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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Wenn Angst aufkommt, bin ich immer dafür, sie zu überwinden“

    „Wenn Angst aufkommt, bin ich immer dafür, sie zu überwinden“

    „Es gibt keine Freiheit, wenn man nicht täglich für sie kämpft“ skandieren Pussy Riot auf ihrer Europa-Tournee Riot Days. Es ist eine Art Punk-Performance, immer wieder wenden sich Pussy Riot darin gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine, fordern ein Öl- und Gasembargo, alles untermauert von dokumentarischen Bildern und wummernden Elektrobeats.

    Die Tour, die am 9. Juni in Lissabon endet, begann am 12. Mai in Berlin. Erst kurz zuvor war Maria Aljochina eine spektakuläre Flucht aus Russland gelungen. Seit September 2021 war sie unter Hausarrest, der in 21 Tage Haft in einer Strafkolonie umgewandelt werden sollte. Sie habe sich als Essenslieferantin verkleidet, erzählte Aljochina mehreren Medien, so sei sie entkommen trotz Polizeibewachung. Über Belarus sei sie in die EU geflohen, allein um von dort über die Grenze weiter nach Litauen zu kommen, habe sie drei Versuche gebraucht. Als Grund für die Flucht nennt sie in verschiedenen Gesprächen vor allem die Tournee, die sie unbedingt habe machen wollen, um gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine zu protestieren.

    Es sind nicht nur Aktivisten wie Aljochina, sondern auch Journalisten, Menschenrechtler, aber auch IT-Experten, die Russland seit dem 24. Februar 2022 in Scharen verlassen haben. Doch nicht erst seit der russischen Invasion in die Ukraine werden unabhängige Akteure unterdrückt, die ohnehin autoritäre Entwicklung wurde über mehrere Jahre immer repressiver. Erste starke Einschnitte gab es nach den Bolotnaja Protesten 2011/12, massiv verschärfte sich das Vorgehen des Staates außerdem nochmal im vergangenen Jahr nach den Solidaritätsprotesten für Alexej Nawalny: „Wer nicht Freund ist, ist Feind“, konstatierte damals die Politikanalystin Tatjana Stanowaja. Im Zusammenhang mit diesen Protesten war Aljochina im September 2021 zu einem Jahr Hausarrest verurteilt worden, angeblich habe sie gegen „Hygienevorschriften“ verstoßen. Die Menschenrechtsorganisation Memorial erkannte Aljochina daraufhin als politische Gefangene an. 

    Drei Monate vor der russischen Invasion in der Ukraine hat Maria Aljochina ein Interview gegeben für die YouTube-Sendung Skashi Gordejewoi (dt. Sag’s Gordejewa). Mit der Journalistin Katerina Gordejewa, die bekannt ist für ihre tiefen und sehr persönlichen Interviews, sprach sie über ihren Weg als Aktivistin, über Zweifel, Schweigen und Angst – und darüber, wie sie selbst mit diesen Gefühlen umgeht. Das Gespräch ist auch eindrucksvolles Dokument des repressiven Systems in Russland kurz vor dem Angriffskrieg gegen die Ukraine.

    Über das Zweifeln

    Katerina Gordejewa: Stimmt es, dass du bis zu dem Morgen der Aktion in der Christ-Erlöser-Kathedrale gezweifelt hast, ob du mitgehen sollst?
    Maria Aljochina:
    Ja, zweifeln kann ich gut. Ich denke, ich brauchte einfach jemanden, mit dem ich alles durchsprechen konnte, um mir im Laufe des Gesprächs über einige Dinge klar zu werden. Nicht nur, ob es richtig war, sondern insgesamt über die Ausdruckform dessen, was ich tue.

    Du hast mit deiner Freundin, der Bassistin, gesprochen, und bist am Ende mitgegangen und sie nicht. Hätte sie mitgehen sollen? 
    Ja, das hätte sie, sie hatte mit uns geprobt.

    Aber sie ist nicht mitgegangen.
    Nein, ist sie nicht.

    Und du schon.
    Ich schon.

    Wenn wir jetzt zurückspulen würden, würdest du wieder mitgehen?
    Natürlich würde ich wieder mitgehen! Du meinst wegen …

    … wegen der Konsequenzen. War es das wert?
    Was ist „es“?

    Na, der Auftritt … die vierzig Sekunden Song, das Video. 
    Wir hätten uns besser vorbereiten sollen.

    Und fast zwei Jahre Gefängnis. War es das wert?
    Ja. Ich bereue nichts. Es gibt immer Momente, in denen man etwas hätte besser machen können. Auch beim Absitzen, im Gefängnis und danach, es gibt immer etwas, das man besser machen könnte. Manches hätte man besser bleiben lassen. Aber sicher nicht unsere Aktion.

    Hättest du je gedacht, dass du dort im Westen reich und berühmt werden würdest, während du hier im Hausarrest auf einem Balkon mit Blümchen hockst und auf einen schick renovierten Spielplatz starrst?
    Ich bin ja nicht nur im Hausarrest … Ich war ja davor noch im Gefängnis. Das alles ist eine Art Zeugnis, ein lebendiges Zeugnis dessen, was hier vor sich geht. 

    Wofür hast du den Hausarrest bekommen?
    Das war ein Strafverfahren wegen eines Instagram-Posts mit dem Aufruf zu einer Solidaritätsdemo für Politgefangene, einer davon Alexej Nawalny. [Der offizielle Vorwurf lautet, dass Maria Aljochina gegen die Corona-bedingten Hygieneregeln verstoßen habe. Im September 2021 wurde sie deswegen zu einem Jahr Hausarrest verurteilt – dek]

    Welchen Status hast du gerade?
    Ich bin verurteilt.

    Derzeit bist du das einzige bekannte Mitglied von Pussy Riot, das in Russland geblieben ist, und eine der wenigen Angeklagten in den Hygieneprozessen, die nicht ausgereist sind. Warum bleibst du in Russland?
    Ich bleibe und ich lebe in Russland, weil es meine Heimat ist. Es ist meins. Eigentlich könnte man diesen tollen kleinen Zeitabschnitt zwischen Urteilsverkündung und Berufungsverfahren dafür nutzen, um abzuhauen. 

    Ich bereue nichts. Es gibt immer Momente, in denen man etwas hätte besser machen können

    Aber das ist ein One-Way-Ticket. Das brauche ich nicht. Ich mag Tickets wirklich sehr, ich liebe es zu fliegen, ich steh voll auf Reisen, aber bitte in beide Richtungen. 
    Ich möchte nicht, dass mir jemand einen Arschtritt gibt und sagt: „Hau ab“. Sollen die doch selbst abhauen. [Im Mai 2022 ist Maria Aljochina aus Russland geflohen, s.o. – dek]
     

    Vom Öko-Aktivismus zu Pussy Riot

    Wie warst du als Kind?
    Schwierig. Ich glaube, ich habe erst jetzt, im Hausarrest, bei dem ich sehr viel mit meiner Familie gesprochen habe, verstanden, wie schwer sie es eigentlich mit mir hatten.

    Deine Großmutter hat dich „der Geist des Widerstands“ genannt. Ab welchem Zeitpunkt würdest du über dich sagen, dass du alles anders gemacht hast als andere Kinder?
    Naja, ich habe nicht „alles anders als andere Kinder“ gemacht. Ich glaube, ich habe einfach viele Fragen gestellt und … mich geweigert, etwas zu tun, solange man mir keinen Grund dafür genannt hat. 

    Wie hast du dich damals selbst gesehen?
    Ich hatte mich damals verliebt und fuhr mit dem netten Kerl per Anhalter ins Naturschutzgebiet Utrisch. Eine unvergleichliche Gegend im Süden Russlands. Wacholder- und Pistazienwälder, in denen verschiedenste Leute leben, alle möglichen Hippies, aber nicht nur Hippies. Dort haben wir eine Zeitlang gelebt, dann sind wir zurückgekommen, haben gearbeitet, irgendwann habe ich gemerkt, dass ich schwanger bin und [wusste, dass ich] das Kind behalten möchte. Ich habe ja sehr früh ein Kind bekommen, mit 18 beziehungsweise 19. 

    Ich habe nicht „alles anders als andere Kinder“ gemacht. Ich glaube, ich habe einfach viele Fragen gestellt

    Die ersten Jahre war ich mit Philipp zu Hause, dann wurde es mir zu langweilig. Mit einem Kleinkind konnte ich mich für kein Präsenzstudium einschreiben, und ich habe nur zwei Orte in Moskau gefunden, wo man ein Fernstudium machen konnte. Irgendwann in der Mitte des Studiums habe ich im Internet gelesen, dass der Wald abgeholzt werden soll. Um da irgendeine Villa oder Datscha zu bauen. Ich habe mir zwei Adressen von Umweltschutzverbänden rausgeschrieben, WWF und Greenpeace, meinen Rucksack gepackt und bin losgefahren, um zu fragen, was ich tun kann, um das zu verhindern. 

    Bei einer Adresse hat man mich zum Teufel gejagt, bei der anderen habe ich einen tollen Menschen kennengelernt, Mischa Kreindlin, den Zuständigen für Naturschutzgebiete bei Greenpeace. Ich habe ihn gefragt, was ich tun kann. Er sagte: „Geh Unterschriften sammeln. Ich drucke dir die Formulare aus. Wenn du 5000 zusammen hast, kommst du wieder.“ Ich habe mir ein paar Leute als Verstärkung geholt und wir sind los, Unterschriften sammeln.

    Als wir damit fertig waren, habe ich gefragt: „Was kann ich noch machen?“ Es hieß: „Du kannst ein Piket machen.“ Damals durfte man noch diese Einzeldemos machen. Heute sperren sie dich wegen einem Einzelpiket für 30 Tage weg, aber damals war das noch ok.

    Zwischen „damals“ und „heute“ liegen gerade mal 15 Jahre.
    Ja. Und zwischen 2012 und 2021 liegen keine zehn, aber der Unterschied ist gigantisch. 

    Vom Öko-Aktivismus zu dem Pussy Riot-Auftritt in der Christ-Erlöser-Kathedrale ist es ein ziemlich weiter Weg.
    Wieso? Überhaupt nicht. Eine Freundin hat mich zu Pussy Riot gebracht, was damals noch die Gruppe Woina war. Sie haben mich in eine Garage eingeladen, in der sie zu der Zeit wohnten, das war so eine romantische WG der Leute von der Philosophischen Fakultät. 

    Bei Pussy Riot sah ich plötzlich Leute, die Kunst und Politik miteinander verbanden, und das auf eine sehr coole Weise

    Weißt du, meine Freunde, also die Leute von der Uni oder aus Lyrikgruppen, hatten so gar nichts mit den Leuten gemeinsam, die zum Beispiel zu den Pikets kamen. Das waren zwei unterschiedliche Welten, ohne jegliche Berührungspunkte. 
    Und hier sah ich jetzt plötzlich Leute, die Kunst und Politik miteinander verbanden, und das auf eine sehr coole Weise.


    ÜBER DIE REUE

    Stimmt es, dass man während der Ermittlungen [nach der Aktion in der Christ-Erlöser-Kathedrale 2011] von euch verlangt hat, Namen und Adressen der anderen Pussy Riot-Mitglieder zu nennen und ihr es nicht getan habt?
    Sie haben erst Nadja [Tolokonnikowa] und mich verhaftet, Katja [Samuzewitsch] ist später von selbst gekommen. Aus Solidarität. Der Schritt ging von ihr aus. 

    Und die anderen sind nicht gekommen.
    Nein. Aber jeder entscheidet selbst, ob er ins Gefängnis wandern will …

    Hat man von euch verlangt, die Namen der anderen zu nennen?
    Irgendwie schon … Was sie natürlich immer verlangen, alle Bullen, immer und überall, seit zig Jahrzehnten, ist ein Schuldeingeständnis. Das ist das Wichtigste.

    Man trifft zum ersten Mal auf das System, und das System ist grausam

    Erst bringen sie dich in die Petrowka, danach erlassen sie einen Haftbefehl und bringen dich ins Untersuchungsgefängnis. Und wir sind in den Hungerstreik getreten, es war kalt. Von den Bettlaken bekam man dauernd einen kleinen Schlag. Dort gab es zum ersten Mal Handschellen, Gesicht zur Wand, Hände hintern Rücken, dunkle Zelle. Theoretisch gibt es natürlich ein Fenster, aber es ist völlig dicht durch diese Wimpern aus Metall. Tja, also all diese unerfreulichen Dinge. 

    Was sind Wimpern?
    Wimpern? Wie soll ich dir das erklären? Stell dir ein Fenster vor: Du hast den äußeren und den inneren Teil, außen sind solche … so eine Art Jalousien angebracht, starr sind die, aus Metall und immer geschlossen. Das sind Wimpern. 

    Was für eine nette Bezeichnung.
    Ja. Da gibt es viele nette Dinge. Dann kommt ein Polizist und fängt davon an, dass du ja ein Kind hast, erzählt von den anderen Beteiligten, von einem Schuldeingeständnis, davon, dass du nur jetzt mit Bewährung davonkommen kannst, ansonsten geht es in U-Haft und dann nie wieder raus, also entscheide dich mal. So läuft das.

    An einer sehr ergreifenden Stelle in deinem Buch heißt es: „Am Morgen schaute Philipp Wilde Schwäne im Fernsehen. ‚Ich bin bald wieder da‘, sagte ich und packte meinen Rucksack. Er war damals vier, es waren noch drei Monate bis zu seinem fünften Geburtstag. Ich sagte ‚Ich bin bald wieder da‘, zog die Tür hinter mir zu. Und kam nach zwei Jahren wieder.“ 
    Ich habe diese Stelle wieder und wieder gelesen und musste jedes Mal fast weinen. Ich verstehe nicht, was für ein Ziel du wohl hast, um diesem Ziel zwei Jahre vom Leben deines Sohnes, von vier bis sechs, zu opfern. 

    Du stellst die Frage falsch. Du stellst sie so, als hätten wir alle gewusst, dass es diese zwei Jahre werden, dass es Gefängnis wird, dass es ein Verfahren geben wird. Das wusste keine von uns. 

    Würdest du es nochmal machen, wenn du wüsstest, was dich erwartet?
    Ja. Erstens mag ich den Konjunktiv nicht besonders. Und zweitens: Entweder du bereust etwas aufrichtig oder eben nicht.

    Und du bereust es nicht?
    Nein. Tu ich nicht. Aber das ist nicht leicht.

    In den sieben Monaten U-Haft habe ich sehr viele Memoiren von sowjetischen Dissidenten gelesen, weil ich mir gedacht habe: Von wem, wenn nicht von ihnen, soll ich lernen? 

    Man trifft zum ersten Mal auf das System, und das System ist grausam. Ich wollte gern nachlesen, was andere Menschen unter diesen Umständen gemacht haben, die vor uns dort waren. Denn das sind ja  Erfahrungen, man darf da ja nicht völlig unvorbereitet reingehen. 

    Wen hast du gelesen?
    Ehrlich gesagt habe ich Schalamow zum ersten Mal im Untersuchungsgefängnis gelesen. Es war eines der ersten Bücher, die man mir mitgebracht hatte. Damals haben wir erst angefangen zu verstehen, was Bücherübergaben sind. Ein Buch in die U-Haft zu bekommen, ist nicht so einfach, wie man meinen könnte. Denn sie lassen nichts durch, was irgendwas im Titel hat, das sie irritiert. Beispielsweise Hannah Arendts Abhandlung ging lange Zeit nicht, bloß weil darin das Wort „Revolution“ vorkam. Das konnte ich sehr lange nicht bekommen, weil sie dachten, es wäre eine Anleitung zur Revolution und keine historische Abhandlung. Sie sehen also irgendwo, vorn oder hinten drauf ein verdächtiges Wort und kassieren das Buch ein.

     

    KAMPF FÜR DIE RECHTE

    Hattest du die Idee, für deine Rechte in der Haft zu kämpfen schon in der U-Haft oder erst in der Strafkolonie?
    Heute, 2021 [das Interview wurde im November 2021 geführt – dek], leben wir verglichen mit 2012 in einer super anderen Zeit. Damals gehörten wir zu den ersten, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll …

    Menschen aus der soften Realität, die plötzlich im Gefängnis gelandet sind?
    Ja, wir waren Politgefangene, deren Prozess die Leute wirklich schockiert hat. Heute, wenn Tausende hinter Gittern sind, ist so eine Aufmerksamkeit rein physisch gar nicht möglich, im Vergleich zu Zeiten, in denen nur ein paar Leute in Haft sind. 

    Sie beginnen einen Krieg gegen dich, und du beginnst einfach nur, dich zu verteidigen. Versuchst in dem Ganzen dich selbst nicht zu verlieren. Das ist alles

    Die Kommission für Menschenrechte kam zum ersten Mal in der U-Haft zu mir, als ich in der Quarantäne-Zelle war. Du kannst es dir ungefähr vorstellen: Ein Mensch ist zum ersten Mal hinter Gittern, tritt zum ersten Mal in Hungerstreik, das ganze Paket zum allerersten Mal. Man bringt dich in die Quarantäne-Zelle, um deinen Gesundheitszustand zu überprüfen. Pro forma, versteht sich. Die Polizisten wissen schon Bescheid. Was mit dir los ist. Danach wird entschieden: Entweder gehts in die allgemeine oder in die Extrazelle. 

    Mir ist aus deinem Buch in Erinnerung geblieben, der erste Hungerstreik wäre wie die erste Liebe.
    Ja, so etwas habe ich geschrieben. Die Menschenrechtler kamen zu mir, als ich das Gefängnis noch gar nicht wirklich gesehen hatte. Da haben mich bestimmte Dinge rein menschlich gewundert, wie wahrscheinlich jeden. Ich habe gezeigt, dass wir die Fenster mit Brotkügelchen abdichten, weil es so kalt ist. Da war nichts von wegen: „Ich erkläre dem System den Kampf und bin die neue Dissidentin des 21. Jahrhunderts.“ Es war einfach nur eine rein menschliche Aussage. Aber sie … das ist der große Unterschied bei den Leuten des Systems, sie fassen banale Ehrlichkeit als Kriegserklärung auf. Sie beginnen einen Krieg gegen dich, und du beginnst einfach nur, dich zu verteidigen. Versuchst in dem Ganzen dich selbst nicht zu verlieren. Das ist alles. Damit fängt es an. 

    Wenn du dann in die Strafkolonie kommst, begreifst du das Ausmaß der Rechtlosigkeit der Menschen dort, und wie viele Möglichkeiten du im Vergleich zu ihnen hast, um dich zu wehren. 

    Weißt du, wie wenige Frauen dort Anwälte haben? Höchstens fünf Prozent. 

    Oxana Darowa, deine Anwältin, wie bist du an sie gekommen?
    Oxana ist eine super Anwältin. Und ein Mensch, ohne den ich in der ersten Strafkolonie gar nichts geschafft hätte. Ich habe sie durch die Menschenrechtler gefunden, an die sich meine Mutter gewandt hatte. Ein Zufall. Sie ist klasse. Sie hatte die Idee, gegen die Kolonie vor Gericht zu ziehen.

    Du bist der erste Mensch in Russland, der einen Prozess gegen eine Strafkolonie gewonnen hat. 
    Ja. Oxana hat die den Maßnahmen angefochten, die mir auferlegt wurden, denn sie haben mir wirklich ständig Maßnahmen wegen gar nichts aufgebrummt. Wie sie es mit Millionen von Frauen machen. Mit Millionen. Und fast keine wehrt sich. Sie wollen oder können nicht. 

    Maßnahmen anzufechten ist eigentlich ziemlich simpler Bullshit, der in zwanzig Minuten geprüft wird. Bei uns hat es jeweils acht Stunden gedauert. Drei von vier Maßnahmen haben wir erfolgreich angefochten. Das Gericht hat sie als rechtswidrig eingestuft. 

    Sie haben mir wirklich ständig Maßnahmen wegen gar nichts aufgebrummt. Wie sie es mit Millionen von Frauen machen. Mit Millionen. Und fast keine wehrt sich. Sie wollen oder können nicht

    Und weil ich in Zusammenhang mit den rechtswidrig auferlegten Maßnahmen schon das Kreisgericht in Beresniki als Plattform hatte, habe ich auch über andere rechtswidrige Dinge gesprochen, die in der Kolonie passieren. Und weil Menschen diese Informationen verbreitet haben, gab es irgendwann Kontrollen. Erst auf regionaler Ebene und später offenbar auch aus Moskau. Danach haben sie mich verlegt. Und eine kleine süße Hölle für mich veranstaltet, eine Reihe höllischer Durchsuchungen.

    Und da haben sie wegen dir die anderen bestraft …
    Genau. Sie haben Schlösser an die Türen der Gruppe gehängt, in der ich war. Dadurch konnten die Frauen beispielsweise nicht mehr in die Krankenabteilung, um Medikamente zu holen. Oder sonstwohin.

     

    ÜBER DIE FRAGE: WAR ES DAS WERT?

    Hattest du den Gedanken, dass du für etwas Abstraktes kämpfst? Während reale Menschen unmittelbar in deiner Nähe deswegen leiden? Nur weil du keine Ruhe geben kannst?
    Klar. Solche Gedanken lassen sich nicht vermeiden, und falls du es versuchst, erinnern sie dich schnell daran.
    Ja. Das ist schwer. Weil manche deswegen nicht auf Bewährung rauskommen und noch ein paar Jahre sitzen müssen.

    Und ihre Kinder nicht sehen.
    Und ihre Kinder nicht sehen. Einfach nur, weil ich in ihrer Gruppe bin.

    Fragst du dich an dieser Stelle, ob es das wert war?
    Natürlich.

    Und was sagen die Frauen, die es betrifft?
    Die Frage ist falsch gestellt. Eine Frau darf ihre vorzeitige Entlassung nicht verlieren, nur weil sie mit mir in einer Gruppe ist. 

    In Beresniki hast du erreicht, dass es für jedes Stockwerk ein Telefon gibt und nicht nur eins im Straflager, wo man nur einmal im Monat telefonieren darf, richtig? Du hast erreicht, dass es Fernseher gibt.
    Naja … Ich mag nicht, wenn du sagst, ich hätte es erreicht. Es war nicht ich, wir waren es. Allein hätte ich das nie geschafft.

    Es reicht nicht, wenn du kurz was änderst und denkst: Jetzt läuft alles super. Veränderung braucht, wie im Grunde jeder Kampf für die Freiheit, täglichen Einsatz

    Meine Anwältin, die Leute, die aus Moskau kamen, um mich zu unterstützen und über die Prozesse zu berichten. Ein bisschen auch die regionalen Menschenrechtler, die teils mit der lokalen Verwaltung zusammenarbeiten, aber in dem Fall hatten auch sie sich eingeschaltet. 

    Und die Frauen, die keine Angst hatten, mit dir wenigstens eine zu rauchen …
    In Beresniki war das leider nur eine Person. Lena, eine junge Frau, sie hat einfach nur bestätigt, dass ich nicht lüge. In Nishni [Nowgorod] waren es schon fünf, die zu den Menschenrechtlern gegangen sind. Aber da sind die Menschenrechtler auch sehr cool. An anderen Orten weißt du, dass jemand zu dir kommt, mit dir redet und danach mit den Bullen saufen geht. Du lieferst dich nur ans Messer, du weißt, dass du etwas tust, womit du dir dein Leben sehr schwer machst, und der Pseudo-Menschenrechtler unternimmt nichts dagegen. 

    Gut, ihr habt also zusammen erreicht, dass es Fernseher, Telefone, Besuchsmöglichkeiten, Kopftücher und Lohn gab.
    Wir haben durchgesetzt, dass es Klokabinen gibt, bei denen man die Tür zumachen kann. Wir haben durchgesetzt, dass es in jeder Gruppe ein Telefon gibt, nicht nur zwei Stück im Klub mit einem Monat Wartezeit. Und es gab eine Reihe von Entlassungen.

    Und warme Kopftücher.
    Ja, die auch, ganz am Schluss. Die Kopftücher waren eigentlich das, womit alles anfing. Aber auch da hatte ich nicht vor, die Verwaltung irgendwie anzugreifen, ich hab den Menschenrechtlern einfach nur gesagt, dass wir minus 35 Grad haben und die uns irgendwelche Gazetüchlein geben. Und die Frauen bekommen keine Wolltücher, weil sie niemanden haben, der sie ihnen schicken würde. Und dass es vermutlich falsch ist, in den Ural Tücher aus Gaze zu liefern, weil wir bei minus 40 Grad draußen im Schnee zum Appell antreten müssen. Dafür musste ich in Einzelhaft. 

    Später wurdest du in eine andere Kolonie verlegt und bist dann per Amnestie freigekommen. Was ist aus den Tüchern, Telefonen und dem Lohn geworden?
    Nun ja … die Telefone kann man nicht so einfach abmontieren und wegschmeißen. Das haben sie also nicht getan. Aber ansonsten ist natürlich alles schlechter geworden. Es reicht nicht, wenn du kurz was änderst und denkst: Jetzt läuft alles super. Veränderung braucht, wie im Grunde jeder Kampf für die Freiheit, täglichen Einsatz. Ansonsten löst sie sich in Luft auf. 

     

    ÜBER DAS STRAFSYSTEM

    Warum hat es dich so aufgeregt, dass du amnestiert wurdest?
    Es hat mich nicht aufgeregt, aber … Amnestie, das ist … Was ist Amnestie streng genommen?

    Ein Akt der Barmherzigkeit durch den Staat.
    Eben. Ein Akt der Barmherzigkeit Putins. Also: Weil es totale Heuchelei ist, weil von einem großen „Akt der Barmherzigkeit und Begnadigung“ gesprochen wird, zwei Monate vor Ablauf unserer Haftstrafe und die sich groß auf die Fahnen schreiben, sie würde alle Frauen mit minderjährigen Kindern begnadigen, die unter Paragrafen einsitzen, die eine gewisse Schwere nicht übersteigen. Schlussendlich werden dann nur ein paar begnadigt. Außerdem weil ich diese Begnadigung nicht gebraucht hätte, ich hätte die zwei Monate schon noch irgendwie absitzen können. Weil völlig klar ist warum: Ich höre doch, was sie im Fernsehen sagen und weiß, warum sie das kurz vor den Olympischen Spielen tun. 

    Das Land, in das wir entlassen wurden, war ein völlig anderes als das, in dem man uns zuvor eingesperrt hatte – das war klar. Aber wir haben es nicht sofort verstanden. Sondern wahrscheinlich erst mit den ersten Überfällen.

    Was ist die wichtigste Erfahrung aus der Kolonie?
    Russland ist sehr unterschiedlich. Erstens. Und zweitens: Das lässt sich nicht in einem Satz sagen … Es gab einfach Dinge, mit denen ich in diesem Ausmaß vorher nie zu tun gehabt hatte: Verrat zum Beispiel.

    Verrat unter den Häftlingsfrauen?
    Ja. Natürlich. Das schockiert. Dass es kein Einzelfall ist, sondern dass es System hat, von beiden Seiten. Das System bringt dir bei, mit einer Frau von einem Teller zu essen, danach aufzustehen und sie zu denunzieren, sie zu verraten, ihr eine Rasierklinge in die Schublade zu schmuggeln, sie um ihre vorzeitige Entlassung zu bringen. Das alles bringen sie dir bei und es funktioniert.

    Das System bringt dir bei, mit einer Frau von einem Teller zu essen, danach aufzustehen und sie zu denunzieren

    Das ist ein System, das irreversible Folgen hat. Ich bin absolut überzeugt, dass ein Mensch, insbesondere im heutigen Russland, nach vier oder fünf Jahren überhaupt keine Chance mehr hat, ein neues Leben zu beginnen. Man gewöhnt sich daran, so zu leben. Er landet wieder im Gefängnis. Das gilt für 70 Prozent. Warum? Weil das System dir nur beibringt, dort zu bleiben. Man gilt als vorbestraft, findet keine Arbeit, kann nicht mehr anders leben, ist es gewohnt, dass andere für einen entscheiden, dass es ein klares Koordinatensystem gibt, in dem man, um zu überleben, bestimmte Dinge tun muss. Und ich rede gar nicht von irgendeiner Wiedereingliederung, einem normalen Job oder sonst noch was, nicht mal vom schlichten Erhalt deiner Gesundheit ist die Rede. Dieses System tötet den Menschen und alles Menschliche im Menschen.

    Ich freu mich sehr, wenn ich Ausnahmen sehe! Das ist wirklich ein super Fest! Wow! Ich bin tatsächlich nicht als einzige zu den Menschenrechtlern gegangen, sondern noch vier andere. Aber diese vier kassieren dann solche Repressionen und niemand kriegt es mit. Sie verlieren alles. Besuchszeiten, Telefonanrufe, sie kommen in Isolationshaft, in diesen Strafbunker …

    Du gehst zum Menschenrechtler, zeigst die Quittung von deinem Lohn über 300 Rubel – und dein Leben wird für den Rest der Strafzeit zur Hölle. 

    Das russische Gefängnis ist nicht auf dem Mars, es ist ein Spiegel dessen, was wir in unserer Gesellschaft haben. Und unsere Gesellschaft ist patriarchal, natürlich ist das politischer Wille, unsere die sogenannte „Regierung“. Und zwar immer mehr, das wird finanziell gefördert, über das Bildungssystem vermittelt, über die Propaganda, den staatlichen Kulturbetrieb und so weiter. Dementsprechend begreift sich die Frau nicht als handelndes Subjekt. 

    Das russische Gefängnis ist nicht auf dem Mars, es ist ein Spiegel dessen, was wir in unserer Gesellschaft haben

    Und im Gefängnis setzt die Verdrängung ein: Das alles passiert nicht mit mir; das bin nicht ich hier im Gefängnis, es muss ein furchtbarer Irrtum sein; ich habe falsch gelebt, einen Fehler gemacht, aber die Strafe ist schnell abgesessen, egal, was ich da für einen Mist erzähle, wie oft ich die anderen Frauen denunziere, mit denen ich von einem Teller esse, wie viel Lohn ich bekomme, egal, wie weit ich hier drin gehe, ich komme sehr bald raus und dann fange ich ein neues Leben an. 

    Dieses System tötet den Menschen und alles Menschliche im Menschen

    Und was macht die Knastverwaltung? Sie setzt auf eine weitere klassisch patriarchale Methode: Du bist doch eine Frau, du hast Kinder, willst du zu deinen Kindern? Was spielst du dich dann so auf? Wenn du so weitermachst, streichen wir dir die Telefonanrufe und Besuchszeiten. Dann siehst du deine Kinder gar nicht mehr.

     

    STIMME FÜR DIE ANGEKLAGTEN: ÜBER DIE PLATTFORM MEDIAZONA UND ÜBER DIE ZENSUR

    Du bist Mitbegründerin einer der wichtigsten russischen journalistischen Plattformen: Mediazona. Wie ist sie entstanden? Ihr habt sie ja zu dritt gegründet, du, [Nadja] Tolokonnikowa und [Pjotr] Wersilow
    Wir haben erst die Sona Prawa (dt. Zone des Rechts) gegründet, aber nach wenigen Monaten wurde uns klar, dass man nicht als Menschenrechtler aktiv sein kann, ohne zu sagen, was das ist..

    Aber hattet ihr die Idee in Haft oder erst draußen?
    Teils, teils, glaube ich. Die ganze Geschichte mit den Menschenrechten begann, als Nadja [Tolokonnikowa] und ich in die Strafkolonie kamen. Und gesehen haben, was da passiert. Denn keine von uns hätte sich das je vorstellen können. Es ist sehr leicht, im Stillen Böses zu tun, wenn es keiner mitbekommt. In einem abgeriegelten, dunklen Büro. Aber jede Öffentlichmachung der Willkür in den Gefängnissen bremst einges. Es hört nicht auf, aber wird gebremst. Sie werden vorsichtiger. 

    Aber Mediazona wurde zum ausländischen Agenten erklärt [seit 6. März 2022 ist die Seite in Russland außerdem blockiert, zuvor forderte die Medienaufsichtsbehörde die Liquidation des Mediums wegen „Falschinformation“ über den Krieg in der Ukraine – dek]. Heute ist es das einzige Medium, das detailliert und fundiert über alle Gerichtsprozesse berichtet … Vermutlich wird es diese Möglichkeit mit dem neuen Status nicht geben oder wird sie merklich eingeschränkt werden?

    Die Möglichkeit über Gerichtsprozesse zu berichten, wurde grundsätzlich eingeschränkt, durch Manipulation, weil der Staat wegen Covid verfügt hat, dass die Verhandlungen nicht mehr öffentlich sind. Einfach so. Das ist ein gewaltiger Sprung in die Vergangenheit. Nicht-öffentliche Prozesse sind ein superkrasser Marker eines totalitären Staates.

    Jede Öffentlichmachung der Willkür in den Gefängnissen bremst einges. Es hört nicht auf, aber wird gebremst. Sie werden vorsichtiger

    Ich kann gar nicht beschreiben, wie schlimm das ist. Deswegen sind die Probleme bei der Berichterstattung über die Prozesse sowieso schon da. Und dass sie Mediazona als ausländischen Agenten einstufen würden, war abzusehen. Für alle. 

    Ich würde lügen, würde ich sagen, dass es mich schockiert hat. Hat es nicht. Das war die logische Fortsetzung dessen, was der Staat gegenwärtig tut, leider. Ich bin zweifellos glücklich, dass wir Mediazona gegründet haben. Und dass sich in ein paar anderen Medien eine gewisse Tradition herausgebildet hat, über Häftlinge und Polizeigewalt zu berichten.

    Mit welcher Reaktion der Regierung würdest du dich wohlfühlen?
    Angenehm wäre mir, diese Regierung würde … sich schlicht verpissen. Und in den Knast wandern.
     

    ÜBER DIE ANGST

    Ich zitiere dich mal: „Angst ist eine Sache, die nicht objektgebunden ist. Wenn Angst aufkommt, bin ich immer dafür, sie zu überwinden.“ Wie übst du, deine Angst zu überwinden? 
    Eigentlich wachsen wir nur durch Überwindung. Wie sonst? Wenn du in einem Raum mit gepolsterten Wänden sitzt, wirst du wohl kaum Erfahrungen sammeln und daran wachsen. Im Prinzip hinterlässt jede Erfahrung Spuren.

    Aber die Angst ist ein grundlegender Selbsterhaltungstrieb. Wenn du leben willst, musst du ihm folgen.
    Aber … bist du es noch du selbst, wenn die Angst dein Handeln bestimmt?

    Schau mal, Mascha, du bist so klein, zierlich, jung. Glaubst du wirklich, dass es in deiner Kraft steht und in deiner Macht liegt, dieses ziemlich mächtige System zu besiegen?
    Nun, hängt davon ab, was du unter „besiegen“ verstehst. Natürlich habe ich keine Panzer und Granatwerfer, und der Fernsehturm von Ostankino gehört mir auch nicht. Das nicht. Aber ich habe ein Gewissen und den Wunsch, ich selbst zu bleiben. Mich selbst in meinem Handeln nicht zu belügen.

    Reicht das aus, um keine Angst zu haben? 
    Wie soll ich denn wissen, was ausreicht, um keine Angst zu haben. Das kann ich dir echt nicht sagen. Angst funktioniert ja nicht so, dass du plötzlich Angst vor meinetwegen Putin oder dem Gefängnis hast. Ein Mensch hat meistens Angst, weil er Angst hat, weil die Angst in seiner Seele auftaucht und beginnt an ihr zu nagen. Es ist ja nicht so, dass ich nie Angst hätte, klar hab ich manchmal Angst. Manchmal heule ich, manchmal schmeiße ich Sachen durch die Gegend, fühle mich bescheuert, aber wichtig ist, was du tust.

    Klar hab ich manchmal Angst. Manchmal heule ich, manchmal schmeiße ich Sachen durch die Gegend

    Nachdem ich den Text herausgeschmuggelt hatte, den ich meiner Anwältin gegeben hatte, den Text über die Strafkolonie, musste ich vor jedem weiteren Termin zu einer gynäkologische Untersuchung. Du weißt, was gynäkologische Untersuchung heißt? Du musst auf einen gynäkologischen Stuhl und jemand wühlt in deiner Vagina herum. Das ist demütigend und unangenehm. 

    Und du hast keine Angst, da noch einmal durch zu müssen?
    Nein, habe ich nicht. Ich habe keine Angst. Aber diese Situation macht mich wütend. Und natürlich, wenn du dann noch deine Tage hast und die dich schon wieder auf diesen verfickten Stuhl zwingen, die Situation insgesamt, deswegen habe ich geweint.

    Und du bist bereit, für das alles dein Leben herzugeben?
    Wir sind hier ja nicht auf dem Markt.

    Dennoch.
    Wir sind nicht auf dem Markt.

    Gib mir eine klare Antwort. Glaubst du wirklich, dass du dieses System besiegen kannst, zu deinen Lebzeiten …
    Ich glaube nicht, dass ich es allein kann. Aber wenn jeder ein bisschen was tut, dann ist es schon machbar.

    Und glaubst du daran, dass es viele solche Leute gibt?
    Ich denke, dass Menschen sich gegenseitig inspirieren können, etwas zu tun. Und dann ist alles möglich.

     

    ÜBER RUSSLANDS ZUKUNFT

    Kann Russland eine Frau als Präsidentin haben?
    O, ich glaube, das wäre supercool … Zum einen, weil wir dann faire Wahlen hätten, und zum anderen, weil das wirklich großartig wäre. Ich denke, das würde uns als Land sehr guttun. Wir hatten ja bisher nicht nur keine Präsidentinnen, wir hatten nicht einmal richtige First Ladies. Außer vielleicht Raissa Maximowna [Gorbatschowa]. Wir kennen nicht mal die Kategorie. 

    Wir hatten ja bisher nicht nur keine Präsidentinnen, wir hatten nicht einmal richtige First Ladies

    Sieh dir westliche Länder an. Jedes Land hat eine First Lady. Sie ist meistens eine politische Figur, aber auch eine öffentliche Person, die sich oft der Wohltätigkeit widmet. Also auch eine Art Role Model. Wir haben nicht einmal das. Wir haben ein Verbot, ein regelrechtes Tabu über, wie heißt es so schön, das „Privatleben“ des Präsidenten zu sprechen, das für keinen denkenden Menschen je ein Role Model sein könnte. 

    Mal ernsthaft. Die ehemalige First Lady [Ljudmila Putina, von der Wladimir Putin inzwischen geschieden ist – dek] wurde wie Rapunzel vor allen versteckt. Und wirklich das gesamte Land wusste von mindestens einer Geliebten. Ist das eigentlich ok für einen Typen, der sich selbst bei unzähligen Interviews als echter Mann präsentiert?

    Er ist „mit Russland verheiratet“. Wärst du gern Präsidentin von Russland?
    Ich glaube, so groß bin ich noch nicht.

    Also, wenn du dann groß bist …
    Na, wenn ich groß bin, wäre es vielleicht ganz interessant, sich auch mit der klassischen Politik zu beschäftigen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das könnte.

    Such bitte was aus: Barmherzigkeit oder Gerechtigkeit?
    Widersprechen die sich denn? Warum? Ich finde …

    Du kannst einen Schuldigen begnadigen oder bestrafen.
    Ich war immer der festen Überzeugung, dass ich für Gerechtigkeit kämpfe, dabei würde ich nicht sagen, dass ich kein barmherziger Mensch bin. Ich bin nicht böse.

    Wahrheit oder Sicherheit?
    Wahrheit.

    Freiheit oder Stabilität?
    Das fragst du noch? Freiheit, natürlich. Aber die sollte der Stabilität eigentlich nicht widersprechen.

    Russland oder Familie?
    Warum muss ich zwischen meinem Land und meiner Familie wählen? Wo sind wir denn? Wir haben 2021, es ist das 21. Jahrhundert, warum sollen wir zwischen unserem Land und unserer Familie wählen müssen? Was ist das für ein Scheiß? Das darf nicht sein. Die Frage ist falsch gestellt. Falsch, mag ich nicht.

    Wenn sich die Frage irgendwann stellen sollte. Wenn du wählen müsstest, ob deine Liebsten bei dir sind sind und alles gut ist, oder …
    Oder was?

    Oder du bist für Russland.
    Warum kann ich denn nicht mit meinen Liebsten für Russland sein? Die sind ja auch für Russland.

    Weil ihnen was passieren könnte.
    Das ist doch Erpressung.


    Mitte Mai 2022 ist Maria Aljochina aus Russland geflohen – dek.
     

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  • „Für Putin ist die Ukraine eine existenzielle Bedrohung“

    „Für Putin ist die Ukraine eine existenzielle Bedrohung“

    „Die Russen sind die neuen Deutschen.“ Unter liberalen russischen Stimmen kam diese Formel schon wenige Tage nach dem Kriegsbeginn auf. Sie verweist auf historische Parallelen zwischen Russland und Deutschland, vor allem auf Aspekte wie Kollektivschuld und „Banalität des Bösen“.

    Bereits vor rund zwei Jahren schrieb der russische Soziologe Grigori Judin: „Für Putin ist mit Deutschland [unter Hitler – dek] überhaupt nichts Ungewöhnliches geschehen: Eine Nation wurde erniedrigt, Radikale übernahmen die Macht und entschieden sich zur Rache. Das gab es und wird es noch öfter geben.“  

    Wie kommt eine solche Denkweise überhaupt zustande? Im ersten Teil seines jüngsten Interviews mit der Journalistin Katerina Gordejewa im Video-Podcast Skashi Gordejewoi (dt. Sag’s Gordejewa) argumentiert Judin, dass man über die tatsächliche Kriegsunterstützung im Land nur wenig sagen kann, dass der „überragende Teil der russischen Gesellschaft einfach sein privates, ruhiges Leben weiterleben will.“ Dass sie damit die Augen vor der Wahrheit und vor grundsätzlichen Sinnfragen verschließe, das entbinde sie nicht von der Verantwortung für das, was geschieht, so der Soziologe. Anders sei es bei Putin: Dieser übernehme ganz bewusst die Verantwortung für den Krieg, argumentiert Judin im zweiten Teil des Interviews – und folge dabei einer inneren Logik, wonach der Krieg ein Akt der Selbstverteidigung ist.


    Grigori Judin: Wenn du mich fragst, warum die Entscheidung getroffen wurde, die Ukraine zu zerstören, so sehe ich darin eine gewisse Logik.

    Katerina Gordejewa: Inwiefern?

    Für Wladimir Putin und seine Gefolgschaft ist die Ukraine eine existenzielle Bedrohung, sie bedroht buchstäblich ihr Leben. Und weil [Putin] offenbar irgendwann beschlossen hat, dass ihre Existenz gleichbedeutend ist mit der Existenz des ganzen Landes, schließen sie daraus, dass sie für das ganze Land sprechen können und das ganze Land in Gefahr ist.

    Wie? Ganz einfach. Nehmen wir die Situation in Libyen zur Zeit des späten Gaddafi. Oberst Gaddafi sieht sich nach einer endlosen Herrschaft mit einem inneren Aufstand konfrontiert. Der Aufstand ist mehr oder weniger erfolgreich. Gaddafi weiß, dass seine einzige Chance darin besteht, den Aufstand mit Hilfe der Armee niederzuschlagen. Das tut er auch. Er rückt auf Bengasi vor, bereit, alles dem Erdboden gleichzumachen.

    Wie Gaddafi beseitigt wurde hat bei Putin tiefen Eindruck hinterlassen

    Dann greift die NATO ein und errichtet eine Flugverbotszone, was den Kämpfen eine Wendung gibt. Die ganze Armada, die aus Tripolis in Richtung Bengasi unterwegs ist, kehrt um, Tripolis wird eingenommen und Gaddafi auf die Ihnen bekannte Art und Weise beseitigt.

    Wie wir wissen, hat das bei Wladimir Putin tiefen Eindruck hinterlassen. Ich bin mir übrigens ziemlich sicher, dass die Entscheidung, Medwedew abzusetzen, in genau dem Moment gefallen ist. Denn Medwedew war damals Präsident und hat sich nicht gegen die Flugverbotszone ausgesprochen.

    Was heißt das für Putin? Das heißt, dass in dem Moment, in dem es in Russland einen Aufstand gibt, und es wird ihn geben, unweigerlich … Übrigens war ich geneigt zu glauben, dass der Moment nicht weit weg ist, weil Belarus, das Russland in seiner politischen Kultur sehr ähnlich ist, es gerade vorgemacht hatte. Folglich war Russland auch nicht weit davon entfernt. Alle vergleichbaren napoleonischen Regime haben eine Lebensdauer von etwas über zwanzig Jahren. Die Widersprüche im Inneren häufen sich, und ihm [Putin – dek] dürfte klar sein, dass ein Aufstand nicht weit entfernt ist.

    Aber für ihn ist ein Aufstand nie Ausdruck einer aus der Bevölkerung erwachsenden Energie – es sind immer die Machenschaften eines äußeren Feindes, etwas anderes kommt gar nicht in Frage. Es gibt überhaupt kein Volk, es gibt nur einen äußeren Feind, der dich eliminieren will. Wenn dir eine solche Gefahr droht, musst du absolut sicher sein, dass dir im Unterschied zu Gaddafi jedes erdenkliche Mittel zur Verfügung steht, um diese Gefahr zu bekämpfen. Jedes. Egal, wie viele Menschen du dafür töten musst, du musst in der Lage sein, es zu tun.

    Wenn es ein benachbartes Land gibt, das Russland kulturell sehr nahe steht – ein riesiges Land, das größte Land Europas –, in dem es ein anderes politisches Leben gibt, das Putin als „Anti-Russland“ bezeichnet, eine radikale Alternative zu Russland, und diese Form der politischen Organisation ist in militärischer Hinsicht, sagen wir, durch die USA garantiert, dann ist das eine nicht hinnehmbare Gefahr. Es bedeutet, dass er mit seinem Volk nicht alles tun kann, was er will. Über ihm hängt ein riesiges [Damokles-Schwert], das sein Schicksal jeden Moment in das von Gaddafi verwandeln kann.

    Es war der letzte Moment für Putin, in dem er dieses Problem noch lösen konnte

    Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass sich die Situation in genau diese Richtung entwickelt, weil die Ukraine, auch wenn sie kein Mitglied der NATO ist, ganz klar zu einem Militärbündnis mit den USA tendiert und das politische Regime in absehbarer Zeit durch die USA garantiert würde. Es war der letzte Moment für Putin, in dem er dieses Problem noch lösen konnte.

    Wenn er also sagt, sie hätten uns angegriffen, hätten wir es nicht getan, dann glaubt er tatsächlich, was er sagt? 

    Ohne jeglichen Zweifel. Mehr noch, in einem verrückten Sinn ist das sogar wahr, denn er hätte jedes Vorgehen gegen ihn als einen Angriff durch die NATO interpretiert, und weil das unweigerlich eingetreten wäre, entspricht das in seiner paranoiden Wahrnehmung der Wahrheit. Deshalb war für mich schon vor zwei Jahren klar, dass es Krieg geben würde. Und als er vor einem halben Jahr diesen Aufsatz veröffentlichte, in dem er der Ukraine die Daseinsberechtigung abspricht, war es dann völlig offensichtlich. In diesem Text steht schwarz auf weiß: Entweder wir unterwerfen sie friedlich und machen sie zu einem Anhängsel, oder wir erobern sie. Das sind die zwei Optionen.

    Natürlich ist jetzt auch die Konjunktur vergleichsweise günstig: Putin denkt, er sei dank modernster Waffen militärisch überlegen, er hat enorme Ressourcen angehäuft (wo die alle hin sind, ist eine andere Frage), dann sind da die Rohstoffpreise, Europas Abhängigkeit von diesen Rohstoffen, Turbulenzen in diversen Ländern … Kurzum, die Entscheidung war in seinen Augen absolut unvermeidlich. 

    Russland hat der Ukraine kulturell schon lange nichts mehr anzubieten – das ist nur ein Versuch, sich zu verteidigen

    Und ja, er und sein Umfeld sprechen jetzt von einem Vabanque-Spiel, bei dem sich Russlands Zukunft entscheiden werde. Sie verstehen also durchaus, worauf sie sich eingelassen haben. Innerhalb dieser Logik müssen sie sich tatsächlich verteidigen. Ich möchte nur die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass das für sie ein Verteidigungskrieg ist. Aus ihrer Sicht ist das Ziel nicht, eine Hegemonie zu errichten oder kulturell zu expandieren. 

    Wenn wir von der „Russischen Welt“ sprechen, meint das nicht, dass es etwas spezifisch Russisches gäbe, das die Ukrainer nicht hätten und das man ihnen bringen müsste. So etwas gibt es nicht. Russland hat der Ukraine kulturell schon lange nichts mehr anzubieten. Nein, das ist nur ein Versuch, sich zu verteidigen. Was natürlich noch gefährlicher ist, weil wir hier von Leuten reden, die glauben, dass man sie umbringt, wenn sie sich nicht verteidigen. Sie müssen sich verteidigen – um jeden Preis.

    Welche Rolle spielt die so populär gewordene Theorie des „Russki Mir“, deren Vertreter mal als die Ideologen des Kreml galten, also Leute wie Dugin?

    Einerseits sehe ich, dass einige von Dugins düsteren Ideen durchaus ihren Einfluss hatten auf die Clique, die in Russland die Entscheidungen trifft, und wahrscheinlich auch indirekt auf den Präsidenten, der sich in letzter Zeit offenbar komplett isoliert hat und die Entscheidungen nahezu im Alleingang zu treffen scheint. Auf der anderen Seite sehe ich auch, dass diese [weltanschauliche – dek] Suppe, die sich da zusammengebraut hat, sogar im Vergleich zu diesen Ideen sehr primitiv wirkt. Man könnte meinen, diese Leute seien intellektuell dafür verantwortlich, was sie ausgebrütet haben, aber das, was am Ende dabei herausgekommen ist – ich bin nicht sicher, ob sie selbst davon so begeistert sind.

    Die ideologische Suppe des ‚Russki Mir‘ wirkt sehr primitiv

    Das große Problem mit diesem ganzen „Russki Mir“ ist, dass es eine leere Idee ist. Ein Imperium muss etwas vermitteln. Die „Russische Welt“ vermittelt nichts. Sie bietet keine Visionen. Keinerlei Perspektiven für eine kulturelle Entwicklung. Da ist rein gar nichts. Jeder, der Interesse an einer Ausweitung des russischen Einflusses hat, versteht, dass man irgendeine Art von Hegemonie braucht, um als Land eine Position zu erlangen. Unter Hegemonie versteht man, dass ein Land etwas anzubieten hat, das für andere attraktiv ist. Dann beginnt man, sich mit dieser Idee zu identifizieren, an sie zu glauben und sie zu verbreiten.

    Dass man die Menschen nicht mit Kanonen erobern, sondern ihnen etwas anbieten muss – diese Idee ist in Russland aus den Köpfen verschwunden

    In Russland war das an einem gewissen Punkt einfach wie weggeblasen: Der simple Gedanke, dass man die Menschen nicht mit Kanonen erobern, sondern ihnen etwas anbieten muss. Diese Idee ist aus den Köpfen verschwunden. Wahrscheinlich, weil sie sich nicht vereinen lässt mit diesem fundamentalen Beleidigtsein auf die ganze Welt. Oder weil man dafür anfangen müsste, den Leuten zuzuhören. Man müsste versuchen, sie zu verstehen, Gemeinsamkeiten finden, hören, was sie wirklich bewegt, etwas anbieten, das darauf reagiert. Das scheint niemanden mehr zu interessieren, das einzige, was noch übrig ist, ist rohe Gewalt. Aber mit roher Gewalt kann man keine Welt errichten.

    Das sagen selbst die Quellen, auf denen dieses zweifelhafte, widersprüchliche und natürlich auch gefährliche Projekt basiert. Immerhin impliziert es die Errichtung einer gewissen Einflusssphäre. Aber Russland schneidet sich gerade selbst für viele viele Jahre alle Einflussmöglichkeiten ab. Sehen wir uns zum Beispiel das Problem mit dem NATO-Block an, das ich für durchaus glaubhaft halte. Wozu wird das führen? Dazu, dass alle, die bisher nicht beitreten wollten, es jetzt tun. Russland steht nun einem Block gegenüber, der ihm tatsächlich feindlich gesinnt ist. Jetzt wollen alle rein. Finnland und Schweden bereiten schon Abstimmungen vor.

    Alle, die bisher nicht der NATO beitreten wollten, tun es jetzt

    Warum bringt man alle gegen sich auf? Nur, weil man keine andere Möglichkeit sieht, zusammenzuarbeiten, weil man ernsthaft glaubt, dass die einzig mögliche Interaktion Gewalt ist, dass man seine „Partner“ mit Waffengewalt zwingen muss. Das ist ein Fehler, der uns sehr teuer zu stehen kommen wird.

    Was wird aus der Ukraine?

    Angenommen, es endet nicht alles mit einem Atomkrieg …

    Ja, lassen wir das Worst-Case-Szenario mal beiseite.

    Was allerdings nicht ausgeschlossen ist und unter diesen Bedingungen durchaus realistisch. Abgesehen davon hat Russland natürlich überhaupt keine Chance mehr, irgendeine ideologische Kontrolle über die Ukraine auszuüben. Das ist für immer vorbei. Es hätte eine Möglichkeit gegeben, wenn man die Karte der jahrhundertealten gemeinsamen Geschichte ausgespielt und den Ukrainern etwas angeboten hätte, was sie einerseits respektiert und was andererseits attraktiv im Hinblick auf die Integration in eine gemeinsame Sphäre gewesen wäre. Jetzt ist diese Möglichkeit ausgeschlossen, ich schätze, für immer.

    Die, die gesagt haben, dass von Russland immer eine Gefahr ausgehen wird, haben Recht behalten

    Das mit der Ukraine ist eine Sache, aber was ist mit all den anderen slawischen Völkern? Sieh dir doch mal an, was die Leute in den slawischen Ländern sagen. Wir verlieren absolut alle. Die, die gesagt haben, dass von Russland immer eine Gefahr ausgehen wird, haben Recht behalten. Wir werden ihnen jahrzehntelang nichts entgegensetzen können. Sie werden sagen: „Dieses Land muss für immer kleingehalten werden, sonst wird es sich erheben und wieder auf uns losgehen.“ Und wir haben so gut wie keine Argumente dagegen. Wir können sagen, dass wir uns geändert haben, dass das unsere durchgeknallten Vorfahren waren, aber die Antwort wird sein: „Nein, die haben das im Blut. Die werden nie Ruhe geben.“ Und damit werden wir irgendwie umgehen müssen.

    Natürlich betrifft das genauso die Ukraine und mit großer Wahrscheinlichkeit auch Belarus. Wie das konkret aussehen wird, das ist eine andere Frage, das hängt davon ab, wie die sich anbahnende Niederlage [für Russland – dek] aussehen wird, welchen Preis auch die Ukrainer dafür werden zahlen müssen. Aber es existiert nicht einmal theoretisch die Möglichkeit, dass Russland die Ukraine für immer besetzt und die Ukrainer irgendwie umformt, nach welchem Vorbild auch immer. Das ist unmöglich. Deshalb ist das eine Wunde, die für immer bleiben wird.

    Und die Ukraine selbst, ihr Geist, die Menschen, der Präsident, der Staat?

    Das hängt stark davon ab, wie weit sich dieser Krieg ausbreitet. Ich denke nicht, dass die Möglichkeit besteht, dass es bei der Ukraine bleiben wird. Es wird davon abhängen, wie weit er sich ausbreiten wird, wie die europäische Landkarte nach dem Krieg aussehen wird. Das ist noch völlig unklar.

    Es wird davon abhängen, wie die europäische Landkarte nach dem Krieg aussehen wird

    Klar ist jedoch, dass sich für die Ukraine jetzt viele Probleme lösen, die sie vorher gespalten hatten. Ich bin kein Experte für die Ukraine, aber ich schätze, dass sich das Ost-West-Problem für immer erledigt hat. Klar ist auch, dass Selensky jetzt auftritt, wie ein Präsident in Kriegszeiten auftreten muss, er hat unglaubliches rhetorisches Talent. Er ist zu einem der führenden Politiker unserer Zeit geworden. Ein Mann, über den man noch viele Filme drehen wird. Und jetzt ist er natürlich in der Lage, eine Menge für den Wiederaufbau der Ukraine tun zu können, sobald der Krieg vorbei ist. Aber dieser Moment muss erst noch kommen. Bis zu diesem Moment müssen sie noch ausharren, durchhalten, und dann wird sich zeigen, wie das aussehen wird.

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  • „Russland wird aufs Schrecklichste verlieren“

    „Russland wird aufs Schrecklichste verlieren“

    Vergleiche zwischen Weimar-Deutschland und dem heutigen Russland sind schon seit über zwei Jahrzehnten fester Bestandteil der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem System Putin. 

    Nach den jeweiligen Niederlagen im Ersten Weltkrieg respektive dem Kalten Krieg kam es in beiden Ländern zu einem Systemzusammenbruch und zu massiven wirtschaftlichen und politischen Krisen. Politiker und Intellektuelle beider Länder sprachen über kollektive Identitätskrisen, Demütigungen durch Feinde, über die Wesensfremdheit der liberalen Demokratie für ihr Volk. Sie warfen ihren Landsleuten Verrat und Kollaboration mit dem Feind vor, diskreditierten Andersdenkende, sprachen anderen Völkern das Daseinsrecht ab. Die Demokratie scheiterte und wurde hier wie dort zum Schimpfwort. Anschließend gab es in beiden Ländern die Phönix aus der Asche-Erzählung, in Russland hat sich dafür die Formel „Erhebung von den Knien“ etabliert. Schließlich haben beide Länder einen Krieg entfacht. Die Massen – so heißt es in dem vorerst letzten Kapitel der Weimar-Vergleiche – jubelten und standen geeint hinter dem Führer respektive Leader.

    Mehr als 80 Prozent der Menschen in Russland befürworten derzeit laut Umfrageergebnissen des Lewada-Zentrums den Krieg in der Ukraine. Denis Wolkow, Direktor dieses unabhängigen Umfrageinstituts, argumentierte kürzlich auf Riddle, dass es derzeit kaum Anhaltspunkte dafür gebe, an dieser Zahl zu zweifeln.

    Der Soziologe Grigori Judin war demgegenüber schon immer skeptisch, ob Meinungsumfragen in autoritären Regimen ein Abbild öffentlicher Meinung liefern können. In einem Interview mit der Journalistin Katerina Gordejewa in ihrem Video-Podcast Skashi Gordejewoi (dt. Sag’s Gordejewa) bringt er seine Argumente vor – und erklärt, welche Parallelen er zum Zwischenkriegs- und Hitlerdeutschland sieht.

    Hier geht es zum zweiten Teil des Interviews.


    Katerina Gordejewa: Betrachten wir mal die 60 bis 70 Prozent, die – je nach Umfrage – den Krieg gutheißen. Ich weiß, du magst es nicht, wenn man sich auf Umfragen bezieht, aber ich muss die Frage stellen, weil diese Zahlen derzeit überall kursieren. Auch die Propaganda stützt sich darauf. Begreifen diese 60 bis 70 Prozent die Konsequenzen nicht? Verstehen sie die Frage nicht, die man ihnen stellt? Oder was genau unterstützen sie?

    Grigori Judin: Ich rate immer dringend dazu, vorsichtig mit Umfragen zu sein – generell, aber in Russland doppelt, und unter den heutigen Umständen gleich zehnfach. In Russland ist die Beteiligung sowieso immer niedrig. Außerdem gehen die Menschen, die an den Umfragen teilnehmen, meist davon aus, dass sie direkt mit dem Staat sprechen. Und durch die gegenwärtigen Kriegshandlungen ist die Vorsicht natürlich nochmal um ein Vielfaches gestiegen, das belegen alle unabhängigen Studien, die gerade durchgeführt werden: Die Menschen antworten weniger bereitwillig, erzählen von Ängsten oder fragen sogar direkt: „Werde ich verhaftet?“ Wir haben verschiedene Instrumente, die Stimmung der Umfrageteilnehmer zu untersuchen, dadurch sehen wir, dass die Menschen, die eher verschlossen, introvertiert sind, andere Antworten geben. Umfragen belegen im Prinzip immer das, was die russische Regierung belegt haben möchte. Heute erst recht.

    Mittlerweile wäre es vielleicht sogar besser, diese Umfragen komplett zu verbieten

    Ich denke, dass die Zahlen am Anfang noch eine gewisse Aussagekraft hatten, aber mittlerweile wäre es vielleicht sogar besser, diese Umfragen komplett zu verbieten. Das liegt natürlich nicht in unserer Macht. Und es könnte alles noch schlimmer machen, aber ich würde diese Umfragen keinesfalls ernstnehmen. 

    Wenn ich in Deutschland gefragt werde: „Wie kommt es zu diesen 71 Prozent?“, erwidere ich: „Wie viel Prozent hattet ihr denn 1939, als die Spezialoperation gegen Polen begann?“ Ich sehe da keinen krassen Unterschied. Man sollte den Menschen keine idiotischen Fragen stellen und die Antworten nicht überbewerten. Aber abgesehen von allem, was ich jetzt gesagt habe, denke ich trotzdem, dass es wohl daran liegt, dass ein überragender Teil unserer Gesellschaft einfach sein privates, ruhiges Leben weiterleben möchte.

    Nach dem Motto: Soll da doch ein Krieg toben, oder eine Flutkatastrophe alles überschwemmen … 

    Ja, in dem Sinne: Ich kann sowieso nichts ausrichten. Was soll ich schon machen? Mich geht das doch nichts an. In Russland kursiert gerade etwas, das ich die „Zwei-bis-drei-Monats-Theorie“ nenne. Überall hört man: Noch zwei, drei Monate, dann renkt sich alles wieder ein. Keine Ahnung, woher dieser Schwachsinn kommt, aber es ist ein Versuch, sich an die eigene Realität zu klammern. Eigentlich ist es ein Versuch, weiterhin alles zu leugnen. So funktioniert die russische Propaganda. 

    Die Propaganda erklärt dir, warum du nichts tun sollst

    Mich würde interessieren, warum die Propaganda die Menschen nicht davon überzeugen konnte, dass es Covid gibt, aber sie so leicht davon überzeugen kann, dass es in der Ukraine Faschismus gibt?

    Aus einem ganz einfachen Grund: Die Aufgabe von Propaganda ist es nicht, dich von etwas zu überzeugen oder dir einen bestimmten Standpunkt aufzudrängen, sondern dir einen Grund zu geben, nichts zu tun. Sie erklärt dir, warum du nichts tun sollst. Als erklärt wurde, dass es Covid gibt und dass man etwas unternehmen muss, da war sie machtlos, weil der Mensch nichts tun will. Jetzt wird erklärt, warum das alles eine kurze Operation ist, dass sie erfolgreich enden wird, dass es eine unmittelbare Bedrohung für Russland gibt, und dass das alles überhaupt keine echten Ukrainer betrifft. Kurzum: Alles ist gut. Alles ist gut, alles ist bald vorbei, die politische Führung hat alles im Griff. Das genügt den Leuten, um ihr normales Leben ruhig weiterzuleben. 

    Der Vorteil bei den Belarussen ist, dass sie zumindest nicht versuchen so zu tun, als wäre nichts

    Ich denke, das Problem im heutigen Russland ist nicht, dass die Russen massenhaft diese bestialische Aggression gegen die Ukraine gutheißen würden. Das gibt es so nicht. Es gibt einzelne militarisierte Gruppen, aber das ist etwas anderes. Das Problem liegt darin, dass die Menschen versuchen so zu tun, als würde sie das alles nichts angehen, als könnten sie einfach ihr Privatleben weiterleben, an das sie sich gewöhnt haben und das sie sich mit großer Mühe aufgebaut haben. Das dürfen wir nicht vergessen: Viele Russen machen gerade eine sehr schwere Erfahrung. Das Leben, das sie jetzt führen, haben sie sich wirklich lange, mit großem Aufwand und hohen Investitionen aufgebaut. Sie haben viele Jahre alles hineingesteckt, deswegen klammern sie sich jetzt so an diese Welt. 

    Im Großen und Ganzen ist das sogar nachvollziehbar, doch wenn man das konsequent betreibt, läuft man Gefahr, zum Instrument für alles Mögliche zu werden. Das scheint mir das Hauptproblem im gegenwärtigen Russland. Besonders deutlich wird das im Vergleich zu Belarus, denn dieser grauenhafte Krieg, in dem wir uns befinden, ist ein Krieg, in den nicht nur Russland und die Ukraine unmittelbar involviert sind, sondern natürlich auch Belarus. Aber der Vorteil bei den Belarussen ist, wenn man das so sagen kann, dass sie zumindest nicht versuchen so zu tun, als wäre nichts. 

    Woran liegt das? Daran, dass deren Leben schwerer und ärmer war?

    Ich denke, es liegt unter anderem einfach daran, dass es dort 2020 ein Moment der Solidarität gab, über das sehr viel gesprochen wurde, auch wenn es zu keinem entsprechenden politischen Resultat geführt hat. Aber es hat den Belarussen etwas Größeres gegeben. Deswegen verschließen sie in der gegenwärtigen Situation nicht die Augen, ziehen sich nicht in den Käfig des Privaten zurück. Ihnen ist zwar klar, dass sie wenig ausrichten können, aber sie tun nicht so, als seien sie nur Instrument und als ginge sie das alles nichts an. Das stellt, so scheint mir, einen sehr wichtigen Kontrast dar. 

    Russland wird aufs Schrecklichste verlieren

    Das war der erste Teil. Der zweite hängt, wie mir scheint, damit zusammen, richtig zu verstehen, was da gerade passiert. Es ist selbstverständlich kein Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Allein die Idee ist vollkommen absurd und irrsinnig. 

    Allein schon deswegen, weil Russland aufs Schrecklichste verlieren wird. Unendlich verlieren wird. Es wird in jedem Fall eine katastrophale Niederlage. Es ist kein positives Szenario denkbar. 

    Kannst du das genauer erklären?

    In jeder nur denkbaren Hinsicht wird das für Russland eine Katastrophe. Es tut weh, das zu sagen, aber Russland zerstreitet sich auf diese Art für immer mit den zwei Völkern, die ihm kulturell am nächsten stehen – mit den Ukrainern und den Belarussen. Russland verliert absolut alle engen Verbündeten und Freunde. Mit wem sollen wir denn noch befreundet sein? Wer auf diesem Planeten kommt denn noch infrage? Wir jagen uns in eine völlig sinnlose, ewige Einsamkeit, in die wir eigentlich überhaupt nicht hineingeraten wollen. Wir wollten nie von der ganzen Welt isoliert dasitzen, niemals.

    Wir wollten nie von der ganzen Welt isoliert dasitzen, niemals

    Was macht denn Russland in den letzten zwanzig Jahren? Es rennt der ganzen Welt hinterher und ruft: „Wir brauchen euch nicht! Wir kommen auch alleine klar!“ Das ist ein neurotisches Verhalten, das uns jetzt geradewegs in die Katastrophe führt. Ich glaube, eine Katastrophe wie diese hat es in Russland noch nie gegeben.

    Gehörst du zu den Leuten, die jetzt die Seiten der Geschichte übereinanderlegen und lauter Parallelen zum Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre in Russland sehen?

    Oj, ich sehe sehr viele Parallelen, aber nicht zur russischen Geschichte, sondern zu der deutschen.

    Ach ja?

    Ja. Wir befinden uns in einer Situation, die in vielerlei Hinsicht an die 1920er und 1930er Jahre in Deutschland erinnert. Es gibt im Wesentlichen zwei historische Folien: das Regime von Napoleon III. in Frankreich 1848 bis 1870 und das, was in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg geschah. In beiden Fällen sehen wir eine abrupte Einführung eines Wahlrechts, bei dem den Massen schließlich nur die Option bleibt, einen starken Anführer zu wählen, der faktisch die Befugnisse eines Monarchen besitzt. Sprich eine demokratisch gewählte Monarchie, eine Monarchie mit der Gunst der Massen. Genauso nannte es Napoleon III. Er wurde zum Präsidenten über das ganze Volk gewählt, zum ersten französischen Präsidenten: Ich bin ein Imperator, der regelmäßig Volksabstimmungen durchführt. Und was bekomme ich dafür? Ich bekomme die Garantie, dass … 

    … alle dich lieben.

    Ja, das Volk steht hinter mir, und was mache ich damit? Ich zeige es den Eliten, ich zeige es der Bürokratie, ich zeige es dem Volk, erzähle ihm, wer die wahre Macht hat. Er erhebt sich über das ganze System.

    In Russland sitzt der Schmerz der Niederlage im Kalten Krieg sehr tief

    Die zweite wichtige Sache ist die historische Niederlage. Daraus resultieren Ressentiment, Revanchismus, Kränkung und Zorn. So war es in Frankreich, die Leute erinnerten sich durchaus an die Napoleonischen Kriege, und sie haben wieder einen Napoleon gewählt. Die Leute wollten einen neuen Napoleon, auch wenn es nicht derselbe [Napoleon Bonapartedek] war. Das gab es natürlich auch in Deutschland mit der verbreiteten Dolchstoßlegende und der [dieser zufolge von inneren Feinden verschuldeten – dek] Niederlage im Ersten Weltkrieg. Und jetzt beobachten wir das in Russland, wo der Schmerz der Niederlage im Kalten Krieg sehr tief sitzt, wie sich jetzt zeigt. All diese Regime hatten irgendwann ein Wirtschaftsmodell für sich gefunden, das relativ erfolgreich war.

    Du meinst, dass Russland … also die UdSSR den Kalten Krieg verloren hat?

    Ich meine das nicht nur, es wäre doch auch merkwürdig nicht zu bemerken, dass dieser Rahmen irgendwann aufgedrängt wurde. Sagen wir, das Ende des Kalten Krieges hatte ein erzieherisches Element. Es gab eine Doktrin der Modernisierung, die implizierte, dass es den einen richtigen Entwicklungsweg gibt und die Länder, die von ihm abgewichen sind, auf die Schulbank müssen, damit ihnen die Lehrer aus dem Westen erklären, wie man es machen muss. Sie wurden also belehrt. Und zwar mit ganz aufrichtigen Absichten, weil man wollte, dass sie es endlich lernen, ihren Kinderschuhen entwachsen und das Gleiche aufbauen wie alle, weil es in Wirklichkeit nur einen richtigen Weg gibt. So etwas führt in jedem Land dazu, dass man sich wie ein Minderjähriger behandelt fühlt. Und erst recht in so einem riesigen, mächtigen Land wie Russland. Das erzeugt gleich ein Gefühl der Erniedrigung.

    Was Putin dann gemacht hat, ist dieses Gefühl endlos weiter anzufachen. Es war nicht ganz unbegründet, dieses Gefühl, aber jetzt ist es eine Emotion, die ganz Russland einfach verbrennt.

    Putin hat das Gefühl der Erniedrigung endlos weiter angefacht

    In dieser Hinsicht gibt es natürlich viele Parallelen zu Frankreich Mitte des 19. Jahrhunderts und Deutschland zwischen den Weltkriegen. Und die plebiszitären Regime, die dort jeweils entstanden, machten jedes Mal das Gleiche: Sie zerstören die Innenpolitik. Das heißt, sie schließen schon die Idee einer Opposition aus. Die Opposition als eine Größe, die im selben Land existiert, aufrichtig das Beste für dieses Land will und sich dabei radikal von den eigenen Überzeugungen unterscheidet. Diese Idee ist ihnen grundsätzlich fern, weil das in ihren Augen die Einheit zerstört. Es kann einfach keine Opposition geben.

    Weil es keine Opposition geben kann, wird jede politische Feindschaft externalisiert, das heißt, sie wird schlichtweg zur Konfrontation von außen erklärt. Es kann keine Opposition geben, also gibt es nur Verräter und innere Feinde. Es kann keine partnerschaftlichen Beziehungen zu anderen Ländern geben, sondern nur Krieg in der einen oder anderen Form.

    Es kann keine partnerschaftlichen Beziehungen zu anderen Ländern geben, sondern nur Krieg in der einen oder anderen Form

    All diese Regime nahmen das gleiche Ende. Sie überschätzten massiv die Bedrohung von außen. Sie bildeten sich eine Gefahr ein, wo im Grunde keine war. Sie verloren die Fähigkeit, mit anderen Staaten Bündnisse einzugehen. Und sie alle arbeiteten eifrig daran, eine mächtige militärische und wirtschaftliche Allianz gegen sich zu erschaffen. Mit enormem Tempo brachten sie Länder um Länder gegen sich auf, einten Staaten mit eigentlich ganz unterschiedlichen Interessen. Und dann fuhren sie gegen eine Betonmauer, indem sie sich in desaströse Militärkampagnen mit immensen Opfern stürzten.  


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    Die Novaya Gazeta mit ihrem Chefredakteur, dem Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow, versucht auch in Kriegszeiten ihren eigenen Weg zu gehen und, so gut und so lange es geht, unabhängig zu berichten – auch aus dem und über den Krieg in der Ukraine. Zwar beugt sich die Novaya der Zensur, insofern, als sie gemäß der aktuellen Gesetzeslage nicht das Wort „Krieg“ verwendet, sondern „<…>“, auch einzelne Artikel hat die Novaya aus dem Netz genommen, und sie zensiert mitunter Berichte von Korrespondenten aus der Ukraine – all dies macht sie aber stets transparent. Ein Kompromiss, um unter Bedingungen immer stärkerer Desinformation und restriktiver Mediengesetze weiter unabhängig arbeiten und informieren zu können. Die Leser äußerten bei einer extra initiierten Umfrage Anfang März Verständnis und auch Zuspruch: „Besser irgendwie arbeiten als gar nicht.“ – „Uns ist allen völlig klar, dass Krieg ist. Sie brauchen ihn gar nicht direkt Krieg zu nennen.“ Manche schlugen gar vor, die ganze Absurdität zu perfektionieren und damit zu demaskieren, dass künftig am besten auch nur noch die Rede ist von: Lew Tolstois Roman „Spezialoperation und Frieden“.

    Während immer mehr Medien blockiert werden und zahlreiche unabhängige Journalistinnen und Journalisten aus Angst um ihre Sicherheit das Land verlassen (laut Investigativmedium Agenstwo sind es mehr als 150, die bereits gegangen sind), scheint sich die Novaya noch auf einen gewissen „Sonderstatus“ verlassen zu können, den sie als Leuchtturm der unabhängigen Berichterstattung seit den 1990er Jahren genießt. 

    Kürzlich kündigte Muratow außerdem an, seine Nobelpreismedaille versteigern und den Erlös spenden zu wollen – für ukrainische Geflüchtete. Das gab die Novaya Gazeta in einer Meldung bekannt, in der sich auch eine Reihe weiterer Forderungen fanden – etwa die nach einem Waffenstillstand. Darüber hatte Muratow außerdem bereits Anfang März mit der Journalistin Katerina Gordejewa gesprochen, die auf YouTube ihren bekannten Video-Podcast Skashi Gordejewoi (dt. Sag’s Gordejewa) betreibt. 

    Im Podcast erklärt Muratow, warum er mit dem Krieg gerechnet hat, inwiefern dieser nun nicht nur die Ukraine, sondern auch Russland zerstört. Und worauf er, Muratow, jetzt noch hofft – wider besseren Wissens.

    Katerina Gordejewa: Haben Sie tatsächlich bis zum Schluss nicht geglaubt, dass es Krieg geben könnte?

    Dmitri Muratow: Wir haben schon im Vorfeld geahnt, dass es leider Krieg geben wird. Wir hatten in der Redaktion viele Besprechungen zu diesem Thema, untereinander, mit den Ressorts, mit allen. Uns war klar, dass es direkt nach Olympia losgeht.

    Es war klar, dass Wladimir Putin bei einigen Auftritten völlig unmissverständlich all die Kränkungen aufgezählt hatte, die Russland, also Putin in Person, zugefügt worden waren. Es war klar aufgrund der Wortwahl – ständig war da die Rede von Nazis, Faschisten, dem Großen Vaterländischen Krieg, den Heldentaten unserer Vorfahren … 

    Es war klar, dass jener Krieg, der Große Vaterländische Krieg, für Putin nie aufgehört hat. Putin ist zu jung, um dabei gewesen zu sein, aber ich möchte die Vermutung äußern, dass Wladimir Putin jetzt danach strebt, seinen persönlichen Sieg im Zweiten Weltkrieg zu erringen. Einen Sieg, der darin besteht, die Ergebnisse zu verteidigen, die er für richtig hält. So kämpft er dort jetzt gerade: als Teilnehmer des Zweiten Weltkriegs. Das ist meine Vermutung. 

    Aber wenn ich diese Aufrüstung des Bewusstseins sehe, manchmal übrigens eine durchaus humanistische – zum Beispiel das Unsterbliche Regiment, die Armeekathedralen als Orte des Gedenkens: Das alles ist zweifellos ein Leben in der Vergangenheit. Es geht darum, den Sieg zu erringen, als hätte es diesen Sieg nie gegeben.

    Die Menschen, die Putin jetzt umgeben, bleiben die aus Angst bei ihm oder weil sie an das glauben, was er tut?

    Ich habe gestern [das Interview wurde am 7. März veröffentlicht – dek] mit ein paar Mitgliedern des Machtapparats gesprochen, und ich kann mich nicht erinnern, wann sie … – ich will sie nicht Elite nennen, ich nenne sie Machthaber, Entourage, aber sicher nicht Elite, nicht nach dieser berühmten Sitzung des Sicherheitsrates, nachdem wir gesehen haben, wie sie zittern, wie viele von ihnen breitbeinig zum Podium gegangen sind … Weißt du, warum? Wegen ihrer Pampers, Katja. Also, ich möchte sie nicht Elite nennen, aber ich möchte sagen, dass sie sich noch nie so einig waren. Noch nie waren sich die Leute, die an der Macht sind und die mit ihr betraut sind, so einig – ich rede jetzt nicht vom Business, das sind verwandte Dinge, aber doch nicht dasselbe … Sie sind sich absolut einig. Sie teilen Putins Weltbild zu hundert Prozent.

    Ich möchte sie nicht Elite nennen, aber ich möchte sagen, dass sie sich noch nie so einig waren

    Präsident Putin hat sein eigenes Weltbild. Dieses Weltbild ist fast so unerschütterlich wie die ägyptischen Pyramiden, wo zwischen den Steinblöcken keine Nadel Platz hat. Sein Weltbild ist absolut klar: Russland ist eine Festung. Es ist ein isolationistisches Land, unendlich reich an Bodenschätzen, ein Land, das niemanden braucht, das endlich begreifen muss, dass der Westen der Feind ist, dass die Welt der Feind ist … Das ist sein Weltbild, und es hat um sich gegriffen, es hat die ganze Elite infiziert …

    Jetzt haben Sie es doch gesagt!

    Aus reiner Gewohnheit, weißt du …

    Aber im politologischen Sinn ist das die Elite.

    Ich weiß nicht … – ich bin nicht bereit, sie Helden oder Elite zu nennen … Mitstreiter vielleicht. Eine Elite, das sind Leute, die bis aufs Blut und weiter für das Glück ihres Landes ackern.

    Das, was man Ehre und Heldenmut nennt.

    Genau, also können wir das nicht sagen. Sie teilen ein und dasselbe Weltbild. Es gibt da überhaupt keine Spaltung. Die ganzen Theorien, die man uns überall aufschwatzen wollte und von denen man immer noch sagt: dass es zu einem Machtwechsel durch die Spaltung der Eliten kommen wird … Da ist keine Spaltung.

    Aber Sie haben doch selbst gesagt: dass die Angst hatten, als sie vor dem Sicherheitsrat sprechen sollten.

    Die hatten Angst, das Falsche zu sagen, sie waren schließlich zu einer Prüfung angetreten, und nicht alle hatten den Text auswendig gelernt. Aber jetzt ist allen alles klar.

    Und alle teilen diese Ansichten?

    Ich kann nicht für jeden einzelnen sprechen, aber ich kann sagen, dass sie alles tun werden, was Putin ihnen befiehlt. Alles. Eine treuere Regierung hat es, glaube ich, noch nie gegeben.

    Ich kann nicht für jeden einzelnen sprechen, aber ich kann sagen, dass sie alles tun werden, was Putin ihnen befiehlt

    Wie hat das alles angefangen, und was hat überhaupt die Ukraine damit zu tun? Das hat doch nicht erst 2014 angefangen?

    Nein, das hat früher angefangen, wenn man bedenkt, wo Putin jetzt angekommen ist. Wenn du dich erinnerst: Russland hatte 2006 eine NATO-Vertretung in Brüssel, den NATO-Russland-Rat. Dort saßen diverse Vertreter, unter anderem übrigens Rogosin. Putin hatte damals ernsthaft vorgeschlagen, über einen Beitritt Russlands in die NATO nachzudenken, und war sehr erstaunt, als man ihm sagte, dass man dafür eine Art Probezeit braucht, Dokumente vorbereiten muss … Er war überzeugt, dass man so ein einmaliges Angebot [seitens Russland – dek] nicht ablehnen würde, aber man legte ihm Steine in den Weg. Und als er später vollkommen überzeugt war, dass man ihn betrügt – das heißt, dass der Westen Putin betrügt – da kam die Münchner Rede, in der 2007 absolut alles gesagt wurde, was wir jetzt und hier haben. Diese Rede wurde wohl kaum ernstgenommen. Nur von kleineren Regimes in Lateinamerika und in Kuba.

    Sie wurde angehört, und sie hatte einen zweiten, besänftigenden Teil, aber die großen Politiker, selbst die Leader der europäischen Welt haben das nicht ernstgenommen. Sie hielten das für Rhetorik. 

    Aber im nächsten Jahr kam dann der Georgienkrieg, und Präsident Bush sagte zu Wladimir Putin das eine und zu Michail Saakaschwili etwas anderes. Und die Geheimdienste sind dafür da, alles Gesagte zu vergleichen. Seither glaube ich, dass das einer der wichtigsten Wendepunkte war, denn Russland hatte immer von einem Bekenntnis zu westlichen Werten geredet, von der Diktatur des Gesetzes, davon, wie offen wir seien, wie global die Welt sei. Das alles hat genau in diesem Moment aufgehört: „Man kann ihnen nicht glauben, sie verstehen nur Gewalt, Worte verstehen sie nicht.“ Ich spreche das als inneren Monolog, so wie ich mir den inneren Monolog der kollektiven Staatsmacht vorstelle.

    Das heißt, die kollektive Staatsmacht fühlte sich vom Westen gekränkt?

    Sehr gekränkt, zutiefst gekränkt, bis zum Umfallen gekränkt. Und dann passierte noch etwas: Putin wurde plötzlich klar, dass die Leute, die ihm was von Werten erzählen, eigentlich Preise meinen. Sieh doch mal, Putin hat massenweise repräsentative mächtige Leute aus dem Westen, westliche Politiker in die Aufsichtsräte der russischen Staatsunternehmen eingekauft.

    Sie meinen die, die jetzt eiligst austreten …

    Jetzt treten sie eiligst aus, aber genau so eilig sind sie damals eingetreten – so eilig, dass sie fast auf ihrer Schleimspur ausgerutscht wären. Der französische Premier, der deutsche Kanzler, italienische Politiker … Sie nahmen brav Platz, bekamen ihre …

    … riesigen …

    Ich weiß es nicht von allen genau, ich habe nicht alle Zahlen im Kopf, aber es ging um ein paar Millionen Dollar im Jahr. Und er, Putin, lacht sich kaputt. Er sagt: „Und diese Leute wollen mir was von Werten erzählen? Ihr wollt alle nur Kohle.“ Und er ist davon vollkommen überzeugt. 

    Sie haben die Zukunft des Landes zerbrochen. Zack – haben sie genommen, und weg war sie

    Ich glaube, er ist überzeugt davon, dass er ihnen die Freundschaft angeboten hatte und zurückgewiesen wurde, und jetzt sollen sie bitte nicht beleidigt sein. Das ist eine normale Denkweise, ich bin selbst in einem solchen Hinterhof aufgewachsen, das ist so eine ganz normale Hinterhoflogik von Achtklässlern: Sei jetzt bitte nicht beleidigt. Das ist ein krasser psychischer Bruch, auch jetzt in diesem für unser Land absolut kritischen Krisenmoment. 

    Denn was ist in der Nacht auf den 24. Februar passiert? Sie haben die Zukunft des Landes zerbrochen. Zack – haben sie genommen, und weg war sie. Lang und ausführlich hat er seine Kränkungen aufgezählt.

    Und es gibt noch ein Detail, auch das kam in der Rede vor: Mit wem soll man denn bitteschön verhandeln, die wechseln doch ständig? Das sind jetzt meine Worte, aber im Großen und Ganzen – sieh mal: Seit Putin an der Macht ist, gab es verschiedene Kanzler in Deutschland, mehrere Präsidenten in den USA, fast ein halbes Dutzend Präsidenten und Premiers in Italien und Frankreich … Sie wechseln die ganze Zeit, und wirklich, so nach dem Motto: Mit wem soll er da reden außer mit Gandhi? Gerade gewöhnst du dich an jemanden, und schon ist seine Amtszeit vorbei. Das ist doch wahrlich nicht vernünftig, oder? Einfach unvernünftig! Und plötzlich steht Putin da als der erfahrenste Politiker der Welt. Er ist knapp über 22 Jahre an der Macht, denn schon als Premierminister standen ihm mächtige Hebel zur Verfügung. Keiner von den europäischen und nordamerikanischen Politikern ist je so lange an der Macht gewesen. Er kennt sie alle in- und auswendig, und er glaubt denen absolut nichts, keinem von denen.

    Das ist ein gekränktes Bewusstsein und die felsenfeste Überzeugung, im Recht zu sein

    Er denkt ganz bestimmt: „Warum kümmert es euch denn jetzt plötzlich, dass wir mit diesem Krie…, ach, wie heißt das … mit dieser militärischen Spezialoperation zur Wiederherstellung in der Ukraine sind. … Vorher hat doch angeblich niemand etwas gemerkt – dass sie Janukowitsch gestürzt haben, dass seit acht Jahren im Donbass [Krieg ist].“ Und auf die Frage, ob nicht wir Russen es waren, die zuerst im Donbass einmarschiert sind, kommt immer die Antwort: „Alles hat damit angefangen, dass der Westen die Krim nicht anerkannt hat, aber da hat doch das Volk abgestimmt …“ 

    Das ist ein gekränktes Bewusstsein und die felsenfeste Überzeugung, im Recht zu sein. Als die Überzeugung noch klein war, war es einfach eine Anhäufung von Kränkungen, aber als dann Iskander-, Bulawa- und Zirkon-Raketen ins Spiel kamen, wurde klar, dass man diese Kränkung durchaus anderen vorhalten kann.

    Was meinen Sie: War Putin bewusst, dass bisher noch niemand einen Krieg gewonnen hat gegen ein Land, das diesen Krieg als Vaterländischen Krieg sieht? Als Beispiel dient hier die Sowjetunion [im Zweiten Weltkriegdek] oder auch Russland im Napoleonischen Krieg.

    Mit dieser militärischen Wucht und Übermacht kann man das Land natürlich vorübergehend unterwerfen, es aufteilen … Einen westlichen Teil, der leben kann, wie er will, mit Lwiw als Hauptstadt, einen zentralen Teil, der natürlich unter russischer Schirmherrschaft stehen müsste, und dann würde man sehen, wer der wichtigste Präsidentschaftskandidat bei den nächsten Wahlen wäre, und schließlich die Ost-Ukraine, die natürlich russisch sein muss. So ungefähr war der Plan. Aber es hat sich herausgestellt, dass da ein Mann mit Eiern in der Hose ist – Selensky, was kaum jemand geglaubt hat. Seine Zustimmungswerte waren vorher nach unten gegangen, also dachten unsere Propagandisten, das ukrainische Volk würde die russische Armee mit Blumen empfangen.

    Aber jeder, der in den letzten Jahren auch nur einmal in der Ukraine gewesen ist, hätte doch sagen können, dass das nicht stimmt. Hat man Putin angelogen?

    Das kann ich dir erklären. Das ist keine Lüge, das ist viel besser. Schau mal, unsere Regierung bestellt für ihren Boss Propaganda fürs Volk. Sie schaut zu, wie das Fernsehen die Aufgabe erledigt und beginnt allmählich selbst, das zu glauben, was sie in Auftrag gegeben hat, es ist ja im Fernsehen zu sehen. In der Psychologie nennt man das Selbstinduktion. Das ist einer der schwerwiegendsten Gründe: Sie haben sich an ihrer eigenen Propaganda überfressen, sie sind so voll davon, dass sie jetzt kotzen müssen. Sie glauben jetzt tatsächlich an das, was sie sich selbst ausgedacht haben.

    Sie haben Echo Moskwy abgeschaltet, sie haben alle jungen und hoffnungsfrohen freien Medien mit diesem „Ausländische Agenten“-Gesetz ruiniert. Es gibt einen riesigen Exodus an Journalisten, Profis, Analytikern, Programmierern, Fachleuten für die Erforschung von Big Data in Russland. Einen gigantischen Exodus. Gigantisch. Du wirst bald sehen, wovon ich rede. Das sind dann meine persönlichen Verluste. So degradiert man ein ganzes Volk.

    Sie haben sich an ihrer eigenen Propaganda überfressen, sie sind so voll davon, dass sie jetzt kotzen müssen

    Sie haben ziemlich viele Kriege mit eigenen Augen gesehen. Von dem, was Sie jetzt beobachten – die Soldaten der russischen Armee, die russische Militärtechnik, die Soldaten der ukrainischen Armee, die ukrainische Militärtechnik –, können Sie sich da ein Bild vom Zustand der beiden Armeen machen?  

    Muratow: Damals in Karabach habe ich gesehen, wie das Donezker Einsatzregiment des seinerzeit noch sowjetischen Innenministeriums mit alten Panzern versuchte, die Berge hochzukriechen. Der Anblick war nicht so überzeugend.

    In Afghanistan sah ich eine Armee, die zwar schon viel besser aufgestellt war, die aber nicht wusste, wofür sie kämpfte. Die kämpften dort nur für ihre Kameraden, nicht um irgendeine internationale Pflicht zu erfüllen, da hatte keiner einen Plan. Der Krieg lief hauptsächlich unter dem Motto: „Wir rächen unseren gefallenen Freund.“ Was wir dort überhaupt zu suchen hatten, diese Frage wurde gar nicht gestellt. 

    Der Tschetschenienkrieg hat Schreckliches gezeigt …        

    Der erste?

    Ja. Lauter Grundwehrdienstler, die wurden beeidigt und los ging's. Die hatten nicht einmal alle das halbe Jahr Grundausbildung. 

    Ich bekomme jetzt viele Meldungen rein, dass die Armee nicht versteht, wieso sie gegen die Ukraine kämpfen soll. Aber Befehl ist Befehl

    Die heutige Armee ist anders. Es gibt eigentlich zwei Armeen: die traditionelle russische und die Armee von Kadyrow. Kadyrows Armee ist auf Kampf gedrillt, die kämpfen gern, das ist ihr Lebensinhalt. Sie sind gut ausgerüstet, tragen die modernsten Kampfanzüge, die allerneuesten Ratniki. Sie haben im Tschetschenienkrieg viele, wie sie es nennen, Schaitany gefangen und den Umgang mit Waffen von Kindesbeinen an gelernt. Im Grunde versteht Kadyrow sein Land nicht als kleine subventionierte Region Russlands, sondern als Armee, deren Oberbefehlshaber er ist. Daher werden beim Signal des Kriegshorns „Putins Fußsoldaten“ tatsächlich zur Infanterie. Sie haben ein Motiv, nämlich, zu kämpfen.

    Die traditionelle Armee hingegen hat kein Motiv. Ich bekomme jetzt viele Meldungen rein, dass die Armee nicht versteht, wieso sie gegen die Ukraine kämpfen soll. Aber Befehl ist Befehl. Das ist alles ziemlich streng hierarchisch strukturiert, wie üblich beim Militär. Und die Angst vor der Strafe des Tribunals, die Angst, dass der Kommandant unzufrieden ist, die treibt die Soldaten an, immer weiter. Aber das Motiv „die Heimat verteidigen“, das fehlt.

    Halten Sie alles, was da passiert, gewissermaßen für ein Versagen Ihrer Strategie? Denn Sie waren doch einer, der in ganz schweren Zeiten versucht hat, zwischen den beiden Seiten zu vermitteln. Sie konnten sowohl mit denjenigen reden, die auf Demonstrationen wollten, als auch mit denen, die für deren Genehmigung zuständig waren. Sie haben sich gekümmert, haben Leuten geholfen und so weiter. Denken Sie, dass diese Kompromisse dazu beigetragen haben, dass alles innerhalb einer Sekunde in sich zusammengestürzt ist?

    Muratow: Ich habe keine Zeit für Social Media, dadurch habe ich viel Scheiße gar nicht mitgekriegt. Nur davon gehört. Gleichzeitig habe ich keinen einzigen Vorwurf gegen unsere Zeitung gehört. Mir wurden Vorwürfe gemacht, aber nicht der Zeitung. Zum Glück, war es nicht umgekehrt. 

    Was heißt überhaupt sich einigen oder zuhören? Eigentlich ist das meine Arbeit, ich habe ein zweites Signalsystem, also: reden, zuhören, reden, zuhören. Man muss sich die Argumente anhören, und man muss auf jeden Fall den Mund aufmachen, wenn man die Möglichkeit hat, etwas zu bewirken. Klar, man muss hinfahren und reden, um die Demonstranten freizubekommen. Aber ich glaube, diese Möglichkeit habe ich jetzt gar nicht mehr.   

    Offiziellen Umfragen zufolge unterstützt die Mehrheit der Russen die Militäroperation …
    Muratow: Können Sie das wiederholen? Welchen Umfragen zufolge?
    Offiziellen.
    Muratow: Die wer durchführt?
    Das WZIOM.
    Muratow: Ist das WZIOM ein staatliches Institut?
    Ja.
    Muratow: Dann macht also der Staat mithilfe eines staatlichen Dienstes eine Umfrage für sich selbst, um seine eigene Position zu untermauern.

    Sogar wenn wir das Ergebnis halbieren, sind es immer noch viele.

    Muratow: Okay, einverstanden, aber sogar das WZIOM, kommt zu dem Ergebnis, dass ein Drittel dagegen ist. Also sogar laut staatlicher Umfrage sind ein Drittel dagegen. Das sind, an der Gesamtbevölkerung bemessen, 50 Millionen. Ein Drittel. Immerhin ein Drittel. Ein Drittel! Das sind enorm viele!

    Sogar wenn wir davon ausgehen, dass sie lügen, können wir uns immer noch vorstellen, dass der Teil, der dafür ist, und der Teil, der dagegen ist, egal wie groß, aber ungefähr gleich groß sind. Normalerweise führt das dazu, dass Sofakonflikte zu handfesten Auseinandersetzungen werden. Wie schätzen Sie diese Perspektive ein?     

    Muratow: Das würde ich gern anders beantworten. Es gab im Januar eine Umfrage von Lewada. Das sind telefonische Umfragen, Feldforschung. Es ist ja klar, dass die Leute Angst haben, wenn man sie fragt: „Sind Sie für die militärische Spezialoperation des Präsidenten zur Wiederherstellung der Ordnung?“ Man hat die Telefonnummern der befragten Personen, weiß also auch, wo sie wohnen. Was sollen sie da schon sagen? Ja, sagen sie, ich bin dafür. Die haben doch Schiss, verdammt.  

    Stehen wir im Land am Rand einer großen Bürgerkonfrontation, die katastrophale Folgen haben wird? 

    Muratow: Ich denke nicht über einen Bürgerkrieg in Russland nach. Worüber ich ernsthaft nachdenke, ist die Frage, was diese verschiedenen Teile der Bevölkerung zusammenbringen kann. Total überzeugt bin ich von: Waffenstillstand … 

    Glauben Sie?  

    Muratow: Waffenstillstand, Verhandlungen, humanitäre Korridore, humanitäre Hilfe, Austausch von Kriegsgefangenen und Rückholung der Gefallenen, auf beiden Seiten. Darüber hinaus wird man sich auf nichts einigen können. Auf gar nichts. Worauf soll man sich denn jetzt noch einigen?  

    Waffenstillstand, Verhandlungen, humanitäre Korridore, humanitäre Hilfe, Austausch von Kriegsgefangenen und Rückholung der Gefallenen, auf beiden Seiten. Darüber hinaus wird man sich auf nichts einigen können

    Unsere Korrespondentin Nadja Andrejewa ist jetzt in Saratow … Sie hat von einer irren Geschichte berichtet, ich werde den Namen des jungen Mannes nicht nennen … Am 24. wurde er getötet, die Nachricht über seinen Tod kam an seinem Geburtstag, am 25. Februar, wenn ich nicht irre. Die Familie ließ ein Grab ausheben und mit einer Plane abdecken, langsam stellte sich die Frage, wann denn die Leiche käme. Aber die war verlorengegangen. Und noch immer wartet dieses abgedeckte leere Grab in der Stadt Saratow [diesen Artikel, wie auch einige weitere, hat die Novaya Gazeta inzwischen gelöscht aufgrund der zensierenden Gesetzgebung, die eine Berichterstattung nur gemäß „offizieller Quellen“ erlaubt, bei „Falschinformation“ drohen bis zu 15 Jahre Haft – dek]. Deswegen braucht es einen Austausch der Gefallenen, humanitäre Korridore und Waffenstillstand. 

    Gut, aber halten Sie das für möglich?

    Muratow: Nun, ich denke, nachdem nichts anderes möglich ist – niemand wird die Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk zurücknehmen, niemand wird die Krim zurückgeben –, bleibt nur die Möglichkeit, nicht noch mehr Menschen zu opfern. Der Krieg wird so oder so zu Ende gehen, die Frage ist nur, wie hoch die Verluste sein werden.   

    Glauben Sie daran, dass unsere Kinder oder wenigstens unsere Enkelkinder mit ihren ukrainischen Altersgenossen ohne Hass oder Schuldgefühle werden reden können?

    Muratow: In unserer Generation wird das nicht mehr möglich sein. In der Generation, die jetzt 20 oder 21 ist, geht das vielleicht noch, da herrscht eine andere Empathie. Die meisten jungen Leute sind kategorische Kriegsgegner, und die meisten von ihnen haben plötzlich innerhalb von zwei, drei Tagen kapiert, dass das das letzte iPhone war, dass der letzte Flug weg ist und sie die Länder, von denen sie geträumt und gelesen haben, nie zu Gesicht kriegen werden. 

    Das ist kein Scheißdreck, weil die Menschen geträumt haben, dass ihnen in der Zukunft die Welt offensteht und dass auch Russland weltoffen ist

    Aber das ist doch ein Scheißdreck im Vergleich zu den vielen Toten in der Ukraine … 

    Muratow: Nein, das ist kein Scheißdreck, weil die Menschen von einer Zukunft geträumt haben, sie haben davon geträumt, dass man Russland in dieser Zukunft lieben würde, dass ihnen die Welt offensteht, dass auch Russland weltoffen ist, dass die Grenzen immer mehr verschwinden und nur mehr zu Ordnungszwecken und für den Zoll bestehen. Sie haben ganz bestimmt davon geträumt, würdige und gleichberechtigte Weltbürger zu sein, dass massenhaft Touristen kommen würden. Von einer Atmosphäre zwischen Russland und dem Rest der Welt wie zur Zeit der Fußball-WM, oder noch besser wie 2014 in Sotschi, vor der Annexion der Krim – davon hat diese junge Generation geträumt. Sie wollten eine schöne Welt, und keine, in der sie losrennen müssen, um für ihre Großmütter schnell noch die letzten Medikamente aufzukaufen.

    Schämen Sie sich dafür, dass wir das nicht geschafft haben?

    Muratow: Nein. Es tut mir nur unfassbar leid. Aber Scham fühle ich nicht. Ich schäme mich sicher nicht für das, was ich 30 Jahre lang gemacht habe. Es schmerzt mich, dass Anna [Politkowskaja] nicht mehr da ist, genauso wie [die Kollegen – dek] Jura [Schtschekotschichin], Igor [Domnikow] und Stass [Markelow], dass Nastja [Baburowa] und Natascha [Estemirowa] tot sind und dass der Krieg im Donbass Nugsar Mikeladse kaputtgemacht und letztlich umgebracht hat. Dafür verspüre ich Verantwortung und Schuld. Aber nicht für das, was wir tun.      

    Aber es ist uns nicht gelungen … 

    Muratow: Schau, manches ist doch gelungen, ein paar Jahre lang lief es gut, da ist uns doch was gelungen. Aber wie es ausgeht, in meinem Leben zum Beispiel … Das steht alles schon bei Jewgeni Schwarz, den ich sehr schätze: „Alles war gut, alles endet traurig.“ Leider kann ich dir, solange dort die Bomben fallen, nichts Aufbauendes sagen. 

    Aber ich finde andererseits auch, dass sich jetzt Gut und Böse sehr deutlich offenbart haben. Das sieht man sogar daran, wer in der UNO Russland unterstützt hat und wer nicht. Zwei, drei Diktatoren sind noch auf unserer Seite, aber der Rest der Welt, in dem die Menschen glücklicher leben als in Nordkorea, sieht das anders. Und das ist auch sehr viel wert. Ich hoffe sehr darauf, dass wir einen Waffenstillstand erreichen. Das ist alles. Mein Wunsch ist nicht groß, aber schwer erfüllbar.  

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