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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Corona-Politik: Eine einzige Misere

    Corona-Politik: Eine einzige Misere

    Die frühe Zulassung des russischen Impfstoffs Sputnik V hatte im vergangenen Jahr wegen der Missachtung der üblichen Standards hohe Wellen geschlagen – nun prüft die Europäische Arzneimittelbehörde EMA, ob er nicht bald auch in Europa eingesetzt werden könnte. Eine wissenschaftliche Studie hatte eine Wirksamkeit von über 90 Prozent belegt.
    Ein solcher Erfolg auf wissenschaftlicher Ebene bringt die heftige Kritik an der Corona-Politik des russischen Staates, wie sie etwa Sergej Schelin in seinem Beitrag auf Rosbalt äußert, jedoch nicht zum Verstummen: Intransparenz, inkonsequente Maßnahmen und das In-Kauf-Nehmen vieler Todesopfer – eine Abrechnung.

    Die offizielle Haltung Wladimir Putins und seiner Agitatoren zur Covid-19-Situation ist trotz aller Schwankungen vor allem eins: absolut selbstgefällig. Als die russischen Behörden vom Beginn der Pandemie erfuhren, konnten sie das Auftauchen des Coronavirus angeblich sofort bremsen, trafen gewissenhafte Vorkehrungen, schützten dann das Volk mit Social Distancing – und die Katastrophe war angeblich quasi besiegt. Und jetzt, wo sie doch wieder da ist, wehren sie mit sicherer Hand ihren neuerlichen Angriff ab. Von Anfang an und bis zum heutigen Tag läuft in Russland alles besser als „bei unseren Partnern“. 

    In diesen schönen Worten steckt kein Körnchen Wahrheit. 

    Ende 2020 gehört Russland zu den am schlimmsten betroffenen Ländern der Welt, abgesehen von ein paar lateinamerikanischen Staaten, in denen die Zahl der Todesopfer [je Tausend Einwohner – dek] aufgrund der Pandemie noch höher ist. 

    Die offizielle Statistik der Covid-Opfer ist fast überall unzuverlässig. Daher ist ihr realer Messwert die sogenannte Übersterblichkeit. Für Russland, wo die Sterberate bis zum ersten Quartal 2020 stetig zurückging, ist dieser Messwert als Anstieg der allgemeinen Sterblichkeit von April bis Dezember 2020 im Vergleich zu demselben Zeitraum 2019 definiert.
         

    „Die Übersterblichkeit zeigt das wahre Ausmaß der Covid-Pandemie in Russland“ Quelle

    Rosstat gibt die Berichte mit extremer Verzögerung heraus, vor allem jetzt. Daher kann die Übersterblichkeit in den neun Covid-Monaten 2020 vorerst nur näherungsweise angegeben werden. Nach Einschätzung des Demografen Alexej Rakscha beträgt sie rund 300.000. Den fragmentarischen Daten nach, die uns trotz der Hindernisse aus den Regionen erreichen, sind fast alle Fälle von Übersterblichkeit auf Covid zurückzuführen.      

    Pandemie und Politik

    Wie sieht das im Vergleich zu anderen Ländern aus? Schlecht, beziehungsweise sehr schlecht. Auf 1000 Einwohner ist die Übersterblichkeit in Russland 2020 doppelt so hoch wie in den besonders stark betroffenen USA; zweieinhalbmal so hoch wie in Schweden, das sich eine Zeit lang seiner Verharmlosung der Infektion rühmte; siebenmal höher als in Deutschland (für alle diese Länder sind das ebenfalls nur ungefähre Schätzungen).      

    300.000 Tote bedeuten, dass im Zeitraum von April bis Dezember 2020 die Sterblichkeit in Russland im Vergleich zum Vorjahreszeitraum auf das 1,23-Fache gestiegen ist. Und im November, mit 75.000 bis 80.000 zusätzlichen Todesfällen der schlimmste dieser Monate, auf das 1,55-Fache. Das sind die Durchschnittswerte. In manchen Gegenden des Landes ist es wesentlich ärger. 

    Abgesehen davon ist die Pandemie noch lange nicht vorbei. Bezeichnet man ihre Bekämpfung durch unseren Staat als unzureichend, so nennt man einfach eine offensichtliche Tatsache beim Namen. Diese Misere besteht aus mehreren Punkten:

    1. Selbstbetrug auf allen Ebenen

    Um eine Pandemie zu bekämpfen, muss man zumindest wissen, was passiert. Doch die Chefetage hat bis heute nicht wirklich den Dreh raus, wie man Daten sammelt, nicht einmal für sich selbst. 

    Die täglichen Berichte des Rospotrebnadsor mit den Zahlen der Neuinfektionen haben mit der Wirklichkeit meistens überhaupt nichts zu tun. Und die von derselben Behörde auf der Website стопкоронавирус.рф veröffentlichte Sterbestatistik [derzeitiger Stand: rund 77.000 – dek] tut nicht mal so, als wäre sie vertrauenswürdig. So berichtet Rosstat mit mehrmonatiger Verspätung von einer doppelt so hohen Zahl jener, die an oder mit Covid gestorben sind. Doch auch diesen Informationen sollte man nicht mehr Glauben schenken als sonstigen Berichten von Rosstat über Todesursachen in Russland, die seit 2012 an die Vorgaben der Mai-Dekrete angepasst werden.    

    Was die Führungsebene angeht, so bezieht sie ihre Informationen aus einem der Öffentlichkeit unzugänglichen, speziell an sie adressierten Monitoring des Gesundheitsministeriums. Diese Zahlen übersteigen die des Rospotrebnadsor um ein Vielfaches, bleiben dabei aber eindeutig unvollständig: Es sind nämlich nur die Zahlen der nach stationärer Behandlung Verstorbenen erfasst, die aus den Regionen gemeldet werden, die diese Zahlen zum Teil bewusst fälschen. 

    Innerhalb der Machtvertikale belügt man sich gegenseitig nicht weniger als man die Untergebenen belügt. Über verlässliche Daten verfügt niemand, nicht einmal der Führer.     

    2. Das Versagen des Polizeistaatеs

    Unser Regime kokettiert damit, dass es angeblich alle Bereiche des Lebens durchdringt und hundertprozentige Kontrolle über die Staatsbürger ausübt.  

    In der Politik ist das möglicherweise gar nicht so frei erfunden, obwohl es auch da in letzter Zeit ständig Fehler gibt. Aber als es darum ging, Coronainfizierte und ihre Kontaktpersonen ausfindig zu machen, zu isolieren und ihre Aufenthaltsorte zu tracken, da erlitten die Bespitzelungsverfahren des Regimes sofort Schiffbruch – und das im März, als die Behörden angeblich so gut auf die Abwehr der Pandemie vorbereitet waren.  

    Und versucht haben sie es ja. Nur leider erfolglos. Das, was irgendwo in Taiwan wie am Schnürchen läuft, überfordert den russischen Polizeistaat mit seiner millionenschweren Überwachungsmaschinerie offenbar …

    3. Die Selbstenthebung des Führers

    Fast die gesamte Anti-Covid-Aktivität von Wladimir Putin fand im Frühling statt. Von Ende März bis Mitte Mai hat er sogar ein paarmal in den sauren Apfel gebissen – und sich durchgerungen, kurze Reden an die Nation zu halten. 

    Dann wurde verkündet, die Krankheit sei besiegt, und diese These ist bis heute in Kraft.

    Als die Herbstwelle der Pandemie begann, die viel heftiger war als die im Frühjahr, hatte sich Putin schon eine andere Rolle ausgesucht: Die Verantwortung wurde entgegen aller unserem System zugrundeliegenden Prinzipien auf Regionalverwaltungsleiter, medizinische Bürokraten und Gesundheitsbehörden abgeschoben.   

    Gelegentlich sah das Publikum auf den Bildschirmen, wie der Führer diensteifrigen Berichten lauscht und seinen Untergebenen weise Ratschläge gibt, ihren Vortragsstil verbessert, ohne auch nur für irgendetwas die Verantwortung zu übernehmen oder Fehler zuzugeben. Sogar ein so wirksames PR-Instrument wie die Bestrafung, wenn sich jemand etwas hatte zu Schulden kommen lassen, wurde sehr selektiv und höchstens auf Ebene regionaler Gesundheitsbehörden angewandt. 

    Der Mobilisierungsgrad der Behörden war daher viel niedriger, als möglich gewesen wäre. Ganz zu schweigen von verwirrenden Signalen an die Bürokratie, die darauf hindeuten, dass das Staatsoberhaupt in die Angelegenheiten rund um die Pandemie kaum involviert ist: So mussten sich die Sankt Petersburger Beamten, die versuchten, den Tourismus zum Jahreswechsel einzudämmen, Appelle des Führers an die Russen anhören, öfter mal nach Sankt Petersburg zu fahren. Und die Normalbürger, die zum Tragen von Masken verdonnert werden, sehen, dass ihr Führer immer ohne herumläuft.     

    4. Das Rätsel des Frühlings-Lockdowns

    Aus heutiger Sicht scheinen die „arbeitsfreien Tage“ (so etwas Ähnliches wie ein Lockdown), die bei uns im Frühling eineinhalb Monate lang galten, irgendwie unlogisch. Für unsere Führung stehen seit Urzeiten wirtschaftliche Fragen an erster Stelle, und nicht die Sorge um die Gesundheit des einfachen Volks. 

    Möglicherweise waren da einfach ein paar Zufälle zusammengekommen – Putins Besuch in einem Covid-Krankenhaus (bis heute der einzige), die Erkrankung von einigen seiner Untergebenen und Bekannten, das Vorbild europäischer Länder und die damalige allgemeine Atmosphäre von Ratlosigkeit, die in Panik umschlug.  

    Jedenfalls bekamen die durch den Arbeitsstopp Geschädigten um ein Vielfaches weniger finanzielle Unterstützung, als sie hätten kriegen können. Fast alle Verluste wurden dem Volk aufgebürdet. Die strenge Einhaltung dieses Prinzips machte es unmöglich, Betriebe abermals flächendeckend stillzulegen – weder Personal noch Besitzer könnten es sich leisten, ein weiteres Mal auf ihre Einnahmen zu verzichten. 

    5. Das Paradox des ausgebliebenen Lockdowns im Herbst

    Die zweite Covid-Welle erwies sich als tödlicher als die erste. Während die (anhand der Übersterblichkeit bestimmte) Zahl der Todesopfer im Frühling und in der ersten Sommerhälfte rund 70.000 betrug, waren es von September bis Dezember rund 220.000.  

    Ein Lockdown ist, auch wenn regional beschränkt, eine Holzhammermethode, die wahllos verschiedene Interessen trifft. Doch die Praxis europäischer Länder zeigte, dass man auf diese Art Infektionsausbrüche in den Griff bekommen kann. Auch in Russland gab es inzwischen weitaus mehr Gründe für die teilweise Schließung von Unternehmen und Betrieben als im Frühling. 

    Allerdings wurde bis mindestens Mitte November fast gar nichts unternommen. Abgesehen von ein paar formalen Gesten, die kaum jemand ernstnahm. 

    Für unsere Führung stehen wirtschaftliche Fragen an erster Stelle, und nicht die Sorge um die Gesundheit des einfachen Volks

    Die Covid-Leugner, die im Nachhinein das „schwedische Modell“ bejubeln, vergessen seltsamerweise, auch vom Vorgehen unseres Regimes begeistert zu sein. Die Hälfte des Herbstes ging es nämlich durchaus „schwedisch“ vor, und die Signale, die es an seine Untertanen sandte, erweckten den Eindruck, dass bei uns lauter Covid-Dissidenten an der Macht sind.     

    In Russland überlagerten sich die Passivität und Gier der oberen Etagen mit der Misswirtschaft der unteren, und das aus der Not entstandene „schwedische“ Szenario hatte bei uns weitaus fatalere Folgen. Die waren so offensichtlich, dass im Spätherbst ein Teil der russischen Regionen doch noch wirkliche Einschränkungen beschloss – in der Regel schlecht durchdachte Maßnahmen, die vor allem Branchen ohne starke Lobby schwer trafen und die eigenen Leute verschonten. Zudem wurde das irrwitzige Prinzip, für entstehende Einbußen nicht aufzukommen, auch jetzt nicht revidiert.  

    Trotz der beachtlichen Zahl von Todesopfern in den eigenen Reihen zieht Russlands Führungselite nicht an einem Strang und ist auch kein bisschen von dem Wunsch erfüllt, dem Volk im Kampf gegen die Katastrophe den Weg zu weisen. Dasselbe muss auch über den Herrscher gesagt werden, dessen berühmt-berüchtigte Coolness und Abgebrühtheit in der Stunde der Gefahr plötzlich irgendwohin verschwunden sind.   

    Dem Volk bleibt nichts anderes übrig, als auf seine Überlebenskünste zurückzugreifen und auf die Hilfe jenes Teils der medizinischen Versorgungsstrukturen zu hoffen, die das Regime noch nicht „optimiert“, entprofessionalisiert und korrumpiert hat.

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  • Kann Russland überhaupt Demokratie?

    Kann Russland überhaupt Demokratie?

    Brauchen die Russen eine harte Hand? Haben sie die Regierung, die sie eben verdienen und schließlich ja auch gewählt haben? Oder sind sie naiv und von der Staatsmacht verführt? Wirtschaftswissenschaftler Dimitri Trawin fragt und kommentiert auf Rosbalt.

    Dieser Artikel ist nicht für Menschen, die denken, dass an den russischen Problemen die Engländer, Amerikaner oder dеr Backstage-Bereich der Welt schuld sind, dass Obama in unsere Hauseingänge gepisst hat, und Uljukajew (aus dem Kerker) im Auftrag des CIA oder des State Department das Rentenalter anhebt. Dieser Artikel ist, genau genommen, nicht mal für die, die nach Schuldigen suchen, sondern für die, die mal richtig aufräumen und die Perspektiven unseres Landes verstehen wollen.

    Es gibt zwei uralte Bonmots zum Verhältnis von Staatsmacht und Gesellschaft. Das erste lautet: „Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient“, das zweite: „Nach all dem, was die Regierung dem Volk angetan hat, ist es ihre Pflicht, das Volk auch zu heiraten.“ 
    Das erste Bonmot erlegt die Schuld dem Volke auf, das nicht in der Lage ist, sich für eine anständige Regierung zu entscheiden. Das zweite setzt die Beziehung zwischen Staatsmacht und Gesellschaft einer Vergewaltigung gleich, oder zumindest einer zynischen Verführung, bei der das naive, empfängliche Volk eher zu bemitleiden denn zu verurteilen ist.

     Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient

    Aus dem Unterschied dieser analytischen Ansätze ergibt sich auch ein Unterschied im praktischen Vorgehen. Wenn das Volk unfähig ist und selbst das Regime hervorbringt, das ihm das Fell über die Ohren zieht, dann hieße das, dass es für Russland wenig Hoffnung gibt: Unsere Wirtschaft wird auf ewig stagnieren, reich werden nur diejenigen, die Zugang zum Kreml haben, während für das Volk höchstens mal das Renteneintrittsalter, mal die Steuern erhöht werden. Und ergo jeder, der so nicht leben will, sollte sich wohl besser auf und davon machen.
    Wenn es sich bei dem Problem aber um Vergewaltigung oder Verführung handelt, dann gäbe es perspektivisch Hoffnung. Schließlich könnte das Leben ohne den Vergewaltiger oder Verführer anders werden, natürlich nur, wenn das Volk nicht auf ein Abenteuer aus ist, mit dem es sich ins eigene Fleisch schneidet.

    Auf den ersten Blick scheint es, als habe das Volk genau das, was es verdient. Wir gehen zur Wahl, werfen Stimmzettel ein, unterstützen ein ums andere Mal die immer Gleichen, auch wenn das Leben dadurch keineswegs besser wird. Wir liebedienern, fallen vor unserem Herrn auf Knie, damit er uns verschone und jene bestrafe, die uns beleidigen. Wir arbeiten schlecht: sind alle hinter dem Öl her, hinter dem Gas, oder wollen unbedingt bei den Silowiki unterkommen, in den Sicherheitsapparaten, wo das Einkommen höher ist und die Arbeit weniger … Wenn das Volk mehr in jenen Bereichen arbeiten würde, wo es keine monströsen Einkommen gibt, wo wenig gezahlt wird, der Nutzen für die Gesellschaft aber groß ist … Das wäre vielleicht gut …

    Rationales Verhalten

    Stopp. Wir bauen ja nicht den Kommunismus auf, sondern entwickeln eine Marktwirtschaft. Und wir erkennen an, dass wir des Geldes wegen arbeiten, dass wir unsere Familie gut versorgen und ein gemütliches Zuhause und ein Auto haben wollen – und nicht den Traum von einer lichten Zukunft, die irgendwann anbricht … oder wohl eher nicht anbricht. In der Marktwirtschaft – in unserer, in der finnischen, in der amerikanischen – versuchen die Menschen, sich rational zu verhalten, also eben dort zu arbeiten, wo es ihnen etwas bringt.
    Eine andere Frage ist jedoch, dass es in einigen Ländern etwas bringt, ein Unternehmen aufzubauen, sich fortzubilden, Geld in langfristige Projekte zu investieren, während es in anderen besser erscheint, beim Staat unterzukommen, in der Hoffnung, wenigstens einen kleinen Teil jener Ölrente zu ergattern, von der sich vor allem diejenigen eine Scheibe abschneiden, die Verbindungen zur obersten Etage der Macht haben. Bei uns ist das zweite der Fall.

    Einfacher gesagt, verhalten sich die Menschen bei uns ungefähr so wie Menschen in anderen Marktwirtschaften auch: Sie suchen sich einen Platz, wo es gut ist, und sind bei entsprechenden Anreizen bereit, ordentlich zu schuften. Unser Staat hat allerdings ein System von Anti-Anreizen geschaffen und nötigt die Gesellschaft weniger zur Arbeit denn zur Raffgier. Und die Leute raffen, wie an ihrer Stelle und unter diesen Umständen auch Finnen oder Amerikaner raffen würden. Eine Marktwirtschaft mit guten Institutionen (Spielregeln) ist eine Methode, um reicher zu werden. Eine Marktwirtschaft mit schlechten Institutionen bedeutet den Weg in den Niedergang.

    Rational in der Wirtschaft, irrational in der Politik?

    Aber halt, könnte nun jemand sagen, der der Ansicht ist, dass das Volk bei uns dennoch nicht ganz richtig tickt. In der Wirtschaft verhalten sich diese Menschen womöglich rational, fast wie die Menschen im Westen, aber in der Politik sind sie irrational. Sie wählen Putin und demzufolge jene hässlichen Spielregeln, die er für sie geschaffen hat. Somit wäre das Volk dennoch eines solchen Präsidenten mit all seinen Deputaten, Bürokraten, Abreks und Kunaks würdig.

    Nehmen wir einmal an, das Volk würde das verdienen. Doch wenn es unsere Aufgabe ist, nicht einfach nur das Volk zu verurteilen und selbst aus Russland zu verduften, sondern auch zu verstehen, was man tun kann, dann werden wir wiederum weniger vom Volk enttäuscht sein. 
    Schließlich versucht Putin strikt, jedwede Alternative zu ihm, dem Geliebten, aus der Politik fernzuhalten, und versetzt den Wähler in eine ausweglose Lage. Wahlen geraten zu einem formalen Urnengang ohne reale Wahl – und die scheinbare Demokratie wird zu einem typischen autoritären Regime. In diesem Regime macht es keinen besonderen Unterschied, ob wir für Putin stimmen oder etwa diese Farce von Wahl boykottieren. Ein rational veranlagter Wähler denkt sich doch: Wenn mir die Wahl geboten wird zwischen einem realen Anführer, mit dem ich schon fast 20 Jahre mehr schlecht als recht lebe, und einer Truppe Clowns, von denen wer weiß was zu erwarten ist, wäre es da nicht besser, Putin zu unterstützen?

    Und die Deutschen?

    Rein moralisch erscheint mir persönlich eine solche Auswahl sehr schlecht. Aber wie bei der Abwanderung in die Sicherheitsbehörden oder in die Gaswirtschaft um des vielen Geldes wegen wirkt eine Stimmabgabe für Putin rational. Unser Wähler fürchtet das Chaos, ganz wie es auch der wohlsituierte Bürger eines westlichen Landes fürchtet. Allerdings wäre da noch der Umstand, dass der russische Durchschnittsbürger heute die Gefahren eines Lebens ohne das Patronat Putins sehr übertreibt, was angesichts der Propaganda, die sich über sein schwaches Haupt ergießt, auch nicht verwunderlich ist. In einer solchen Situation wären die Deutschen genauso durch den Wind wie Angehörige vieler anderer Nationen, die heute durchaus als zivilisiert angesehen werden.

    Die Deutschen, wie auch andere Völker hatten jene menschenverachtenden Regierungen durchaus verdient, die sie sich geschaffen hatten. Und sie verhielten sich diesen Regierungen gegenüber durchaus rational. Wobei sie mit dieser Rationalität bis zur Unmenschlichkeit gingen. So ermordeten sie beispielsweise Juden, weil diese Grausamkeit damals befördert wurde. Und als das Regime gewechselt hatte, machten sich die Deutschen umgehend an den Aufbau einer zivilisierten Gesellschaft mit Demokratie und Toleranz. Weil unter dem neuen Regime genau dies befördert wurde. 
    Aus moralischer Sicht ist die Leichtigkeit, mit der ein Volk sich einerseits dem Bösen, andererseit dem Guten hingeben kann, natürlich widerwärtig: Nicht umsonst zeigen die Deutschen bis heute Reue. Wenn wir jetzt nicht das Problem der Moral analysieren, sondern der Frage einer normalen gesellschaftlichen Entwicklung nachgehen wollen – nach dem Wechsel von einem menschenverachtenden Regime hin zu einem menschlichen – stellt sich heraus, dass so etwas durchaus möglich ist.

    Das Rationale gerät zum Konformismus

    „Also ist es so, dass jedes Volk jederzeit in der Lage ist, eine Demokratie zu errichten?“, würde jetzt lächelnd ein Skeptiker fragen, der nicht an die Möglichkeit glaubt, dass sich Russland entwickeln könnte. Natürlich nicht jedes Volk. Eine normale Entwicklung ist für gewöhnlich dann nicht möglich, wenn in der Gesellschaft irrationales Verhalten gegenüber rationalem eindeutig dominiert. Wenn man also, sagen wir mal, unbedingt Kommunismus aufbauen will, auch wenn einem der gesunde Menschenverstand sagt, dass sich das nicht umsetzen lässt. Oder wenn Gebete als Mittel zur Lösung von Problemen des Diesseits (Lohnerhöhung, bestandene Prüfungen usw.) angesehen werden. Oder wenn plötzlich freigesetzte Leidenschaft über den Verstand dominiert.

    Vor rund hundert Jahren dominierten in Russland Leidenschaften, Gebete und phantastische Träume der breiten Masse deutlich über dem rationalen Wunsch eines kleinen Teils der Gesellschaft nach dem Aufbau von Marktwirtschaft und Demokratie. Heute ist das umgekehrt. Die Massen sind höchst rational geworden. Allzu rational, wie es manchmal scheint. Das Rationale gerät zum Konformismus und zu offenem Opportunismus und Duckmäusertum. Bei Leuten mit Gewissen ruft das Abneigung hervor. Und es fallen Schlagwörter wie: „Gesocks“, „Watniki“, „Sowok“.

    Nichtsdestotrotz können die pragmatischen, rationalen und konformistisch eingestellten Russen – wie in der Vergangenheit auch andere Völker – leicht zu normalen Bürgern einer zivilisierten Welt werden, wenn das Regime aufhört, uns alle möglichen destruktiven Stimuli zu bieten.

    Normale Wahlen bringen uns dazu zu überlegen, welcher Kandidat besser ist (wie es die Menschen Anfang der 1990er Jahre taten). Eine normale Wirtschaft bringt uns dazu, Waren herzustellen, die nachgefragt werden (wie es Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre der Fall war), und nicht dazu, sich einem gaunerhaften Staat anzudienen.

    Wie aus diesem destruktiven System ein normales Russland aufzubauen wäre, ist eine gesonderte Frage, die sich in einem kurzen Artikel nicht erörtern lässt. Dass aber unser Volk bei vernünftigen Spielregeln zu einer konstruktiven Entwicklung in der Lage ist, daran habe ich persönlich keinen Zweifel.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Die antiwestliche Propaganda ist gescheitert

    Die antiwestliche Propaganda ist gescheitert

    Zufrieden zog Dimitri Medwedew Mitte Juli die WM-Bilanz: Mehr als drei Millionen ausländische Touristen haben Russland besucht, die Mehrheit von ihnen verließ das Land mit guten Eindrücken, so der Premierminister. 
    Gute Eindrücke sammelten offenbar auch die Russen selbst: Nicht nur die unabhängigen Medien, auch die staatlich-gelenkten schrieben während der WM von den freundlichen ausländischen Fans, die eine ausgezeichnete Stimmung im Land verbreiten. Viele Beobachter nahmen die WM deshalb als eine Art Verbrüderungsfest wahr. Manche konservativen Politiker warnten zwar vereinzelt vor Touristen, dies tat dem als Völkerverständigung empfundenen Fest allerdings keinen Abbruch.

    Vor diesem Hintergrund bewerten manche Analysten die neuesten Meinungsumfragen von Lewada als eine etwas andere WM-Bilanz: Die antiwestlichen Stimmungen in der Gesellschaft haben nämlich rapide abgenommen, auch die Zustimmungswerte für den Präsidenten sowie für die Regierung sanken deutlich. 
    Während das Sinken der Zustimmungswerte für den Präsidenten auch der unpopulären Rentenreform geschuldet sein könne, so sei die dem Westen gegenüber freundlichere Stimmung größtenteils auf die WM zurückzuführen, so die Erklärung. Seit Jahren kritisieren Analysten, dass staatlich-gelenkte Medien von russophoben Ausländern berichten, die die Festung Russland belagern und danach trachten, das Land in die Knie zu zwingen. Die WM, mit ihren fröhlichen und freundlichen Fans, habe dieses Bild ins Wanken gebracht.

    Alles nur eine Momentaufnahme? Dreht sich die Stimmung nach den neuesten US-Sanktionen wieder zurück? Möglich, meint Lilija Schewzowa, eine der renommiertesten Politologinnen Russlands. In einem Meinungsstück auf Rosbalt ahnt sie dennoch ein Scheitern des System Putin.

     


    Quelle: Lewada-Zentrum

    Das Lewada-Zentrum hat nachgewiesen, dass die tragende Säule des Systems in Russland wegsackt: Die Russen wollen nicht länger in einer belagerten Festung leben und gegen den Westen kämpfen. 68 Prozent sprechen sich heute für eine Annäherung an den Westen aus. Dadurch werden Putins Beliebtheitswerte stärker abfallen und die Proteststimmung wird entsprechend zunehmen. Beliebtheitswerte kann man pimpen und Proteste kann man neutralisieren, wenn das Volk bereit ist, ins Kriegslager zurückzukehren. Aber was, wenn die Mehrheit dort nicht hinwill? Wenn die Menschen des militaristischen Geheuls müde sind? Allem nach zu urteilen ist den russischen Bürgern sehr bewusst, dass die Konfrontation Russlands mit dem Westen ein Ablenkungsmanöver ist: von innenpolitischen Problemen und von der Unfähigkeit der Regierenden, diese zu lösen.

     


    Mehr dazu in der Infografik: Wie beliebt ist Putin? / Quelle: Lewada-Zentrum

    Die Autokratie verliert ihre Legitimation und die Regierung der Räuberelite wird in die Brüche gehen, da sie alles Liberale zu einer Gefahr für die Staatlichkeit Russlands gemacht hat, gegen das unbedingt Widerstand geleistet werden müsse.

    Es ist doch wirklich frappierend: Die russischen Bürger sprechen von einer Normalisierung der Beziehungen zum Westen, und das trotz der westlichen Sanktionen! Das heißt, diese Sanktionen binden das Volk nicht an den Kreml, wie das viele erwartet haben.

    Das, was wir derzeit beobachten, zerstört die übliche Logik: Der Amerikanische Kongress prüft ein neues Paket mit höllischen Sanktionen gegen Russland. Und die Einstellung russischer Bürger gegenüber den USA beginnt, wie Lewada sagt,  sich zu verbessern: Wenn im Mai 2018 noch 69 Prozent eine negative Haltung gegenüber den USA hatten („gut“ antworteten damals 20 Prozent), so ist die positive Haltung im Juli auf 42 Prozent gestiegen, die negative ist auf 40 Prozent gesunken. 
    Das heißt: Den russischen Bürgern ist klar, dass die Sanktionen nicht gegen sie gerichtet sich, sondern gegen die sie korrumpierende politische Klasse. Oder etwa nicht?

     


    Mehr dazu in der Infografik: Russlands Verhältnis zu den USA / Quelle: Lewada-Zentrum

    Die Zahlen von Lewada beschreiben das Versagen des Kreml gleich an mehreren Fronten:

    Erstens ist es ein Eingeständnis, dass die russische Außenpolititk versagt hat, die Russland vor der Welt zu einem Aussätzigen gemacht hat. Bestätigt wird das durch die abgefallenen Ratings früher sehr beliebter Minister wie Lawrow und Schoigu, auf deren Kappe der aggressiv-militaristische Kurs Russlands geht („Wenn sie uns nicht lieben und anerkennen, sollen sie wenigstens Angst vor uns haben!”). 
    Die russische Außenpolititk schafft kein Wohlergehen, sondern ist zu einer schweren Bürde geworden, die aus dem klammen Haushalt Geld für Kriege und außenpolitische Abenteuer abzieht. Das wird den Menschen langsam klar.

    Zweitens sehen wir ein ohrenbetäubendes Zusammenkrachen der Kreml-Propaganda, die schon seit Jahrzehnten dem Volk gegenüber den Westen einen Feind nennt. Kurz, im Kreml gibt es Anlass zu großer Beunruhigung. Und was, wenn eine positive Haltung der russischen Bürger dem Westen gegenüber plötzlich zu Sympathien für, Gott bewahre, liberale Werte führt?

    Das Schlimmste ist hier, das unser System nicht imstande ist, sich umzugestalten. Es kann sich nicht verabschieden vom Überleben als einziger Idee, also von der Suche nach einem äußeren Feind, der dann innere Feinde schafft. Andere Ideen hat die Autokratie nicht hervorgebracht. Und das bedeutet, dass die Jungs dort Wege suchen werden, um die Bevölkerung zurückzuführen in eine aggressive und feindliche Gesinnung gegenüber der liberalen Welt – der für die Machthaber tödlichen Alternative.

    All dies muss schnell geschehen, damit sich für die wachsende Unzufriedenheit der russischen Bürger kein anderes Objekt findet – Sie wissen schon, welches… Also wird die Regierung neue mythische „Bedrohungen” erschaffen, neue Anlässe suchen, um Hörner zu zeigen und der Welt mit einer Schreckensfratze Angst einzujagen. Sie wird neue Wege finden, sie wieder um den Kreml zu scharen. Es sei an die Putinworte erinnert: „Kommt lasst uns sterben hier bei Moskau, wie unsre Brüder einst gestorben sind! Zu sterben haben wir gelobt, den Treueeid gehalten in der Schlacht bei Borodino.” Ja, die werden wirklich warten, dass wir für sie sterben! Und die Wahrscheinlichkeit oder sogar Zwangsläufigkeit, dass sie der Gesellschaft eine neue Bedrohung bescheren werden, die macht Angst, wenn wir uns an die vormaligen, in der russischen Geschichte nicht weit zurückliegenden Momente der Mobilisierung erinnern ….

    Der Versuch der Regierung, Russland wieder zur antiwestlichen Zone zu machen, wird eine neue Herausforderung für das Volk, ein Test, wie vernunftgelenkt es ist und wie fähig, politischen Lug und Trug zu erkennen. Wir wollen das Volk nicht unterschätzen.

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  • Was ist eigentlich im Nordkaukasus los?

    Was ist eigentlich im Nordkaukasus los?

    Der Nordkaukasus ist in der Wahrnehmung, auch in der Literatur und Kultur oft Russlands „Anderer”. Als „inneres Ausland” empfinden viele diese ethnisch vielfältige Bergregion im Süden Russlands, in der vorwiegend Muslime leben. Sie reicht von Dagestan im Südosten, über Tschetschenien, Inguschetien, Nordossetien bis Kabardino-Balkarien und Karatschai-Tscherkessien.

    Das Gebiet fiel erst im 19. Jahrhundert, nach dem Kaukasuskrieg von 1817 bis 1864 an Russland. Die Separatismus-Bestrebungen, die in die beiden Tschetschenienkriege mündeten, die Geiselnahme von Beslan – auch in jüngster Zeit gibt es viele für die russische Gesellschaft traumatische Ereignisse, die mit dem Nordkaukasus verbunden sind.

    Denis Sokolow, Soziologe an der Hochschule RANCHiGS und Nordkaukasus-Experte, bricht im Interview mit Rosbalt einige Mythen auf: Er macht viele Gemeinsamkeiten und Parallelen zu anderen russischen Regionen aus und betont, wie unterschiedlich der Nordkaukasus vor allem in sich selbst ist. Separatismus-Ängste hält er heute für aufgeblasen – und warnt stattdessen vor ganz anderen Entwicklungen.

    Denis Sokolow / © Foto privat
    Denis Sokolow / © Foto privat

    Tschetschenien wird manchmal als Russlands „inneres Ausland“ bezeichnet. In Dagestan und Inguschetien entwickeln sich die Dinge, wie uns scheint, nach demselben Szenario?

    Heute kann man fast jede Region Russlands als „inneres Ausland“ bezeichnen. Institutionell gibt es im Land keinen Zusammenhalt mehr. Es gibt nur den Homo sovieticus, der die letzten Jahre seines Lebens mit der Elite der Putingeneration verbringt, und eine bröckelnde Vertikale, die sich vor allem auf Geld und Gewalt stützt. Aber Institutionen, die den Staat festigen würden, gibt es eben praktisch keine mehr. Höchstens den FSB – aber das ist eher ein oligopolistisches Netz, das Kontrolle über Gewalt und Geldströme ausübt …

    Inwiefern ist das Fehlen institutioneller Klammern gefährlich für den Nordkaukasus?

    Gerade diese Region gilt als separatistisch gestimmt. Nach 1991 blieb fast keine (russische) Kolonialbevölkerung im östlichen Nordkaukasus.

    Insofern ist hinsichtlich seiner Bewohner der Nordkaukasus, besonders der östliche, schon so gut wie entrussifiziert. Zudem werden die demografischen Prozesse von einer aktiven Re-Islamisierung, einem Import und Wiederaufbau islamischer Institutionen, begleitet.

    Die Gruppen, die irgendeinem separatistischen Projekt die Stange halten, sind aufgrund eines Mangels an Geld, Ressourcen, politischer Organisation und Unterstützern nicht in der Lage, es umzusetzen

    Aber gleichzeitig hat die regionale politische Elite kein eigenes Programm. Die Gruppen, die irgendeinem separatistischen Projekt die Stange halten, sind aufgrund eines Mangels an Geld, Ressourcen, politischer Organisation und Unterstützern nicht in der Lage, es umzusetzen.

    Sind Befürchtungen, die Republiken des Nordkaukasus könnte den russischen Staat als ganzen auf die Probe stellen, also unbegründet?

    Die werden aufgeblasen, weil sie für die, die dort leben, und für die, die der Region das Budget zuteilen, Vorteile haben. Man muss dabei auch bedenken, dass im Fall einer Schwächung des Staates alles anders werden kann.

    Es ist so, dass es in der Region erstens keine richtige politische Elite gibt. Jede ihrer Generationen wurde gesäubert – zuerst vom Russischen Reich, dann von der Sowjetunion und jetzt vom neuen Russland. Menschen, die diese Elite sein könnten, werden entweder in die Moskauer Elite hineingezogen, oder aus dem Bereich des Politischen hinausgedrängt.

    In der Region gibt es keine richtige politische Elite. Jede ihrer Generationen wurde gesäubert – zuerst vom Russischen Reich, dann von der Sowjetunion und jetzt vom neuen Russland

    Eine weitere Zeitbombe sind die vielen strittigen territorialen Fragen. Zweifellos werden außenpolitische Faktoren eine große Rolle spielen – das Verhalten der Nachbarländer, der Türkei, des Irans, Westeuropas etc. Die Chancen auf eine unblutige Lösung denkbarer Konflikte stehen allerdings nicht sehr hoch. Wenn der Staat schwächer wird, müssen wir mit großer Wahrscheinlichkeit durch einen Krieg aller gegen alle durch.

    © Peter Fitzgerald/Wikimedia
    © Peter Fitzgerald/Wikimedia

    Die Situation ist also sehr eigenartig. Der Status quo verhindert die Ausformung einer politischen Elite und die Einrichtung von Institutionen in der Region. Doch die Aufhebung dieses Status quo würde Blutvergießen bedeuten.

    Die Chancen auf eine unblutige Lösung denkbarer Konflikte stehen nicht sehr hoch

    Was zuerst eintreten wird – ob einer bestimmten Gruppe, die von Moskau-gestützten Eliten ausgebeutet wird, der Geduldsfaden reißt, oder ob das System schwächer wird und all diese Konflikte wie in den letzten 100 Jahren gelegte Minen ganze Völker gegeneinander aufhetzen werden? Man wird sehen.

    Wäre es möglich zu versuchen, die Beziehungen zu den nordkaukasischen Republiken nach einem anderen Modell zu gestalten, um eine Verschärfung der Lage zu vermeiden?

    Das politische System, das sich jetzt in Russland etabliert hat, hat die Entwicklung von Institutionen und politischen Eliten im ganzen Land gehemmt. Das soziale Gefüge liegt darnieder. Diesbezüglich würde ich zwischen dem Nordkaukasus und allen anderen Regionen gar keinen Unterschied machen. Vielmehr gibt es im Nordkaukasus immerhin ein Grundgerüst, von dem ausgehend man sich arrangieren kann. Es gibt wenigstens gewisse informelle Eliten – Autoritäten verschiedener ethnischer Gruppen. In anderen Regionen gibt es nicht einmal das.

    Das soziale Gefüge liegt darnieder. Diesbezüglich würde ich zwischen dem Nordkaukasus und allen anderen Regionen gar keinen Unterschied machen

    Glauben Sie mir, wenn dem Kaukasus gute Institutionen angeboten werden, nimmt er sie an. Selbst kann er, wie alle anderen Regionen Russlands auch, keine Alternativen hervorbringen.

    Also sind alle derzeit vorgeschlagenen Angebote zur Entwicklung des Nordkaukasus nur eine Bekämpfung von Symptomen, nicht aber der Krankheit selbst …

    Damit lösen einfach schlaue einflussreiche Köpfe ihre eigenen Probleme. Die einen wollen Minister werden, die anderen zu Geld kommen, die nächsten ihren Platz in der Expertenszene behaupten. Und es gibt keinen Grund zur Annahme, dass ihnen das nicht klar wäre.

    Glauben Sie mir, wenn dem Kaukasus gute Institutionen angeboten werden, nimmt er sie an

    Das Problem ist, dass es aus der gegebenen Situation keinen einfachen Ausweg gibt. Niemand hat Lust, unlösbare Probleme zu lösen.

    Tschetschenien ist eine besondere Region, in der das Leben nach eigenen Gesetzen abläuft – zu dieser Auffassung ist man in den vergangenen Jahren gelangt. Kann man den ganzen Nordkaukasus als eine solche „besondere Region“ bezeichnen?

    Zweifellos ist der Nordkaukasus als Ganzes anders als der Rest Russlands. Gleichzeitig besteht er aber aus mindestens zwei Teilen. Aus dem westlichen Nordkaukasus und dem Nordkaukasus östlich der Georgischen Heerstraße und der Darialschlucht – also Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan. Sie sind sehr unterschiedlich.

    Zweifellos ist der Nordkaukasus als Ganzes anders als der Rest Russlands. Gleichzeitig besteht er aber aus mindestens zwei Teilen

    In den Republiken des westlichen Nordkaukasus, zum Beispiel, besucht nicht mehr als ein Prozent der Bevölkerung konstant Moscheen und Kirchen. In Dagestan, Tschetschenien und Inguschetien dagegen fühlt sich fast jeder Einwohner auf die eine oder andere Weise irgendeiner religiösen Gemeinschaft zugehörig.

    Das liegt daran, dass der westliche Nordkaukasus seinerzeit viel stärker sowjetisiert war. Der östliche Nordkaukasus dagegen wurde in weit geringerem Ausmaß kolonialisiert. Natürlich wurden im Russischen Kaiserreich und dann auch in der Sowjetzeit die regionalen Dschamaas transformiert. Doch gleich die erste postsowjetische Generation stellte die dörfliche und städtische Kultur wieder her, und in den 1990ern begann die islamische Wiedergeburt.

    Für die Bewohner des östlichen Nordkaukasus sind die Beziehungen innerhalb der Dorfgemeinschaft im Grunde wichtiger als Wahlen

    Außerdem wurde in den letzten Jahren der UdSSR wieder das WaqfEigentum eingeführt (eine Art Stiftung einer Religionsgemeinschaft), und der Grundbesitz von Familien fiel als zum Hof gehöriges Land wieder an die früheren Hausherren. Das war nicht schwierig – im Kaukasus weiß jeder, wo die Steine seines Clans liegen. 

    Für die Bewohner der östlichen Republiken des Nordkaukasus sind die Beziehungen innerhalb der Dorfgemeinschaft im Grunde wichtiger als Wahlen, politische Intrigen oder die Konkurrenz verschiedener islamischer Richtungen. 

    Kann man überhaupt sagen, dass Dagestan und Inguschetien Teil des russischen Rechtsraumes sind?

    War denn etwa die Kuschtschowka Teil davon? Eigentlich geht es da doch gar nicht so sehr um den Nordkaukasus als solchen.

    Aber konkreter zu Ihrer Frage: In Dagestan haben sich zum Beispiel zwei parallele Rechtssphären herausgebildet. Eine davon betrifft kleine und zum Teil mittlere Unternehmen. In diesem Bereich hat sich ein System etabliert, das irgendwo zwischen Gewohnheitsrecht und Scharia liegt. Wobei man nicht sagen kann, dass sich dort allgemein eine Rechtsprechung nach der Scharia entwickelt hat. Das ist gewissermaßen ein Modell von Leuten, die sich ihren eigenen Rechtsraum geschaffen haben – weil es kein staatliches Gerichtssystem gibt oder dieses nicht zugänglich ist, weil zu teuer: Dort gewinnt, wer Geld und Einfluss hat. 

    Während man in den meisten Regionen Russlands so tut, als gäbe es ein Gerichtsverfahren, zahlt man in Dagestan gleich Schmiergeld

     

    Dann gibt es noch die Rechtssphäre der Bankiers, Beamten und Großunternehmer, die mit dem Staat gekoppelt ist. Sie kooperiert mit Strafverfolgungsbehörden und Gerichten – und ist genauso strukturiert wie in allen anderen Regionen Russlands auch. Nur geschieht hier alles unverhüllt. Während in Petersburg etwa ein Beamter wegen irgendetwas eingesperrt wird, bringt man ihn im Nordkaukasus einfach um. Oder während man in den meisten Regionen Russlands so tut, als gäbe es ein Gerichtsverfahren, zahlt man in Dagestan gleich Schmiergeld.

    Doch das Verständnis dessen, was ein Rechtsstaat ist, ist in ganz Russland ungefähr dasselbe. Es gibt nur kulturelle Unterschiede.

    Also ist das einfach eine Reaktion auf das nicht funktionierende Rechtssystem in ganz Russland?

    Ja. Der Nordkaukasus ist in vielem extremer: Der Prozentsatz der an der informellen Wirtschaft Beteiligten macht landesweit nur 10 Prozent aus, in Dagestan dagegen liegt er allein offiziell bei über 50 Prozent. Und all diese Unternehmer brauchen ein Gerichtssystem. 

    Warum ist der Schattensektor gerade im Nordkaukasus so explodiert?

    Ein sehr großer Teil der einheimischen Bevölkerung befand sich von Anfang an außerhalb der offiziellen Wirtschaft. In den 1990er-Jahren wurden viele Betriebe geschlossen, die in der Sowjetzeit aufgebaut wurden, und fast alle, die dort gearbeitet hatten, zogen weg. Deswegen verblieben in den nordkaukasischen Republiken praktisch keine Finanz- und Verwaltungsinstitutionen, die die Grundlage der formellen Wirtschaft bilden.

    Welche Rolle spielt die föderale Staatsmacht in dieser Struktur?

    Sie tritt vor allem als Instrument der neuen regionalen Elite auf, zur Abrechnung mit politischen Gegnern.

    Das Verständnis dessen, was ein Rechtsstaat ist, ist in ganz Russland ungefähr dasselbe. Es gibt nur kulturelle Unterschiede

    Im östlichen Nordkaukasus ist eine Art Machthybrid entstanden. Zum einen gehören dazu Vertreter der alten Nomenklatur dazu, auf der Ebene der Sekretäre des Bezirkskomitees, also Leute, die die Kontrolle über Bodenressourcen und Finanzströme behalten haben. Da sie nicht genügend operative Kapazitäten hatten, waren sie gezwungen, sich auf Kriminelle einzulassen. Dann kamen zu diesem Tandem die Silowiki dazu – und im Nordkaukasus sind die Grenzen zwischen Polizei, FSB und Kriminalität eigentlich nicht sehr klar. Dieses Hybrid hat eigene, für Moskau komplett undurchschaubare Spielregeln entwickelt.

    Letztlich nutzen die Repräsentanten der Zentralmacht die regionale „Aufgliederung“ zu eigenen Polit- und Karriere-Zwecken – und als Quelle der Bereicherung durch Korruption.

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  • Russische Parallelwelten

    Russische Parallelwelten

    Das staatliche Fernsehen ist in Russland Hauptinformationsquelle für einen Großteil der Bevölkerung. Inzwischen hat es der Kreml fast vollständig unter seine Kontrolle gebracht, wie auch internationale Nichtregierungsorganisationen immer wieder kritisieren. Im Gegensatz dazu sind unabhängige Medien meist nur über das Internet zugänglich und erreichen weit weniger Menschen.

    Der Wirtschaftswissenschaftler und Journalist Dimitri Trawin sieht die russische Bevölkerung in zwei parallelen Welten leben – abhängig davon, über welche Medien sie sich informieren.

    Vor vier Jahren hat Wladimir Putin zum wiederholten Mal die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Seitdem hat er vieles erreicht. Allerdings so gar nichts von dem, was Russland vor einer Krise hätte bewahren können.

    Gespaltenes Land

    Heutzutage hört man oft, Russland sei gespalten in eine imperiale Mehrheit, die die Politik des Kreml unterstützt, und eine demokratische Minderheit, die sich in der Opposition befindet. Tatsächlich ist es sehr viel komplizierter. Die beiden einander gegenüberstehenden Teile der Gesellschaft betrachten nicht nur das, was passiert, unterschiedlich, nein, sie leben faktisch in zwei verschiedenen Ländern. Oder genauer: Sie sehen zwei einander nicht ähnelnde Russlands, denn der eine Bevölkerungsteil sieht das Land durch den Fernsehbildschirm und der andere durch das Internet.

    Das Fernseh-Russland sieht etwa folgendermaßen aus: Es ist ein Land, das Ende der 1990er Jahre kurz vor der Auflösung stand, weil es dem Einfluss äußerer und innerer Feinde ausgesetzt war. Oligarchen und von ihnen angeheuerte liberale Spasten arbeiteten aktiv daran, Russland zu zerstückeln, denn in diesem Zustand könnte es die sich heranpirschende Nordatlantische Allianz leichter erobern. Die ist in Wirklichkeit auch gar nicht der militärisch-politische NATO-Block, sondern nur eine Gruppe europäischer Staaten, allesamt Marionetten der USA.

    Amerika hat Angst bekommen

    Zum Glück erschien Wladimir Putin auf der Bildfläche und das Leben wendete sich schnell zum Besseren. Gehälter und Renten stiegen, es lohnte sich, zu arbeiten. Das geschah, weil Putin die Oligarchen bändigte. Sie hörten auf zu stehlen und für die Tätigkeiten der liberalen Spasten zu löhnen, ergo blieb mehr Geld für das Volk übrig. Russland erhob sich von den Knien, stärkte seine Armee und begann, sich das zurückzuholen, was ihm von Rechts wegen gehört: zuerst den Nordkaukasus, einschließlich Abchasien und Südossetien, dann die Krim.

    Amerika hat Angst vor uns bekommen, hat aber weiter Intrigen geschmiedet, weswegen aus den Läden viele handelsübliche Lebensmittel verschwanden. Der Ölpreis ist gesunken aufgrund eines Komplotts zwischen den USA und den Arabern (und vielleicht auch den Türken). Mittlerweilen wollen uns die Amerikaner nicht mehr mithilfe von Vaterlandsverrätern besiegen, sondern mithilfe von Wirtschaftssanktionen. Aber China und die anderen BRICS-Staaten sind auf unserer Seite, und das bedeutet, dass wir nicht schwächer sind als Amerika – sowohl in militärischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht.

    Die Fernsehwelt gibt es nicht

    Das vom Internet geschaffene Weltbild dagegen ist völlig anders. Beginnt man, die Informationen aus der Masse im Netz verfügbarer, unabhängiger Quellen mit denen aus dem Fernsehen zu vergleichen, wird schnell klar, dass es die Fernsehwelt in der Realität nicht gibt – sie ist professionell konstruiert, eigens für die Zuschauer, die hin und wieder zu Wählern werden.

    Erstens: Ende der 1990er Jahre war Tschetschenien die einzige Republik, die aus der Russischen Föderation austreten wollte. Baschkirien und Tatarstan bekamen vom Kreml die Erlaubnis, einen Teil ihrer Erdöleinkünfte nicht an das föderale Zentrum abzugeben, was jeglichen Separatismus dort unterband. Mittlerweile wird auch Tschetschenien mit ähnlichen Mitteln in der Föderation gehalten. Mit einem Unterschied: Während die fügsamen Republiken nur einen Teil dessen einbehalten, was sie auch selbst erwirtschaften, investiert Moskau in Tschetschenien Gelder, die aus Geberregionen abgezogen werden. Bei einer derartigen finanziellen Unterstützung kommt Ramsan Kadyrow natürlich nicht auf separatistische Ideen. Aber wenn Moskau einmal das Geld ausgeht …

    Zweitens hat es nie eine Abrechnung mit den Oligarchen gegeben. Die spektakulären Geschichten um Beresowski und Chodorkowski haben den Anschein erweckt, als würde der Staat erstarken. Doch fast das ganze Vermögen der Oligarchen aus den 90er Jahren gehört noch immer seinen Besitzern, es ist sogar stark angewachsen. Außerdem sind neue Schwerreiche hinzugekommen – Vertraute aus Putins engstem Kreis oder solche, die sich in Putins System verdient gemacht haben. Dabei ist jedem Oligarchen klar, dass er bei der ersten Aufforderung von Seiten des Kreml verpflichtet ist, für jegliche Bedürfnisse der Machthaber umgehend Geld zu überweisen. Solche Transfers garantieren die Unantastbarkeit der Vermögen.

    Drittens: Das Leben ist nicht deswegen besser geworden, weil Putin den Oligarchen das Geld abgenommen hat, sondern dank der gestiegenen Ölpreise. Aus demselben Grund hat sich übrigens auch das Kapital der Oligarchen vervielfacht. Und aus demselben Grund wird das Leben jetzt schlechter. Immer noch ist Putin Russlands Präsident, doch von dem einstigen Wirtschaftswunder fehlt jede Spur. Unsere Einkommen verlieren wegen der hohen Inflation zunehmend an Wert, und der Staat hat keinerlei Möglichkeit, sie an die steigenden Verbraucherpreise anzugleichen. Die Situation kann sich im Weiteren nur verschärfen, es sei denn, der Ölpreis sollte aus irgendeinem Grund wieder steigen.

    Viertens: Die NATO ist den Grenzen der Russischen Föderation nähergerückt, weil sie von Staaten, die Russland misstrauten, darum gebeten wurde. Dazu gehören Tschechien, die Slowakei, Polen, die baltischen Staaten, nicht aber die Ukraine und Georgien. Misstraut haben Russland diejenigen Länder, die in der Vergangenheit Erfahrungen mit dem Eindringen sowjetischer (und einst zaristischer) Truppen gemacht hatten. Vertraut haben die, mit denen uns seit jeher freundschaftliche Beziehungen verbinden. Nach den Ereignissen in Südossetien und auf der Krim ist die Stimmung in Georgien und der Ukraine umgeschwungen, man sucht nun eher Unterstützung durch den Westen. Und obwohl diese Länder im Moment nicht in die NATO aufgenommen werden, sind sie bereits unsere Gegner im Geiste.

    Fünftens: Die Lebensmittel sind aus den Geschäften verschwunden nicht infolge der Sanktionen, die der Westen Russland auferlegt hat, sondern als Folge der Sanktionen unserer Regierung gegen den Westen. Der Kreml stellt sich der westlichen Welt entgegen, indem er nach dem Prinzip „Schlag die Eigenen, damit die Anderen dich fürchten“ handelt. Die Sanktionen gegen Russland bestehen im Wesentlichen aus Maßnahmen, die der einfache Bürger nicht einmal spürt: eine schwarze Liste gegen Staatsbeamte und Politiker, die gerne nach Europa und in die USA reisen, Einschränkung der Kreditgewährung für russische Unternehmen, die Aufhebung der Kooperation von russischen und westlichen Unternehmen im Bereich des Militärs …

    Der Unterschied

    Wie sieht nun die wirkliche Welt im Unterschied zur Fernsehwelt aus?

    Russland war in den 1990er Jahren ein einheitlicher Staat und ist es auch heute. Solche Regionen wie Orjol oder Brjansk kennen von jeher keinen Separatismus. Tschetschenien führte damals ein eigenständiges Leben und tut es auch heute noch, als der Teil der Russischen Föderation, der aktiv russländische Ressourcen verschlingt. Die russische Bevölkerung ist aus Tschetschenien geflohen und hat nicht vor, zurückzukehren. Nicht nur Touristen, selbst Ermittler haben Angst, sich dort blicken zu lassen, denn Sicherheitsgarantien gibt es dort für niemanden.

    Die Wirtschaft hat sich in den 2000er Jahren dank des teuren Erdöls erst hochgerappelt und ist dann in sich zusammengefallen. Heute ist unser Wirtschaftssystem im Großen und Ganzen genauso wenig konkurrenzfähig wie in dem Jahr, in dem Putin in den Kreml einzog. Der Lebensstandard ist natürlich höher als Ende der 1990er Jahre, aber in den vergangenen 16 Jahren ist der Wohlstand in allen funktionierenden Staaten der Welt gestiegen, von ganz hoffnungslosen Fällen mal abgesehen. Vielleicht hat sich Russland kurz von den Knien erhoben, aber nur, um sich dann gleich wieder hinzuhocken. Bekanntlich ist das nicht sehr bequem. Und wenn wir nichts unternehmen, landen wir bald auf dem Hintern.

    Die Einkommensdifferenz war in Russland damals sehr hoch und ist es bis heute. Aber Ursache dieses Problems sind nicht die Oligarchen (sie sind nur eine Folge), sondern die Allmacht der Bürokratie, die sich in den Köpfen der Fernsehzuschauer in den raffinierten Begriff „staatliche Regulierung“ verwandelt. Die Bürokratie reguliert tatsächlich alles, aber sie tut es mithilfe von Schmiergeldern und „Provisionen“. Dabei wuchert der Grad der Korruption um so stärker, je mehr sich der bürokratische Staat um das Volk „kümmert“.

    Der einzige Anlass zur Freude vor diesem freudlosen Hintergrund: Die NATO hat uns nicht bedroht und bedroht uns auch heute nicht. Hand aufs Herz, das ist uns allen bewusst. Selbst denjenigen, die nicht müde werden, Gefahren zu beschwören. Denn bei den momentanen Machtverhältnissen würden wir einen Krieg gegen die NATO-Staaten verlieren oder gemeinsam mit ihnen die Menschheit vernichten. Der eine Ausgang wäre ebenso fatal wie der andere. Und jemand, der an die Realität eines solchen Krieges glaubt, wäre schon längst in der Klapsmühle gelandet.

    Doch unsere Hirne sind noch halbwegs intakt – die NATO-Bedrohung ist ein Bedrohungs-Imitat, das der Mehrheit der Gesellschaft sehr gut gefällt. Wenn die NATO nämlich angreifen will, sich aber nicht traut, dann heißt das, wir sind stark. Trotz Krise, Verschlechterung des Lebensstandards und bodenloser Korruption. Für den Fernsehzuschauer ist das eine gute Nachricht. Genauer gesagt keine Nachricht, sondern eine Illusion, ein Imitat. „Es ist so leicht, mich zu betrügen – ich selbst betrüge mich so gern!“, hat Puschkin seinerzeit so treffend bemerkt.*         

    Putin ist fürwahr ein großer Imitator. Deshalb gewinnt er auch eine Wahl nach der anderen.


    *aus: Ein Geständnis, aus dem Russ. von Friedrich Fiedler (1879–1917)

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