dauern in Russland nie lange. Bereits ab 2012 wurden die Schrauben wieder angezogen. Irgendwann griff der Staat auch in den Sozialen Netzwerken durch und heute wundert es keinen mehr, wenn es für Reposts im Sozialen Netzwerk VKontakte.ru Haftstrafen gibt: Im Dezember vergangenen Jahres hat Oleg Nowoschenin aus Surgut ein Jahr Strafkolonie bekommen, weil er ein Video des ukrainischen Asow-Regiments gepostet hatte. Und erst kürzlich wurde Maxim Kormelizki aus Berdsk zu 15 Monaten Strafkolonie verurteilt. Er hatte auf seiner Seite das traditionelle Eisbaden orthodoxer Christen zum Epiphanias-Fest ironisch kommentiert.

    282 als Wurzel allen Übels? Ein Trugschluss

    Wie man sieht, kann ein und derselbe Strafrechtsparagraph im Laufe seines 20-jährigen Bestehens zu verschiedenen Zeitpunkten mal Verwendung finden wie am Fließband, mal in Ausnahmefällen, mal auch gar nicht zum Einsatz kommen. Wobei das weniger vom Ausmaß des extremistischen Gedankenguts in der Gesellschaft abhängt, als vielmehr von der aktuellen politischen Konjunktur – wobei dieses Problem nicht nur an einem konkreten, wenn auch abscheulichen Artikel liegt, sondern an der gesamten Rechtsstruktur Russlands.

    Die Rechtsprechung nach Artikel 282 ist eine wunderbar eindrückliche Illustration des Prinzips „Das Gesetz ist wie eine Deichsel [wohin man es dreht, dahin weist es – dek]“. (Dieses Sprichwort war in Russland übrigens Gegenstand eines Gerichtsverfahrens, aufgrund der Klage des Innenministeriums von Karelien gegen die Zeitung Sewernye berega  [„Nördliche Ufer“] – wenn auch nicht nach Artikel 282.) Und dieses Prinzip wird sich nicht einfach in Luft auflösen, auch wenn im Russischen Strafgesetzbuch nach Artikel 281 plötzlich gleich Artikel 283 folgen würde.

    Die mediale Präsenz des Artikels hat seinen Feinden einen bösen Streich gespielt: Je mehr über diesen Artikel gesprochen wird, umso größer ist der Trugschluss, dass dieser die Wurzel allen Übels sei, und nicht etwa die Rechtswidrigkeit des gesamten russischen Staatsbaus.

    Sollte die LDPR es wirklich schaffen, sich diese Schieflage zunutze zu machen und die Abschaffung des abscheulichen Artikels durchzusetzen, wird das eine Sensation. Aber mehr Gerechtigkeit wird es in Russland durch diese Sensation nicht geben.

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  • Was bekommt der Wähler?

    Was bekommt der Wähler?

    Am 18. September 2016 sind Duma-Wahlen: sowohl für die Opposition als auch für die Regierungspartei Einiges Russland eine wichtige Wegmarke im aktuellen politischen Geschehen.

    Während die untereinander recht zerstrittene liberale Opposition eine Chance aufgreifen möchte, im Parlament vertreten zu sein, geht es für die Regierung darum, ihren Stand zu wahren. Zwar hat sie spätestens seit der Eingliederung der Krim einen sicheren Rückhalt in der Bevölkerung. Dennoch ist ihre Legitimität nach den umfassenden Wahlfälschungen 2011 und den massenhaften Protesten 2011/12 zumindest angekratzt. Dazu kommt die sich verschärfende Wirtschaftskrise, die sich mittlerweile auch auf die Sozialleistungen und die Renten auswirkt.

    Tatjana Stanowaja, Leiterin der Analyse-Abteilung am Zentrum für Politische Technologien, analysiert auf Slon.ru das politische Programm der Regierungspartei – und sieht vor allem einen großen Fehler.

     „Geld haben wir keins, aber haltet durch“ – Dimitri Medwedew auf der Krim. Foto © Dmitry Astakhov/TASS
    „Geld haben wir keins, aber haltet durch“ – Dimitri Medwedew auf der Krim. Foto © Dmitry Astakhov/TASS

    Bald sind Wahlen. Doch die Regierung lässt sich sichtlich Zeit damit, nach der Krim ein neues Programm auszuarbeiten – ein Programm mit einem zukunftsweisenden politischen Vorschlag.

    Der Kreml ist mit Außenpolitik beschäftigt, die Wirtschaft überlässt man Theoretikern, die offenbar unfähig sind, sich zu einigen, und in der Innenpolitik herrscht ein Kampf unter Gleichen: um die Rangordnung, nicht um Ideen.

    Die Wahlen scheinen zum planmäßigen Routineakt zu werden, und wer immer auch gewinnt, es wird jemand aus dem Putin-Lager sein. Sich in dieser Situation etwas Neues auszudenken, grandiose Pläne und Projekte zu ersinnen, dazu fehlt es an Geld genauso wie an Lust. Es ist nicht nur eine programmatische Krise, es ist ein programmatisches Vakuum.

    Man kann natürlich sagen, formal führe die Regierung ihr traditionelles Programm fort: Patriotismus, Souveränität, Erfüllung sozialer Verpflichtungen, Mai-Dekrete (an die man sich plötzlich erinnert), behutsamer Kampf gegen Korruption und sogar eine Entwicklungsstrategie für die nächsten 20 Jahre. Das ist es, was die politische Elite schon die ganzen vergangenen vier Jahre bei Wahlen vorgeschlagen hat. Packen wir noch – beide recht frisch – Krim nasch und die Importsubstitutionen dazu. Dem Volk gefällt’s. Und formal ist das natürlich ein Programm. Aber faktisch nicht.

    Die Ideologie der „belagerten Festung“, Isolationstendenzen, Abstriche in der Ukraine, die schwache Verhandlungsposition gegenüber dem Westen bei zunehmender hurra-patriotischer Rhetorik – all das ist eine Art Anpassung der Elite an die neue Wirklichkeit, in der für das einfache Volk praktisch kein Platz bleibt.  

    Buchstäblich das gesamte Programm von heute betrifft den staatlichen, nicht den privaten Bereich. Was hat die Regierung bei den Wahlen heute der Großmutter und dem Großvater, dem Arbeiter und Bauern, dem Angestellten und Unternehmer de-facto denn anzubieten?

    Das aktuelle politische Programm, mit dem die Staatsmacht zur Wahl antritt, ist diktiert von den Umständen und der objektiven Realität, in der zu leben die Regierungselite gezwungen ist. Die Schlüsselpunkte dieses Programms bedeuten, dass der Vertrag zwischen Gesellschaft und Staatsmacht neu geschrieben werden muss.

    Soziale Askese

    Punkt eins dieses Vertrags ist die soziale Askese. „Geld haben wir keins, aber haltet durch“, so lautet eine absolut nicht zufällige rhetorische Entgleisung  Dimitri Medwedews, die umgehend Wladimir Putins Unterstützung fand. Die Rentenerhöhung erfolgt nach dem Prinzip „was übrig bleibt“, die Anhebung der Gehälter im öffentlichen Dienst kommt irgendwann später.

    Am Essen zu sparen ist gesund, echt russisch und richtig patriotisch. Der TV-Sender Erster Kanal berichtet dann, wie die westliche Konsumgesellschaft mit ihrer zu 70 % übergewichtigen Bevölkerung vor sich hin fault. „Friss Ananas, Bourgeois, und Haselhuhn, wirst bald deinen letzten Seufzer tun“ – das ist im heutigen Russland durchaus aktuell.

    Geld haben wir keins, und das wird sich auch nicht ändern: Diese Botschaft sendet die Regierung dem Volk, ohne sich dafür zu genieren oder sie wenigstens schön zu verpacken. Und noch ist das Volk bereit mitzumachen.

    „Putinisierung” der Elite

    Punkt zwei ist die Putinisierung der Elite. Bis 2014 sah die Machtkonstruktion des Regimes so aus: Auf der einen Seite stand Putin als alleiniger Herrscher, der das gesamte System legitimierte, auf der anderen Seite das Volk, das damit einverstanden war. Nach 2014, als gegen Russland Sanktionen verhängt wurden, wandelte sich „Putin“ von einem Personen- zu einem System-Phänomen. Zum nationalen Leader gesellt sich die „politisch verantwortliche Elite“, Putins Patrioten.

    Immer bemüht, seine Mitstreiter vor Sanktionen zu bewahren, muss Putin seine Legitimität nun mit einer beachtlichen Anzahl von Personen in seinem Umfeld teilen: mit den Rotenbergs, den Kowaltschuks, mit Timtschenko und Roldugin. Gern und freimütig teilt Putin seine Legitimität mit Leuten, die sehr bald zu renommierten Plünderern der Erfolge seiner Ära werden könnten.

    Für den einfachen Menschen hat diese einseitige Abänderung des Gesellschaftsvertrags auch eine ganz praktische Bedeutung. Die zeigt sich  etwa am Phänomen des Systems Platon, das öffentlich und unmissverständlich vom Präsidenten unterstützt wird.             

    Der Krieg

    Punkt drei ist der Krieg: Ein nicht erklärter hybrider Krieg gegen Russland, angezettelt von den Ländern des Westens beziehungsweise von den USA und ihren willenlosen Bündnispartnern. Man könnte meinen, genau hier gehe es um staatliche Interessen. Aber nein, hier doch gerade nicht. Der Staat stellt sich da ganz fest hinter die Interessen des Durchschnittsrussen, um ihn vor dem zersetzenden Einfluss des Westens zu beschützen.

    Beschränkungen bei Auslandsreisen, Rechenschaft über ausländische Konten bei der Steuerbehörde, verschärftes Strafmaß bei Teilnahme an Protestaktionen, strafrechtliche Verfahren wegen Weiterverbreitung von Beiträgen in sozialen Netzwerken, Kündigung von Arbeitsplätzen aufgrund politischer Meinungen, das Sperren von Websites der Nicht-System-Opposition, eine kritische Einschränkung von Qualitätsjournalismus zu Politik und Wirtschaft: Der Krieg aus dem Fernsehen greift langsam aber sicher auf das Privatleben zwar nicht aller, aber vieler über.

    Natürlich will heute keine Mehrheit gegen Putin protestieren. Auch vor fünf Jahren wollte sie das nicht – hätte aber protestieren können. Ja, heute verachtet die Mehrheit die Liberalen – aber vor fünf Jahren konnte man noch wählen zwischen hurra-patriotischen Medien und einer [unabhängigen – dek] Qualitätspresse. Wenn man sich heute in seiner Auswahl einschränkt, dann nicht mehr freiwillig, sondern gezwungenermaßen.

    Perfektionierung des Systems

    Der vierte Punkt ist, dass man das bestehende System perfektioniert, anstatt es zu verändern. Gleich wird’s mit der Wirtschaft bergauf gehen, das Schlimmste liegt hinter uns (und überhaupt war das nicht unsere Schuld), die Inflation sinkt. In der Politik läuft der demokratische Wettbewerb auf vollen Touren: zwischen der Gesamtrussischen Nationalen Front (ONF) und Einiges Russland (ER), innerhalb der Partei ER selbst, zwischen ONF und unabhängigen Kandidaten für Putin, zwischen unabhängigen Kandidaten für Putin und ER. Beinahe ein perfektes politisches System, beinahe eine effiziente Wirtschaft. „Bei uns ist alles gut“, das sagt Putin dem Volk seit drei Jahren.    

    So mancher könnte glauben, auf dem Programm stünden Reformen, doch das ist ein Irrtum: die Einbeziehung Kudrins in den Wirtschaftsrat ist nicht mehr als eine Suche nach politisch schönen Ideen. Sie zeugt aber nicht von irgendeinem Willen zur Veränderung.

    Objektiv gibt es kein einziges Signal, nicht den winzigsten Hinweis darauf, dass Putin zu einer tatsächlichen Transformation des Systems bereit wäre: zu Justizreformen, dem Schutz der Eigentumsrechte, zur Entwicklung von wirtschaftlichem Wettbewerb, zur Auflösung der Monopole  und realer Privatisierung (statt Minderheitsanteile an Freunde und Bündnispartner zu verkaufen).

    Nicht nur, dass der konservative Trend dem reformativen nicht weicht, er gewinnt vielmehr noch an Stärke dazu. Seine relative Vervollkommnung lässt sich für den gewöhnlichen Russen leicht in eine bodenständigere und einfachere Form bringen. Das bedeutet dann ungefähr Folgendes: Radikale Veränderungen wird es in eurem Leben keine  geben, auf den Staat könnt ihr nicht zählen. Sogar die Renten sollte man besser selber ansparen – es geht also um die Konkurrenz zwischen verschiedenen Szenarien von Gegenreformen des Rentensystems.  

    Dummköpfe und Straßen

    Schließlich Punkt fünf – der einfachste und vertrauteste: Er betrifft Dummköpfe und Straßen. Die Dummköpfe – das sind Sündenböcke, die strafrechtlich und öffentlich zur Verantwortung gezogen werden. Sie helfen dem Regime dabei, Ballast abzuwerfen: verfolgte Gouverneure, verhaftete Bürgermeister, mit Geldstrafen belegte Unternehmer, die Gehälter nicht auszahlen. Hinzu kommt als Drauf- und Dreingabe auf jeden Fall die Festnahme von Ganoven, wie die des Sohns vom Lukoil-Vizepräsidenten.

    Diese lokal begrenzten Einzelfälle werden künstlich hochstilisiert und dem Regime zu Gute gehalten. Doch so ist es nicht: Das Regime ist nicht nur nicht bereit, Korruption systematisch zu bekämpfen. Es hält das sogar für gefährlich.         

    Abschließend die Straßen. Doch in Kombination mit den Dummköpfen will einfach kein schönes Bild entstehen: Nicht nur die Demokratie westlicher Ausprägung kann sich in Russland nicht festsetzen, auch dem Asphalt gelingt das nicht. Das hindert aber niemanden daran, die Straßensanierung zur nationalen Idee 2016 zu erklären, auch wenn die Dimensionen kleiner werden (2007 gab es die „Nationalen Projekte“, 2012 die Mai-Dekrete).

    Und wenn es keine Proteste gegen Platon gegeben hätte, wäre man nicht einmal bis zu den Straßen gekommen: Erst die Reaktionen darauf erzeugten den Wirbel um die Straßen, der dann die Regionen erfasst hat. Nach dem Direkten Draht mit Putin, bei dem die Straßensanierung endgültig zur Idée fixe wurde, wurde demonstrativer Feuereifer auf diesem Gebiet zur Grundvoraussetzung für das politische Überleben regionaler und lokaler Obrigkeiten. Straßen wird es vielleicht nie geben, Baustellen dafür überall.

    Das Besondere an den Wahlen 2016 wird sein, dass die Staatsmacht mit einem Programm zum Schutz staatlicher Interessen antreten wird, wodurch die Interessen der Bürger praktisch vollständig verdrängt werden. Die Wähler sind weg und ihre Probleme ebenso – sogar sich zu beklagen wird gefährlich. Ein echtes Programm wurde durch ein notdürftiges Lunchpaket ersetzt, das nur minimale politische Notwendigkeiten erfüllt.

    Versprechen wird man aber wie immer viel, großzügig und vor allem abstrakt. 2016 wird das Jahr, in dem sich der Unterschied zwischen dem Fernsehrussland und dem echten Russland deutlich herausbilden wird; zwischen einem angekündigten Programm und einem, das objektiv zustande kommt. So beginnt der moralische Verschleiß des Regimes.

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  • Unterschiedliche Frequenzen

    Unterschiedliche Frequenzen

    Putin, so soll es Kanzlerin Angela Merkel kurz nach dem russischen Eingreifen auf der Krim gesagt haben, lebe „in einer anderen Welt“. Die Debatte, wie ein Dialog mit Russland zu führen ist, ob er überhaupt geführt werden kann, schwelt seitdem und spaltet zumal die deutsche Öffentlichkeit in die Lager vermeintlicher „Russland-Versteher“ und „Russland-Basher“.

    Auf Slon.ru greift Außenpolitik-Experte Wladimir Frolow die Dialog-Frage nun von russischer Seite auf: Russland will mit dem Westen reden, es muss mit dem Westen reden. Erste Signale würden auch schon gesendet. Doch vor allem einen wichtigen Punkt gelte es vorab zu klären.

    Verschlüsselte Signale, doch ein Gespräch kommt nicht zustande – Russland und der Westen. Foto © kremlin.ru
    Verschlüsselte Signale, doch ein Gespräch kommt nicht zustande – Russland und der Westen. Foto © kremlin.ru

    Schon seit mehr als zwei Jahren haben Russland und der Westen Kommunikationsprobleme. Beide Seiten senden sich immerzu verschlüsselte Signale, doch ein Gespräch kommt nicht zustande. Die Empfangsgeräte laufen auf unterschiedlichen Frequenzen, die Entschlüsselungscodes sind verlorengegangen, man befindet sich in parallelen Informations-Universen.

    In der Anfangsphase der Konfrontation ging es noch darum, Unterschiede in der Herangehensweise zu markieren und gegenseitige Vorwürfe zu verschärfen. Es gab gar keine Notwendigkeit, eine gemeinsame Sprache zu finden. Heute dagegen zeigt sich auf beiden Seiten der Wunsch nach einem Ausweg aus dieser Sackgasse der Entfremdung. Jetzt muss man herausfinden aus dem Lost in Translation, damit die Kommunikation irgendwie wieder im gleichen Signalsystem stattfinden kann.

    Die Vergangenheit ruhen lassen

    Moskau hat in den letzten drei Monaten seine Rhetorik ein wenig korrigiert und sendet dem Westen unzweideutige Signale: Man sei bereit, die Zusammenarbeit wieder aufzunehmen in Bereichen, wo die Interessen übereinstimmen – insbesondere bei der Terrorismusbekämpfung und bei der Lösung des Syrienkonfliktes. Im April gab Wladimir Putin beim Direkten Draht zu verstehen, dass Russland keine weiteren außenpolitischen Abenteuer plane, und lobte Barack Obama dafür, dass dieser seine außenpolitischen Fehler in Libyen eingestehe.

    Der Sekretär des Sicherheitsrates Nikolaj Patruschew und seine Stellvertreter geben keine Interviews mehr mit Verschwörungstheorien, dass das amerikanische Außenministerium insgeheim plane, Russland Sibirien abspenstig zu machen. Im Gegenteil: Kürzlich fand eine Konferenz des russischen Verteidigungsministeriums zu internationalen Sicherheitsfragen statt, auf der Patruschew, der Leiter des FSB Bortnikow, Verteidigungsminister Schoigu und der Generalstabschef der russischen Streitkräfte Gerassimow die Zusammenarbeit Russlands mit den USA bei der Bekämpfung des IS in Syrien als ein Beispiel anführten für das mögliche und notwendige russisch-amerikanische Zusammenwirken auch in anderen Bereichen. De facto gab man so zu verstehen, dass Moskau an einer baldigen vollständigen Wiederherstellung der Zusammenarbeit mit Washington interessiert sei.

    Als ersten bedeutenden Schritt hierfür sieht Moskau den Beginn der in Genf beschlossenen Kooperation: Russische und amerikanische Militärs werden bei der Überwachung der Waffenruhe und beim Trennen der kämpfenden Parteien in Syrien zusammenarbeiten. Und gerade eine solche direkte militärische Zusammenarbeit, die nach der Krim von den Amerikanern aufgekündigt worden war, hat die russische Seite nachdrücklich verfolgt. Warum, versteht sich von selbst: Sie ist ein Signal, dass Krim und Donbass der Vergangenheit angehören.

    Vom Bestreben des Kreml, „den Ton in der Kommunikation mit der Außenwelt zu ändern“ zeugt auch das symbolträchtige Konzert von Gergijew und Roldugin: in den Ruinen des de facto von Russland befreiten Palmyra.

    Doch sobald es um die inhaltliche Seite der Botschaft an die Welt geht, kommt es zu schweren Ausfällen in der Kommunikationsstrategie Moskaus: Der Sinn der Mitteilung erreicht seinen Adressaten nicht.

    Schwammige Ziele

    Moskau versucht, eine klare Formulierung seiner politischen Ziele zu vermeiden. Sicher ist nur, dass Russlands Hauptinteresse nicht in „Kriegstänzen“ in Syrien und nicht in der „Rettung von Soldat Assad“ liegt. Dies ist nur ein Werkzeug, das ausgetauscht und in etwas wirklich Wichtiges umgewandelt werden muss, etwas, wovon die Zukunft des Landes und der Machthaber abhängt.

    Das soll offensichtlich eine Formel für ein neues, stabiles Sicherheitsgleichgewicht in Europa sein. Und gleichzeitig ein neues Paradigma der Beziehungen mit dem Westen, das einerseits Konfrontation und Wettrüsten ausschließt, andererseits jegliche Einflussnahme auf die russische Innenpolitik und die politische Einstellung der Bürger verhindert.

    Darum ist aus dem russischen Außenministerium auch zu vernehmen, dass es in den Beziehungen mit dem Westen kein business as usual geben könne, wobei man auch angebliche Forderungen des Westens im Sinn hat, „dass wir allen etwas schulden würden, und vor allem so werden müssten wie sie“, beispielsweise in Bezug auf die gleichgeschlechtliche Ehe.

    Den Westen interessiert vor allem, dass Russland  bestehende Staatsgrenzen respektiert

    In Wirklichkeit interessiert den Westen nur, dass Russland seinen internationalen Verpflichtungen nachkommt, das heißt vor allem, dass es bestehende Staatsgrenzen respektiert. Russland seinerseits möchte eine Form der Zusammenarbeit mit dem Westen, die keine weitere Annäherung oder gegenseitige Integration vorsieht. Genauer gesagt eine Form, die eine Integration Russlands in Europa ausschließt, aber „eine Integration des Westens in Russland“ zulässt, sprich die Übernahme des russischen Systems „traditioneller Werte“.

    Wenn das ein Aufruf zu einem „neuen ideologischen Kampf“, zu russischem Messianismus und russischer Einzigartigkeit sein soll, dann ist es dumm. Wenn es die legitime Forderung nach „Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten“ sein soll, warum wird sie dann auf so eine verdrehte Art formuliert?

    Das neue Jalta ist gestrichen

    Ein weiteres schlecht artikuliertes Ziel der russischen Politik ist, den Westen zu nötigen, russische Lösungswege wichtiger regionaler Probleme zu akzeptieren. Gemeint ist hier offenbar, dass es unzulässig sei, wenn der Westen beim Sturz diktatorischer Regime einseitig eingreife oder auch die Opposition während der sogenannten Farbrevolutionen durch Waffen unterstütze.

    Bei der Konferenz des Verteidigungsministeriums gaben die russischen Sprecher zu verstehen, dass die russisch-amerikanische Zusammenarbeit bei der globalen Sicherheit nur dann erfolgreich sein kann, wenn Washington die russischen Rezepte der Konfliktregulierung, also die russischen Bedingungen der Zusammenarbeit, annimmt. Alle anderen Bedingungen werden von Vornherein als „antirussisch“ oder gar „russophob“ abgelehnt.

    PATHETISCHE RHETORIK VS. PRAGMATISCHE ÜBEREINKÜNFTE

    Sicherlich ist dieses Ziel Moskaus nicht völlig unrealistisch. In letzter Zeit hat sich die Herangehensweise des Westens, und vor allem der USA, in Syrien, Libyen und Ägypten sichtlich der russischen angenähert. Doch daraus irgendwelche langfristigen Abmachungen oder Tauschgeschäfte bei anderen Themen zu machen, ist nahezu unmöglich. Hier folgt der Westen einer einfachen Logik: Warum sollte man Russland für etwas bezahlen, das es aus Eigeninteresse tut?

    Deswegen war der „Abtausch“ der Ukraine gegen Syrien seit jeher nicht besonders realistisch. Und die ungeschickten und provokanten Erklärungen aus Moskau, die westlichen Länder würden internationale Terroristen unterstützen und sie zur Destabilisierung unerwünschter Regime benutzen, lassen jegliche Lust auf einen vertrauensvollen Dialog vergehen. Hier muss man sich entscheiden, ob man sich in pathetischer Rhetorik übt, die auf das innere Auditorium abzielt, oder ob man pragmatische Übereinkünfte erreichen möchte.

    Russlands wichtigstes strategisches Ziel ist es letztlich, eine Erweiterung der NATO und der EU zu verhindern, insbesondere wenn diese Erweiterung Staaten der ehemaligen Sowjetunion betrifft. Aber nicht nur – wie die Warnschüsse in Richtung Schweden, Finnland und Montenegro gezeigt haben.

    In seiner Rede bei der Militärparade am Tag des Sieges erklärte Wladimir Putin, man sei bereit, an der Erschaffung eines „modernen blockfreien Systems der internationalen Sicherheit“ zu arbeiten. Auch zuvor erklangen die Thesen vom Übergang zur „blockfreien Sicherheitsarchitektur“ und vom Prinzip der „unteilbaren Sicherheit“ mehrfach in den Reden und Interviews von Sergej Lawrow.

    DAS JALTA-PRINZIP

    Aber es bleibt völlig unklar: Was genau wollte Moskau in diese Richtung vorschlagen, abgesehen von der totgeborenen Idee eines Vertrages über europäische Sicherheit? Natürlich kann es nicht um die freiwillige Auflösung der NATO oder der EU gehen. „Die NATO ist Realität“, gestand Sergej Lawrow ein. Aber Moskau hätte gern, dass sie bleibt, wo sie ist, und sich niemals mehr irgendwohin bewegt. Dasselbe gilt für die Erweiterung der EU.

    Es gibt nur ein Problem dabei, diese Auffassung in einem internationalen Abkommen zu kodifizieren: Weder die NATO noch die EU oder Russland können für andere Staaten entscheiden, wie sie für ihre Sicherheit sorgen und wo sie sich wirtschaftlich integrieren. Das wäre das Jalta-Prinzip, und darauf lässt sich keiner mehr ein. Das hat man anscheinend auch in Moskau begriffen und aufgehört, vom „neuen Jalta“ zu sprechen, das die Resultate des Kalten Krieges neu festlegen würde.   

    Die Lehre vom Zerfall der Sowjetunion

    Es versteht sich von selbst, dass unabhängige Staaten frei über ihre Neutralität entscheiden dürfen. Andere Staaten und ihre militärischen Bündnisse müssen diese dann respektieren. So lautet das Prinzip des Vertrags von Wien 1955 und der Schlussakte von Helsinki. Doch das setzt hundertprozentige Garantien von Russland voraus. Und deren Glaubwürdigkeit liegt seit der Eingliederung der Krim fast bei Null.

    Für den Westen besteht überhaupt keine Notwendigkeit, irgendetwas zu unterzeichnen, dass man von einer Erweiterung absehe – alle Entscheidungen diesbezüglich wurden längst getroffen. Keine einzige der postsowjetischen Republiken hat ernsthafte Perspektiven auf eine NATO-Mitgliedschaft (die geplante Erweiterung bezieht sich nur auf die Balkanstaaten).

    Wenn Russland also irgendwelche verpflichtenden Übereinkünfte möchte, die die militärische Aktivität der NATO oder die Expansion der EU regeln, dann muss es dafür in Verhandlungen treten und eine Reihe von konstruktiven Vorschlägen machen. Und wie die aussehen sollten ist, insbesondere im militärischen Bereich, längst bekannt.

    Verhandlungen würden die Diskussion um die Ukraine wieder neu aufrollen

    Doch neuen ernsthaften Verhandlungen mit dem Westen weicht Russland geflissentlich aus. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Verhandlungen setzen voraus, dass man sich auf eine gemeinsame Verständnisebene eines Problems und seiner Ursachen begibt, dass man Bedenken und Vorbehalte der anderen Partei berücksichtigt und das eigene Verhalten entsprechend an ausgehandelte Kompromisse anpasst. Das würde unweigerlich zurück zur Diskussion führen, weshalb sich Russland im Jahr 2014 in die Ereignisse in der Ukraine eingemischt hat, und darüber, welche Verantwortung es für die Eingliederung der Krim trägt. Genau das versucht Moskau mit allen Mitteln zu vermeiden.

    Verhandlungen über Rüstungskontrolle oder Kompromisse betrachtet der Kreml als einen Rückfall in Gorbatschows „neues außenpolitisches Denken“, das angeblich zur „größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ geführt hatte. Dieser Logik folgend wären Verhandlungen über eine Normalisierung und Erneuerung der Zusammenarbeit – zum Preis einer notwendigen Korrektur des eigenen Vorgehens, etwa im Donbass – gleichbedeutend mit dem Weg in den Abgrund.

    Stattdessen inszeniert man ein Theaterstück über die alleinige Schuld des Westens an der bestehenden Krise, über die von Gott weiß woher aufgetauchten Sanktionen und über die Verlagerung von NATO-Militärstruktur in Richtung russischer Grenze. Gleichzeitig werden scharfe, an Fouls grenzende Aktionen gegen Kriegsschiffe und Flugzeuge der Nato unternommen. Sie sollen der NATO die Unzufriedenheit Russlands signalisieren und sie dazu bewegen, quasi ganz von selbst Russlands Bedingungen und Bedenken anzuerkennen.

    Moskau setzt auf Unberechenbarkeit, um die eigene Position zu stärken

    Moskau riskiert die Eskalation: Mittels der Demonstration seiner Unberechenbarkeit und mittels jäher Entscheidungen über ein militärisches Eingreifen möchte es seine zukünftige Verhandlungsposition stärken. Es möchte das Gefeilsche mit dem Westen quasi in einer Zeit der Post-Ukraine beginnen, dabei aber die Ukraine selbst ausklammern, liege doch die „Ursache für die Krise im Agieren von Kiew“ – das also seine Position anzupassen habe, und zwar durch Erfüllen der Bedingungen von Minsk-2.

    Die Machtkomponente „Unberechenbarkeit in der Außenpolitik macht beim Westen allerdings nicht den nötigen Eindruck. Der sieht in Moskaus „pubertärem Verhalten“ viel eher eine Methode, Schwäche und Unsicherheit zu kaschieren. „Den Troll füttern“ möchte keiner. Im Westen gibt es zurzeit eine lebhafte Diskussion darüber, wie man mit Russland am besten kommunizieren soll.

    Man ist sich dessen bewusst, was Putin möchte: Nämlich, dass der Westen Russland in Ruhe lässt und sich nicht in innere Angelegenheiten einmischt. Aber gleichzeitig soll er – und zwar verpflichtend – bei allen Fragen Rücksprache halten, die Russlands Interessen betreffen.

    Man weiß dort auch, dass nur eine Person in der Russischen Föderation den Inhalt dieser Interessen bestimmt, und man ist bereit mit ihr zu verhandeln. Das Problem besteht offenbar darin, dass Moskau inhaltlich nicht vorbereitet ist auf ein konstruktives Gespräch – wir wissen nicht genau, was wir wollen – und in der psychologisch motivierten Angst, sich auf Verhandlungen einzulassen. Die versteht man als Zeichen der Schwäche.

    Doch früher oder später wird man mit dem Westen Gespräche über die Regeln des Zusammenlebens führen müssen. Die Lehre aus der Sowjetunion besteht darin, es zu tun, bevor es zu spät ist.

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  • Der Wendepunkt

    Der Wendepunkt

    Unmittelbar nach dem GAU von Tschernobyl marschierten am 1. Mai 1986 – wie jedes Jahr – Tausende von Menschen fähnchenschwenkend durch Kyjiw. Als wäre nichts gewesen. Für Andrej Archangelski ist dieses Bild symptomatisch für den Umgang mit der Katastrophe, von der häufig als Heldengeschichte erzählt wird. Die verheerenden Folgen dagegen werden im offiziellen Diskurs oft ausgeblendet, heruntergespielt oder die Schuld wird anderen zugeschrieben – wie auch unsere Presseschau zum Thema zeigt.

    Archangelski diagnostiziert der russischen Gesellschaft auf slon.ru eine Unfähigkeit zu trauern – und warnt vor einem „mentalen Tschernobyl“, dem moralischen Kollaps.

    Parade zum 1. Mai 1986 in Kiew, fünf Tage nach dem GAU von Tschernobyl. Foto © Ukrinform
    Parade zum 1. Mai 1986 in Kiew, fünf Tage nach dem GAU von Tschernobyl. Foto © Ukrinform

    Vom sowjetischen Staatsbürger im Poststalinismus wurde – sofern er nicht Parteifunktionär war oder auf verantwortungsvollem Posten saß – nur eines verlangt: An bestimmten Tagen in Massen Loyalität zu demonstrieren, nämlich am 1. Mai und am 7. November.

    Der 1. Mai 1986 war einer dieser Tage. Kyjiw war eine unter tausend Städten, in denen der Feiertag von den Massen begangen wurde; hätte es dort keinen Aufmarsch gegeben – niemand hätte etwas bemerkt. Details und Folgen der jüngsten Katastrophe (am 26. April) [in Tschernobyl – dek] waren der lokalen Parteiführung wahrscheinlich noch nicht bekannt. Zweifellos wusste sie aber, dass in 100 km Entfernung etwas Furchtbares passiert war. Die Frage, ob angesichts dessen die Festivitäten überhaupt stattfinden sollten, wurde auf höchster sowjetischer Ebene verhandelt. Und man beschloss trotz allem zu feiern – um „dem Westen keinen Vorwand zu liefern“ und „keine Panik zu verbreiten“.      

    Der Anfang vom Ende

    Die Millionenstadt wurde tödlicher Gefahr ausgesetzt – um den Schein zu wahren und für die Berichterstattung.

    Heute heißt es oft, die UdSSR sei „zugrunde gerichtet“ worden – von innen durch „Liberale“ und natürlich von äußeren Feinden, dem Westen. Tatsächlich aber wurde das Land unter anderem von jenem Maiaufmarsch in Kyjiw „zugrunde gerichtet“.

    In der UdSSR gab es zwischen Volk und Staatsmacht lange Zeit eine stillschweigende Abmachung: „Wir tun so, als würden wir der Staatsmacht vertrauen, und sie tut so, als würde sie uns vertrauen.“

    Nach dem 1. Mai 1986 hörten binnen einer Stunde Millionen Staatsbürger auf, der Staatsmacht zu vertrauen, sie hörten auf, dieses Land mitsamt seiner Regierung als „das ihre“ zu betrachten. Wahrscheinlich war dieser Maiaufmarsch – und nicht Tschernobyl selbst – der Grund dafür, dass der bisherige Gesellschaftsvertrag zerbrach.

    Ein „mentales Tschernobyl“

    In jenen Jahren tauchte der Begriff „mentales Tschernobyl“ auf, der leider rasch zum Klischee wurde. Tschernobyl wurde zum Symbol einer nicht nur technischen, sondern vor allem auch moralischen Katastrophe. Die totale Lüge, Scheinheiligkeit und das Fehlen natürlicher menschlicher Instinkte, das alles war schon längst zur Norm geworden. Nun verglich man sie mit der Strahlung, deren Wirkung ebenso unbemerkt, aber lebensgefährlich war. Die zivilisatorische Katastrophe ereignete sich am 26. April, die moralische jedoch schon wesentlich früher; und am 1. Mai 1986 wurde das vielen endgültig klar.       

    „In Moskau hat man feierlich die Teilnehmer des ‘Fünften Internationalen heroisch-patriotischen Kreativ-Festivals für Kinder und Jugendliche Star von Tschernobyl 2016‘ geehrt. Es ist den Heldentaten der Liquidatoren gewidmet“, erfahren wir heute auf der Website des Katastrophenschutzministeriums.

    „Heroisch-patriotisch“, „Heldentaten“, „Star“. Einem 15-Jährigen, der das liest oder sogar daran teilnimmt, fällt nicht im Traum ein, dass der Anlass für dieses Festival ein tragisches Unglück ist. Das wird alles sorgfältig in die unpersönliche, altgewohnte Form der „Heldentat“ verpackt; man könnte fast schon meinen, alle Katastrophen geschähen eigens dafür, dass jemand „Heldentaten“ vollbringen kann.

    Sportturniere zum Gedenken an die Helden

    Und wenn uns Tschernobyl überhaupt eine Lektion erteilt, dann allenfalls die der „Tapferkeit“. Der Verfasser des Beitrags mit dem Titel „Junge Stars von Tschernobyl“ beendet seinen Veranstaltungsbericht mit der Feststellung: „Wichtig ist, dass die Kinder – unsere Zukunft – mehr von der schwierigen, aber interessanten Arbeit der Experten des Katastrophenschutzministeriums erfahren.“ Das ist also das Wichtigste.

    In der Ukraine selbst geht es übrigens nicht weniger absurd zu – da wird etwa ein Turnier mit Schwerathleten veranstaltet zum Gedenken an die Helden von Tschernobyl.  

    Die Umdeutung der Tragödie zur Heldentat, zur „sportlichen Massenveranstaltung“ ist typisch für den derzeitigen russischen Bewusstseinszustand. Dort, wo es angebracht wäre, „einfach niederzuknien“, wie Wertinski sang, wird man dazu aufgefordert, auf Sprungtüchern herumzuhüpfen oder Feuerleitern rauf- und runterzuklettern. Man kann vom Katastrophenschutzministerium kein „tiefschürfendes Begreifen der Tragödie“ erwarten; dafür wird es sicher andere Veranstaltungen geben – doch die Tendenz wird kaum eine andere sein.

    Seit 2012 wird in Russland am 26. April der „Tag der Mitwirkenden an der Liquidation der Folgen nuklearer Unfälle und Katastrophen und des Gedenkens an die Opfer“ gefeiert, und dennoch vermeidet die derzeitige Regierung das Wort „Opfer“, wo sie nur kann.

    Sie verdrängt den Schmerz und die Tragödie aus dem Bewusstsein und setzt den Akzent auf das Heldentum (obwohl man die Liquidatoren in erster Linie zu den Opfern zählen sollte – von Ausmaß und Konsequenzen des Unfalls hatten sie 1986 wohl kaum eine Vorstellung.)

    Trauer ins Event-Format gepresst

    Trauer kann überhaupt nur schwer in ein Eventformat pressen. Am besten ist es, wenn Menschen von sich aus, ohne sich miteinander abzusprechen oder jemanden zu fragen, Kerzen anzünden oder Blumen bringen. Trauer verlangt jedoch das, was man eine „gut trainierte Seele“ und entwickelte ethische Instinkte nennt. Bei uns richtet sich Trauer nach der offiziellen Haltung, die die Regierung einnimmt: Millionen Menschen  in Russland haben gelernt, nur mehr gemeinsam mit der Staatsspitze zu trauern, und verlernt eigenständig zu fühlen.

    Vor fünf oder zehn Jahren lief an diesen Tagen normalerweise im Staatsfernsehen die Reportage „Das Leben in Prypjat heute“. Jetzt dagegen gibt es im russischen Fernsehen keine Reportage aus Kyjiw mehr, ohne dass die „Kyjiwer Machthaber“ abgeurteilt werden. Die heutige Ukraine – welch Ironie des Schicksals – ist in der Vorstellungswelt des offiziellen Moskau eine Art „politisches Tschernobyl“.

    Darauf, dass wir wenigstens an diesem Unglückstag (des Unglücks, in dem Russland und die Ukraine zum letzten Mal wirklich vereint waren) ein Wort des Mitgefühls für das Nachbarland zu hören bekämen, brauchen wir nicht zu hoffen. Ein Untertitel wie „Von der Ukraine geht nach wie vor Gefahr aus“ – das ist alles, was wir über die heutige Haltung der Staatsspitze zur Katastrophe von Tschernobyl wissen müssen.

    Schuld sind immer die anderen

    Am 15. April hat die Staatsduma eine Erklärung abgegeben „Zum 30. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl und zur Gewährleistung nuklearer Sicherheit im heutigen Europa“. Laut Tatjana Moskalkowa, der damaligen stellvertretenden Vorsitzenden des Komitees der Staatsduma für Angelegenheiten der GUS, „ist diese Erklärung einem einzigen Ziel verbunden:, der internationalen Gemeinschaft die Gefahr bewusst zu machen, die vom verantwortungslosen Umgang der ukrainischen Regierung mit Atomenergie ausgeht“.

    „Wegen der verantwortungslosen Haltung Kyjiws hat die nukleare Sicherheit in dem an uns angrenzenden Land in den vergangenen Jahren gravierend abgenommen,“ sagt auch Leonid Sluzki, der Vorsitzende des Komitees der Staatsduma für GUS-Angelegenheiten.

    Das Wort „verantwortungslos“ klingt milder als „Strafbrigaden“ oder „Junta“ – doch einziges Ziel ist es, einmal mehr die „Verantwortungslosigkeit der Ukraine“ zu betonen.      

    Unfähigkeit zu Trauern

    Angaben des russischen Vereins Tschernobyl zufolge starben nach dem Unglück rund 9.000 russische Liquidatoren, mehr als 55.000 trugen bleibende Schäden davon – das ist unser Leid, unser Unglück, nicht nur das der Ukraine oder von Belarus. Und genau so muss man davon sprechen. Jede Tragödie hat vor allem eine menschliche Dimension. Das ist der Kontext, in dem sie zu betrachten ist.

    Das Leugnen der „tragischen Dimension“ von Tschernobyl in Russland 2016 zeugt vom Verlust elementarer menschlicher Instinkte: Mitgefühl, Mitleid, Trauer.

    Vor 30 Jahren wurde eine technische Katastrophe zum Spiegel des moralischen Kollaps im Land. 30 Jahre später zeugt die Reaktion auf die Tragödie von Tschernobyl von einem ebenso katastrophalen Zustand der Gesellschaft heute – von genau demselben „mentalen Tschernobyl“.

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  • Die Kreml-Liberalen

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    Mitte April hat Wladimir Putin den ehemaligen Finanzminister Alexej Kudrin zum Leiter des Moskauer Thinktanks CSR ernannt. Damit stieg einer der schärfsten Kritiker der derzeitigen russischen Wirtschaftspolitik zum Berater des Kreml auf.

    Der Politologe Michail Komin sieht auf slon.ru die Chancen für einen Machtwechsel in Russland genau bei sogenannten Systemliberalen wie Kudrin: Nah genug an den etablierten Machtstrukturen, aber weit genug entfernt von direkter politischer Einflussnahme bildeten sie eine Art „inneren Gegenpol“ zur derzeitigen Politik der Kremlspitze. Anders als die eigentliche, nicht-systemische Opposition ließen sie dem Kreml genügend Verhandlungsspielraum, um sich auf einen Machtwechsel einzulassen, der die derzeitige Nomenklatura nicht komplett desavouiert.

    Der Begriff „Sislib“ oder „Systemliberaler“ existiert im russischen politischen Diskurs seit den späten 90er Jahren. Mit seiner Hilfe lässt sich das russische politische System, das sich nach Boris Jelzins Abgang und in den ersten Jahren der Präsidentschaft Wladimir Putins herausbildete, ziemlich treffend beschreiben. Damals kämpften zwei Clans um den Einfluss im Land: Der Clan der Silowiki, denen auch Putin entstammt und die Gruppe der „progressiven Nomenklatura“, die im Wirtschaftsblock der Regierung führende Positionen innehatte – zuvor hatte sie nach dem Zerfall der UdSSR schmerzhafte, aber notwendige liberale Reformen durchgeführt.

    „Effiziente Manager” statt „Stützen des Regimes”

    Nachdem diese Gruppe der wirtschaftsliberal ausgerichteten Ökonomen zunächst auch in die neue Putin-Administration berufen worden waren, setzten sie ihre Reformtätigkeit fort. Aber ihr Einfluss auf die politische Agenda nahm zusehends ab. Sie wandelten sich von vollwertigen „Stützen des Regimes“ zu „effizienten Managern“ für die Lösung konkreter Aufgaben.

    Zum größten Eklat im Zusammenhang mit den eingebüßten Befugnissen des wirtschaftsliberalen Blocks kam es im Jahr 2011. Damals trat Alexej Kudrin von seinem Amt als Finanzminister zurück: Er war mit der Entscheidung des Kreises um Medwedew nicht einverstanden, die Rüstungsausgaben erneut zu erhöhen, worunter alle anderen Bereiche zu leiden hätten.

    Doch auch nach diesem Vorfall verblieben einige liberale Ökonomen in Leitungspositionen. Sie versuchten, die Entscheidungen des Kreml indirekt zu beeinflussen oder die Elite in den schwierigsten Wirtschaftsfragen zu beraten. Wegen ihrer Bemühungen um Einflussnahme und um größtmögliche Nähe zur herrschenden Elite nennt man sie denn auch Systemliberale.

    Kein so ganz richtiger Liberaler

    Natürlich ist Sislib ein abwertender Begriff, er gibt zu verstehen, dass ein Systemliberaler kein so ganz richtiger Liberaler ist, sondern ein spezieller. Am häufigsten hört man den Begriff aus dem Mund von Politikern und Wirtschaftsexperten, die sich außerhalb des Systems befinden. Sie kritisieren die Sisliby für ihre Kompromissbereitschaft, dafür, dass sie sich faktisch in den Dienst einer autoritären Regierung stellen. Dass sie dabei helfen würden, einzelne wirtschaftliche Missstände zu beheben. Dadurch würden sie die Politik als Ganzes nicht verändern, dem Regime aber zu einem Mindestmaß an notwendiger Effizienz verhelfen und auf diese Weise zum Fortbestand des autoritären Modells beitragen.

    Die Spardose des Kreml

    Diese Kritik kann man allein deswegen schwerlich als unbegründet abtun, weil das russische Sozial- und Militärbudget, das in den vergangenen anderthalb bis zwei Jahren stark aufgeblasen wurde, vor allem vom Nationalen Wohlstandsfonds lebt. Den hatte Alexej Kudrin vorsorglich eingerichtet.

    Würde der Kreml heute nicht über diese Spardose verfügen, hätten sich seine imperialen Ambitionen schon lange totgelaufen. Es wäre außerdem nicht möglich, unbeliebte sozialpolitische Entscheidungen auf die Zeit nach den Wahlen hinauszuschieben. Beides hätte die Chancen der demokratischen Opposition in der aktuellen Wahlperiode erhöhen können.

    Wie vor wenigen Tagen bekannt wurde, ist derselbe Alexej Kudrin trotz all dem bereit, dem Regime erneut unter die Arme zu greifen: Er hat für den Kreml eine neue Wirtschaftsstragie erarbeitet, um die Systemkrise zu überwinden.

    Nach den Ereignissen auf der Krim, dem Krieg im Südosten der Ukraine, nach der erschreckenden Zunahme von Propaganda, dem bis heute nicht geklärten Mord an Boris Nemzow, nach der Veröffentlichung der Panama Papers und einer allgemein immer unangemesseneren und aggressiveren Kreml-Politik könnte man sich schon fragen: Wie und warum soll man überhaupt noch mit der Regierung zusammenarbeiten? Diese Frage wird Alexej Kudrin von den Liberalen unvermeidlich gestellt werden, wenn er seine Arbeit im Zentrum für strategische Entwicklung aufnimmt und ein neues Wirtschaftsprogramm für Putin vorlegt.

    Garant für den Wechsel

    Lässt man die Emotionen einmal beiseite, bringt eine solche Zusammenarbeit von Liberalen und Regierung zwei wichtige positive Konsequenzen mit sich:

    Erstens senkt die Beratung der Regierung durch vernünftige Ökonomen unweigerlich den Grad des Wahnsinns der Kreml-Politik. Sie verhindert, dass Entscheidungen von Leuten gefällt werden, die einen katastrophalen Einfluss auf das System ausüben können.

    Welches Programm Alexej Kudrin auch vorschlagen wird – es wird sicher besser sein als das von Sergej Glasjew, dessen Einfluss im Kreml derzeit stark zugenommen hat.
    Die Hyperinflation, herbeigeführt durch Emission von Wertpapieren und das Wachstum der Staatsausgaben, ist Folge nur einiger Maßnahmen des präsidialen Beraters für regionalökonomische Integration. Sie wird kleinen und mittleren russischen Unternehmen den Todesstoß versetzen und treibt eine noch größere Zahl von Bürgern in den Strudel der Armut.

    Die zweite Folge der direkten Beteiligung Liberaler an der Kremlpolitik ist: Die Chance für einen unblutigen Abgang der derzeitigen Regierung aus der politischen Arena steigt.

    In den aktuellen Wahlratings erreicht die demokratische Opposition mit ihren endlosen internen Konflikten nur äußerst geringe Werte. Noch geringer sind die Chancen, dass es der Opposition in den nächsten Jahren gelingen wird, die Panama-Fraktion des Kreml durch Wahlen und parlamentarischen Kampf wegzudrängen – auch wenn wir uns nachweislich in einer Übergangsphase zum konkurrenzfähigen Autoritarismus befinden.

    Opposition engt Verhandlungsspielraum des Kreml ein

    Die Chancen werden jedoch beträchtlich steigen, wenn es der Opposition gelingt, die typische Hauptforderung einer jeden autoritären Elite zu erfüllen, die angesichts einer ausgebrochenen Wirtschaftskrise spürt, dass eine Liberalisierung unausweichlich ist: Man muss ihr den Erhalt des angehäuften Kapitals und den Verzicht auf Strafverfolgung nach dem Ausscheiden aus der Regierung garantieren.

    Derzeit werden ständig Zimmer voller Pelzmäntel und Celli voller Geld aufgespürt und Schwarzbücher verfasst, was zweifellos Stimmen und Respekt bei den Wählern einbringt. Doch die Opposition macht dadurch einen unblutigen Machtwechsel unmöglich, weil sie den Verhandlungskorridor mit dem Kreml einengt. Denn der „Kollektiv-Putin“ wird nie und nimmer zulassen, dass die Opposition mit solchen Parolen eine auch nur halbwegs nennenswerte Anzahl von Sitzen im Parlament bekommt. Stattdessen wird er sich an die Kremlmauern klammern, das Rad der Repression zum Laufen bringen und solange jegliche soziale Unruhen unterdrücken, bis es zu spät ist.

    Druck auf den Kreml von zwei Seiten

    In der aktuellen Situation ist es notwendig, Druck auf den Kreml von zwei Seiten, im Tandem, auszuüben. Einerseits muss man, sozusagen von unten, die Protestwählerschaft weiter zusammentrommeln und um Sitze bei diesen Wahlen kämpfen, unter anderem mit der durchaus erfolgreichen Antikorruptions- und Anti-Offshore-Rhetorik – das ist die Aufgabe der demokratischen Koalition.

    Andererseits wird die herrschende Elite angesichts des immer stärker drohenden Verlusts von Macht und Kapital genötigt sein, jemanden zu finden, dem sie die Macht weitergeben kann – unter der Garantie, dass persönliche Strafverfolgungen ausbleiben. Diese Kompromissfiguren könnten, wenn es soweit ist, in der Regierung verbliebene und mit ihr kooperierende Systemliberale sein.

    Letzte Chance für unblutige Machtübergabe

    Alexej Kudrin, der seine guten Beziehungen zu Wladimir Putin und einer Reihe von Leuten aus dessen engstem Umfeld nicht verhehlt, ist unter den gegenwärtigen Bedingungen natürlich nicht der einzige Kandidat. Aber er ist nach den oben beschriebenen Kriterien sicher einer der passendsten. Das Programm, das er nun zusammen mit einem Expertenteam aus dem Komitee für Bürgerinitiativen schreiben kann, wird auf jeden Fall nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Reformen enthalten. Und entschließt sich der Kreml für diese, dann wird er damit die grundlegendste Erneuerung seit den frühen 2000er Jahren anregen.

    Falls Wladimir Putin und sein Umfeld beschließen, die Konzepte Kudrins oder anderer liberaler Ökonomen umzusetzen, werden diese vielleicht inzwischen weniger ein Aktionsplan für die Wirtschaft sein als vielmehr eine letzte Chance für eine Machtübergabe ohne Blutvergießen.

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  • Ist eine russisch-ukrainische Versöhnung möglich?

    Ist eine russisch-ukrainische Versöhnung möglich?

    Russland und die Ukraine werden eines Tages wieder nachbarschaftlich miteinander umgehen, meint Oleg Kaschin. Auf dem Weg dahin seien große Gesten nicht wirklich hilfreich. Ein russischer Kniefall in Kiew nach Brandtschem Vorbild, wie von manchen Ukrainern erwartet, sei nicht nur unrealistisch: Es dürfe überhaupt nicht um Schuld und Reue gehen. Beide Länder müssten vielmehr bei sich selbst beginnen, sich mit ihrem jeweiligen Selbstbild kritisch auseinandersetzen und die Traumata des Weltkrieges und der Sowjetgeschichte neu bewerten. Nur so könne auf politischer Ebene eine Versöhnung gelingen.

    Unsere Fotostrecke für den Monat April zeigt, dass gute Nachbarschaft zwischen Russen und Ukrainern – und mehr als das – in unzähligen Familien alltäglich gelebt wird.

    Klar – Ozeanien war immer im Krieg mit Ostasien. Doch dass Russland und die Ukraine für immer durch eine Mauer aus Hass voneinander getrennt sein könnten, ist nicht einmal jetzt denkbar. Auch wenn in Russland die Ukrainerin Sawtschenko gerade zu 22 Jahren Strafkolonie verurteilt und in der Ukraine Grabowski, der Anwalt der Russen Alexandrow und Jerofejew, ermordet wurde. Der dritte Kriegsfrühling ist nicht der beste Zeitpunkt, um darüber nachzudenken und davon zu reden, dennoch: Nachbarschaft, enge Beziehungen, gemeinsame Vergangenheit und kulturelle Nähe – das sind die Sicherheitsreserven, die nach wie vor darauf hoffen lassen, dass das Verhältnis zwischen unseren Ländern und Völkern in nicht allzu ferner Zeit, wenn schon nicht freundschaftlich wird, so doch zumindest gut. Im Lauf der Geschichte haben sich schon viele grimmige Feinde wieder versöhnt.

    Man wird ja wohl noch träumen dürfen?

    Nehmen wir unsere Geschichte: Die spätstalinistische UdSSR war mit Jugoslawien verfeindet, doch nach Stalins Tod wurde das Reich Josip Broz Titos praktisch sofort zum Bruderland. Gegen Ende des Jahrhunderts war Serbien dann fast das einzige Land der Welt, das man in Russland nicht nur aus diplomatischen Gründen als Bruderland bezeichnete.

    In den russisch-chinesischen Beziehungen ist vom bewaffneten Widerstand auf der Insel Zhenbao Dao vor weniger als einem halben Jahrhundert heute nichts mehr zu sehen, obwohl doch die Generation, die sich ernsthaft zu einem sowjetisch-chinesischen Krieg bereitgemacht hatte, noch lebt. Die Zeit, ja sogar eine ziemlich kurze Zeit, kann beliebige internationale Diskrepanzen fortwischen. Und was heute unlösbar scheint, wird morgen ganz normal. Noch ist es weit bis dahin, doch träumen wird man ja wohl noch dürfen, nicht wahr?  

    Für ukrainische Publizisten ist derzeit das eindringliche Bild des deutschen Kanzlers Willy Brandt sehr wichtig, wie er vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos kniet. So sieht unsere zukünftige Versöhnung von der anderen Seite der russisch-ukrainischen Grenze gesehen aus: Der künftige Präsident Russlands fährt nach Kiew, unterzeichnet ein Dokument zur Übergabe der Halbinsel Krim, und dann kniet er nieder vor dem Denkmal der Himmlischen Hundertschaft oder der Helden der Antiterroroperation und bedauert, was Putins Russland der Ukraine angetan hat. Solche Bilder sind übrigens ein weiterer Beweis dafür, dass unsere Freundschaft sogar jetzt stärker ist, als es scheinen mag.    

    Der universelle Kult um den Zweiten Weltkrieg in beiden Ländern hat einen gemeinsamen sowjetischen Ursprung. Er ist unauslöschlich im Bewusstsein der Massen verankert und wird über die Maßen für Erklärung der aktuellen politischen Ereignisse strapaziert. Der Feind ist immer der Faschist, „wir“ sind immer das Opfer und gleichzeitig die Sieger über ihn. Das Bild Willy Brandts auf den Knien ist genau von dort, woher auch die Banderowzy in unseren Fernsehnachrichten kommen, und das Trauma, das diese Bilder zum Leben erweckt, ist bei Russen wie Ukrainern dasselbe.      

    Das sowjetische Russland war die arme Verwandte

    Die Russische Föderation ist ein riesiges, schwer zu regierendes Land mit schwachen, ineffektiven und korrupten staatlichen Strukturen, die man irgendwann nicht nur reformieren, sondern ganz von Neuem erschaffen muss. Das materielle und immaterielle Erbe, das Russland von der Sowjetunion blieb – das Eigentum der ehemaligen Union, einschließlich jenes im Ausland, ein Platz in der UNO, Atomwaffen –  das alles zwang die Russen, ihr Land ernsthaft als direkte Nachfolgerin der Sowjetunion wahrzunehmen. Doch in Wirklichkeit ist alles viel komplizierter. Die UdSSR war keine paritätische Allianz von 15 Republiken. Jede Republik (oder jede Gruppe von Republiken – die baltische, südkaukasische, zentralasiatische) hatte ihre exklusiven Merkmale. Die RSFSR war trotz ihrer enormen Größe immer die arme Verwandte der anderen – ohne eigene kommunistische Partei, eigene Akademie der Wissenschaften, ohne eigenen staatlichen Rundfunk, überhaupt ohne alles.

    Das sowjetische Russland hätte man auf den Karten der UdSSR ehrlicherweise als „den Rest“ bezeichnen sollen. Es bestand ja auch im administrativ-territorialen Sinn aus jenen Regionen, die man nicht den anderen Republiken zuordnen konnte.
    Der Putinsche Mythos von „Neurussland“ (sowie der damit verwandte, ältere Limonowsche Mythos von „Südsibirien“, also von Kasachstan, in das Limonow einst einen Einmarsch geplant haben soll, wofür er inhaftiert wurde) ist ja genau daraus entstanden: Die Regionen der Ostukraine, die sich weder in der Bevölkerungszusammensetzung noch in der wirtschaftlichen Struktur noch in ihrer Geschichte von den russischen Schwarzerdegebieten unterscheiden, wurden einst der innersowjetischen Grenzziehung Teil der Ukrainischen SSR (USSR) zugeteilt. Und ja, besonders bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Krim, die der RSFSR lange nach der Grenzziehung weggenommen und deswegen als willkürlicher, einer Laune Chruschtschows zu verdankender Verlust wahrgenommen wurde.

    Zwei gegensätzliche Traumata

    Als 1991 diese Nichtganzrepublik zur „Rechtsnachfolgerin der Sowjetunion“ erklärt wurde, war das eine ziemliche Katastrophe, allerdings keine geopolitische, sondern eher eine psychologische. Und die Bevölkerung dieses größten Bruchstücks der UdSSR und seine Führung begannen mit dem Gefühl zu leben, eben kein Bruchstück, sondern immer noch ein vollwertiges Imperium zu sein, das in gewisser Hinsicht auch zu einer historischen Revanche fähig ist.   

    Das Trauma der ehemaligen Ukrainischen SSR war ganz anderer Natur. Die größte aller „vollwertigen“ Sowjetrepubliken war genauso ein Flickenteppich wie die RSFSR. Zu ihr gehörten gleichzeitig zentralrussische Oblasts, kaukasische Republiken und derart exotische Gebiete wie Tuwa oder Kaliningrad; die Ukrainische SSR vereinte in ihren Grenzen althergebrachte russische Gouvernements ebenso wie ehemalige Gebiete Polens, Rumäniens, der Tschechoslowakei und Ungarns, die vor der Entstehung der Sowjetunion noch nie mit Kiew und Charkow demselben Staat angehört hatten.

    Allerdings hat sich schon seit der „Ukrainisierung“ in der Vorkriegszeit die Patchwork-Decke Ukrainische SSR nie erlaubt, die Rolle eines Vielvölkerstaats zu spielen (im Unterschied etwa zum sowjetischen Kasachstan, das sich niemals als Republik der Kasachen begriffen hatte) – es war immer dezidiert eine Republik der Ukrainer, die überhaupt keinen kulturellen oder menschlichen Unterschied zwischen Odessa und Lwiw, Donezk und Ternopil machte.

    Man darf auch nicht außer Acht lassen, dass die langjährigen sowjetischen Staatschefs Chruschtschow und Breshnew, die die Sowjetunion insgesamt 28 Jahre regierten, aus der Ukraine nach Moskau gekommen waren. So führte gegen Ende der Ära Breschnew der „Dnipropetrowsker Klan“ das ganze riesige Land, was nicht ohne Auswirkungen auf die Rolle der Ukrainischen SSR innerhalb der Union bleiben konnte.  

    Falsches Selbstbild

    Für den Kreml unter Chruschtschow und Breshnew war die Ukraine das Zentrum. Aber dieses Paradox wurde in keiner Weise bei der Erschaffung der postsowjetischen ukrainischen Nationalmythologie berücksichtigt – da bekam die ehemalige Ukrainische SSR eine Selbstwahrnehmung ähnlich wie Polen zugeschrieben: Ein Land, das ganz im Zentrum gesamteuropäischer Widersprüche steht, seit Jahrhunderten für einen eigenen Staat kämpft und mehrere Teilungen und einen Vernichtungskrieg überlebt hat.

    Wir sehen also, dass sich in dem Konflikt, der 2014 in eine aktive Phase getreten ist, die RSFSR mit dem Selbstbild des Russischen Reiches und die Ukrainische SSR mit dem Selbstbild Polens gegenüberstehen. Der beste Weg zur Versöhnung wäre die beiderseitige Verwerfung dieser Selbstbilder.

    Doch man muss realistischerweise davon ausgehen, dass die ukrainische Seite nach dem Maidan und dem Krieg noch stärker daran festhält, dass sie nicht das Land Chruschtschows und Breshnews ist. Sie versteht sich als Land der Opfer des Holodomor, der Kämpfer der Ukrainischen Aufständischen Armee und der Helden der Antiterroroperation, vor denen jeder Moskauer, so wie Willy Brandt vor den Warschauern, auf die Knie fallen muss (und dem sie auch, wenn er hinkniet, nicht verzeihen).

    Deswegen wird sich das Postputinsche Russland wohl herauswinden und in erster Linie für sich selbst etwas verstehen müssen, was es weder 1991, noch danach je verstanden hat.

    Russland braucht eine Entsowjetisierung

    Zunächst einmal hat das heutige Russland keinerlei Recht auf das moralische und historische Erbe der imperialen Vergangenheit. Die RSFSR, deren reale Nachfolgerin die RF ist, hatte niemals eine vollgültige Staatlichkeit und war für die Russen, die jenseits ihrer Grenzen, in anderen Republiken, lebten, nie die Heimat. Sie konnte ihrer Bevölkerung nie mehr bieten als die Überbleibsel, die dieser Republik vom Unionszentrum zugeteilt wurden, das ihre menschlichen und natürlichen Ressourcen ausbeutete und ihr (im Unterschied zu jeder anderen Sowjetrepublik) nicht einmal eine eigene nationale Intelligenzija zugestand.

    Wie ungewöhnlich das heute auch klingen mag, doch früher oder später muss Russland eine Entsowjetisierung durchlaufen und lernen, „wir“ zu sagen. Nicht über Spionageabwehrbedienstete und Begleitsoldaten der Gulags, sondern über jene, deren Knochen im Weißmeer-Ostsee-Kanal verwesen oder im Erdboden in Kolyma eingefroren sind. Nicht über metzelnde Marschälle, sondern über die unbestatteten Soldaten von Mjasnoi Bor oder Rshew.

    Die Identifikation, die Suche nach sich selbst im historischen und kulturellen Koordinatensystem – das ist es, was die Ukraine bereits durchlaufen hat, unser Land jedoch bisher nicht.   

    Anstatt sich mit dem Aufbau seiner eigenen Nation und Staatlichkeit zu befassen, bildete sich das postsowjetische Russland ein, dass in dieser Hinsicht bei ihm alles in Ordnung sei. Und hat nun nach 25 Jahren einen umfassenden moralischen Bankrott anzumelden, zu dessen anschaulichstem Symbol das mit Somalia vergleichbare Kriegschaos wurde, das die Streitkräfte der RF auf den Trümmern des Donbass verursacht haben.

    Für die Krim gelten eigene Regeln

    Das ist es, was man der Ukraine tatsächlich wird zurückgeben müssen, indem man ihr hilft, Staat und Infrastruktur auf den von der russischen Welt zerstörten Gebieten wiederaufzubauen und keinerlei Dankbarkeit dafür erwartet. Eine besondere Schuld, die jeder Regierung Russlands nach Putin bleiben wird, sind die Bewohner des Donbass, die bereit waren, loyale Russen zu werden und sich die Möglichkeit nahmen, zusammen mit den Territorien in die Ukraine zurückzukehren. Diese Menschen wird Russland bei sich aufnehmen und mit allem versorgen müssen: mit Arbeit, Bildung, Wohnung – mit allem, was sie dank des „neurussischen“ Abenteuers verloren haben.

    Wichtig ist, zu verstehen, dass für die Krim all das nicht gilt. Es ist klar, dass Unstimmigkeiten zwischen der RSFSR und der Ukrainischen SSR auch in Zukunft auf der Krim ausgetragen werden. Die Machthaber im künftigen Russland werden für die Halbinsel auf jeden Fall eine neue Zukunft suchen müssen; anstelle der „Rückführung“ zu ukrainischen Bedingungen, die ein Phantasma und gegen die Krimbewohner selbst gerichtet ist. In diesem Sinn liegt Alexej Nawalny absolut richtig – die Krim ist kein Wurstbrot. Eine Regierung, die nicht in der Lage ist, sie zu halten, wird sehr bald feststellen, dass Russland diese Regierung gar nicht braucht.

    Die Frage der Reue, die berühmten Knie Willy Brandts – auch das darf in der russisch-ukrainischen Beziehung der Zukunft einfach kein Thema sein. Lokale Kriege zwischen Nachbarländern – derer gab es in der Geschichte der Menschheit mehr als globale Katastrophen im Ausmaß eines Zweiten Weltkrieges. Die heutigen Serben und Kroaten haben vielleicht kein brüderliches Verhältnis, doch schneiden sie einander die Kehlen nicht durch. Die Ukrainer und wir Russen sind ihnen ähnlicher als den Deutschen, Juden und Polen, und wir müssen uns genau so verhalten wie sie: Ohne unnötig Schuld auf uns zu nehmen, wieder lernen, Nachbarn zu sein, zu handeln, zu reisen und einander zu verstehen.

    Die staatliche und historische Weisheit, die eine künftige russische Regierung bei der Gestaltung der Beziehungen zur Ukraine braucht, wird darin bestehen, eine Alternative zum Modell „zahlen und bereuen“ zu finden.  Denn das, und auch dies gilt es bereits jetzt zu verstehen, bringt Russland nichts Gutes. Und nicht nur Russland. Das sollte auch den Ukrainern klar sein. Frieden und gute Nachbarschaft ist ihnen nur mit einem Russland möglich, das nicht nur von imperialen Ambitionen befreit ist, sondern auch von unverdienter imperialer Schuld.  

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  • So ist das halt?!

    So ist das halt?!

    Spätestens seit den Tschetschenienkriegen der 1990er Jahre ist der Nordkaukasus in der russischen Gesellschaft als das „dunkle Andere“, als Ort der Gewalt und des Hasses abgespeichert. Bei einer Reihe von Morden führt die Spur bis in höchste Kreise tschetschenischer Sicherheitsorgane: beim Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja, die kritisch über die Tschetschenienkriege berichtet hatte, genauso wie bei der Ermordung der Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa und zuletzt beim Mord an dem Oppositionellen Boris Nemzow. Meist werden die Mörder verhaftet, die eigentlichen Auftraggeber der Tat jedoch bleiben im Dunkeln. Ein besonderes Bedürfnis, die Fälle aufzuklären gibt es nicht – nicht von Seiten des Staates und nur von wenigen Teilen der Gesellschaft.

    Und so hört kaum noch jemand auf bei Nachrichten wie dieser: Eine Gruppe Menschenrechtler und Journalisten ist am 9. März 2016 an der Grenze zwischen Tschetschenien und Inguschetien überfallen worden. Etwa 20 maskierte Männer stoppten den Bus, zerrten die Insassen aus dem Fahrzeug, verprügelten sie und steckten den Bus in Brand. Mindestens sechs Menschen wurden verletzt. Die Reise war vom unabhängigen Komitee für die Verhinderung von Folter organisiert worden, das sich für Menschenrechte in der Konfliktregion starkmacht, unter den Verletzten waren auch ein norwegischer und eine schwedische Journalistin.

    Der Leiter des Komitees für die Verhinderung von Folter, Igor Kaljapin, gilt als Intimfeind des tschetschenischen Staatsoberhauptes Ramsan Kadyrow. Mehrfach wurden Büroräume der Organisation verwüstet, zuletzt kurz nach dem Überfall an der Grenze, in der Nacht zum Donnerstag, 10. März. Kaljapin vermutet tschetschenische Sicherheitsorgane hinter den Übergriffen. Der Menschenrechtsbeauftragte in Grosny dagegen nannte dies „absurd" und beschuldigte Kaljapin, alles selbst inszeniert zu haben. Kreml-Sprecher Peskow zeigte sich nach dem Überfall „äußerst empört“.

    Der Journalist und Blogger Oleg Kaschin, der im November 2010 auf offener Straße in Moskau selbst krankenhausreif geschlagen wurde, beschreibt auf Slon.ru, warum man sich in Russland längst an Nachrichten wie diese gewöhnt hat – und weshalb er es für wichtig hält, dass die Ereignisse im Nordkaukasus nicht als tschetschenischer Sonderfall, sondern als Problem der gesamten russischen Gesellschaft begriffen werden.

    Wohl kaum eine Nachricht generiert weniger Klicks als diese: „Im Kaukasus wurden Menschenrechtler und Journalisten angegriffen.“ Das klingt wie Mitte oder Ende der 90er Jahre. Damals gehörten derartige Nachrichten zum Alltag und provozierten bestenfalls eine Gegenfrage: Tschetschenen oder Föderale? Wurden sie ins Zindan gesperrt oder ins Gefängnis Tschernokosowo gebracht?

    Das Wort „Menschenrechtler“ stammt aus dieser Zeit und dieser Gegend, aus den Nachrichten über Sergej Kowaljow. Auch die Journalisten, die gemeinsam mit diesen Menschenrechtlern genannt werden, waren etwas ganz anderes als jene Fernsehstars, die der russische Zuschauer heute so gerne zur Primetime im Ersten Kanal sieht.

    Die Reporterin Jelena Masjuk zum Beispiel: 20 Jahre schon arbeitet sie nicht mehr über den Kaukasus. Heute ist sie Mitglied des Menschenrechtsrates beim Präsidenten und hat viele Filme gedreht. Aber auch heute noch, wenn du irgendwo ihren Namen aussprichst, fragt bestimmt jemand: „Die Jelena Masjuk?“ Oder der Reporter Andrej Babizki – ungeachtet dessen, dass er jetzt auf der Seite der Volksrepublik im Donbass steht und sich mit den Ukrainern und den russischen Liberalen fetzt – auch der wird immer „der Andrej Babizki“ von damals bleiben.

    Deshalb muss man wohl auch extra erklären, dass es jene Tschetschenen und jene russische Soldaten schon lange nicht mehr gibt und dass auch die Menschenrechtler aus der Generation von Kowaljow etwas völlig anderes sind als das heutige Komitee [für die Verhinderung von Folterdek] von Igor Kaljapin.

    Die Journalisten aus den 90er und 2000er Jahren sind in den Menschenrechtsrat, ins Establishment oder in Rente gegangen. An ihre Stelle traten Zwanzigjährige, die während des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges noch Kinder waren, die heute überhaupt nicht in jenem Koordinatensystem leben, das sich mit Worten wie „Minutka“, „Seljonka“, „Tschernokosowo“ und „Föderale“ ins Bewusstsein der älteren Generation gefressen hat.

    Das Tschetschenien der 10er Jahre ist das Königreich von Ramsan Kadyrow. Von ihm bekommt man schnell einen Eindruck, wenn man zunächst seinen Instagram-Account anschaut und dann etwas, sagen wir mal, über den Mord an Boris Nemzow liest oder ganz allgemein über die Kämpfer des örtlichen Innenministeriums, jener seltsamen Frucht der erzwungenen Liebe zwischen Tschetschenen und Föderalen Russen vor zwanzig Jahren.

    Tschetschenien heute – das ist kein Krieg. Tschetschenien heute – das ist destillierter und in Marmor verpackter Frieden. Doch es gibt einen Frieden, der zumindest nicht besser ist als Krieg – wenn jedes Gesicht ein furchtbares, schreckliches Geheimnis trägt, wenn unter dem Marmor ein Stöhnen erklingt und Blut hervorquillt, das jemand jeden Morgen sorgfältig mit seiner Hand wegwischt.

    Das klingt pathetisch, doch wie soll es sonst klingen? Dem Stöhnen und dem Blut spüren junge Juristen aus der Provinz nach. Die meisten kommen von der Wolga, weil ihr Chef Igor Kaljapin, Leiter des Komitees für die Verhinderung von Folter, in Nishni Nowgorod lebt. In Kadyrows Instagram-Account werden sie oft mit dem Gattungsbegriff Kaljapiny bezeichnet: Der Autor meint damit „Feinde Russlands“, „Schaitane“ und andere, die tatsächlich seine persönlichen Feinde sind – nach Jahren seiner Herrschaft ist er an den absoluten Gehorsam seiner Untertanen und die Ergriffenheit seiner Gäste gewöhnt.

    Kaljapin selbst war zur Zeit des ersten Tschetschenienkriegs im Einberufungsalter, entspricht also überhaupt nicht jenem Bild eines Lew Scharanski, über den die patriotischen Idioten aus den sozialen Netzwerken sich so gerne lustig machen. Kaljapin ist kein Held der Dissidentenbewegung, eher ähnelt er einem Hollywood-Helden aus einem Film wie Mississippi Burning die Wurzel des Hasses. Der einzige Unterschied: Hinter den Hollywood-Helden, die schreckliche Geheimnisse in fernen Bundesstaaten auskundschaften wollen, steht mindestens ein Präsident Hoover. Kaljapin hat nur seine Mission als Menschenrechtler des 21. Jahrhunderts. Und er hat die Sympathien zwanzigjähriger Journalisten, die daran gewöhnt sind, von ihm exklusive Informationen zu erhalten, die man auf keiner offiziellen Pressetour nach Grosny bekommt.

    Solche Journalisten sind mit Kaljapins Leuten [am vergangenen Mittwoch, 8. März 2016 – dek] vom Flughafen der Nachbarrepublik Inguschetien in Richtung Grosny gefahren. Der Bus, in dem sie saßen, wurde zertrümmert und in Brand gesteckt von Kämpfern in Autos mit Kennzeichen aus der Region 95 [also Tschetschenien – dek]. Die Journalisten, darunter auch ausländische, wurden mit Stöcken und Brettern verprügelt. Ihre Pässe und ihre Ausrüstung sind im Bus verbrannt. Zur gleichen Zeit demolierten bewaffnete Männer in Camouflage das Büro von Kaljapins Komitee, und zwar in der inguschetischen Stadt Karabulak, wohin es erst vor kurzem nach der Demolierung des lange in Grosny ansässigen Büros umgezogen war. Das ist Russland im Jahr 2016.

    Die kastrierten Normen journalistischer Ethik, wie sie in Russland schon lange vor Beginn der wundervollen heutigen Epoche Einzug gehalten haben, erlauben es nicht, den Kämpfern aus dem tschetschenischen Polizei- und Geheimdienstapparat einfach die Schuld an diesem Verbrechen zu geben. Und die allgemeine Liebe zum Pelewinschen Weltbild führt zu der Annahme, dass etwas, das wie eine Katze aussieht und wie eine Katze miaut, in Wirklichkeit keine Katze ist, sondern nur schwarze PR, um jemanden zu kompromittieren.

    Angesichts der Gerüchte, dass die Amtszeit für Kadyrow nicht nur formal ein Ende haben könnte, sind das alles äußerst unangenehme Nachrichten für das tschetschenische Oberhaupt: Der Skandal ist international, denn unter den Opfern waren zwei Ausländer; er betrifft öffentliche Feinde Kadyrows, und dann hat er sich auch noch auf inguschetischem Gebiet abgespielt, wo doch alle wissen, wie angespannt die Beziehungen zwischen der Regierung Tschetscheniens und Inguschetiens sind.

    Aber erinnern wir uns: In der gesamten postsowjetischen Ära hat es kein einziges Verbrechen gegeben, das als genialer Schachzug aufgeklärt wurde, um jemandem ordentlich was anzuhängen. Bei uns wird zwar viel geredet und spekuliert, aber es gibt nichts Handfestes dazu. Als Drahtzieher eines Verbrechens erweist sich schließlich meist jemand, über den man dachte: Nein, der kann es nicht sein, der lässt sich doch so etwas nicht anhängen.

    Eine Motivation, sich nichts anhängen zu lassen, gibt es im heutigen Russland aber überhaupt nicht. Jene, die Macht, Geld und Zugriff auf den Polizei- oder Geheimdienstapparat haben, lassen sich nur allzu gerne was anhängen, denn ihr wichtigstes Attribut ist Straflosigkeit. Vielleicht bleiben sie nur deswegen in Russland, nicht wegen des Geldes. Nur hier dürfen sie so leben, wie sie wollen, mit goldenen Pistolen und so weiter.

    Wenn nun jemand denkt, dass es nach diesen Nachrichten von der tschetschenisch-inguschetischen Grenze „so richtig losgeht“ – vergesst es. Gar nichts geht los. Es wird das übliche „Ich weiß nicht“ von Putin-Sprecher Peskow geben, das übliche „die Untersuchung wird es zeigen“ von Markin, dem Sprecher der Ermittlungsbehörde, und die traditionellen Geheimdienst-Leaks über die Nachrichtenagentur Rosbalt. Und dann wird der Skandal leise abklingen. Bei uns wird es um jeden Skandal nach 24 Stunden leiser, nach 48 Stunden noch leiser, und so geht es weiter bis hin zur vollkommenen Stille. So ist es halt bei uns, so ist halt das Leben.

    Die Kollegen von Mediazona, von The New Times und anderen Medien, die Opfer der Attacke auf diesen Bus geworden sind, brauchen jetzt unsere Unterstützung. Das Ereignis wird wie immer ein guter Solidaritätstest sein, wie immer werden ihn nicht alle Medien und Journalistenverbände bestehen. Das ist natürlich ihre Sache.

    Unsere Sache aber ist es, uns eines vor Augen zu halten: Im Russland des Jahres 2016 ist es möglich, einen Bus mit Journalisten und Menschenrechtlern anzuhalten, alle zu verprügeln und dann das Fahrzeug  abzufackeln. Sagt also nicht „Bus im Kaukasus in Brand gesteckt“, sondern „Bus in Russland in Brand gesteckt“, das ist wichtig.

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    Gorbatschow und die Befreiung von der Lüge

    Michail Gorbatschow hat in Russland einen denkbar schlechten Ruf. In breiten Kreisen der Bevölkerung gilt er als verantwortlich für den Untergang des sowjetischen Imperiums, eine Einschätzung, die von der derzeitigen Staatsführung durchaus bewusst weiter kultiviert wird.

    Anlässlich von Gorbatschows 85. Geburtstag im März 2016 führte das staatliche Meinungsforschungsinstituts WZIOM eine Umfrage durch. Sie ergab, dass zwar 46 Prozent der Befragten einräumten, Gorbatschow habe zum Wohl des Landes handeln wollen, aber auch 47 Prozent der Ansicht sind, er habe nichts Gutes für den Staat getan. Ganze 24 Prozent meinen sogar, Gorbatschow sei ein Verbrecher gewesen, der die Großmacht Sowjetunion bewusst zu Fall gebracht habe.

    Sicher ist die Bilanz von Gorbatschows Regierungsjahren eine gemischte, und die Begeisterung, die ihm speziell in Deutschland entgegengebracht wird, lässt sich nicht einfach verallgemeinern. Oft zum Beispiel wird vergessen, dass Gorbatschow zwar beim Zerfall des Warschauer Pakts (und so auch bei den Ereignissen, die zum Fall der Berliner Mauer führten) auf jede Gewaltausübung verzichtete, in der damaligen Sowjetunion aber durchaus für Militäreinsätze gegen die sich verselbständigenden Republiken verantwortlich war, wie etwa beim Vilniusser Blutsonntag.

    Vor dem Hintergrund der allgemeinen Stimmung in Russland sind diejenigen Stimmen umso bemerkenswerter, die entgegen dem Mainstream auch die positiven Aspekte seiner liberalisierenden und auf Rechtsstaatlichkeit zielenden Politik würdigen. Zu ihnen gehört der langjährige Kulturredakteur der Zeitschrift Ogonjok (seit 2009: Kommersant-Ogonjok), Andrej Archangelski, dessen letzte Woche auf Slon erschienenen Artikel wir hier wiedergeben. Archangelski, geboren 1974, ist selbst in den Gorbatschow-Jahren in Moskau aufgewachsen und liefert hier ein sehr leidenschaftliches, sehr persönliches Statement zu einem Politiker, der, wie er sagt, seine „Seele gerettet“ hat.

    Wenn es um Gorbatschow geht, sagen Leute, die ihn ablehnen, meist: „Was hat er uns denn schon gegeben, euer Gorbatschow?“ Die Frage ist rhetorisch, gemeint ist – dass nichts.

    Als Äußerung ist das sehr aufschlussreich, das wichtigste Wort hier lautet: „gegeben“. In der durch und durch materialistischen Konstruktion der Frage „Was hast du mir gegeben?“ wird die Liebe zum Staatsoberhaupt als Menge der von ihm gebotenen materiellen Güter gemessen: Er hat den Menschen separate Wohnungen gegeben, zum Beispiel, oder hat uns billigen Wodka gegeben. Und mag diese Frage auch rhetorisch sein, zum Jubiläum Gorbatschows, der 85 geworden ist, kann man versuchen, sie zu beantworten.    

    Das Erste und Wichtigste: Gorbatschow hat die Menschen befreit von der Notwendigkeit, zu lügen. Ich bin ein typisches Produkt der Perestroika; als sie begann, war ich in der vierten Klasse. In Mathematik war ich schlecht, die Regeln des Lebens in der Sowjetunion beherrschte ich aber schon gut. Zum Beispiel, dass man nicht nur für Wissen gute Noten bekam, sondern auch dafür, der Lehrerin brav nach dem Mund zu reden. Die vierte, fünfte sowjetische Generation hatte die Fähigkeit „sich im Leben einzurichten“ bereits im Blut, das war ein Instinkt, alle sagten von klein auf ja, waren einverstanden, nickten. In all dem lag eine unerklärliche Trostlosigkeit, doch grundsätzlich war klar: So ist es eben. Punkt.

    Gorbatschow hat die Menschen befreit von der Notwendigkeit, zu lügen.

    Man musste lernen, seine Gedanken zu verbergen, sich zu verstellen, nicht aufzufallen, Loyalität zu demonstrieren. Auf der Straße das eine sagen, in der Schule was anderes, zu Hause was Drittes – kurz, ein Doppelleben zu führen, wie jedermann. Und da kam Gorbatschow und rettete mich (und viele andere) vor diesem Zwang zur permanenten Heuchelei. Man konnte natürlich weiterhin lügen, doch ab jetzt hatte man die Wahl: Jetzt konnte man auch NICHT lügen. Lügen war nicht mehr lebensnotwendig. Und mehr noch, die Wahrheit zu sagen lohnte sich nun, wenn man das so zynisch ausdrücken will: Nicht die Ähnlichkeit mit anderen, sondern die Andersartigkeit wurde zur Erfolgsgarantie.

    Heutzutage ist es schwierig, das zu erklären, aber die Perestroika hat eine enorme menschliche Energie freigesetzt, Millionen verschiedener Talente entfesselt und die Entwicklung von Stärken möglich gemacht. Die fünf Jahre Perestroika waren wie ein ewiger Frühling der Gedanken und Gefühle, fast ein Karneval, in der Tat eine glückliche Zeit: Wenn der Wunsch, nicht zu lügen, nicht nur nicht bestraft, sondern sogar – im Gegenteil – vom Staat gefördert wird.

    In Russland ist der Staat überall, alles ist von ihm durchdrungen, er ist und bleibt der Haupterzieher.

    Auch der soziale Erfolg hatte zu tun mit der Möglichkeit, die Wahrheit zu sagen, beziehungsweise einfach das, was man dachte. Deswegen bin ich Gorbatschow verbunden was meine Fähigkeiten, meine Berufswahl und meine Karriere angeht. Vor allem aber hat er mich und Millionen anderer vor einer doppelten inneren Buchhaltung bewahrt, vor moralischer Zersplitterung und Zerstörung. Er hat meine Seele gerettet – das scheint mir keine Übertreibung zu sein. Man kann lang und breit darüber reden, dass solche Dinge nicht vom Staat abhängen, aber das stimmt nicht: In Russland ist der Staat überall, alles ist von ihm durchdrungen, er ist und bleibt der Haupterzieher. Auch jetzt spüren die Kinder ganz genau, wie man sich verhalten muss, um Erfolg zu haben. Die Kinder der Perestroika hatten mit dem Staat Glück wie keine andere Generation – im Grunde verlief ihr gesamtes bewusstes Leben „in Freiheit“, damit war in Russland selten eine Generation gesegnet.

    In Freiheit, die in Russland gern präzisiert wird: „Freiheit wozu?“, „Freiheit wovon?“ – die aber einfach nur bedeutet: die Möglichkeit zu haben, nicht zu lügen.

    In einer totalitären Gesellschaft dient die Sprache nicht zum Reden, sondern dazu, Gedanken zu verbergen.

    Noch etwas, was Gorbatschow uns gegeben hat: Er hat den Menschen die Sprache zurückgegeben. Hat den Menschen die Kommunikation wiedergegeben, die Möglichkeit, sich frei zu unterhalten. In einer totalitären Gesellschaft dient die Sprache nicht zum Reden, sondern dazu, Gedanken zu verbergen. Die Sprache des Verschweigens, die Kultur des Verheimlichens war bis zum Jahr 1980 so weit gekommen, dass man mit der offiziellen Sprache, mit der Sprache der Zeitung Prawda nicht einmal die einfachsten Gedanken ausdrücken konnte. Die sowjetische Sprache hatte einen gigantischen Zerfallsprozess erlebt. Das, was bis 1985 gesprochen wurde, war kein Gedankenaustausch, sondern ein Ritual, eine Wiederholung, eine Tautologie, die völlig sinnlos wurde.  

    Es ist eine erstaunliche Leistung des Totalitarismus, wenn das einzige, was den Menschen vom Tier unterscheidet, nämlich die Sprache, den Menschen stört, anstatt ihm zu helfen. „Schweigen ist Gold“, bekam man bei uns auf Schritt und Tritt zu hören, und das Schweigen wurde zur einzigen ehrlichen Form der Kommunikation. Genau dasselbe geschieht mit der Sprache jetzt wieder. Der Ausdruck „ich habe dich gehört“ ist ein deutliches Indiz dafür, dass diese Stummheit zurückkehrt – Schweigen als Form der Kommunikation.    

    Bei Hannah Arendt findet sich folgende Beobachtung über Menschen in Deutschland in den 1930ern, die gegen den Totalitarismus immun geblieben waren. Arendt stellt die Frage: Worin unterschieden sich diese Menschen von der Mehrheit? Sie kommt zu dem Schluss, dass etwa hohe Kultiviertheit oder Bildung dabei überhaupt keine Rolle spielen. Die Fähigkeit zum Widerstand haben sich nur Menschen einer bestimmten psychischen Wesensart bewahrt, stellt Arendt fest, jene, die es gewohnt waren, einen ständigen inneren Dialog mit ihrem zweiten Ich zu führen, oder, vereinfacht gesagt, mit ihrem Gewissen. Menschen, die es gewohnt sind, jede ihrer Handlungen mit ihrem inneren Kammerton abzustimmen, können nicht gegen ihn agieren – einfach weil sie damit nicht weiter leben könnten, ihr Gewissen würde sie quälen. Der Jammer ist, so Arendt, dass für die meisten Menschen dieser innere Dialog nichts Unumgängliches ist, beziehungsweise dass sie diese zur Notwendigkeit gewordene Gewohnheit einfach nicht besitzen.    

    Den Wert der Freiheit erkennen die meisten Menschen ganz offensichtlich nicht.

    Die Perestroika – das waren Gespräche, klar, aber das Wichtigste war, dass Gorbatschow das innere Gespräch des Menschen mit sich selbst in Schwung brachte. Gorbatschow gab also den Leuten ihr inneres zweites Ich zurück, ihr Gewissen – beziehungsweise nicht das Gewissen selbst, sondern die Möglichkeit, nach dem Gewissen zu entscheiden.   

    Den Wert der Freiheit erkennen die meisten Menschen ganz offensichtlich nicht; dabei genießen ausnahmslos alle heutzutage ihre materiellen Vorteile, ihre wirtschaftlichen Folgeerscheinungen: den freien Markt, den Austausch von Waren, die Reisefreiheit. Nein, etwas Materielles hat uns Gorbatschow wirklich nicht gegeben, keine Lebensmittelprämien oder Wohnungen. Aber so ein „Geben“ ist selbst eine zwiespältige Sache: Denn Materielles, das gegeben wird, kann auch weggenommen werden. Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen, das ist ungefähr das Schema, nach dem das Leben heute in Russland wieder läuft. Doch was Gorbatschow uns gegeben hat, kann uns niemand nehmen. Weil es eben keine Sache ist.  

    Man kann nicht mal sagen, dass er uns „die Freiheit gab“ – das wäre geradezu beleidigend, Freiheit kann man jemandem nicht geben wie einen Rubel, wir haben sie selbst errungen. Doch Gorbatschow hat die Bedingungen dafür geschaffen, vom Leben das Beste zu nehmen und nicht das Schlechteste. Er hat uns die Möglichkeit gegeben, in einem volleren Sinne zu Menschen zu werden, und jeder machte daraus, was seinen Fähigkeiten und Wünschen entsprach. Dass wir dieses offene Fenster zur Freiheit nicht umfassend genutzt haben (wann wird es wohl das nächste Mal offenstehen?), ist wahr. Aber dennoch haben die Menschen, die die neuen Regeln angenommen haben, das Verhältnis zwischen Freiheit und Unfreiheit in Russland grundlegend verändert. Freiheit, das sind jetzt nicht mehr zwei Dutzend in Küchen sitzende Dissidenten, Freiheit ist das Gut von Millionen Menschen geworden. Und diese Menschen nehmen an scheinbar zwecklosen Protestmärschen teil, gehen als Wahlbeobachter in Stimmlokale und wechseln auf der Brücke, auf der Nemzow ermordet wurde, täglich das Wasser in den Blumenvasen.

    Gorbatschow hat die Sozialstruktur Russlands verändert, 15 Prozent des Landes (jene, die nicht zu den 85 Prozent1 gehören) – das ist trotz allem schon näher an einem Normalzustand als die sieben Personen, die 1968 auf dem Roten Platz waren. Gorbatschow ist es gelungen, eine Art fragile Balance zu erzeugen, mehr solche Menschen hervorzubringen, denen der innere Dialog mit ihrem zweiten Ich wichtiger ist als der Monolog der Propaganda. Und dank der Energie von vor 30 Jahren sind sie weiterhin da, und möglicherweise hat auch Gorbatschow es dieser Energie zu verdanken, dass er in seinem 86. Lebensjahr steht. Großartige Sache, kann ich nur empfehlen.


    1.Gemeint ist die in Umfragen erhobene Zustimmung zur Tätigkeit des Präsidenten oder der Regierung. Wladimir Putin verzeichnet durchgängig Zustimmungswerte von über 60 %, seit Beginn der Ukraine-Krise liegt diese Zahl um 85 %.

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