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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Wörterbuch der wilden 1990er

    Wörterbuch der wilden 1990er

    Lederjacken, Gangs, Sexi-Pepsi, leichte Mädels, Omis, Händler, Sauferei – alles, was heute über die 1990er gerappt wird, begann vor 25 Jahren, genauer: nach dem Erlass über den freien Handel. Er trat im Januar 1992 in Kraft, aber der Handel blühte erst auf, als es wärmer wurde – im Sommer. Sekret Firmy wirft einen Blick zurück in die Zeit.

    Straßenhandel

    Der Handel trieb überall wilde Blüten – monatelang ohne Lohn, wurden die Menschen zu Gewerbetreibenden / Foto © Brian Kelley/flickr.com, 1992
    Der Handel trieb überall wilde Blüten – monatelang ohne Lohn, wurden die Menschen zu Gewerbetreibenden / Foto © Brian Kelley/flickr.com, 1992

    Am 29. Januar 1992 trat der Erlass des Präsidenten Boris Jelzin Über die Freiheit des Handels in Kraft. Er erlaubte sowohl Unternehmern als auch einfachen Bürgern Handel zu treiben, wo es ihnen beliebte: frei Hand, vom Verkaufstisch oder aus dem Fahrzeug heraus, ohne zusätzliche Genehmigung.

    Vor dem Hintergrund, dass zu diesem Zeitpunkt (laut Angaben von Rosstat) bereits über 40.000 Unternehmen die Löhne monatelang nicht auszahlten, wurden Millionen Menschen im ganzen Land zu Gewerbetreibenden. Der Handel spross allüberall wild empor: auf Plätzen und Boulevards, entlang den Straßen, an Haltestellen, in Straßenunterführungen, in Krankenhäusern und Schulen, in Stadien und vor Geschäften.

    Viele Menschen überwanden ihren Stolz und trieben Handel. Zum Mai hin, als die Temperatur auf 10 °C anstieg, tauchten die ersten regulären Märkte auf. Die größten befanden sich anfangs vor den Kaufhäusern GUM und Detski Mir.


    Markt

    „Für den anderthalb-Mann-hohen Marktstand in Lusha benutzten wir damals das Modewort ‚Jammer‘. So hieß auch die beliebteste Damen-Lederjacke.“ / Foto © altyn41/livejournal, 1996
    „Für den anderthalb-Mann-hohen Marktstand in Lusha benutzten wir damals das Modewort ‚Jammer‘. So hieß auch die beliebteste Damen-Lederjacke.“ / Foto © altyn41/livejournal, 1996

    Im Frühjahr 1992 beschloss die Moskauer Stadtregierung den Sportkomplex Lushniki zu privatisieren, um hier einen Markt aufzubauen. Nach Aussage des Stadionleiters Wladimir Aljoschin, stammte diese Idee von Bürgermeister Juri Lushkow.

    Lushniki, im Volksmund Lusha (dt. Pfütze) genannt, entwickelte sich zum größten Einzelhandelsmarkt Russlands. 2002 versuchte man ihn in Brand zu stecken, 2006 kam es zu Anschuldigungen, dass hier mit Fälschungen gehandelt würde, doch offiziell geschlossen wurde er erst im Jahre 2011. Der Tscherkisowoer Markt, oder kurz Tscherkison genannt, wurde zur gleichen Zeit eröffnet, ebenfalls im Jahr 1992, und existierte bis 2009.


    Rentner

    Mit dem Verkauf von Hab und Gut die kärgliche Rente aufstocken – für viele Alltag / Foto © Brian Kelley/flickr.com, 1992
    Mit dem Verkauf von Hab und Gut die kärgliche Rente aufstocken – für viele Alltag / Foto © Brian Kelley/flickr.com, 1992

    Im Mai 1992 wird das Rentengesetz der UdSSR außer Kraft gesetzt, es gelten nun neue Bestimmungen. Laut denen werden die Renten gekürzt (Rentengesetz 90, wie es in den Medien genannt wurde). Für 35 Millionen Rentner wurde der reale Rentensatz um die Hälfte gesenkt, die Renten vieler lagen nun unter dem Existenzminimum. Im Sommer 1992 waren der Großteil der Verkäufer auf den Straßen der Städte Babuschkas.


    Schlangen

    Schlange vor einer Bäckerei, nach Schwarzbrot und Weißbrot / Foto © altyn41/livejournal, 1992
    Schlange vor einer Bäckerei, nach Schwarzbrot und Weißbrot / Foto © altyn41/livejournal, 1992

    Es gab private und staatliche Läden. Während erstere vorwiegend mit Importwaren handelten, vertrieben letztere heimische Produkte für den täglichen Bedarf und zogen gigantische Schlangen an.

    „Für Besucher von auswärts war einkaufen in Moskau ein Ritual“, erinnert sich die Rentnerin Jengelina Tarejewa. „Im Sommer 1992 war im GUM noch mehr los als gewöhnlich. Die Menschen aus den Sowjet-Republiken versuchten ihre sowjetischen Rubel loszuwerden, keiner wusste, wie lange man damit in der Heimat noch würde bezahlen können.

    Auch die Russen erwarteten eine Abwertung des Geldes. Ich wusste nicht, was ich kaufen sollte. Ich machte mir ähnliche Sorgen wie zu Kriegszeiten – und im Krieg habe ich am meisten darunter gelitten, dass es keine Seife gab, vier Jahre lang haben wir keine zu Gesicht bekommen. Deswegen habe ich täglich einige Stücke Seife gekauft. Weil ich drei Monate lang täglich ins GUM ging, waschen wir uns heute immer noch mit Seife von 1992.“


    Alkohol

    Zum Bier ein Trockenfisch, ein echtes Muss – genau wie Kaviar (links auf dem Verkaufstisch) zu Wodka / Foto © Eddi Opp/Kommersant, 1992
    Zum Bier ein Trockenfisch, ein echtes Muss – genau wie Kaviar (links auf dem Verkaufstisch) zu Wodka / Foto © Eddi Opp/Kommersant, 1992

    Im Juni 1992 unterschrieb Jelzin einen Erlass über die Aufhebung des staatlichen Monopols auf den Vertrieb und Handel mit Spirituosen. Wodka wurde überall und rund um die Uhr zugänglich, er wurde sogar im Fernsehen beworben.

    Die staatlichen Standards [GOST Gossudarstwenny Standard], nach denen Alkohol früher hergestellt worden war, wurden nicht mehr eingehalten – durch das Land floss billiger Sprit (der bekannteste davon war Royal). Alkohol wurde zur wichtigsten Importware, der Absatz stieg im Jahr 1992 um das Dreißigfache (nach Angaben Rosstats). Wurden im Jahr 1990 in Russland 5,4 Liter Alkohol pro Person getrunken, so hatte sich diese Zahl bis 1995 verdoppelt. Proportional dazu schoß auch die Zahl der Sterbefälle in die Höhe.


    Preissteigerungen

    Schocktherapie – die Inflationsrate stieg auf 2600 Prozent / Foto © Eddi Opp/Kommersant, 1992
    Schocktherapie – die Inflationsrate stieg auf 2600 Prozent / Foto © Eddi Opp/Kommersant, 1992

    Vor den Gaidarschen Reformen hatten alle Waren feste Preise, die Nachfrage überstieg das Angebot. Im Januar 1992 trat die Anordnung über die Liberalisierung der Preise in Kraft. Zum Ende des Jahres belief sich die Inflationsrate auf 2600 Prozent, die Preise der meisten Waren waren um einige hundert Mal gestiegen. Diese Periode ging unter dem Namen Schock-Therapie in die Geschichte ein.

    Erst im Jahre 1998 fiel die Inflation wieder auf zweistellige Zahlen (83 Prozent betrug sie in diesem Jahr). 1992 lebte mehr als die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Dafür ergoss sich zum Sommer hin ein Strom von Waren auf den Markt. Die Epoche des chronischen Warendefizits ging zu Ende.


    Prostituierte

    Prostituierte waren oft besser gekleidet als Angehörige der Nomenklatura / Foto © Kommersant Archiv, 1990er
    Prostituierte waren oft besser gekleidet als Angehörige der Nomenklatura / Foto © Kommersant Archiv, 1990er

    1980 wurde für ausländische Touristen das Hotel Meshdunarodnaja [dt. Hotel International dek] eröffnet. Dort arbeiteten junge Frauen, die Huren oder Edelprostituierte genannt wurden. Einen Paragraphen zur Prostitution gab es im Strafgesetzbuch der Sowjetunion nicht, deswegen belangte man sie wegen Rowdytum, Alkoholmissbrauch und Lärmbelästigung. Ihnen drohten nicht mehr als 15 Tage Haft.

    Die Sex-Arbeiterinnen der 1990er waren besser gekleidet als die Ehefrauen der sowjetischen Nomenklatura. Viele von ihnen hatten Stammkunden, die manche später auch heirateten. Das Schicksal einer solchen jungen Frau wird in dem Film Interdewotschka (dt. Intergirl) beschrieben. Laut Studien der Akademie des Innenministeriums ergaben Befragungen russischer Schülerinnen, dass der Berufszweig der Edel-Prostituierten 1988 in die Top Zehn der begehrtesten Berufe einging. 1992 begann man auf der Straße Zeitschriften mit den Telefonnummern von Sexarbeiterinnen zu verkaufen. Diejenigen, die nicht die ganze Zeitschrift kaufen wollten, konnten sich für fünf Rubel die Bilder anschauen.


    Straßenkinder

    Straßenkinder in St. Petersburg / Foto © Screenshot aus „Die Kinder von St. Petersburg“/ Spiegel TV, 1991
    Straßenkinder in St. Petersburg / Foto © Screenshot aus „Die Kinder von St. Petersburg“/ Spiegel TV, 1991

    Der sprunghafte Anstieg von Alkoholismus und Armut führte zum Auftauchen von obdachlosen Kindern auf den Straßen, was man seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gesehen hatte. Sie versammelten sich in der Gegend um den Kurski Woksal, viele schnüffelten Kleber der Marke Moment. 1992 tauchten erstmals Menschen in Armeeuniformen auf, die um Almosen bettelten. Erst Mitte der 2000еr gelang es der Moskauer Regierung Probleme wie Bettelei und Kinderprostitution in den Griff zu bekommen.


    Währung

    Ansturm auf die Wechselstuben – seit Juni 1992 können auch Privatpersonen Devisengeschäfte machen / Foto © altyn41/livejournal, 1991
    Ansturm auf die Wechselstuben – seit Juni 1992 können auch Privatpersonen Devisengeschäfte machen / Foto © altyn41/livejournal, 1991

    Zu Sowjetzeiten wurde der Umtauschkurs des Dollars durch den Staat festgelegt: Er war überaus schlecht, Privatpersonen konnten keine Devisengeschäfte machen. Diese Regelung wurde im Juli 1992 aufgehoben. Im ganzen Land schossen die Wechselstuben aus dem Boden. In der ersten Zeit waren sie in Kleinbussen stationiert. Als Wachleute arbeiteten zumeist Milizionäre.


    Gangster

    Das organisierte Verbrechen brachte mehr als ein Viertel der russischen Wirtschaft unter seine Kontrolle / Foto © Filmstill aus „Brat“/Mosfilm
    Das organisierte Verbrechen brachte mehr als ein Viertel der russischen Wirtschaft unter seine Kontrolle / Foto © Filmstill aus „Brat“/Mosfilm

    In der Armee gab es für die Soldaten nichts mehr zu essen, humanitäre Hilfe wurde ihnen von den ehemaligen Feinden bereitgestellt – den Amerikanern. Profisportler und Soldaten verloren jegliches Vertrauen in die Zukunft. Mit heller Freude wurden sie von organisierten, kriminellen Banden in ihre Reihen aufgenommen.

    Die Anzahl krimineller Vereinigungen in Russland stieg von 80 im Jahre 1988 auf 6000 im Jahre 1992 an. Kampfübungen von Gangs und Banden wurden teilweise direkt auf militärischen Truppenübungsplätzen durchgeführt. Und als Trainer arbeiteten Menschen, deren ehemalige Schützlinge in internationalen Wettkämpfen Goldmedaillen für die Sowjetunion gewonnen hatten. Bis heute nennt man muskulöse, kräftige Jungs in Verbrecherkreisen „Sportsmänner“. Das organisierte Verbrechen brachte mehr als ein Viertel der russischen Wirtschaft unter seine Kontrolle.


    Privatisierung

    Herrenanzug oder drei bis vier Flaschen Wodka – der Wertverfall der Voucher war enorm / Foto © altyn41/livejournal, 1992
    Herrenanzug oder drei bis vier Flaschen Wodka – der Wertverfall der Voucher war enorm / Foto © altyn41/livejournal, 1992

    Im August 1992 erging eine Anordnung über Privatisierungscoupons. Wenn bis dahin alles Eigentum dem Staat gehört hatte, konnten es nun die Bürger erlangen. Die Menschen erhielten massenweise Voucher. Aber die meisten verkauften sie sofort. Deswegen fiel ihr Wert unter den Nennbetrag, die größten Betriebe wurden zu Spottpreisen verkauft.

    Wenn man bis zum Herbst 1992 durch den Verkauf eines Vouchers einen Herrenanzug mittlerer Preisklasse erwerben konnte, glich sein Marktwert gegen Ende des Jahres 1993 dem von drei bis vier Flaschen Wodka.

    Jene, die bereit waren, etwas zu riskieren, stückelten sich durch das Kaufen und Weiterverkaufen ganzer Bündel von Vouchern ihr erstes Vermögen zusammen.


    Pepsi

    Generation P – eine ganze Generation trank Pepsi / Foto © altyn41/livejournal, 1991
    Generation P – eine ganze Generation trank Pepsi / Foto © altyn41/livejournal, 1991

    Die wohl auffälligste Ware auf den Straßen des sommerlichen Moskau im Jahr 1992 war Pepsi. Schon 1974 war ein Abfüllwerk von Pepsi-Cola in Betrieb genommen worden. 1990 schloss die Firma einen Vertrag mit der Führung der Sowjetunion über den Bau von 26 weiteren Fabriken ab.

    Im selben Jahr 1992 beschließt auch Coca-Cola ein Werk in der Sowjetunion zu errichten. Es wird jedoch erst im Jahre 1994 in Betrieb genommen. Deswegen nennt der Schriftsteller Viktor Pelewin die Jugend dieser Epoche denn auch Generation P und nicht „Generation C“.


    Türkische Jacken und Lammfellmäntel

    Schwarze Ledejacken waren der letzte Schrei / Foto © Filmstill aus „Brat“/Mosfilm
    Schwarze Ledejacken waren der letzte Schrei / Foto © Filmstill aus „Brat“/Mosfilm

    Der Traum des Durchschnittsbürgers zu Beginn der 1990er war eine schwarze Lederjacke oder ein Lammfellmantel. Sie wurden von fliegenden Händlern aus der Türkei angeliefert. 1992 war das modisch der letzte Schrei.

    „In den Handel kam mein Freund Anton über Bekannte, von denen einer Glyba (dt. Brocken) genannt wurde: Mit Nachnamen hieß er Glybin“, erinnert sich der Journalist Juri Lwow. „Glyba gelang es, durch’s Verkaufen Geld für einen alten Volvo-Pickup zusammenzukratzen. Mit dem fuhr er Ware an, die wir bei Tagesanbruch auf einer metallischen Konstruktion aushängten. Das war auf dem Lushniki-Markt. Den anderthalb-Mann-hohen Stand bezeichneten wir mit unserem damaligen Modewort Beda (dt. Jammer). So hieß auch die beliebteste Damen-Lederjacke. Die und das kürzere Modell mit dem Code-Namen Halb-Jammer trug halb Moskau.“

    Text: Xenia Leonowa
    Übersetzung: Peregrina Walter

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  • Wandel und Handel

    Wandel und Handel

    Quasi über Nacht brachen während der Perestroika alle bisherigen Werte und Normen zusammen. Und was dann kam in den 1990er Jahren an politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüchen, das ging ins russische kollektive Gedächtnis ein unter dem Schlagwort lichije 90-e (dt. „Wilde 1990er“).

    Plötzlich war alles anders: So gab es etwa in Russland vor 25 Jahren ein neues Gesetz über „Unternehmen und unternehmerische Tätigkeit“ und damit für die Russen überhaupt erstmals seit der Zarenzeit die Möglichkeit, private Unternehmen zu führen. Und weil kaum einer noch etwas hatte, von Lohn und Arbeit ganz zu schweigen, wurden Millionen zu Managern ihres eigenen Bisnes. Einige von ihnen verdienten im Lauf der Jahre Millionen, andere scheiterten an den kriminellen Methoden und der Korruption, die ständig zunahm.

    Olga Beschlej beschreibt auf dem Online-Wirtschaftsmagazin Sekret Firmy die notgeborenen Aufbruchsjahre der 1990er in ihrer Familie: mit Hühnern auf dem Balkon, Weckern mit Jelzin-Ziffernblatt und den typischen rot-weiß-blau-karierten Plastiktaschen, in denen alles transportiert wurde.

    Die typisch rot-weiß-blau-karierten Taschen – mit ihnen drangen Gerüche in den Korridor, nach Frost, Markt, Waschpulver / Foto © Kommersant, 1996
    Die typisch rot-weiß-blau-karierten Taschen – mit ihnen drangen Gerüche in den Korridor, nach Frost, Markt, Waschpulver / Foto © Kommersant, 1996

    In einem Roman von William Faulkner, dem Lieblingsschriftsteller meines Vaters, gab es einen Protagonisten, der Nähmaschinen verkaufte. Er nähte sich auch Jeanshemden, wusch sie selbst und trug nie etwas anderes.

    Die Handlung des Buches habe ich schon so gut wie vergessen, doch diese Figur ist mir aus zwei Gründen im Gedächtnis geblieben: Erstens, weil er Wladimir Kirillytsch Ratlif hieß. Zweitens, weil ich beim Lesen immer meinen Vater im Kopf hatte. Der trug auch immer Jeanshemden, die ebenfalls vom Waschen ausgeblichen waren. Aber Nähmaschinen – das ist wohl das Einzige, was er, soweit ich mich erinnere, nie verkauft hat.     

    Ich erinnere mich nur dunkel an die Zeit, als mein Vater als Ingenieur am physikalisch-energetischen Institut arbeitete. An eine Szene, wo Papa im Jackett im Korridor steht. Meine Mama trägt mich auf dem Arm, wir verabschieden uns, bevor er zur Arbeit geht. Es ist sehr früh, vor dem Fenster ist es noch stockfinster. In unserem Korridor liegt ein gefrorenes totes Schwein.

    Ein tiefgefrorenes totes Schwein im Korridor

    Jetzt ist mir klar, dass dieses Fleisch ein großer Segen war, weil mein Vater damals fast nie sein Gehalt bekam. Das war so ungefähr 1992. Um irgendwie zurechtzukommen, hatte mein Vater eine Baubrigade organisiert, mit der er in den umliegenden Dörfern Ställe und Schuppen baute. Am Institut, wo damals alle arm waren, schätzte man seinen Unternehmergeist nicht und legte ihm die Kündigung nahe.

    Meine Mutter arbeitete an einem anderen Institut – für Wissenschaft und Forschung. Sie nahm mich sogar ein paarmal mit auf die Arbeit, und ich sah dort einen Computer mit blauem Bildschirm hinter einer bauchigen Scheibe. Ich durfte die Leertaste drücken. Ich drückte, und über den Bildschirm liefen Ziffern. Das fand ich total langweilig, und ich bemitleidete meine Mama, die, wie ich dachte, tagelang die Leertaste drücken musste. Ihr Gehalt wurde immer mit Verzögerung ausgezahlt und dann gar nicht mehr.

    1993 wurde meinen Eltern gekündigt und sie fingen im Handel an. Sie waren ungefähr 35 oder 36. An der Hand zwei Kinder – meinen großen Bruder, der schon zur Schule ging, und mich. Wir wohnten in einer Kleinstadt im Gebiet Kaluga, 100 Kilometer von Moskau entfernt. Meine Eltern leben auch jetzt noch dort.

    1993 fingen meine Eltern im Handel an

    Neben unserem heißgeliebten Wohnort lag eine Versorgungsbasis für Lebensmittel. In der Sowjetzeit waren dort Lebensmittel hingebracht worden, die dann an die Läden in der Region ausgeliefert wurden.

    In den 1990ern wurden diese Basen zu wichtigen Handelsknotenpunkten: Hierhin wurden Waren aus Großstädten und dem Ausland transportiert, und Kaufleute und Tschelnoki (Kleinhändler, auch Meschotschniki genannt) sortierten sie „zum Vertrieb“.

    In Moskau bildeten sich solche Handelszentren, den Erzählungen meiner Eltern zufolge, oft in leerstehenden Kinos. Auf diese Basen brachten Chinesen, Koreaner und Vietnamesen allerlei Konsumgüter, für die man aus ganz Russland in die Hauptstadt strömte.

    Die Geschichte, wie meine Mutter zu ihrer ersten Ware kam, habe ich viele Male gehört, und noch immer finde ich sie unglaublich.

    Sie fuhr zu der Handelsbasis in der Nähe unserer Stadt, bemerkte irgendeinen Kerl, der polnische Säfte und Limonaden aus dem Auto auslud, ging zu ihm hin und bat ihn einfach um Waren „zum Vertrieb“. Geld hatte sie keines. Gar keines. Der Mann sah sie an, kratzte sich am Hinterkopf, dann rief er dem Fahrer zu: „Lad dieser Frau ab, soviel sie braucht.“

    Er und meine Mutter unterschrieben einen Warenschein. Auf diesem Papier, das man in zweifacher Ausfertigung unterschrieb, stand, wie viel Ware zu welchem Preis einer konkreten Person ausgehändigt worden war. Nach Ausweispapieren fragte bei der Erstellung des Warenscheins niemand. Tag und Ort, an dem meine Mutter das Geld für die Ware übergeben sollte, wurden mündlich vereinbart. Sie mietete vor Ort ein Auto (auf Kosten ihres zukünftigen Gewinns), lud die Kisten mit den Flaschen ein und verkaufte auf der Bahnüberführung noch am selben Tag alles. Gegen Abend lieferte sie das Geld ab und bekam die nächste Charge.

    Später übernahm meine Mutter von anderen Leuten genau auf dieselbe Art – ohne Geld und mündlich vereinbart –  „zum Vertrieb“ tiefgefrorenen Fisch und Hühnerkeulen.  

    „Na, überleg mal“,  erklärte mir meine Mutter, „wenn ich ihm diese Ware gestohlen hätte, hätte mir nächstes Mal niemand mehr was gegeben. Klar gab es auch welche, die klauten. Mir hat man später auch was geklaut. Aber ein zweites Mal wär‘ das nicht durchgegangen.“

    Geld fiel vom Himmel und genauso rätselhaft verschwand es wieder

    Bei meinem Vater lief es ganz gut mit seiner Baubrigade, bis er beschloss zu expandieren und dafür bei einer Bank einen Kredit aufnahm – zu 300 Prozent Jahreszinsen, was, nebenbei bemerkt, nur halb so schlimm war. Geld fiel damals buchstäblich vom Himmel und genauso rätselhaft verschwand es wieder, weswegen im Gewerbe die Idee vom plötzlichen Reichtum blühte.

    Ein Geschäftspartner überredete meinen Vater, den ganzen Kredit in einen Container amerikanischen Billigessens zu investieren und es auf diese Art sofort umzuschlagen. Also bei einem Zwischenhändler einen Container zu kaufen, die Ware abzusetzen und so viel Gewinn zu machen, dass der Kredit getilgt wäre und ihm selbst noch was bliebe. Von der Idee, etwas in Amerika einzukaufen, war mein Vater ganz angetan. Er zahlte das Geld ein.  

    Der Container kam nicht.

    Mein Vater zahlte der Bank ein paar Monate lang Zinsen, bis seine Firma pleiteging. Die Bank reichte Klage ein. In ihrer Verzweiflung wandten sich meine Eltern an die Betrüger, denen sie das Geld für den Container gegeben hatten. Die erbarmten sich und stellten ein Papier aus, laut dem der Container, für den das Geld der Bank gezahlt worden war, in einem US-Bundesstaat von Schmugglern entwendet worden war. „Mit Stempel vom Gouverneur des Bundesstaats! Und Unterschrift!“, erzählte meine Mutter verzückt. Der Schrieb wurde dem Gericht vorgelegt und mit großer Achtung und Ehrfurcht begutachtet. Mein Vater wurde zwar noch zwei Jahre durch alle Instanzen gejagt, doch im Endeffekt ließ man ihn in Ruhe.  

    Kopfüber in den Kleinhandel: Wecker mit Jelzin-Ziffernblatt

    Nachdem die Baufirma hopsgegangen war, stürzten sich meine Eltern kopfüber in den Kleinhandel. Verkauften Bücher, Putzmittel, Kosmetik. Vater erzählte, er habe auf dem Stary Arbat sogar Wecker mit Jelzin drauf verkauft. Es war Winter, kalt, niemand beachtete ihn, die Leute gingen vorbei, kauften woanders. Ein Typ, der daneben irgendeinen anderen doofen Kleinkram verkaufte, machte sich über Papas Wecker furchtbar lustig, bis der die Nase voll hatte. Fuchsteufelswild nahm mein Vater einen seiner Wecker, holte aus und warf ihn mit voller Wucht. Ein abscheulicher Klingelton schrillte durch die Straße, die Leute drehten sich danach um, kamen näher, bald umringten sie meinen Vater scharenweise und kauften fast alle Wecker auf. Den Rest drehte er seinem frechen Nachbarn an.

    Die Waren wurden bei uns zu Hause gelagert – in gestreiften und karierten Taschen, die aussahen wie aus Angelschnüren gewebt. Diese Taschen erschienen mir riesig und unmöglich anzuheben. Meine Eltern schleiften sie in den Korridor, und mit ihnen drangen Gerüche herein – nach Frost, Markt, Waschpulver. Ich kann mich noch gut an Mamas schreckliche Hände erinnern – rot und steifgefroren, und wie sie sich dann in der brennendheißen Badewanne aufwärmte.    

    Von allen Waren sind mir besonders die grimmigen Hennen in Erinnerung geblieben, die bei uns auf dem Balkon lebten und ihn ordentlich vollkackten. Mein Vater hatte sie zum Weiterverkauf aus irgendeinem Dorf geholt, und ein paar Tage wüteten sie vor dem Küchenfenster.

    Oh! Und das wunderbare Feuerwerk, das sie zu Neujahr sehr erfolgreich verkauften: Mit dem Gewinn konnten sie uns zum ersten Mal Kokosnüsse und eine Ananas kaufen, außerdem Hershey’s Schokolade – eine weiße, mit dunklen Stückchen. Ich aß sie gleich morgens am ersten Tag des Jahres 1996 auf.  

    Es herrschten andere Regeln. Beziehungsweise gar keine mehr

    Einen festen Marktstand in einer Stadt im Gebiet Kaluga bekamen meine Eltern 1995, dort standen sie etwa zwei Jahre, bis die Bullen den Markt den ortsansässigen Banditen abpressten. Mutter erzählte, wie frappierend der Kontrast zwischen den alten und den neuen Inhabern war. „Nein, denk bloß nicht, dass mir diese kleinen Gauner gar so gefallen hätten“, rechtfertigte sich Mama, der die kleinen Gauner allem Anschein nach aber sehr wohl gefallen hatten. Sie beschrieb die kräftigen, durchtrainierten Burschen, die bei ihr und Vater das Schutzgeld abholten, als wortkarge und eigentlich sogar … höfliche Menschen: „Nie wurden sie mir gegenüber ausfällig und vulgär, die Summe war angemessen, fix, sie nahmen uns nicht aus. Nicht wie die danach …“

    Nach der Neuaufteilung herrschten andere Regeln. Beziehungsweise gar keine mehr. Ein Uniformierter konnte jederzeit und jeden Tag auftauchen. Und zusätzlich zur Standmiete verlangen, was er wollte. Dem ging immer eine besondere Zeremonie voraus – sie beäugten die Ware, kontrollierten die Dokumente: „Und dann ging’s los: Der Stempel falsch, die Preislisten stimmen nicht, sie verbissen sich in den Zertifikaten“, erzählte Mama. Einmal wurde es meinem Vater zu bunt, und er sagte: „Wisst ihr was, erledigen wir doch die Formalitäten gleich auf der Wache. Ganz korrekt.“ Sie machten den Laden dicht, verpackten die Ware, fuhren auf die Dienststelle. Dort bearbeiteten sie stundenlang irgendwelche Akten, dann ließen sie es gut sein und entließen meine Eltern mitsamt ihrer Ware. „Denen ging es ja nicht um Recht und Ordnung, sondern ums Geld. Und wir kommen mit offiziellen Papieren“, erklärte Mama.

    Nach diesem Vorfall verließen sie den Markt. Sie mieteten sich in dem örtlichen Handelszentrum ein und begannen einen Großhandel mit Reinigungsmitteln. Wieder ein paar Jahre später konnten meine Eltern ein weiteres Geschäft in der Stadt aufmachen – diesmal einen Einzelhandel. Dann noch eines. Eine Zeit lang ging es uns recht gut.    

    Ihren letzten Laden haben meine Eltern ungefähr 2012 geschlossen. Meine Mutter redet viel und oft darüber, warum alles so gekommen ist. Und schimpft viel. Mein Vater sagt nichts. Steht einfach jeden Tag um fünf Uhr früh auf und geht zur Arbeit – ins physikalisch-energetische Institut.

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  • Business-Krimi in drei Akten

    Business-Krimi in drei Akten

    Wer in Russland ein Unternehmen gründet oder betreibt, gerät immer stärker unter Druck: Die Zahl an Strafverfolgungen von Unternehmern in Russland ist im vergangenen Jahr um 20 Prozent gestiegen. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls Business-Ombudsman Boris Titow in einem Bericht, den er voraussichtlich Ende Mai dem Präsidenten vorlegen wird. Kreml-Sprecher Peskow ergänzte sogleich, dass der Bericht öffentlichen Zahlen anderer Unternehmensverbände wie der Russischen Union der Industriellen und Unternehmer (RSPP) widerspreche.

    Das Online-Magazin Sekret Firmy dagegen klagt darüber, „wie man in Russland Unternehmen zerstört“. Viktor Feschtschenko beschreibt „das Ende einer schönen Epoche“ für Unternehmer anschaulich am Schicksal von dreien von ihnen.

    Wie lange sie noch zu leben hat, weiß Jelena Boldyrewa selbst nicht. Sie hat eine Schwerbehinderung zweiten Grades, alle sechs Monate muss sie für eine Woche ins Krankenhaus, doch dort war sie schon seit vier Jahren nicht mehr – erst entließ sie der Ermittler der Staatsanwaltschaft von Armawir nicht aus dem Hausarrest, und jetzt sitzt Boldyrewa sogar in Untersuchungshaft.

    Seit all diesen Jahren wird ihr, der Ehefrau eines Einzelhändlers, der Trockenwaren verkaufte, „Verbreitung von Rauschmitteln über den Verkauf von Lebensmittelmohn“ vorgeworfen. Dabei gab es keinen einzigen Schuldspruch. Nur zwei Freisprüche.

    Boldyrewa ist eine von Millionen Unternehmern, die ihr Geschäft in Russland aufgegeben haben. Allein seit 2013 ist die Zahl der Unternehmer laut Berechnungen der Assoziation russischer Banken und des Soziologischen Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAN) von 4,3 auf 2,8 Millionen gesunken.
    Ein Staat, der will, dass möglichst viele seiner Bürger ihm nicht länger auf der Tasche liegen und in die Selbständigkeit gehen, müsste in einer solchen Situation Unternehmern das Leben maximal erleichtern und das Entstehen von Startups fördern.

    Doch Russland geht eigene Wege: Die Silowiki sperren Unternehmer weiter hinter Gitter – in den vergangenen drei Jahren hat sich die Zahl der „Wirtschaftshäftlinge“ in den Untersuchungsgefängnissen fast verdoppelt.

    Die schönen Zeiten sind vorbei

    Jene schöne Epoche, als man ein eigenes Unternehmen gründen, Millionen verdienen und wenigstens halbwegs sicher sein konnte, dass einem ohne schwerwiegende Gründe niemand auf die Pelle rücken würde, ist vorbei.

    Das Magazin Sekret Firmy [Firmengeheimnis – dek] ist drei bezeichnenden Geschichten von Unternehmern unterschiedlicher Größe und Ausrichtung nachgegangen, die vom Business in Russland enttäuscht sind.

    Illustrationen © Roman Wetschtomow/Sekret Firmy
    Illustrationen © Roman Wetschtomow/Sekret Firmy

    I. Clubleben

    In den 2000er Jahren gründeten die Russen Unternehmen noch freudiger als ein Jahrzehnt zuvor. Sie waren beflügelt durch den wachsenden Konsum, der auf den Aufschwung des Ölpreises folgte – er war zeitweise auf 143 Dollar pro Barrel gestiegen.

    Doch im Weiteren wähnten sich die Silowiki und andere Staatsbeamte immer mehr von Strafen ausgenommen. Nach dem Fall YUKOS begannen Unternehmer zu ahnen, dass es ohne unabhängige Justiz keinen Rechtsschutz gibt für Unternehmen, egal welchen Kalibers: Wenn deine Firma einem Beamten oder einem seiner Verwandten gefällt, dann muss man sich entweder davon verabschieden oder sich verständigen.

    Das „Tauwetter“ änderte nichts

    Das „Tauwetter“ unter Medwedew und sein Slogan als Präsident mit dem iPhone: „Hört auf, das Business zu verschrecken konnten niemanden darüber hinwegtäuschen – die Haftbefehle gegen Unternehmer wurden nicht weniger, und in 96 Prozent der Fälle wird ihnen stattgegeben.

    Ende der 2000er Jahre entstand der bekannte Butyrka-Blog von Olga Romanowa und Alexej Koslow. Jana Jakowlewa rief nach ihrer Inhaftierung im Chemiker-Fall die Menschenrechtsorganisation Business-Solidarnost ins Leben und unterstützt seitdem Unternehmer, die strafrechtlich verfolgt werden.

    Schwarze Pelzrobe, vier Goldringe und ein repräsentativer Nissan

    Der Moskauerin Natalja Malinowskaja schienen all diese Zusammenstöße weit weg, jenseitig. Sie hatte nur positive unternehmerische Erfahrungen. Jetzt ist sie 32, hüllt sich in eine schwarze Pelzrobe, trägt vier Goldringe und fährt einen repräsentativen schwarzen Nissan.

    2009 hat sie gemeinsam mit ihrem Ex-Mann das Unternehmen Nowy Gorod [Neue Stadt – dek] geleitet. Sie schufen Werbeflächen und errichteten außerdem die Skihalle Snesh.com, ein Volleyballzentrum in Odinzowo und den Eispalast Arena Balaschicha. Der Vertrag mit LUKOIL über das Design ihrer Tankstellen brachte 50 Millionen Rubel [damals rund 1.140.000 Euro] im Jahr ein.

    Die jungen Millionäre verheizten das Geld in Clubs, bis sie sich alle Hörner abgestoßen hatten, aber Malinowskajas Traum vom eigenen Nachtclub blieb. 2009 entdeckte sie geeignete Räume in Balaschicha, in einer ehemaligen Textilfabrik. Inhaber war die Firma Russki Trikotash, die Kleidung der Marke Twojo (Deins) herstellten.

    Von Seiten der Firma wurde der Vertrag von Ilja Ussolzew unterzeichnet, dem Generaldirektor der OOO Baumwollspinnwerk Balaschicha, nebenamtlich lokaler Abgeordneter der Partei Einiges Russland.

    Beim ersten, recht freundlichen Gespräch erwähnt er Beziehungen zu den staatlichen Machtorganen

    Malinowskaja erinnert sich noch an ein Foto in seinem Büro, auf dem Ussolzew Wladimir Putin die Hand schüttelt. Und beim ersten, recht freundlichen Gespräch habe der Abgeordnete beiläufig Beziehungen zu den staatlichen Machtorganen erwähnt.

    Der Club Sawod [Fabrik – dek] ging erfolgreich an den Start. Das Partyvolk pilgerte von Moskau nach Balaschicha, auf der Bühne standen die Band Vintage und kleine Stars der 90er Jahre. Unter der Woche fanden im Club Bankette, Firmen- und Geburtstagsfeiern statt. Wie Malinowskaja versichert, habe der Bürgermeister von Balaschicha den Laden regelmäßig an hochrangige Besucher empfohlen.

    Aber es nützte nichts. Im August bestellte Ussolzews Assistent Malinowskaja zu sich und schlug ihr vor – so ihre Worte –, seine eigene Security aufzustellen, die nicht so sehr für Sicherheit sorgen sollte als vielmehr dafür, Drogen unter die Besucher bringen.

    „Damals hatte ich noch nicht die Angewohnheit, alles, was mir gesagt wird, mit dem Diktiergerät aufzunehmen“, bedauert die Unternehmerin, die diese Aussage nun nicht mehr beweisen kann. Auf eine Gesprächsanfrage von Sekret hat Ussolzew nicht reagiert.

    Malinowskaja lehnte ab – und einen Monat später bekam sie die Rechnung: Die Inhaber des Gebäudes drehten ihr den Strom ab. Ussolzew verlangte zunächst 30.000 Rubel [damals rund 680 Euro] von ihr (sie zahlte, der Strom blieb aus), dann 70.000 Rubel [damals rund 1600 Euro] (sie lehnte ab), dann 300.000 Rubel [damals knapp 6800 Euro] (sie lehnte ab).

    „Natalja, hier verlangen irgendwelche maskierten Leute, dass wir die Räumlichkeiten verlassen“

    Am Morgen des 25. Oktober 2009 überwies Malinowskaja eine weitere Pachtzahlung auf das Konto des Russki Trikotash. Ein paar Stunden später bekam sie einen Anruf von ihren Mitarbeitern: „Natalja, hier verlangen irgendwelche maskierten Leute, dass wir die Räumlichkeiten verlassen.“

    Malinowskaja, überzeugt, dass es sich um ein Missverständnis handeln müsse, bat sie keinen Widerstand zu leisten und alle hereinzulassen. Von da an blieb die Fabrik für Gäste geschlossen.

    An jenem Tag fuhr sie zum Club, wo sie ein Versiegelung-Protokoll und einen Mahnbescheid wegen Zahlungsverzug ausgehändigt bekam. Malinowskaja rief sofort bei der Bank an und erkundigte sich, ob das Geld eingegangen sei. Dort bestätigte man ihr, dass die Summe bereits auf das Konto des Empfängers überwiesen sei.

    Malinowskaja weinte vier Tage am Stück. Am fünften riss sie den Siegel ab und betrat den Club. Nach ihrem Besuch wurden die Türen zugeschweißt.

    Zu dieser Zeit traf sich Malinowskaja mit Ussolzew. Sie erzählt, der Abgeordnete habe zu ihr gesagt, er wisse, auf welche Schule ihr Kind gehe, und es sei kein Problem, ein Kilo Heroin bei ihr finden zu lassen, außerdem stehe die Partei hinter ihm und so weiter.

    Die Polizei weigerte sich, eine Anzeige aufzunehmen

    Die Inhaber des Russki Trikotash drückten sich erfolgreich vor einem Gespräch. Bei der Polizei weigerte man sich, eine Anzeige gegen Ussolzew aufzunehmen, bezeichnete den Konflikt als „Streit unter Wirtschaftssubjekten“. Dann erstattete Malinowskaja Anzeige gegen Unbekannt mit der Bitte um Aufklärung, wer die Türen des Clubs zugeschweißt habe, in dem sich ihr Besitz befinde.

    Die Registrierung des Dokuments war ein Problem für sich – die lokalen Beamten nahmen sich mal einen Tag frei, wurden krank oder fehlten am Arbeitsplatz. Doch eines Tages hatte Malinowskaja Glück: Einer der Beamten von Balaschicha hatte vor zu kündigen und somit nichts zu verlieren – er nahm die Anzeige entgegen und holte sogar eine Erklärung von Ussolzew ein.

    Der Generaldirektor der Firma behauptete, der Vertrag mit Sawod sei aufgrund von Mietrückständen einseitig gekündigt worden. Bereits im Dezember waren die Räumlichkeiten gegen eine höhere Pacht als Malinowskajas an einen anderen Club vermietet, der teilweise Einrichtung und Möbel benutzte, die die Unternehmerin seinerzeit für das Sawod gekauft hatte.

    Alle Höllenkreise der Bürokratie durchlaufen

    Erst drei Jahre später konnte Malinowskaja die Einleitung eines Strafverfahrens gegen ihren Widersacher erwirken. So lange hatte sich die Staatsanwaltschaft von Balaschicha geweigert. Malinowskaja legte immer wieder Beschwerde ein, die Moskauer Gebietsstaatsanwaltschaft leitete den Fall zur Prüfung weiter, die Staatsanwaltschaft Balaschicha verlor die Papiere – so ging es endlos weiter.

    Irgendwann verkaufte die Unternehmerin ihren gesamten Besitz: „Wenn man vor Gericht ziehen will, braucht man Geld.“

    Nachdem sie alle Höllenkreise der Bürokratie durchlaufen hatte, wandte sich Malinowskaja an die Generalstaatsanwaltschaft, und erst mit ihrer Hilfe konnte sie ihr Anliegen durchsetzen.

    Vor Gericht ist der Fall zwar noch immer nicht, doch die Chancen, dass es irgendwann mal so weit sein wird, stehen laut Malinowskaja jetzt deutlich besser.

    Natalja Malinowskaja will nie wieder in Russland Geschäfte machen

    Vor dem Hintergrund dieser Geschichte ist die ehemalige Unternehmerin zur Bürgerrechtlerin geworden. Sie unterstützt Unternehmer aus dem Moskauer Umland und einfache Bürger, studiert und will Rechtsanwältin werden. Sie besucht auch die Schule der Menschenrechtler der Organisation Rus sidjaschtschaja [Einsitzendes Russland – dek] von Olga Romanowa.

    In Russland Geschäfte machen will sie nie wieder, und die Schuldigen in Fällen wie diesen sind für sie korrupte Beamte. Die Situation retten könnten ihrer Meinung nach faire Wahlen, auf Landes- und auf regionaler Ebene.

    II. Plattmachen, bis zum Schluss

    Über Skype spreche ich mit Alexej Sorkin, er lebt in Spanien. Als ich anfange zu fragen, unterbricht Sorkin das Gespräch: „Ich vertraue Skype nicht besonders, lassen Sie uns zu Viber wechseln.“ Vor zwei Jahren ist er aus Russland weggegangen, aus Angst um sein Leben, und Angst hat er noch heute.

    Der 46-jährige Sorkin hat die militärisch-ingenieurtechnische Universität in St. Petersburg abgeschlossen, aber bei der Armee dienen wollte er nicht.

    Es waren die 90er Jahre, Armeeangehörige fristeten ein ärmliches Dasein, und so begann er als Spediteur beim Konzern Orimi. Bis 2000 war er zum Direktionsleiter aufgestiegen, jedoch zerfiel das Unternehmen nach der Ermordung des Inhabers Dimitri Warwarin.

    Sorkin machte sein eigenes Ding

    Sorkin machte sein eigenes Ding und gründete die Firma Petro-Sorb-Komplektazija. Er hatte den Plan, Analysegeräte für Sprengstoffe herzustellen. Die Idee war ihm nach den Wohnhausexplosionen in Moskau gekommen – Sorkin hatte den Eindruck, dass die Ermittler nicht besonders sorgfältig arbeiteten.

    Mit Sprengstoffen kannte er sich seit der Uni aus, und wie man eine Produktion organisiert, wusste er dank seiner früheren Arbeit. Es fehlten nur noch Kontakte zum Innenministerium, dem potentiellen Hauptabnehmer der Ware.

    Sorkin verschickte ein paar Briefe – und es funktionierte, denn nach seinen Angaben hatte sonst niemand Analysegeräte in dieser Qualität und Bedienungsfreundlichkeit.

    Der Unternehmer ist sich sicher: Die Silowiki waren damals noch an der Optimierung ihrer Arbeit und nicht nur an korrupten Machenschaften interessiert, deshalb reagierten sie positiv auf das Angebot.

    Das Unternehmen machte 3,5 Millionen Dollar Umsatz. Aber irgendetwas ging schief

    2011 war Sorkin zum größten Lieferanten von Alkoholmessgeräten aufgestiegen, stellte außerdem Analysegeräte her sowie stationäre Videoüberwachungsanlagen und Dashcams mit eigener Software. Das Unternehmen erreichte einen Umsatz von 3,5 Millionen Dollar, es operierte in 60 Regionen Russlands. Aber irgendetwas ging schief.

    Ab 2009 fingen sie an, seine Firma von öffentlichen Ausschreibungen auszuschließen, aus merkwürdigen Gründen: Mal passte das Gewicht des Gerätes nicht, mal die Farbe eines Knopfes, mal die Bauweise (Dokumente, die den Ausschluss von Ausschreibungen belegen, liegen der Redaktion vor).

    Ab 2011 kamen die technischen Anforderungen für Ausschreibungen dann aus dem Hauptsitz des Innenministeriums in die Regionen. Und alle waren laut Sorkin im Interesse bestimmter Unternehmen verfasst, die von der Führungsetage des Ministeriums kontrolliert wurden.

    „Sorkins Firma plattmachen bis zum Schluss“     

    Im Büro tauchten immer öfter Inspektoren auf. Bald erreichte den Unternehmer über bekannte Beamte die Verlautbarung einer leitenden Person im Innenministerium: „Sorkins Firma plattmachen bis zum Schluss.“     

    Im Frühjahr 2013 kam Sorkin aus seinem Petersburger Büro der Petro-Sorb-Komplektazija, als ihm gleich ein grauer Škoda ins Auge sprang, den er schon mal irgendwo gesehen hatte. Als er an seinem Auto war, überprüfte er sicherheitshalber den Unterboden. Er fand nichts, setzte sich ans Steuer und fuhr los zu einem Termin.

    Der Škoda hielt sich in einiger Entfernung, aber Sorkin ahnte, dass er verfolgt wird. An einer Ampel konnte er im Auto seinen ehemaligen Mitarbeiter Jewgeni Kuryschew ausmachen. Zusammen mit ein paar anderen Angestellten hatte der erst vor kurzem zum Konkurrenten Alkotektor gewechselt.

    Sorkin ist sich sicher, dass das Unternehmen mit den höchsten Führungsleuten im Innenministerium verbandelt ist, er kann sogar konkrete Namen nennen.

    Der Geschäftsmann berichtet, er habe sich mit ihnen wegen des Ergebnisses einer Ausschreibung rechtlich angelegt, und sie hätten ihm daraufhin seine Mitarbeiter abgeworben, um Zugang zu Unternehmensunterlagen zu bekommen.

    Geräte in Millionenwert gestohlen

    Die Mitarbeiter selbst hätten dann eine identische Firma gegründet, Alkotektor – ein Unternehmen, das Alkoholmessgeräte und Anlagen zur Videoüberwachungsanlagen herstellt. Innerhalb eines Jahres habe sie Ausschreibungen des Innenministeriums im Wert von 120 Millionen Rubel [damals rund 2,7 Millionen Euro] gewonnen, und die gelieferten Geräte – so Sorkin – hätten die ehemaligen Mitarbeiter schlicht aus seinem Lager gestohlen.

    Die Alkotektor-Mitarbeiterin, die meinen Anruf entgegennahm, teilte Sekret mit, die Geschäftsführung sei auf Dienstreise und habe keine Zeit für Gespräche. Außerdem „wolle der Generaldirektor nicht über Sorkin sprechen“. Auf die Frage „Warum?“ antwortete die Mitarbeiterin: „Wenn Sie die Situation im Ganzen verstehen würden, dann müsste ich Ihnen das gar nicht  erklären.“ Diese Äußerung wollte sie nicht näher ausführen.

    Bei der Polizei sagte man ihm: „Sie wurden ja nicht umgebracht“

    Als Sorkin klar geworden war, dass man ihn beschattete, fuhr er zum Polizeihauptrevier von St. Petersburg und erstattete Anzeige. Dort sagte man zu ihm: „Sie wurden ja nicht umgebracht“, und weigerte sich, die Anzeige aufzunehmen.

    Der Unternehmer bekam es jetzt richtig mit der Angst zu tun. Er kannte die leitenden Köpfe im Innenministerium ziemlich gut und zweifelte nicht, dass sie bis zum Äußersten gehen würden. Aus diesem Grund zog er Anfang 2014 nach Spanien, wo er seit längerem ein Haus besaß.

    Etwas mehr als ein Jahr lebte Sorkin im Ausland. In dieser Zeit hat man ihm 50 Prozent seines Unternehmens Petro-Sorb-Komplektazija weggenommen, einen neuen Direktor eingesetzt, das Konto geplündert und die Firma faktisch in den Bankrott getrieben. Aber Sorkin gibt die Hoffnung nicht auf, sich die Firma zurückzuholen, und erhebt Klagen beim Schiedsgericht in St. Petersburg.

    Ein weitere Art zu kämpfen besteht für ihn in der Unterstützung der Opposition. Nach der Ermordung von Boris Nemzow kehrte er nach Russland zurück, um der Demokratischen Koalition bei den Wahlen in Kostroma zu helfen. Er arbeitete die gesamte Kampagne hindurch und reiste im Oktober zurück nach Spanien, um einige Wochen später wieder nach Russland zu fahren.

    Ein Signal, dass seine Anwesenheit in Russland nicht erwünscht ist

    Während Sorkin in Spanien war, wurde das Büro seiner neuen Firma durchsucht. Er hatte eine neue Firma mit zwei Büros in St. Petersburg und Spanien gegründet, die lokale Immobilien an Russen verkaufte. Es schien nicht weiter schlimm, es wurden nur Papiere zum Thema Petro-Sorb-Komplektazija entwendet. Aber er fasste dies als Signal auf, dass seine Anwesenheit in Russland nicht erwünscht ist. Deshalb hat er bis auf Weiteres nicht vor, in die Heimat zu reisen.

    Sorkin träumt von einer Rückkehr, sobald „Putins Regime gefallen ist“. Er hat keinen Zweifel daran, dass dieser Zeitpunkt in nicht allzu weiter Ferne liegt, und erhofft sich von einer neuen Regierung, dass sie alle Silowiki aus den Ämtern heben und ein unabhängiges Rechtssystem schaffen wird. Er selbst will dann den guten Namen seines Unternehmens wiederbeleben.

    Solange das noch nicht passiert ist, will er keine Geschäfte in Russland machen. Sorkin ist der festen Überzeugung, dass Putin und die von ihm geschaffenen Beziehungsstrukturen mit der Wirtschaft die Wurzel allen unternehmerischen Übels sind.

    III. Der Mohn-Fall

    Eines Tages im Juni 2011 kam Jelena Boldyrewa – sie handelt mit Trockenwaren, darunter auch mit Mohn – aus der Steuerbehörde ins Großhandelslager von Armawir. Graue einstöckige Lagerbauten, aufgetürmte Paletten, Verpackungen, Kartons und Papiermüll lagen auf dem sonnenheißen Asphalt. Sie ging hinter die Verkaufstheke und zwängte sich dort in ein winziges Kabuff, wo ihr Mann Dimitri sie erwartete.

    „Jemand von Set war gerade hier. Ich habe Instantnudeln und Makkaroni bestellt. Die haben gesagt, wenn wir noch ein bisschen mehr bestellen, geben sie uns neun Prozent Rabatt.“

    „Wir haben doch eigentlich alles.“ Boldyrewa verstand nicht gleich.

    „Naja, ich dachte, wir könnten mal was Neues probieren, die Produktpalette erweitern. Sie haben uns Gewürze angeboten, Mohn und so, da hab ich ja gesagt.“

    „Mehr gibt es da gar nicht zu berichten. Wir haben einfach angefangen zu handeln“, erinnert sich Boldyrewa. Ich besuchte sie letzten September in Armawir. Während des Gesprächs briet Boldyrewa Kartoffeln: „Der Laden brachte uns 100.000 Rubel [damals 2500 Euro] Gewinn im Monat, zum Jahreswechsel waren es sogar mehr. Jetzt haben wir unseren Porsche Cayenne verkauft, leben von meinen und Mamas 9000 Rubel Rente [120 Euro] und von dem, was mein Sohn hin und wieder verdient. Wir ernähren uns hauptsächlich von den Nudeln, die noch im Lager übrig waren.“

    Ein paar Monate nach dem ersten Mohneinkauf waren Mitarbeiter des Föderalen Dienstes für Rauschgiftkontrolle (FSKN) bei Boldyrewa im Lager aufgetaucht. „Sie waren höflich.“ Sie baten sie, am nächsten Tag mit ihren Papieren bei ihnen vorbeizukommen.

    Das Angebot, sich „freizukaufen”, lehnte sie ab

    Beim FSKN habe man Boldyrewa zunächst erklärt, dass im Mohn Spuren von Rauschgift enthalten sein könnten und der Handel damit deshalb verboten sei, man habe eine Verwarnung ausgesprochen und ihr dann angeboten, sich „freizukaufen“. Sie lehnte ab und man ließ sie gehen.

    Bis zum Februar 2012 arbeiteten die Boldyrews weiter, als wäre nichts gewesen. Dann stürzte alles mit einem Mal ein. Zwischen dem ersten FSKN-Besuch und jenem im Februar fiel den Boldyrews langsam auf, dass in ihrem Laden im Großlager regelmäßig vier etwas merkwürdige Kunden auftauchten. „Sie sahen blass aus, wirkten irgendwie lahm, sprachen langsam.“

    Die Unternehmerin ahnte, dass sie wahrscheinlich drogenabhängig waren, zumal sie Mohn kauften, aber sie wusste nicht, was sie mit ihnen machen sollte: „Hätte ich etwa ihre Blutwerte testen sollen? Oder vielleicht schreien: Verschwinde hier, du Junkie!?“

    Am 6. Februar 2012 verkauften sie gerade fünf Päckchen an einen hiesigen Lagerarbeiter und Alki, als plötzlich bewaffnete Leute ihren Laden stürmen. „Hände auf den Tisch, Telefone aus, und unseren Mitarbeiter packten sie am Kragen und zerrten ihn in das Kabuff“, erinnert sich Boldyrewa.

    Am nächsten Tag kamen sie in Vorbeugehaft

    Am nächsten Tag nahm das Gericht die Boldyrews, den Lagerwachmann Molotkow und den Fahrer Gadshijew in Vorbeugehaft. Allerdings wurde Boldyrewa wegen ihrer Behinderung nach drei Wochen entlassen und unter Hausarrest gestellt.

    Im Juni 2012 erklärte das Berufungsgericht der Region Krasnodar die Verfahrenseinleitung für rechtswidrig.
    Im Dezember fällte das Gericht in Armawir die gleiche Entscheidung.

    Es wurde festgehalten, dass die Boldyrews bei Großhändlern offiziell angekauften Lebensmittelmohn in Plastikverpackungen ohne Öffnungsspuren verkauft hatten und deshalb nicht wissen konnten, dass darin Rauschgiftsubstanzen enthalten waren. Die Angeklagten wurden gleich im Gerichtssaal auf freien Fuß gesetzt.

    Nach dem Prozess suchten sie Arbeit in Moskau

    Аnschließend machten sie sich auf zu Verwandten nach Moskau, um Arbeit zu suchen. Dort stand Boldyrewa regelmäßig um sechs Uhr in der Früh auf, stieg an der Station Timirjasewskaja in die Monorail und fuhr zu ihrer Arbeit als Kassiererin im Supermarkt Lenta an der WDNCh. Auch ihr Mann war dort untergekommen, als Wachmann.

    „Unser ganzes Leben lang waren wir Unternehmer, und jetzt sind wir selbst Verkäufer“, seufzt sie. Nach der Entlassung hatten sie für die Wiedereröffnung ihres Geschäfts kein Geld. In Moskau verdienten sie 2000 Rubel [damals knapp 50 Euro] am Tag.

    Eines Tages im Mai wurde Boldyrewa am Supermarkteingang von zwei Passanten in Zivil angesprochen: „Guten Tag, sind Sie Jelena?“ Im ersten Moment dachte sie, dass ihr eine Strafe wegen der fehlenden Anmeldung in der Hauptstadt blühe, aber sie hatte sich geirrt: „Wir würden gerne mit Ihnen über Ihren Fall in Armawir sprechen.“ Die ehemalige Unternehmerin atmete auf: „Ach so, na da wurde ich freigesprochen, alles in Ordnung, nach der Arbeit können wir reden.“ „Leider nein, wir müssen gleich aufs Revier fahren.“

    In der Polizeidienststelle teilte man Boldyrewa mit, der Freispruch sei durch das Regionalgericht Krasnodar widerrufen worden. Dasselbe Gericht, das das Verfahren zuvor für rechtswidrig erklärt hatte. Am nächsten Tag wurden sie in mehreren Etappen nach Armawir geschickt. Ihren Mann sperrte man wieder ins Untersuchungsgefängnis, Jelena kam unter Hausarrest …

    Jeder weiß alles über die Staatsanwälte und Ermittler hier

    Bogdan Boldyrew setzt sich hinter das Steuer seines alten Lada 7 mit störrischem Schaltgetriebe, und wir fahren zusammen zum Großhandelslager Armawir. Er besitzt keinen Führerschein, denn der kostet Geld. Aber er kennt alle Verkehrspolizisten – die Stadt ist klein. Und genauso weiß jeder alles über die Staatsanwälte und Ermittler hier.

    Er schildert mir die Legenden, die über die vier Junkies kursieren, die im ersten Prozess gegen seine Eltern mitgewirkt haben und bald nach dem Freispruch unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen sind, und erzählt, dass das FSKN-Gebäude in Armawir vor ein paar Jahren mit einem zwei Meter hohen Zaun abgeriegelt wurde, weil es zu viele gab, die mit den Mitarbeitern ihre offenen Rechnungen nach Knastgesetz begleichen wollten.

    Laut Bogdan hat jeder dritte junge Mann in Armawir wegen Paragraph 228 (Drogenbesitz) gesessen – die jungen Leute werden eingesperrt, um gute Zahlen vorzuzeigen.

    Sie kämpft weiter. Etwas anderes bleibe ihr sowieso nicht übrig

    Nach ihrer Rückkehr aus Moskau im Mai 2013 wurden die Boldyrews erneut freigesprochen. Das Gericht in Krasnodar lehnte den Entscheid wieder ab und gab den Fall zurück an das Gericht in Armawir. Letzteres hat bereits fünf Mal seine Nachuntersuchung angeordnet. Diese ganze Zeit über sitzen Boldyrew der Ältere, Molotkow und Gadshijew in U-Haft.

    Im Gespräch mit mir berichtet Boldyrewa nüchtern, dass das Leben ihrer Familie von außen betrachtet zerstört sei, aber sie versuche weiterzukämpfen, еtwas anderes bleibe ihr ohnehin nicht übrig. Die Schuld an ihrer privaten Katastrophe gibt sie – genau wie Sorkin – Putin und der „Willkür, die er angezettelt hat“.

    Im Dezember 2015 wurde der vorbeugende Hausarrest für Boldyrewa in eine Inhaftnahme umgewandelt. Nach Aussage ihrer Anwältin Ella Peschnaja habe die Gesundheitskommission die früher diagnostizierte Krankheit nicht feststellen können. Der Behinderungsgrad sei schließlich aufgehoben worden – weil der Ermittler sie nicht zwecks Nachweis zur Untersuchung habe gehen lassen.

    Der Fall liegt nun wieder beim Gericht Armawir.


    Epilog

    Einen Monat nach seiner zweiten Inauguration hat Wladimir Putin das Amt des Beauftragten für Unternehmerrechte eingerichtet und mit dem Inhaber der Weinkellerei Abrau-Djurso Boris Titow besetzt.

    Die Befugnisse dieses Beamten blieben allerdings eng begrenzt. Seine einzige Waffe sind Schreiben zur Unterstützung von Unternehmern, die genauso viel Gewicht haben wie Anfragen von Abgeordneten. Titows erfolgreichste Initiative war die Amnestie für Unternehmer im Jahr 2013, auf deren Grundlage 2466 Menschen vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen wurden.

    Jana Jakowlewa von BusinessSolidarnost meint, dass ein solcher Ombudsmann nicht konkreten Unternehmern helfen müsste, sondern die kriminellen Strukturen offenlegen, die sie erst ins Gefängnis bringen, doch dafür würden seine Kompetenzen nicht ausreichen.

    Ein weiterer Bürokrat, aber keine Lösung

    Wie auch immer, das Problem wurde nicht gelöst, sondern nur ein weiterer Bürokrat gerufen, der sich dem Krebsgeschwür des Verwaltungssystems annehmen sollte. Mittlerweile konzentriert sich Titow auf seine politische Karriere in der Partei Prawoje delo.

    In einer Mitteilung an die föderale Versammlung sagte Putin, dass 2014 200.000 Strafverfahren gegen Unternehmer angestoßen worden seien, von denen nur 30.000 vor Gericht landeten.

    Der Trend scheint offensichtlich: Die Verfahren dienen der Einschüchterung von Unternehmern. Und die Erpresser können so offensichtlich die Übernahme des Business oder Freikaufzahlungen erwirken, bevor der Fall vor Gericht kommt.

    Aber der Präsident zog aus diesem Trend seine ganz eigenen Schlüsse und er schuf eine Gruppe zur Konfliktlösung zwischen der Unternehmerwelt und den Silowiki – im Grunde eine offizielle Struktur zur „Problemklärung“.

    Ein „postfeudales“ Bezugssystem

    Der Wirtschaftsexperte Andrej Mowtschan bezeichnete dieses Bezugssystem als „postfeudal“. Grob gesagt ist ein Unternehmen demzufolge etwas, das man zwar unterhalten darf, aber nicht vorbehaltlos besitzen. Und wenn eine einflussreiche Persönlichkeit ein Auge darauf geworfen hat, gibt es keine Rechtsmittel, die dich schützen könnten.

    Die Verhaftung des Domodedowo-Inhabers Kamenschtschik, der massenhafte Abriss von Verkaufspavillons sowie – etwas breiter gefasst – die Verschlechterung des Investitionsklimas und das Ausbleiben von Reformen: Mit Blick auf all diese jüngsten Entwicklungen haben Unternehmer immer weniger Lust in Russland ein Geschäft zu gründen.        

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