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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Geschäfte und Geopolitik in Afrika

    Geschäfte und Geopolitik in Afrika

    Seit dem vergangenen Jahr spricht Putin in seinen Reden so häufig wie nie zuvor über Afrika. Woher kommt das gesteigerte Interesse? Der Ökonom Wladislaw Inosemzew beleuchtet auf Riddle die Geschäfte russischer Militärunternehmen, antikoloniale Rhetorik und geopolitische Ambitionen des Kreml auf dem Kontinent.

    Wladimir Putin empfängt im September 2023 seinen südsudanesischen Amtskollegen Salva Kiir Mayardit im Kreml. Russland hatte dessen Armee an einem UN-Embargo vorbei mit Waffen versorgt. / Foto © IMAGO, ITAR-TASS

    Vor 30 Jahren gab Wladimir Shirinowski, ein mittlerweile verstorbener russischer Politiker, der damals große Hoffnungen weckte, ein Buch heraus. Er drängte dort auf ein Ausgreifen Russlands in eine Richtung, die heute als „globaler Süden“ bezeichnet wird. Und schrieb von der Hoffnung, dass russische Soldaten einst ihre Stiefel im Indischen Ozean säubern würden. Seitdem haben die Bestrebungen, im Raum zwischen der Türkei und Indien, zwischen dem Persischen Golf und China einen Krieg zu führen, bei vielen abgenommen. Die Interessen der Großmächte haben sich Richtung Afrika verschoben. Auch Russland wurde in dieser Region aktiv und ist es immer noch, und zwar auf die ihm eigene, spezifische Weise.

    Militärunternehmen mischen sich in die inneren Angelegenheiten der Länder ein

    Präsident Putin hatte sich in den 2000er Jahren noch hauptsächlich mit der Wiederherstellung der Verbindungen zu den ehemaligen Satelliten der Sowjetunion befasst. Dazu gehörte, dass die Schulden recht erfolgreicher afrikanischer Staaten abgeschrieben wurden (bis 2008 wurden Schulden von über 14,5 Milliarden US-Dollar erlassen, unter anderem die von Libyen und Algerien). Ab 2012 verschoben sich die Akzente jedoch beträchtlich. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit des Kreml und seiner Stellvertreter gerieten nun die tyrannischsten Staaten des Kontinents, die von inneren Konflikten zerrissen und reich an wertvollen Bodenschätzen sind: der Sudan, die Zentralafrikanische Republik, Mali, Niger und eine Reihe anderer Staaten. Die RAND Corporation, ein US-amerikanischer Thinktank, hat jüngst in einer Studie 34 Fälle aufgeführt, in denen sich Russland seit 2005 in die inneren Angelegenheiten dieser Länder eingemischt hat. Dieses Vorgehen erfolgte zum Großteil nicht durch offizielle Stellen Russlands, sondern durch private Militärunternehmen und diverse Berater.

    Hier ist anzumerken, dass sich insbesondere nach 2012, nach Putins Rückkehr in den Kreml, dieses gesteigerte Interesse Russlands auf Nord- und Zentralafrika konzentrierte: Russland unterstützte die ihm nahestehenden Kräfte im Bürgerkrieg in Libyen. Und es versuchte, im Sudan Präsident Umar al-Baschir beim Machterhalt zu helfen. Gleichzeitig hat Russland die Armee des südsudanesischen Präsidenten Salva Kiir Mayardit bewaffnet, wobei das von der UNO verhängte Embargo auf Waffenlieferungen nach Südsudan umgangen wurde. Nachdem der Bürgerkrieg in der Zentralafrikanischen Republik 2016 einigermaßen beendet war, schickte Russland erstmals offiziell Waffen und Militärausbilder in das Land (meist Angehörige privater Militärstrukturen). Zuvor hatten sich die europäischen Staaten und vor allem Frankreich unfähig gezeigt, diesen Konflikt zu schlichten: Sie zogen den größten Teil ihrer Kontingente ab; die letzten französischen Soldaten verließen das Land 2022. Die Gewinne der Wagner-Gruppe in dieser Region beliefen sich bald schon auf mindestens mehrere Hundert Millionen Dollar. In Russland kamen Gerüchte auf, dass die Zentralafrikanische Republik quasi als „Tresor“ für Vermögen diene, die die russische politische Elite zusammengeraubt hatte. Die russische Expansion ging aber weiter: 2021 beteiligten sich kremlfreundliche Kräfte am Putschversuch im Tschad, indem sie die regierungsfeindlichen Aufständischen im Süden Libyens trainierten. Dann wurden Wagner-Leute in Mali gesichtet, wo sie auf Seiten der Regierungstruppen kämpften und in massenhafte Repressionen gegen Zivilisten verwickelt waren. Und im vergangenen Jahr wurden in Niger überall russische Flaggen geschwenkt, um Jewgeni Prigoshin zu grüßen, der gerade seine letzten Tage verlebte – zuvor hatten dort Militärs den rechtmäßigen Präsidenten Mohamed Bazoum durch einen Putsch gestürzt.

    Lukrative Geschäfte mit afrikanischen Bodenschätzen

    All diese Jahre machten Angehörige privater russischer Militärfirmen einträgliche Geschäfte: Sie sicherten die Förderung von Edelsteinen und -metallen, die sie wiederum als Bezahlung für ihre Waffen und Dienste erhalten hatten. Es besteht kein Zweifel, dass die Einnahmen mit Offiziellen in Moskau geteilt wurden, umso mehr, als Putin 2023 selbst einräumte, dass die Wagner-Gruppe aus Haushaltsmitteln finanziert wurde. Die Beseitigung Prigoshins und die anschließende „Wiederherstellung der alleinigen Befehlsgewalt“ in der russischen Armee führten zu Korrekturen in der russischen Politik in Afrika: Der stellvertretende russische Verteidigungsminister Junus-bek Jewkurow war allein in den letzten Monaten auf Staatsbesuchen in Sudan, Libyen und Niger. Seither sollte man von neuen „aussichtsreichen“ Plänen sprechen, die der Kreml ausbrütet.

    Je mehr Wagner den russischen Einflussbereich erweiterte, desto stärker begann man wohl im Kreml, auch größer zu denken

    Afrika wurde bislang von Putin und seiner engsten Umgebung als eine Region betrachtet, in der Russland eine gewisse (wenn auch nicht unbedingt sehr große) Präsenz haben sollte. Das Beispiel China mit seinen gigantischen Investitionen erschien attraktiv, für Russland aber kaum realisierbar. Westliche Experten sprechen heute eher davon, dass Russland sein eigenes autoritär-kleptokratisches Modell und nicht die chinesische Variante von Wirtschaftsentwicklung nach Afrika trägt. Je mehr Wagner mit minimalen Ausgaben (und mit Gewinn für sämtliche Nutznießer) den russischen Einflussbereich erweiterte und dadurch zeigte, wie einfach die ehemalige koloniale Präsenz in der Region zu entwurzeln ist, desto stärker begann man wohl im Kreml, auch größer zu denken.

    Ein Korridor bis zum Atlantik

    Seit dem Beginn der intensiven Zusammenarbeit zwischen Russland und dem Sudan hatte es in der Presse Berichte über eine russische Initiative für einen eigenen Marinestützpunkt am Roten Meer gegeben. Moskau strebte eindeutig nach Präsenz in dieser strategisch wichtigen Region, wo bislang nur die vom Iran unterstützten Huthi-Rebellen ihr Unwesen treiben. Dieser Plan wurde bislang nicht verwirklicht. Dafür bilden die immer neuen Einflussgebiete Russlands in Afrika allmählich eine Art Korridor, der sich vom Roten Meer in Richtung Atlantik erstreckt, zu dessen Ufern der Kreml sehr gern einen Zugang hätte. Stand heute, nach dem kürzlich erfolgten Umsturz in Burkina Faso, ist es bis zum Ozean nur noch ein kleiner Schritt: In dem Land sind zwar nicht eindeutig prorussische Kräfte an die Macht gekommen (auch wenn der neue Regierungschef als erster auf dem Russland-Afrika-Forum eintraf), aber immerhin antiwestliche.

    Werden die Europäer weiter ihre Positionen aufgeben oder versuchen sie, eine Zunahme der russischen Präsenz aufzuhalten?

    Westliche Experten verweisen in letzter Zeit auf diese Prozesse, auch wenn sie diese noch nicht direkt mit dem Einfluss Moskaus in Verbindung bringen. Bezeichnend in dieser Hinsicht ist der Artikel von Comfort Ero und Murithi Mutigi in der neuen Ausgabe von Foreign Affairs. Die Autoren stellen dort einen „Coup-Korridor“ fest, der sich von Ost nach West durch die zentralen Regionen des Kontinents zieht. Allerdings sollte man nicht allein auf die Umstürze verweisen, sondern auch deren Folgen berücksichtigen. Im Fall Guinea arbeitet die neue Regierung etwa an einer Rückkehr zu demokratischen Verfahren und fördert Beziehungen zu europäischen Staaten. Die Frage ist jetzt vielfach die: Werden die Europäer ihre Positionen in Westafrika (wo lange Zeit der französische Einfluss groß war) weiter aufgeben oder versuchen sie, eine Zunahme der russischen Präsenz dort aufzuhalten?

    Antikoloniale Rhetorik und bescheidene Wirtschaftshilfen

    Moskau setzt jetzt erkennbar eine in der Region populäre antikoloniale Rhetorik ein. Oft werden jene Politiker und Aktivisten unterstützt, die einen Panafrikanismus verfechten, selbst wenn sie in Europa geboren sind und dort ihre Bildung erhielten. Ein Beispiel ist Kémi Séba, der seine Bewegung schwarzer Suprematisten und Antisemiten begründete, nachdem er seine Bildung in Frankreich und den USA erhalten hatte.

    Anders als Peking investiert Moskau keine Riesensummen in afrikanische Volkswirtschaften. Russland geht in der Region aber viel härter vor und schreckt auch nicht vor politischer Destabilisierung zurück. Für eine Vollendung eines solchen Korridors, der den afrikanischen Kontinent durchschneidet, muss der Kreml die Kontrolle über sämtliche dieser kleineren, aber eng mit Frankreich verbundenen Länder herstellen. Hierzu gehören die Elfenbeinküste, Senegal und Kamerun, wo sich antikoloniale Stimmungen bemerkbar machen. Diese Länder versuchen aber auch, nachhaltige Beziehungen zu Frankreich aufrechtzuerhalten, weil sie auf Hilfe bei der Lösung interner Probleme hoffen. 

    Russland erzeugt eine Vielzahl von Problemen und beteiligt sich bei keinem davon an einer Lösung

    Vor kurzem noch hatten viele westliche Experten zu der Ansicht geneigt, dass „ohne Russland keines der globalen Probleme gelöst werden“ könne. Jetzt aber muss man sich eingestehen, dass Russland eine Vielzahl von Problemen und Konflikten erzeugt, und sich bei keinem von ihnen an einer Lösung beteiligt. Das ist auch in Afrika zu sehen. Ganz gleich, wohin nun die russischen Interessen durchgedrungen sind: Es ist weder ein stabiler Frieden hergestellt noch eine nennenswerte Prosperität erreicht worden. Afrika ist bekanntlich eine der ärmsten Regionen der Welt. Allerdings sind auch hier Unterschiede zu beachten. Bei einem durchschnittlichen afrikanischen BIP pro Kopf von 2150 US-Dollar ist der russische Einfluss in den ärmsten Ländern am deutlichsten spürbar: in Mali (875 USD), im Tschad (703 USD), in Niger (631 USD), in der Zentralafrikanischen Republik (539 USD) und im Südsudan (417 USD). Allerdings sind jetzt auch die wohlhabenderen Länder Senegal (1637 USD), Elfenbeinküste (1668 USD) und Kamerun (2560 USD) in Gefahr. Es bleibt zu hoffen, dass die russischen „Influencer“ nicht zum Ozean durchkommen und ein „Einflusskorridor“ den Kontinent niemals zweiteilen wird. Damit das nicht geschieht, muss sich allerdings die Haltung in den europäischen Hauptstädten gegenüber den Problemen in Afrika wandeln – von Gleichgültigkeit zu Interesse.

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  • Putins Ökonomie des Todes

    Putins Ökonomie des Todes

    Seit dem Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges gegen die Ukraine hat die russische Führung den Sold für Berufssoldaten und die Kompensationszahlungen für jeden Gefallenen massiv erhöht. Der Ökonom Wladislaw Inosemzew hat einmal alle Zahlungen zusammengerechnet und sie damit verglichen, was ein junger Mann im zivilen Leben verdienen könnte. Sein Fazit: Gerade für Familien aus den ärmeren Regionen des Landes eröffnet der Kriegseinsatz eines Angehörigen ungeahnte Einkommensperspektiven. Der Tod auf dem Schlachtfeld ist im heutigen Russland nicht nur ein „ehrenvolles Schicksal“, sondern auch ein lukrativer Einsatz des eigenen Lebens.

    Der Tod auf dem Schlachtfeld ist im heutigen Russland nicht nur ein „ehrenvolles Schicksal“, sondern auch ein lukrativer Einsatz des eigenen Lebens / Foto © Celestino Arcex/NurPhoto/imago images
    Der Tod auf dem Schlachtfeld ist im heutigen Russland nicht nur ein „ehrenvolles Schicksal“, sondern auch ein lukrativer Einsatz des eigenen Lebens / Foto © Celestino Arcex/NurPhoto/imago images

    Unter russischen Intellektuellen hat sich jüngst die Erkenntnis breit gemacht, dass der Staat den Tod aktiv als etwas Erhabenes und Reinigendes instrumentalisiert. „Sie werden einfach verrecken, aber wir kommen in den Himmel“ – das mag noch wie ein Witz geklungen haben. Aussagen, dass der Tod auf dem Schlachtfeld ein gelebtes Leben wertvoll mache, sowie Äußerungen weltlicher und religiöser Führer über den Tod als besondere Leistung deuten jedoch darauf hin, dass in der Ideologie von Putins Russland zwar vielleicht noch kein Todeskult herrscht, aber eine von der Soziologin Dina Khapaeva als „Thanatopathie“ bezeichnete Haltung offensichtlich weit verbreitet ist. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass die Versuche, den gewaltsamen Tod als etwas Natürliches oder gar Erhabenes darzustellen, mit der gegenwärtigen Faschisierung Russlands einhergehen. Parallelen zum Deutschland der 1930er Jahre drängen sich auf. Allerdings ist Russland keine klassische, ideologisierte, totalitäre Gesellschaft mit einer Faszination für Kampf und Tod, sondern ein durch und durch kommerzieller Staat, in dem Geld alles entscheidet. Daher sollte einer Analyse der ideologischen Hintergründe auch eine Bewertung der wirtschaftlichen Aspekte folgen.

    Der Kreml hat den umfassenden Angriffskrieg gegen die Ukraine mit dem Versprechen begonnen, dass die „militärische Spezialoperation“ mit Vertragssoldaten durchgeführt wird. Aufgrund der enormen Truppenverluste erlaubten die russischen Behörden jedoch bald die Rekrutierung von Häftlingen für sogenannte private Militärunternehmen („TschWK“) und verkündeten später eine Mobilmachung, die viele an die Einberufungen von 1941 erinnerte. Diverse Experten sagten voraus, dass der „Teilmobilmachung“ auch eine allgemeine Mobilmachung folgen werde. Die ist bislang jedoch ausgeblieben, vielmehr ließ das Militär verlauten, dass der Personalmangel in der Armee überwunden sei. Wie kann das sein, insbesondere angesichts der Verluste, die die russische Armee weiterhin erleidet? Vielleicht liegt die Antwort in der seltsamen Verbindung zwischen dem Todeskult und dem Kult des Geldes.

    Ein Soldat bekommt heute mehr als das Dreifache des Durchschnittsgehalts

    Betrachtet man die ersten Maßnahmen, die von der russischen Führung 2022 ergriffen wurden, so fällt auf, dass die Vertragsarmee, die im Februar in die Ukraine einmarschiert ist, noch eine ganz andere Armee war als jene, die im Laufe des Jahres gebildet wurde. So war beispielsweise 2019 ein Vertragssoldat eine Person, die bereits über militärische Erfahrung verfügte und mit 38.000 bis 42.000 Rubel [etwa 500 bis 550 Euro zum damaligen Kurs – dek] brutto besoldet wurde. Wenn man bedenkt, dass das Durchschnittsgehalt in Russland damals bei 47.500 Rubel lag [etwa 630 Euro – dek], bekam das Verteidigungsministerium also für vergleichsweise wenig Geld einen gut ausgebildeten Soldaten. Wenn ein Soldat ums Leben kam, konnten dessen Angehörige mit einer Entschädigung von drei Millionen Rubel rechnen [damals etwa 40.000 Euro – dek]. Ende 2022 sahen die Bedingungen für Vertragssoldaten ganz anders aus: Der Sold betrug mindestens 195.000 Rubel [etwa 3000 Euro – dek]. Das ist mehr als das Dreifache des offiziellen Durchschnittsgehalts. Zudem lag im Todesfall allein die „Einmalzahlung des Präsidenten“ schon bei fünf Millionen Rubel [etwa 77.600 Euro – dek]. Zugleich wurde jeder genommen, der wollte, selbst Personen ohne jegliche militärische Erfahrung. Mit anderen Worten: Der Preis eines Soldaten ist in Russland um ein Vielfaches gestiegen, während seine professionellen Qualitäten in einem Ausmaß gesunken sind, das sich kaum abschätzen lässt. 

    Bis zum Beginn des umfassenden Angriffskriegs gegen die Ukraine war die russische Armee klar unterteilt in Einheiten mit Vertragssoldaten und Einheiten mit Wehrpflichtigen (Vertragssoldaten wurden zehnmal besser bezahlt als Wehrpflichtige). Inzwischen ist alles anders: Jetzt sind die im Rahmen der Mobilmachung eingezogenen Soldaten de facto ganz normale Vertragssoldaten, die den Regelungen für die Mindestbesoldung und die Entschädigungen im Falle von Verwundung und Tod unterliegen (gerade die Großzügigkeit gegenüber den Einberufenen im Herbst 2022 hat die Behörden dazu veranlasst, den Sold für „alte“ Vertragssoldaten zu erhöhen). Anders gesagt: Der Tod auf dem Schlachtfeld ist im heutigen Russland nicht nur ein „ehrenvolles Schicksal“, sondern auch ein lukrativer Einsatz des eigenen Lebens. 

    Wie lukrativ? Die Antwort auf diese Frage mag überraschen. 

    Nehmen wir an, ein Bürger wird im Rahmen der Mobilmachung eingezogen und bald in die besetzten Gebiete der Ukraine geschickt, wo er fünf Monate kämpft und letztlich einer verirrten Kugel zum Opfer fällt. Sein Leben erlangt damit nicht nur eine „besondere Bedeutung“, sondern es wird auch noch mit viel Geld vergolten. Zunächst bezieht ein Soldat vom Moment der Mobilmachung an ein Gehalt von 195.000–200.000 Rubel [etwa 2000 Euro – dek]. Bei fünf Monaten Dienst kommt er also auf eine Million Rubel [knapp 10.000 Euro – dek]. Hinzu kommt die „Einmalzahlung des Präsidenten“ in Höhe von fünf Millionen Rubel [knapp 50.000 Euro für jeden Gefallenen – dek]. Darüber hinaus haben die Angehörigen des Soldaten Anspruch auf eine Versicherungsleistung, deren Höhe knapp drei Millionen Rubel [etwa 30.000 Euro – dek] beträgt. Und es gilt weiterhin die reguläre Entschädigung für den Tod eines an Kampfhandlungen beteiligten Militärangehörigen (seit 1. Januar 2023 beträgt diese 4,7 Millionen Rubel [etwa 47.000 Euro – dek]). Schließlich bekommen die Angehörigen des Gefallenen noch mindestens eine Million Rubel [etwa 10.000 Euro – dek] von den regionalen Behörden. Für die Angehörigen eines gefallenen Soldaten, der fünf Monate gedient hat, summieren sich die Zahlungen aus Lohn und Entschädigungen nach den geltenden Gesetzen und Vorschriften also auf etwa 14,8 Millionen Rubel [knapp 149.000 Euro – dek].

    Putins Regime heroisiert und glorifiziert den Tod nicht nur, es lässt ihn auch rational als eine gute Wahl erscheinen

    Schauen wir uns nun die Alternative an, und zwar das Leben, das unseren Helden erwartet hätte, wenn Putin nicht mit der „Entnazifizierung“ des „Bruderlandes“ begonnen hätte. Nehmen wir an, die Person wäre im Alter von 35–40 Jahren aus einer Region in den Krieg gezogen, die im Todesfall eine Million Rubel auszahlen kann (das trifft auf die Mehrzahl der Regionen in Russland zu). Zum Beispiel aus der Oblast Iwanowo, wo das Durchschnittsgehalt Ende 2022 bei 35.000 Rubel [etwa 350 Euro – dek] lag (ähnlich ist die Situation in den Oblasten Kostroma, Orjol, Tambow, Brjansk und Pskow, im gesamten Föderationskreis Nordkaukasus und in vielen Regionen Sibiriens, wo das durchschnittliche Monatsgehalt 40.000 Rubel nicht übersteigt). Da die Mobilmachung Männer betrifft und die Gehälter von Männern russlandweit im Durchschnitt 28 Prozent über denen von Frauen liegen, gehen wir davon aus, dass unser Soldat im zivilen Leben 40.000–42.000 Rubel verdient hat. In diesem Fall wären alle oben genannten Zahlungen so hoch wie sein Gesamtverdienst über einen Zeitraum von 31 Jahren. Fazit: Zieht ein Mann in den Krieg und kommt mit 30-35 Jahren ums Leben (also im besten und aktivsten Alter), ist sein Tod wirtschaftlich vorteilhafter als sein weiteres Leben. Mit anderen Worten, Putins Regime heroisiert und glorifiziert den Tod nicht nur, es lässt ihn auch rational als eine gute Wahl erscheinen. Zum Vergleich: In Ländern, in denen sich Staat und Gesellschaft vor allem auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der Bürger konzentrieren, wird der Tod eines Soldaten mit zwei bis drei durchschnittlichen Jahreseinkommen bewertet (zum Beispiel erhält eine Witwe in den USA eine einmalige Entschädigung in Höhe von 100.000 Dollar). 

    Der Wunsch nach „siegreichen Feldzügen“ könnte in Zukunft noch größer werden

    Das Obengenannte bezieht sich auf Soldaten der Streitkräfte der Russischen Föderation und der Rosgwardija, allerdings erhalten auch die Angehörigen von Wagner-Söldnern finanzielle Leistungen (in diesem Fall geht es um geringere Summen – Medienberichten zufolge beläuft sich hier die Entschädigung auf fünf Millionen Rubel, die Auszahlung erfolgt in bar). Mit anderen Worten: In Russland hat der „Ankauf von Menschenleben“ im großen Stil begonnen. Bleibt die Frage, ob die Entschädigung in Höhe des Durchschnittseinkommens für das gesamte restliche Arbeitsleben „angemessen“ ist, oder ob dieser Betrag weiter erhöht werden muss. Letzteres dürfte zunächst eher unwahrscheinlich sein, da die Bedingungen ohnehin lukrativ erscheinen. Wichtig ist aber etwas anderes: In die russische Armee treten derzeit und auch künftig vor allem Bürger aus relativ armen Regionen ein, wobei die meisten selbst nach lokalen Maßstäben über ein geringes Einkommen verfügen. Dementsprechend wird die Masse der Soldaten, die alle Strapazen des Militärdienstes überstanden haben, sich auch deutlich vom Durchschnittsbürger unterscheiden, und der Wunsch nach weiteren „siegreichen“ Feldzügen wird nur noch größer werden. 

    Die Ausgaben für Sold und Entschädigungen entsprechen knapp zehn Prozent des Staatshaushalts der Vorkriegszeit

    Russlands Führung betrachtet diesen Umstand indes nicht als Risiko. Ganz im Gegenteil, sie bemüht sich, die derzeitige Praxis zur Norm zu machen, indem sie Militärangehörigen immer größere Privilegien gewährt. So wurden nicht nur staatliche Zahlungen, sondern jegliche Hilfeleistungen für Soldaten von der Einkommensteuerpflicht befreit, und Kompensationszahlungen für gefallene Angehörige fließen im Falle einer Insolvenz der berechtigten Person nicht in die Konkursmasse ein. Paradoxerweise rechnet der Kreml ernsthaft mit einem positiven wirtschaftlichen Effekt durch die Schaffung einer hochbezahlten Berufsarmee. Geht man davon aus, dass die Zahl der Einberufenen und der Vertragssoldaten bei 400.000–450.000 liegt, dann beläuft sich deren Besoldung insgesamt auf mindestens eine Billion Rubel pro Jahr [etwa 10 Milliarden Euro – dek]. Noch einmal etwa die gleiche Summe muss der Staat für Entschädigungszahlungen für getötete und verwundete Soldaten aufwenden, wenn wir davon ausgehen, dass es pro Jahr 50.000 [Getötete] und 100.000 [Verwundete] sind. Diese Beträge entsprechen knapp zehn Prozent der föderalen Staatsausgaben in der Zeit vor dem Krieg. Einige Experten sagen sogar voraus, dass eine neue soziale Gruppe von „jungen Reichen“ entstehen wird. Generell wird die „Todesökonomie“ zu einer Art neuer Normalität für die Staatsmacht und für in ihrem Dienst stehende Wirtschaftsfachleute. 

    Natürlich wäre es verfrüht, nach lediglich anderthalb Jahren Krieg weitreichende Schlüsse zu ziehen, auch wenn die Geschichte zeigt, dass sich Zahlungen und Entschädigungen aller Art zwar leicht erhöhen lassen, eine Kürzung aber praktisch unmöglich ist. Eines ist allerdings klar: Die russische Führung hat nach entsprechender „ideologischer Vorbereitung“ tatsächlich ein System geschaffen, in dem das Leben für einen Menschen aus wirtschaftlicher Sicht nicht die beste Wahl darstellt. Mit dieser Erkenntnis wird ein Bewusstseinswandel einhergehen, der sich zweifellos auf den gesamten sozialen Bereich auswirken wird, von der Gesundheitsversorgung bis zum Rentensystem. Man hat das Land an den Tod gewöhnt und das Sterben wirtschaftlich attraktiv gemacht. 

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  • Warum sind so viele Russen für den Krieg?

    Warum sind so viele Russen für den Krieg?

    Vor über einem Monat startete Russland den Angriffskrieg in der Ukraine. Die ganze Welt verfolgt heute quasi in Echtzeit die Kämpfe um Mariupol und Charkiw, sieht die Morde an der Zivilbevölkerung in Butscha. Und in Russland? Wie nehmen dort die Menschen die Ereignisse wahr – gerade auch angesichts der massiven Propaganda und Zensur? Wie wirkt sich all das auf die Umfragewerte aus?

    Denis Wolkow, Direktor des unabhängigen Umfrageinstituts Lewada-Zentrum, analysiert auf Riddle aktuelle Umfrageergebnisse, wonach mehr als 80 Prozent den Krieg in der Ukraine befürworten.



    Umfragen zeigen, dass ein Großteil der Befragten den Einsatz der russischen Streitkräfte in der Ukraine unterstützt. Dabei ist die Mehrheit – 53 Prozent – „eindeutig dafür“, während 28 Prozent angeben, „eher dafür“ zu sein. Rund 14 Prozent der Russen sind dagegen, weitere sechs Prozent wussten es nicht.

    Die Unterstützung ist groß, aber nicht homogen

    Etwa die Hälfte der Bevölkerung lässt sich zur Gruppe der eindeutigen Befürworter zählen – sie zweifeln nicht an der Richtigkeit des Geschehens, weisen Kritik an der russischen Führung sowie den Streitkräften zurück, und die Ereignisse erfüllen sie mit Stolz auf ihr Land. In dieser Gruppe ist die Haltung besonders entschlossen, die Befragten sind am ehesten bereit, das Ganze als einen „Kampf gegen Nationalisten“ zu sehen, als „notgedrungene Maßnahme“, „Präventivschlag“ und „Verteidigung gegen die NATO“. Sie stellen die Berichterstattung der staatlichen Medien praktisch nicht infrage, glauben bereitwillig den Erklärungen von Wladimir Putin, der in dieser Gruppe die größte Unterstützung hat. Die Befragten dieser Kategorie betonen, das Geschehen sei nichts anderes als eine „Spezialoperation“, weil „wir nichts erobern, sondern [die Ukraine – dek] von Nazis und Faschisten befreien“, weil dort sonst „alles dem Erdboden gleichgemacht und niemand überleben würde“ oder „weil Wladimir Wladimirowitsch das so sagt. Und ich glaube ihm.“

    Gefühle wie Unsicherheit, Angst oder Grauen

    Unter den Befragten, die das Vorgehen des russischen Militärs „eher befürworten“, ist die Unterstützung weniger eindeutig, es gibt gewisse Vorbehalte: Im Vergleich zur ersten Gruppe werden hier doppelt so häufig Gefühle wie Unsicherheit, Angst oder Grauen angesichts der Ereignisse genannt, das Gefühl von Stolz ist deutlich geringer ausgeprägt. Für diese Gruppe ist die „Spezialoperation“ in erster Linie durch den Wunsch motiviert, die russischsprachige Bevölkerung zu schützen. Sie verfolgen die Ereignisse nur halb so oft, die Unterstützung für die Regierung ist hier, genau wie das Interesse an Politik insgesamt, geringer. In dieser Kategorie sind Aussagen wie diese typisch: „Ich würde das gerne nicht unterstützen, aber es muss sein, es gibt keinen anderen Ausweg mehr … Acht Jahre lang haben sie Luhansk und Donezk bombardiert … Mir wäre lieber, es gäbe keinen Krieg und die, die das Sagen haben, würden das Problem friedlich lösen … Aber es funktioniert nicht“, kommentierte eine Teilnehmerin bei der Umfrage im März ihre Antwort.

    Wie auch bei Wahlforschungen lässt sich auch hier ein großer Teil der Befragten zum sogenannten „Sumpf“ zählen: Typischerweise vertreten sie weniger eindeutige Ansichten und tendieren dazu, sich der vorherrschenden öffentlichen Meinung anzuschließen und der offiziellen Linie. Ein Teil tut das nach dem Motto: „Nicht, dass noch was passiert.“ Aber zu sagen, dass sie alle „in Wirklichkeit“ anders denken, eigentlich in der Opposition sind und nur Angst haben zu antworten, wäre falsch. Sie sind immer noch dafür, wenn auch mit Einschränkungen.

    Eine Generationenfrage?

    Unter den Gegnern der „Spezialoperation“ sind überproportional viele junge Menschen (obwohl es nicht nur die junge Generation ist), Menschen, die in Moskau und in anderen Metropolen leben, und solche, die sich über das Internet und Telegram-Kanäle informieren. In dieser Gruppe finden sich deutlich weniger ältere Menschen, Fernsehzuschauer und Putin-Anhänger. Das ist der Teil der russischen Bevölkerung, der weniger abhängig ist vom Staat, eine kritischere Einstellung gegenüber der russischen Regierung vertritt, gegen die Verfassungsänderungen 2020 gestimmt hat, die Opposition unterstützt und 2021 auf die Straße gegangen ist. Diese Menschen sind besser in die globale Welt integriert, sie haben Europa bereist und sind dem Westen gegenüber positiver eingestellt. Man kann also sagen, dass in der Haltung zur sogenannten „Spezialoperation“ im Grunde dieselben Widersprüche hervorgetreten sind, die in der russischen Gesellschaft schon lange bemerkbar sind.

    Für diejenigen, die nicht einverstanden sind mit den Ereignissen, kommt die Situation in der Ukraine einer Katastrophe gleich: Sie sprechen davon, dass man die menschlichen Opfer, den Tod von Zivilisten und die Zerstörung nicht hinnehmen dürfe; sie verurteilen die Einmischung in die Angelegenheiten eines anderen Staates. Vor allem junge Respondenten sprechen sich häufig grundsätzlich gegen jedes militärische Vorgehen aus. Den Konflikt mit der Ukraine und dem Westen empfinden sie als Zerstörung von Zukunftsperspektiven, persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten und der Entwicklung des Landes als Ganzem, als Abgeschnittenwerden von der globalen Welt. Es ist kein Zufall, dass unter den Emigranten der neuen Welle so viele junge, politisch aktive, englischsprachige Russen sind, deren Arbeit nicht an den Staat gebunden war.

    Meinungsstabilität

    Die verfügbaren Daten zeigen im Verlauf, dass die Unterstützung für die sogenannte „Spezialoperation“ anfangs geringer war: Sie lag etwa bei zwei Drittel (zwischen 65 und 68 Prozent). Bis zu einem Viertel der Befragten gab an, dagegen zu sein. Es ist wichtig hervorzuheben, dass die Haltungen in ihren Grundzügen bereits Mitte Februar, also noch vor dem Beginn des bewaffneten Konflikts, feststanden. Damals waren drei Viertel der Befragten überzeugt, dass die USA und die Ukraine für die Eskalation verantwortlich seien, nur ein Drittel äußerte Sympathien für die Ukraine. Die Unterstützung für Wladimir Putin lag laut Umfragen Mitte Februar bei 71 Prozent (Ende März waren es schon 83 Prozent). 

    Diese Zahlen spiegeln das Verhältnis der zwei Lager wider, die sich in den Umfragen von Anfang März gezeigt haben: Zwei Drittel waren bereits einverstanden mit der offiziellen Interpretation der Ereignisse und unterstützten die „Spezialoperation“, rund ein Viertel war dagegen. Die Veränderungen in der öffentlichen Meinung innerhalb des letzten Monats sind sichtbar, aber nicht gravierend.

    Russland vom Westen umzingelt

    Zumindest teilweise erklärt sich diese Meinungsstabilität damit, dass sich die Nachrichten zu den Ereignissen in der Ukraine in ein längst feststehendes Weltbild der Befragten einfügen. Diese Vorstellungen hatten sich über Jahre durch politische Präferenzen, Alltagserfahrungen und die jeweils konsumierten Informationskanäle geformt. So besteht für einen Großteil der Befragten, vor allem innerhalb der älteren Generation, kein Zweifel daran, dass der Westen unter der Führung der USA schon lange versucht, Russland zu schwächen und mit Militärstützpunkten zu umzingeln. Durch das Prisma der russisch-amerikanischen Feindschaft wurden sowohl der Georgienkrieg 2008 als auch der Ukraine-Konflikt 2014, die Militäroperation in Syrien und jetzt die „Spezialoperation“ betrachtet. Junge Menschen und Großstädter, die das Internet nutzen, vertreten solche Ansichten weitaus seltener.

    Nachrichten aus der Ukraine, die sich in das bestehende Weltbild einfügen, werden bereitwillig akzeptiert. Alles, was dem widerspricht – egal, wie schrecklich die Nachrichten sein mögen –, wird kategorisch als Lüge und feindliche Propaganda abgetan. In dem Maße, wie sich der internationale Konflikt verschärft, spitzt sich die Logik von „Freund oder Feind“ in Bezug auf die russischen und die ausländischen Medien zu. 

    Propaganda und Zensur 

    Bezeichnend sind hier Aussagen von Teilnehmern der Fokusgruppen, die die Kampfhandlungen unterstützen: „Wenn man sich die ausländischen Fernsehsender so anschaut – an Stelle des Durchschnittsamerikaners würde ich auch sagen: Was macht Russland da? Ich meine, es gibt so viel Desinformation!“ „Gut, dass sie Echo Moskwy zugemacht haben … Diesen Dreck kann man sich ja nicht anhören … Das ist ja echt  eine Zombiekiste.“ 

    Vor dem Hintergrund der „Spezialoperation“ wächst das Vertrauen in die staatlichen Fernsehkanäle, weil „man jetzt wirklich offizielle Informationen braucht“. 2014 war die Situation ganz ähnlich. Unter solchen Bedingungen sind die Meinungen zu den Ereignissen sehr beständig und können sich  wohl kaum schnell ändern. Wenn unabhängige Medien gesperrt und Kritik an den russischen Streitkräften unter Strafe gestellt wird, verändert das nicht so sehr die öffentliche Meinung, sondern zementiert die bereits bestehende (schließlich benutzt ein Viertel der russischen Bevölkerung bereits VPN).

    Krim-Effekt 2.0

    Im März konsolidierte sich die öffentliche Meinung: Die Unterstützung für die sogenannte „Spezialoperation“ nahm zu, während die Zahl ihrer Kritiker abnahm. Schon zu Jahresbeginn hatten wir erwartet, dass eine Militäraktion zu steigenden Zustimmungswerten für die Staatsorgane führen würde. Die Unterstützung für den Präsidenten, die Regierung, die Duma und die Regierungspartei wuchs (die Umfragewerte der anderen Parteien zeigten keine wesentliche Veränderung). All das ähnelt der Situation von 2014. Rasch wuchsen nach der Krim die Zustimmung für die Staatselite und das Vertrauen in den nächsten Tag sowie das Vertrauen, dass sich die Dinge in die richtige Richtung entwickeln würden.

    Rally-’round-the-Flag-Effekt

    Psychologen erklären, dass in bedrohlichen Situationen von außen, unter Sanktionen und steigendem internationalen Druck Schutzmechanismen aktiviert werden: Das Vertrauen in die Politik steigt, das soziale System wird gerechtfertigt – der sogenannte Rally-’round-the-Flag-Effekt tritt ein, moralische Verantwortung wird abgelehnt, und zwar mithilfe von Enthumanisierung („die Herrscher der anderen Länder sind durchgedreht“), Schuldzuweisung („sie sind selbst schuld“) und Abwälzen der Verantwortung („was können wir denn dafür, wir treffen doch nicht die Entscheidungen“). Unsere Umfragen zeigen, dass die Vorstellung, man könne „sowieso nichts ändern“, sowohl unter den Befürwortern als auch unter den Gegnern des Militäreinsatzes verbreitet ist. Dieses Gefühl erlaubt, das Geschehen nicht an sich heranzulassen, sich an die sich verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen, sich noch weiter ins Privatleben zurückzuziehen und von den Nachrichten über zivile Opfer und die Zerstörung ukrainischer Städte abzuschirmen.

    Die Zustimmungswerte waren vor dem Hintergrund der eskalierenden internationalen Spannungen bereits seit Ende letzten Jahres angestiegen. So lag die Zustimmung für den Präsidenten im November noch bei 63 Prozent, Mitte Februar bei 71 Prozent und im März bereits bei 83 Prozent. Dabei ist die Unterstützung des Regimes praktisch deckungsgleich mit der Unterstützung der „Spezialoperation“. Rund 90 Prozent von Wladimir Putins Anhängern befürworten auch die „Spezialoperation“, unter den Kritikern des Präsidenten sind es nur ein Drittel.

    „Jetzt müssen wir dahinterstehen“

    Die Unterstützung für den Präsidenten ist wiederum, genau wie die Unterstützung der „Spezialoperation“, nicht homogen. So geben rund 45 Prozent an, „absolut einverstanden“ mit dem Vorgehen des Präsidenten zu sein – das sind doppelt so viele wie noch im Januar. Ein fast genauso großer Teil (38 Prozent) ist „eher einverstanden“, wobei die Unterstützung weniger entschlossen ist. Aber der internationale Konflikt zwingt die Menschen dazu, Partei zu ergreifen. Oft hört man Aussagen wie: „Jetzt müssen wir dahinterstehen, in Kriegszeiten darf man nicht dagegen sein!“; „Ich bin nicht mit allem einverstanden … Meine Rente ist klein, unsere Lebensbedingungen sind … Viele Vergünstigungen kommen bei uns nicht an … Aber Putins Politik ist richtig, gegen Russland werden überall Intrigen geschmiedet“; „Im Nachhinein denke ich, dass man die Führung zu Unrecht mit Dreck übergossen hat. Sie haben schließlich ihre Arbeit gemacht. Peskow, Rogosin, Schoigu – alle hat man in den Schmutz gezogen, ständig haben sie ihre Datschen und Häuser gefilmt“ und so weiter. Genau wie vor acht Jahren führen der internationale Konflikt, der zunehmende Druck und die Sanktionen des Westens dazu, dass die Mehrheit der Bevölkerung sich um die Führung des Landes konsolidiert. Auch wenn es natürlich solche gibt, die ihre Unterstützung deklarieren, um auf Nummer sicher zu gehen.


    Die Euphorie von 2014 bleibt aus

    Aber es gibt auch Unterschiede zu 2014. Die wachsende Zustimmung wird nicht von Euphorie begleitet. So wurde die russische Gesellschaft angesichts der Krim von einer ganzen Reihe positiver Gefühle erfasst: Stolz, Freude und das Gefühl, dass die Gerechtigkeit gesiegt hatte. Lediglich drei Prozent sprachen von Besorgnis und Angst. Heute sind die Gefühle deutlich gemischter: Im März überwog unter den Befragten zwar der „Stolz auf das Land“, besonders in der Gruppe der absoluten Befürworter, rund ein Drittel der Befragten äußerte aber auch „Angst und Sorge“, und zwar nicht nur unter den Gegnern (wenn auch dort in höherem Ausmaß). Begeisterung und Freude angesichts der Ereignisse in der Ukraine empfinden nur marginale Gruppen. Aber auf das Ausmaß der Unterstützung insgesamt wirken sich diese Stimmungen nicht aus.

    Kann man diesen Zahlen trauen?

    Die hohen Zustimmungswerte für die sogenannte „Spezialoperation“ und die russische Regierung sorgten bereits für Streit, inwiefern man diesen Zahlen überhaupt glauben kann. Kritiker der Umfragen sprechen davon, dass die Angst und der Unwille zur Teilnahme an Umfragen unter dem Druck auf Andersdenkende, durch die Androhungen von Strafen für die Diskreditierung der Streitkräfte und andere repressive Maßnahmen innerhalb der letzten Wochen stark zugenommen hätten. Unsere Erhebungen konnten das bisher nicht belegen.

    Ein wichtiger Faktor für die Qualität von Meinungsumfragen ist die Erreichbarkeit bzw. der Anteil der erfolgreich durchgeführten Interviews. Um diesen Faktor zu bestimmen, greifen wir in unseren Umfragen auf die Methode der American Association for Public Opinion Research (AAPOR) zurück. Unseren Erhebungen zufolge hat sich dieser Faktor in den letzten Monaten weder bei Haustür- noch Telefonumfragen verändert. Die Situation der Feldforschung ist zum Teil angespannt, vereinzelt kommt es sogar zu Konflikten zwischen Befragten und Interviewern (vor allem, wenn sie unterschiedliche Positionen vertreten), aber die Arbeit geht weiter.

    Unsere Erfahrung zeigt, dass es schwer ist, an die ganz junge Generation heranzutreten, bei Telefonumfragen gibt es da eine zusätzliche Quote. Aber auch das ist kein neues Phänomen, und mithilfe einer Auswertung der Umfrageergebnisse nach Geschlecht, Alter und Bildungshintergrund lässt sich die Unterrepräsentation der Meinung von Jugendlichen ausgleichen. Von einem plötzlichen Anstieg der Angst unter den Befragten kann man zu diesem Zeitpunkt jedenfalls nicht sprechen. Man muss die Situation weiterhin genau beobachten.

    Umfragen spiegeln nur das Bild wieder, was die Befragten in der Öffentlichkeit von sich zu zeigen bereit sind

    Interessant sind die Versuche, die Aufrichtigkeit der Befragten mithilfe von Umfrageexperimenten zu messen. Aber mit der Interpretation der Ergebnisse muss man vorsichtig sein, es braucht weitere Untersuchungen. Auf den ersten Blick decken sich die Zahlen, die man mithilfe solcher Versuchsanordnungen erhält, mit denen der uneingeschränkten Unterstützung der Kampfhandlungen. Aber das bedeutet nicht, dass die „Unterstützung mit Einschränkungen“ auf Falschaussagen der Befragten beruht. Wie weiter oben geschildert, gibt es eine ganze Reihe von Faktoren, die die Menschen dazu bringen, sich der Mehrheitsmeinung anzuschließen. Alles auf die Angst zu schieben, wäre deutlich zu kurz gegriffen. Abgesehen davon sollte man in Umfragen nicht die Antwort darauf suchen, was die Menschen „wirklich denken“. Meinungsumfragen erfassen nur das, was die Befragten bereit sind, dem Interviewer mitzuteilen – das heißt, sie spiegeln nur das Bild wider, was die Befragten in der Öffentlichkeit von sich zu zeigen bereit sind.   

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  • Lavieren in Nahost

    Lavieren in Nahost

    Kein einziges globales oder regionales Problem könne ohne Russland gelöst werden, verkündete schon 2003 Wladimir Putin. In der Tat hat Russland eine außenpolitische Sonderstellung: Durch die guten Beziehungen zu verfeindeten Parteien ist der Kreml oft in der Lage, als Vermittler aufzutreten. Moskau verhandelt nicht nur mit den Taliban, sondern auch mit der Hamas oder Hisbollah. Gleichzeitig pflegt es gute Beziehungen zu Israel, aber auch wiederum zum Iran; zur PYD – syrische Schwesterpartei der kurdischen PKK –, aber auch zum türkischen Präsidenten Erdoğan. 


    Eigentlich hat Russland damit sehr gute Voraussetzungen für eine konstruktive Friedenspolitik. Auch das Potential für eine wirtschaftliche Zusammenarbeit ist enorm. Trotzdem sei die Nahost-Strategie des Kreml ineffektiv, kritisieren die Nahost-Experten Anton Mardassow und Kirill Semjonow auf Riddle. Der Kreml betreibe in der Region oft nur Effekthascherei – „mit roten Teppichen und Lobeshymnen“.

    Der russische Außenminister Lawrow (rechts) in Syrien, September 2020 / Foto @ Flickr/MID Rossii CC BY-NC-SA 2.0

    Viele sind der Ansicht, dass Russlands Rückkehr in den Nahen Osten mit der militärischen Intervention in Syrien begann. Dadurch konnte es Stärke demonstrieren und seine Spielregeln in den Ländern der Region durchsetzen, die wegen ihrer Differenzen mit den USA ohnehin nicht abgeneigt waren, eine Zusammenarbeit einzugehen und ihre Kontakte zu diversifizieren. 


    Moskau hat tatsächlich die Müdigkeit der syrischen und ausländischen Akteure in diesem Konflikt genutzt, deren unterschiedliche Interessen und Positionen ihnen beim Aufbau einer starken Opposition gegen Assad im Weg standen. Russland hat in dieser Krisensituation gehandelt, während seine Widersacher zauderten. Und seine unzureichende wirtschaftliche und militärische Stärke in der Region kompensierte Moskau durch eine Kette von Bündnissen, um so seine Vorstellungen von einer multipolaren Weltordnung voranzutreiben. 


    Der Auslöser: Krise um die Ukraine 

    Russlands Rückkehr in den Nahen Osten und später nach Afrika hat nichts damit zu tun, dass Moskau geduldig auf den geeigneten Moment gewartet hätte, sich als Akteur ins Spiel zu bringen, ohne den kein einziges globales oder regionales Problem gelöst werden könne (wie Putin es schon 2003 verkündet hatte). Die Intervention in Syrien und die anschließende Umwandlung des Landes in ein Drehkreuz, über das Moskaus Stärke nach Libyen und Afrika projiziert wurde, wäre ohne die Krise um die Ukraine nicht möglich gewesen. 


    Diese hatte den Kreml vor einige Fragen gestellt: 
    Wie kann man verhindern, dass das Land mit einer sich verteidigenden „belagerten Festung“ assoziiert wird und wie kann man sich am globalen Wettbewerb beteiligen? 
    Wie lässt sich angesichts der verhängten Sanktionen ein Dialog auf Augenhöhe mit dem Westen erreichen? Wie kann Moskau bei Abstimmungen in den Vereinten Nationen für seine Interessen eintreten (die 54 afrikanischen Mitgliedsstaaten machen fast ein Drittel aller Stimmen in der UN-Vollversammlung aus)?


    In dem Bemühen, die Folgen ihres Vorgehens auf der Krim und im Donbass zu überwinden, richtete die russische Regierung ihre Anstrengungen neu aus und gab der Nahostpolitik eine neue Bedeutung. Sie entschied sich für eine flexible Politik, deren wichtigste Triebkraft der Export von Sicherheitsdienstleistungen war – so auch die Rekrutierung von Söldnergruppen mit Kampferfahrung in der Ukraine. 

    Zeitlich begrenzte Wirkung

    Dieser Ansatz ist für autoritäre Staatsführer verständlich und wichtig für die Stabilisierung ihrer Lage. Er ist nicht an Menschenrechte oder eine wirtschaftliche Liberalisierung geknüpft. Wie stimulierend diese Akzentuierung auch sein mag, so sehr ist sie in ihrer Wirkung zeitlich begrenzt. Die russische Führung wird nun so lange Geisel dieses Ansatzes bleiben, bis ein Weg gefunden wird, wie man die Dividenden einstreichen und die eigene Position in der Region weiter stärken kann – ohne allerdings in irgendeine Krise verwickelt zu werden.


    Es ist kein Geheimnis, dass es bei Russlands Vorgehen auf dem Öl- und Gasmarkt – insbesondere bei Projekten in der Türkei, im kurdischen Teil des Irak und im Libanon – mehr um Politik als um wirtschaftlichen Nutzen geht. Die Vorstellung jedoch, dass Russland beständig und präzise einer ausgeklügelten Strategie folge, ist nichts als ein Mythos, der hartnäckig von der Propaganda befeuert wird.

    Ausgeklügelte Strategie? Ein Mythos

    Die heutige Nahostpolitik Russlands muss durch das Prisma des gegenwärtigen Verhältnisses Moskaus zum Islam und zur islamischen Welt gesehen werden. Das Problem dabei ist: Der Kreml wird immer dann in dieser Richtung aktiv, wenn es Konflikte gibt oder wenn es gilt, schärfste Differenzen in den Beziehungen zu den führenden islamischen Staaten auszubügeln.
    Die erste Phase, in der eine Annäherung Russlands an die islamische Welt erfolgte, war der Zweite Tschetschenienkrieg. In diese Phase fällt der Auftritt von Wladimir Putin beim Gipfeltreffen der Organisation für Islamische Zusammenarbeit, Russlands Erlangung des dortigen Beobachterstatus. Zu dieser Zeit fand auch der erste Staatsbesuch eines russischen Präsidenten in Saudi-Arabien statt. Russland hat es dennoch nicht vermocht, die Zusammenarbeit mit der islamischen Welt zu festigen oder sie vertrauensvoller zu gestalten.


    Den zweiten Annäherungsversuch Russlands an die islamische Welt können wir aktuell beobachten. Er erfolgte aufgrund der Konfrontation mit den Anti-Assad-Kräften, von denen viele Ideen des Islam anhingen. Hier können wir von einer gewissen Institutionalisierung dieser Rückkehr Russlands in den Nahen Osten sprechen. Dadurch ist unter anderem der Beginn von Verhandlungen mit dem Iran und der Türkei in Astana möglich geworden. Ebenso konnte in den Beziehungen zu Saudi-Arabien, Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten, die den Einfluss der Türkei in Syrien und Libyen zurückdrängen wollen, eine neue Phase eingeläutet werden.

    Das Tschetschenien-Syndrom

    Der Tschetschenienkrieg war Anlass für eine Weiterentwicklung der Beziehungen Russlands zu den Staaten des Nahen Ostens [um durch Bündnisse den radikalislamischen Einfluss einzudämmen – dek], gleichzeitig schwebt über Moskaus Beziehungen zu vielen staatlichen wie nichtstaatlichen Akteuren im Nahen Osten nach wie vor das „Tschetschenien-Syndrom“:
    So sieht der Kreml in verschiedenen islamischen Kräften, die gewöhnlich als „islamistisch“ bezeichnet werden, potenzielle Sponsoren eines Aufruhrs in Russland, an dem sich Muslime aus Russland beteiligen könnten.


    Der Ansatz der Nahostpolitik Russlands könnte jedoch auch ein ganz anderer sein, wenn Moskau von der im russischen politischen System verwurzelten Islamophobie Abstand nehmen würde. Die lässt sich – ungeachtet der offiziellen Haltung, die diesen Umstand leugnet – längst nicht immer verheimlichen. Ab und zu kommt sie in der Rhetorik des Kreml zum Vorschein.

    Der Ansatz der Nahostpolitik Russlands könnte jedoch auch ein ganz anderer sein, wenn Moskau von der im russischen politischen System verwurzelten Islamophobie Abstand nehmen würde

    Selbstverständlich hat Moskau seine Bereitschaft zu einem gewissen Pragmatismus demonstriert. Das gilt für seine Beziehungen und Kontakte zu Kairo, als dort die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei [der Muslimbrüder – dek] und die Regierung Mursi an der Macht waren. Es war auch im Verhältnis zum ehemaligen sudanesischen Präsidenten Al-Baschir der Fall, der direkte Verbindungen zu sudanesischen Islamisten und der palästinensischen Hamas hatte. Vertreter der letzteren sind seit 2006 regelmäßig in Moskau zu Besuch. Russlands Einladung an die Hamas wurde im Westen logischerweise als Beginn einer Rückkehr Moskaus in die große Politik wahrgenommen. Die damals aktiven tschetschenischen Kämpfer gaben prompt ihren Unmut zu verstehen, dass „die Mudschahedin Palästinas, Brüder der Tschetschenen, sich entschieden haben, Putin die Hand zu reichen“. 

    Spiel mit Widersprüchen statt durchdachte Strategie

    In Wirklichkeit hat der Kreml damals keineswegs eine Schritt für Schritt durchdachte Politik betrieben: Vielmehr machtе Wladimir Putin seinerzeit genau das, was er heute immer noch macht – er spielte mit Widersprüchen und demonstrierte seine Unabhängigkeit gegenüber den Partnern im Nahost-Quartett (EU, UNO und USA): So hat Putin etwa den Wahlsieg der Hamas als „schweren Schlag“ für die Friedensinitiativen Washingtons im Nahen Osten bezeichnet und neun Tage später Vertreter der Hamas nach Moskau eingeladen. Seitdem sind die russischen Diplomaten genötigt, in jedem Interview zu lavieren, wenn es zu erklären gilt, weshalb die Hamas, die aus den seit 2003 in Russland verbotenen Muslimbrüdern hervorgegangen war, wenige Jahre nach diesem Verbot die russische Hauptstadt besucht. Oder warum Russland die Hamas nicht als Terroristen einstuft (offiziell deswegen, weil sie für die russische Bevölkerung keine Gefahr darstellt).

    Gilt es zu entscheiden zwischen islamisch orientierten Politikern und anderen Akteuren, dann sind letztere die Gewinner – Hauptsache, sie verkünden eine säkulare Haltung und erklären allen Formen des Islamismus den Kampf. Kaum verkündet ein Akteur eine solche Haltung, schon ändert Moskau seine Richtung, oft nur als Reaktion und ohne klar definierte Position.

    Dieses Vorgehen ist nicht allein der russischen Politik eigen, sondern in gewissem Maße auch der französischen. Der libysche Kommandeur Haftar hat dies intensiv ausgenutzt, indem er eine antiislamistische Agenda verfolgte und sagte, was man in Moskau und Paris von ihm hören wollte. Dabei waren seine antiislamistischen Parolen hauptsächlich an die Außenwelt adressiert. Für den internen Gebrauch verfolgte er einen durchaus fundamentalistischen islamischen Ansatz, instruiert von radikalen salafistischen Predigern. Zu seinen Truppen gehören auch salafistische Einheiten. Gleichwohl reichen öffentliche Bekenntnisse der eigenen Säkularität und deklarative Aufrufe zur Bekämpfung des Islamismus aus, die Gunst des Kreml zu erlangen.

    Die Folge ist, dass Moskau im Nahen Osten einem breiten Spektrum politischer Kräfte gegenübersteht, die gemäßigt islamische Positionen vertreten. Das Regime in Russland ist genötigt, mit ihnen umzugehen und Gespräche zu führen, wobei es weiterhin Groll hegt und Medienkampagnen gegen die Betreffenden fährt. Allerdings verheddern sich die russischen Medien des Öfteren, wenn sie über Gespräche russischer Offizieller mit Politikern aus dem Nahen Osten berichten, die sie gestern noch als anrüchig bezeichnet haben. Dabei hätten diese Kräfte durchaus an einer langfristigen Zusammenarbeit interessiert sein können, wenn die russische Seite sich unter gewissen Umständen nicht gescheut hätte, auf sie zu setzen, und wenn Russland seine Nahostpolitik wirklich effektiv und nicht effekthascherisch gestaltet hätte.

    Die russische Seite hat es aufgrund ihres stereotypen Denkens nicht vermocht, in den Beziehungen zu Assad eine rote Linie zu ziehen

    Das Eingreifen in den Syrienkonflikt hat Moskau trotz der offensichtlichen geopolitischen Gewinne keine wesentliche Dividende gebracht. Vielmehr haben die enorme Konzentration auf eine Unterstützung des syrischen Regimes und die Bildung eines faktischen Militärbündnisses mit dem schiitischen Iran, der es ebenfalls vorzog auf einem Grat zwischen Krieg und Frieden zu wandeln, die Flexibilität Russlands im Nahen Osten eingeschränkt. Die russische Seite hat es aufgrund ihres stereotypen Denkens nicht vermocht, in den Beziehungen zu Assad eine rote Linie zu ziehen.

    2015 hatte es für Moskau die Möglichkeit gegeben, zu Damaskus auf Distanz zu gehen, um nicht mit dem syrischen Regime in einen Topf geworfen zu werden. Man hätte sich auf die offiziell verkündeten Ziele der militärischen Operation in Syrien konzentrieren können, also darauf, den in Russland verbotenen „Islamischen Staat“ zu bekämpfen und das Angriffspotenzial der al-Nusra-Front (Dschabhat an-Nusra, heute Hai‘at Tahrir asch-Scham; die Organisation ist in Russland verboten) zu begrenzen. 2015 hatte die syrische Opposition nicht die Absicht, auf die Seite der Türkei zu wechseln und im syrischen Grenzgebiet für ihre Interessen zu kämpfen. Moskau hätte in diesem Bürgerkrieg die Rolle eines Vermittlers nicht nur imitieren, sondern wirklich übernehmen können – wenn man Schläge gegen Terrorzellen geführt und Assad zu Kompromissen gedrängt hätte. Trotzalledem wäre Assad zu einer russischen Militärpräsenz in diesem Format bereit gewesen.

    Unter solchen Voraussetzungen hätte Moskau das syrische Regime womöglich allmählich „zähmen“, es vom Iran losreißen sowie einen vollwertigen Friedensprozess in Gang setzen können, durch den beträchtliche Investitionen ins Land geholt würden. Diese hätten auch von russischen Firmen kommen können, ohne dass sie hätten befürchten müssen, unter die westlichen Sanktionen zu geraten. Zudem hätte Russland seine Positionen behauptet und das Vertrauen des gesamten Kräftespektrums im Nahen Osten bewahrt. Vor allem hätte ein solches Szenario eine mögliche „Afghanisierung“ des Konflikts ausgeschlossen und die Kosten für die Intervention begrenzt.

    Eine einzige Empfehlung 

    Russland hat als Rechtsnachfolger der UdSSR eine einzigartige Möglichkeit: Es ist in der Lage, parallel und durchaus offiziell einen Dialog mit verfeindeten Seiten zu führen. Heute mit Israel und dem Iran, morgen mit den USA und der Hisbollah, übermorgen mit der Türkei und der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD). Gleichzeitig hat Moskau nicht die wirtschaftliche Macht der Sowjetunion, um sich eine Großzahl subventionierter und für gewisse Ideale kämpfender Bewegungen zu halten. Ebenso wenig ist Russland in der Lage, den Seiten einen vermittelten Dialog zu seinen Bedingungen aufzuzwingen und sich der Konkurrenz zu stellen. Daher ist der Kreml genötigt, sich in militärische Konflikte im Nahen Osten hineinziehen zu lassen, wodurch er den Status eines unabhängigen Vermittlers verliert.

    Die Erfahrung, dass man erfolglos nach verbündeten Regimen gesucht hat, und die ständigen Versuche, als Mentor aufzutreten, sind für Moskau das Haupthindernis für eine Weiterentwicklung der Beziehungen zu den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas in der so sehr beschworenen multipolaren Welt. Und der Kurs auf eine Militarisierung der Außenpolitik sowie die Suche nach einem äußeren Feind zur Erhaltung des bestehenden Systems schließt die Beteiligung russischer Firmen an „politikfreien“ Projekten aus: Schließlich wissen die russischen Diplomaten sehr wohl, dass viele russische Wirtschaftsprojekte im Nahen Osten und Nordafrika nicht deshalb gescheitert sind, weil Washington da Knüppel zwischen die Beine geworfen hat, sondern durch die Schuld russischer Politiker und Unternehmer. Für Moskau sind vor allem rote Teppiche und Lobeshymnen wichtig und erst dann Realpolitik.


    Für den Kreml ist es an der Zeit, sich von dem sowjetischen Paradigma der Nahostpolitik zu verabschieden, bei dem die Blockkonfrontation im Zentrum stand. Außerdem muss die offizielle Haltung revidiert werden, dass Säkularität der wichtigste Indikator für die „Zurechnungsfähigkeit“ der politischen Kräfte im Nahen Osten ist. Zudem sollte die Reichweite der Kontakte in der Region ausgedehnt werden, und zwar ohne Säbelrasseln. Da Russland selbst einen Kurs in Richtung Unterdrückung Andersdenkender und der Medienfreiheit verfolgt, sind große Zweifel angebracht, ob Moskau zu einer solchen Neujustierung bereit ist. 

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  • Ein Putin – viele Memes

    Ein Putin – viele Memes

    Putin-Memes erobern das RUnet: Eine kleine Geschichte in Text und Bild von den Anfängen bis heute.

    Putin in seinen ersten Amtszeiten – das war ein Leader, der als Action Man westliche Politikexperten, ja, die ganze Welt faszinierte. Er machte sich Himmel und Meerestiefen untertan, zähmte wilde Tiere und besiegte seine Gegner in sportlichen Wettkämpfen. Er flog mit Kranichen, tauchte nach antiken Amphoren, wagte sich in den Käfig des Tigers. Obwohl diese Abenteuer zu dick aufgetragen, allzu extravagant waren und eindeutig nach PR-Aktionen rochen, enthielten die Memes damals – bei allem Sarkasmus der Internet-User ihrem Helden gegenüber – einen Hauch von Begeisterung für den jungen, sportlichen Politiker. 

    Der wohl beste Präsident – auf Erden, unter Wasser und in der Luft
    Der wohl beste Präsident – auf Erden, unter Wasser und in der Luft

    Memes sind immer ein Produkt der Lachkultur und bedeuten im Normalfall Angriff und nicht Verteidigung, doch in diesem Fall hat das Land, das die Nase voll hatte von der Altersschwäche seiner Vorgänger, Putin angesichts seiner äußerlichen Härte scheinbar das eine oder andere No-Go verziehen.

    Viele Fotos, die in Medien und Massenkultur populär wurden (etwa Putin mit nacktem Oberkörper auf dem Pferd, Putin am Steuer eines Kampfjets und so weiter) dienten als Schablonen für visuelle Memes – da saß Putin nicht mehr auf einem Pferd, sondern auf einem Bären, führte statt der Kraniche die Stinte zu den Laichplätzen oder verkörperte in mysteriösen dunklen Brillen die Rolle des Agenten 007. 

    Diese Memes ironisierten nicht nur die verbissene Konstruktion eines positiven Images des Politikers in der offiziellen Propaganda, sondern trugen mit dokumentarischem Bildmaterial sogar noch zusätzlich zum Vorankommen des nationalen Leaders bei – als willensstarker Mensch, der nur so strotzt vor Männlichkeit. Gleichzeitig konnte ihm das Land etliche verbale Ausrutscher, die Putins erbarmungslosen Charakter zum Vorschein brachten, nicht nachsehen. So gelangte die kurze und zynische Antwort des Präsidenten auf die Frage eines Journalisten, was mit dem U-Boot Kursk passiert sei („Es ist untergegangen“) zu trauriger Berühmtheit und wurde lange zu aggressiven verbalen Memes verarbeitet, die den Politiker charakterisierten und die Haltung der Internet-User ihm gegenüber zum Ausdruck brachten. 

    Mit der Zeit nahm das Putin-Bild in den Memes andere Züge an. Besonders deutlich wurde das in den vergangenen Jahren. Etwa 2017/2018 speiste sich die Aufmerksamkeit der RUnet-User für Putin nicht nur aus seiner täglichen Arbeit als Staatsoberhaupt, sondern auch aus seiner abermaligen Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl. Das russische Publikum reagierte auf alle Etappen von Putins Wahlkampf mit Memes, aber besonders aktiv in Bezug auf zwei Themenkreise: die Alternativlosigkeit des Politikers im Präsidentenamt und seine Unabsetzbarkeit.  

    Es war das fünfte Jahr seit Einführung der Importsubstitutionen… (Das Botox-Embargo hielt)
    Es war das fünfte Jahr seit Einführung der Importsubstitutionen… (Das Botox-Embargo hielt)

     


    Stimmzettel zu der Wahl 2018 – Haben Sie nichts dagegen, dass Putin Präsident bleibt? a) Ja, ich habe nichts dagegen b) Nein, ich habe nichts dagegen
    Stimmzettel zu der Wahl 2018 – Haben Sie nichts dagegen, dass Putin Präsident bleibt? a) Ja, ich habe nichts dagegen b) Nein, ich habe nichts dagegen


    „Sie dürfen nicht für sich selbst stimmen“ – „Ach komm schon“
    „Eine Person darf das Präsidentenamt nicht länger als zwei Amtsperioden in Folge innehaben“ – „Ach komm schon“
    „Der Präsident ist der Garant der Verfassung“ – „Ach komm schon“ 
    „Man sagt, dass Medwedew eine Datscha hat, die 30 Milliarden Rubel kostet“ – „Ach komm schon“

    Die offensichtliche Verärgerung der Internet-User über den ersten Themenkreis der politischen Wirklichkeit Russlands entlud sich zum Beispiel in Form der aktiven Produktion von Memes über den Stimmzettel, den die Zentrale Wahlkomission im Februar 2018 vorlegte. Das Besondere daran war, dass im Unterschied zu den anderen Kandidaten neben dem Namen des amtierenden Präsidenten keine näheren Informationen standen (Arbeitsplatz, Biografie etc.), sondern nur ein paar äußerst lakonische Sätze. „Harte Jungs brauchen nicht viele Worte“, „Zar, einfach Zar“, „Siehst du Idiot nicht, bei wem du dein Kreuz machen sollst?“, so reagierten User sozialer Netzwerke. 

    Den zweiten Themenkreis betreffend (die Unabsetzbarkeit des Staatsoberhaupts, die viele zermürbte) wurde ein Bild mit dem Slogan verbreitet: „Wer die Inauguration von Wladimir Putin als Präsident Russlands verpasst hat – macht euch nichts draus, guckt einfach die nächste“ (9. Mai 2018). 

    Ein anderes Beispiel ist ein Demotivator von Ende März 2018, basierend auf einem berühmten Bild aus dem Film Hundeherz (eine beliebte Grundlage für Memes), wo Professor Preobrashenski in komischer Verzweiflung die Stirn in die Hand stützt und Scharikow zu ihm sagt: „Gut, dass Putin wieder gewonnen hat. [sic!] Der wird aufräumen, seit 18 Jahren Korruption und Saustall im Land …“ 

    Und natürlich ist auch das Thema Zweifel an der Sauberkeit der Präsidentschaftswahl nicht vom Tisch – 3060 Likes erhielt gleich in der ersten Stunde nach Veröffentlichung (18.3.2018, Wahltag) auf Vkontakte ein scherzhaftes Tortendiagramm des Wahlergebnisses, das in zwei gleiche Hälften geteilt ist: Eine zeigt an, wie viele „Putin gewählt“ haben, die andere, wie viele „ohne es zu wissen Putin gewählt“ haben.  

    Putins Persönlichkeit erregt auch abseits von großen Ereignissen wie Präsidentschaftswahlen die Aufmerksamkeit des Internets; teils wachsen sich absolut alltägliche oder scheinbar zufällige Ereignisse seines politischen oder privaten Lebens zu Memes aus. So war Putin Held eines der berühmtesten Memes zur Fußballweltmeisterschaft 2018. Als es während der Siegerehrung in Moskau wie aus Eimern zu schütten begann, war der russische Präsident der Einzige, über den ein Schirm gespannt war (im Gegensatz zu den neben ihm stehenden Staatsoberhäuptern von Frankreich, Kroatien etc.). Virale Verbreitung fanden schon die Original-Fotos der Szene, danach wurden sie außerdem mit Photoshop zu neuen Memes verwertet; noch größerer Beliebtheit erfreuten sich dann verschiedene Messages rund um dieses Thema, die Putins mangelnde Höflichkeit beanstandeten. 

    Abgesehen von Ereignissen des politischen Lebens werden im RUnet auch die verbalen Äußerungen des Politikers Anlass zu Memes. Viel Netz-Verarsche zog zum Beispiel seine Behauptung nach sich, gewisse interessierte [ausländische] Dienste würden Biomaterial der Russen sammeln. 

    Ausgehend vom Geständnis des Präsidenten, er sei Leutnant der Artillerie (Januar 2019), entstand eine Vielzahl von Memes nach dem Muster der Fortsetzung des Satzes „Putin gestand, er sei …“: „… ein Zauberer“, „… einer von den Jungs, die einfach das Leben lieben“, und sogar „… eine Meereskönigin“. 
    Na, und in den letzten Monaten haben natürlich die Verfassungsänderungen, die Nullsetzung der Amtszeiten und die Motive aus seinen Ansprachen an die Nation (zum Beispiel die „Petschenegen und Polowzer“, die als Memes buchstäblich die sozialen Netzwerke eroberten) eine Flut von enttäuschten und witzigen Posts ausgelöst (ein populärer Tweet lautet „Wegen der Quarantäne darf Putin sein Amt nicht verlassen“). 


    Wer ist das? Unser Zar. Bei ihnen ist Zarentum? Aber was für eins.

    Das russische Publikum bildet die nichtigsten mit Putin zusammenhängenden Nachrichten, Verhaltensweisen, verbalen oder emotionalen Unachtsamkeiten in Form von visuellen und textuellen Memes (meist mit sarkastischem Unterton) nach. Das zeugt einerseits immer noch von großem Interesse für diese Figur im Netz, andererseits ist das nicht das beste Zeichen für den Präsidenten: Mangels bedeutender und ernsthafter Entscheidungen, die die Nation erwartet, triggern lokale Kinkerlitzchen die Meme-Kreativität, die ein Bild herabwürdigen, das ohnehin schon einen guten Teil seines Charismas eingebüßt hat. 

    Übrigens warnen Politikpsychologen schon lange, dass Putins Attraktivität für die Wähler immer mehr von der Lage im Land abhängt und immer weniger von seiner Fähigkeit, Eindruck beim Publikum zu schinden. Deutlich ernster sehen heutzutage allmählich Memes mit dem Staatspräsidenten aus, wenn sie nicht einfach von Putin als Politiker handeln, sondern von Putin als Verkörperung der  russischen Staatsmacht. Das ist nicht mehr nur Ironie über unvorsichtige Äußerungen oder spontane Handlungen. Sehr viel dazu, wie die Internet-User den Präsidenten sehen, sagt ein beliebtes Meme im Stil eines sowjetischen Plakats: Putin, wie er mit ausgestreckter Hand ein dickes Buch Menschenrechte in Russland von sich weist mit den Worten „Wozu diese Formalitäten?“.  

    Man kann sagen, dass Memes die Situation spiegeln, die heute in „großen“, ernsthaften Analysen untersucht wird, die sowohl Putins Rhetorik als auch seine PR-Aktionen kritisiert. Wenn man uns schon so lange seine Alternativlosigkeit für Russland eingetrichtert hat, dann ist er heute auch für alles verantwortlich, nicht nur für Erfolge, auch für Rückschläge. Besondere Erfolge sind im Land derzeit nicht zu sehen (Coronavirus, Wertverlust des Rubels, wachsende Arbeitslosigkeit und so weiter), und die Memosphäre des RUnets zeigt das an wie ein Lackmus-Teststreifen. 

    Vor ein paar Jahren fand in Moskau anlässlich von Putins Geburtstag die kurze, aber durchaus Wellen schlagende Ausstellung Putin – ein Mem statt. Ohne ihre Namen zu nennen, zitierte das Portal RIA Nowosti die Organisatoren so: „Putin ist längst über den Status des Präsidenten hinausgewachsen und wurde zu einem international bekannten Meme – einer beliebten Figur für Titelbilder, Demotivatoren, Fotomontagen und Videos. Der Wiedererkennungswert von Russlands Leader steht dem von Superman in nichts nach“. RIA Nowosti fügte hinzu, die Ausstellung solle eine Art Brücke zwischen den Generationen schlagen. 


    Um eine fachkundige Wirtschaftspolitik auf die Beine zu stellen, braucht man unbedingt einen Kopf

    Unserer Ansicht nach sind solche Aktionen der indirekte Beweis dafür, dass der Einfluss des Memes auf das breite Publikum bereits nicht nur von Theoretikern anerkannt wird, sondern auch von Praktikern der politischen Kommunikation. Wollte man jedoch eine derartige Geburtstags-Ausstellung in der heutigen Zeit machen, dann wäre frischer Content, der ein attraktives politisches Heldenbild schafft, gar nicht mehr leicht zu finden. 

     

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  • Die Fehler des Westens

    Die Fehler des Westens

    Glaubt man der russischen Propaganda, dann hat sich der Westen nach dem Ende des Kalten Krieges als arroganter Sieger aufgeführt: In seinem eitlen Stolz und Siegesdünkel habe er in den 1990er Jahren alles darangesetzt, Russland zu demütigen. In den 2000er Jahren sei Russland „von den Knien auferstanden“. Der doppelmoralische Westen wolle den Phönix allerdings zurück in Staub zwingen, so die propagandistische Erzählung, die unter vielen Beobachtern als die wichtigste Legitimationsgrundlage für das heutige System Putin gilt. 

    Tatsächlich zweifeln auch in liberalen Kreisen Russlands nur wenige daran, dass der Westen im Russland der 1990er Jahre etwas falsch gemacht hat, dass auch heute noch Vieles im Argen liegt in den westlichen Ländern. Ende 2018 schrieb beispielsweise der Wirtschaftswissenschaftler Dimitri Trawin: „Die Wahl unseres Weges wird zu großen Teilen davon abhängen, ob die Länder des Westens in der Lage sein werden, das eigene Haus in Ordnung zu bringen.“ 

    Eine differenzierte Perspektive eröffnet Ivan Kurilla – der russische Historiker beschäftigt sich vor allem mit der Geschichte der russisch-amerikanischen Beziehungen. Auf Riddle stellt der Professor an der Europäischen Universität in Sankt Petersburg die Frage, was genau für Fehler der Westen in den 1990er Jahren begangen hat, und was er heute tun kann, um sie zu korrigieren – gemeinsam mit Russland.

    Der vorliegende Text ist eher für ein westliches Publikum geschrieben – doch für die russischen Leser muss ich von vornherein klarstellen: Es geht hier nicht darum, den autoritären Wandel oder die konfrontative Außenpolitik Russlands der letzten Jahrzehnte zu rechtfertigen. Allerdings kann ein nüchternes Gespräch darüber, was schiefgelaufen ist, nicht von russischer Seite allein geführt werden, sondern erfordert die Teilnahme seiner Partner im Westen, besonders den USA.

    Seit dem Zerfall der Sowjetunion hat Russland einen schwierigen Prozess eigenständiger Entwicklung durchgemacht. In den vergangenen 30 Jahren gab es in der russischen Gesellschaft und in den Eliten viel trial and error. Der derzeitige Stand dieser Entwicklung ist weder endgültig noch befriedigend. Die Stoßrichtung wurde hauptsächlich von inneren Faktoren und dem Kräfteverhältnis innerhalb der russischen Eliten bestimmt. Sie sind es auch, die den Großteil der Verantwortung an dem unbefriedigenden Zwischenergebnis tragen.

    Gleichzeitig machten und machen Akteure von außen ihre eigenen Spieleinsätze in der russischen Politik. Sie trafen Entscheidungen, die im russischen Diskurs oft schwer wogen, indem sie politische Kräfte im Inneren des Landes stärkten oder schwächten. Die Entscheidungen der westlichen Partner basierten dabei häufig auf innenpolitischen Überlegungen oder auf einer über lange Jahre gewachsenen Tradition, Russland zu „benutzen“. Die durch westliche Kampfansagen in Russland ausgelösten Veränderungen hatten dann entsprechende Bumerangwirkung in der russischen Außenpolitik.

    Tango tanzt man zu zweit

    Um morgen die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen in konstruktive Bahnen zu lenken, genügt es nicht, wenn die russischen Eliten die Fehler der Regierung heute eingestehen. Wie es in Diplomatenkreisen so schön heißt: „Tango tanzt man zu zweit“, und die Haltung, der Westen habe „immer alles richtig gemacht“, erweckt kein großes Vertrauen.

    Ich beginne mit einer allgemeinen Aussage. Die US-amerikanische Öffentlichkeit hat in den 1990er Jahren in Bezug auf die Transformation in Russland zum wiederholten Mal folgenden Zyklus durchlaufen: Ungerechtfertigt hohe Erwartungen am Anfang mündeten in eine unangemessen tiefe Enttäuschung am Schluss. 

    Von ungerechtfertigt hohen Erwartungen zur unangemessen tiefen Enttäuschung

    Ähnliche Zyklen hat es im letzten Jahrhundert mehrfach gegeben: Viktoria Shurawljowa zeichnet in ihren Arbeiten nach, wie die Amerikaner erst 1905 und dann 1917 auf ein Entstehen der „Vereinigten Staaten von Russland“ gehofft hatten, um nur wenige Monate später zu konstatieren, Russland sei in einen Zustand „gewöhnlicher Despotie“ zurückgefallen.
    Die Hoffnung auf ein Russland, das den USA ähneln würde, war in den letzten Jahren der Perestroika und den ersten Jahren des neuen russischen Staates natürlich nicht erfüllbar: Nach dem Sturz des Sowjetregimes stand die russische Gesellschaft vor zu komplexen Aufgaben in Wirtschaft, Politik und Kultur. Und sowieso hätte die Demokratisierung des Landes nicht unbedingt nach amerikanischer Schablone verlaufen müssen. Allerdings haben die USA die Hinwendung der russischen Eliten zum Autoritarismus so empfunden, als sei das gesamte Demokratisierungsprojekt gescheitert, in den letzten Jahren gar so, als sei der Feind aus Zeiten des Kalten Krieges zurückgekehrt.

    Die Gleichsetzung Russlands mit der UdSSR versperrt die Sicht auf Möglichkeiten der Zusammenarbeit 

    Ich wage dennoch zu behaupten, dass das heutige autoritäre russische Regime, das gern vorgibt, eine neue Sowjetunion zu sein, kein Pendant der UdSSR ist. Die enttäuschten Amerikaner blenden die (Jahr um Jahr schwindenden, aber immer noch bestehenden) Freiheiten aus, die die russischen Bürger im Gegensatz zu den Sowjetbürgern genießen. Die russische Gesellschaft hat einen weiten Weg zurückgelegt – wenn man sie mit der Gesellschaft von 1980 oder 1990 vergleicht und nicht mit dem Ideal in den Köpfen außenstehender Beobachter. Die für politische Zwecke so bequeme Gleichsetzung Russlands mit der UdSSR versperrt die Sicht auf Möglichkeiten der Zusammenarbeit und erleichtert es dem herrschenden Regime, die autoritäre Ordnung weiter zu festigen.

    Aber zurück zu den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem Zerfall der UdSSR: Wie Juri Lotman in seinem Buch Kultur und Explosion schrieb, eröffne sich einer Gesellschaft in solchen Momenten (er bezeichnete sie als Explosionspunkte) eine Vielzahl von möglichen Wegen, wobei die Richtung der weiteren Entwicklung noch offen sei. An einem solchen Punkt stand Russland der Anfang der 1990er Jahre. Der aktive Teil der Gesellschaft hatte das altersschwache totalitäre Regime besiegt, lehnte eine Fortsetzung des Kalten Kriegs ab und hoffte darauf, bald wieder ein vollwertiges Mitglied in der Gemeinschaft der entwickelten Länder der nördlichen Hemisphäre zu werden. 

    An Explosionspunkten gibt es eine Vielzahl von möglichen Wegen

    Zur wichtigsten Frage wurde damals die nach der russischen Identität: Wer sind wir? Auf der Suche nach einer Antwort hatten viele Angehörige der reform-orientierten Elite auf eine freundschaftlich und helfend ausgestreckte Hand aus dem Westen gehofft. Für die russische Gesellschaft und die russischen Eliten bestand eine der ersten Antwortmöglichkeiten in dem Versuch, sich als Teil der ersten Welt zu identifizieren, der Welt der Rivalen von gestern, von deren Annäherung Andrej Sacharow geträumt hatte. Dieser Versuch hätte zu einer umfassenden Integration Russlands in die Strukturen der westlichen Politik, Wirtschaft und Sicherheit führen können (die Rede ist von der EU bis hin zur NATO und natürlich der Schengen-Zone). Das hätte den nationalistischen Rückzug in den nachfolgenden Jahren zwar nicht verhindert, aber sehr wohl eingeschränkt, weil die in den Westen integrierten Eliten ihre privilegierte Stellung viel mehr wertzuschätzen gewusst hätten. Die Welt würde heute möglicherweise über einen russischen Brexit sprechen, den Austritt Russlands aus der EU, aber nicht über die Annexion der Krim und die Liquidierung konstitutioneller Freiheiten in Russland.

    Die Welt würde heute möglicherweise über einen russischen Brexit sprechen, aber nicht über die Annexion der Krim

    Zu diesem Zeitpunkt war die Idee von Russland als neuem Teil eines allumfassenden Westens ziemlich populär. Und das Handeln des damaligen Außenministers Andrej Kosyrew, das heute gerne als Paradebeispiel für die Preisgabe nationaler Interessen, ja fast schon Verrat gilt, lässt sich mit dem Streben nach schnellstmöglicher Integration in die internationale Gemeinschaft erklären. Gemeinsame Interessen der Weltgemeinschaft über den eigenen Staatsegoismus zu stellen, ist eine extreme Version des politischen Idealismus, doch hätte eine solche Politik die Integration in den Westen viel schneller vorantreiben und Kontexte schaffen können, die die autoritären Tendenzen im Land eingedämmt hätten. Wenn der Westen einen Schritt auf Russland zugegangen wäre.

    Aber Kosyrews Partner im Westen betrachteten Russland nicht als Teil eines gemeinsamen Ganzen, sondern versuchten in erster Linie, die Kontrolle über die neuen Länder westlich der russischen Grenzen zu sichern. Die Erweiterung der europäischen Grenzen und der NATO Richtung Osten haben vor den Grenzen Russlands Halt gemacht und zu einem Ausschluss aus Europa geführt (den Europarat und die OSZE nicht mitgezählt). Die Verantwortung für diesen Ausschluss liegt nicht allein bei der russischen Elite.

    Der Unwille (die mangelnde Bereitschaft), Russland in die westliche Gemeinschaft miteinzubeziehen, rührte von einer Triumphstimmung, die Anfang der 1990er Jahre die westlichen Eliten erfasste. Politiker sprachen plötzlich vom „Sieg des Westens“ statt vom gemeinsamen Sieg über den Kalten Krieg. Diese Haltung gegenüber Russland als besiegtem, wenn auch nicht zerschlagenem Land (wie manche Politiker im Westen heute präzisieren) äußerte sich in dem Unwillen, auf die Bedenken der Russen zu hören. Doch schon vorher war sie offensichtlich, da jegliche Integrationspläne fehlten. Manche Autoren sprechen sogar davon, dass die Erwartung eines Marschall-Plans für Russland enttäuscht wurde. Man kann dem Einwand zustimmen, dass ein solcher Plan in den frühen 1990er Jahren aufgrund von innenpolitischen und wirtschaftlichen Restriktionen in den USA und den Ländern Europas undenkbar gewesen wäre. Aber bedeutet es nicht auch, dass die westlichen Eliten unterschätzt haben, wie wichtig es ist, Russlands in den Aufbau einer gemeinsamen Zukunft einzubeziehen (was im Kontrast dazu steht, dass in den 1950er Jahren sehr wohl gesehen wurde, wie wichtig es ist, Deutschland in Europa zu integrieren)? Und erwächst aus dieser Triumphstimmung nicht der Revanchismus der russischen Gesellschaft, die die Regierung in ihrem Bestreben unterstützt, den Ausgang des Kalten Krieges neu auszufechten?

    Das window of opportunity für eine Transformation stand nicht lange offen: Eine jüngst erschienene Publikation zeigt, dass die russischen Eliten bereits 1995 einen neuen antiamerikanischen Konsens ausgebildet hatten. Doch zwischen 1992 und 1994 war noch Vieles möglich gewesen (das Fenster ging daraufhin bis 2007, und dann bis 2014 immer weiter zu).

    Das window of opportunity für eine Transformation stand nicht lange offen

    Insofern hat der Westen den größten Fehler ganz zu Beginn der 1990er Jahre begangen, als seine Eliten – die sich lieber auf regionale Erfolge konzentrierten – nicht an die Möglichkeit einer russischen Integration geglaubt und so die Chance verpasst haben. Doch es gibt zwei weitere wichtige Momente, in denen die Entscheidungen des Westens die Beziehungen zu Russland zum Schlechteren verändert haben.
    Zum Einen wurde es abgelehnt, feste Vereinbarungen zu treffen. Das offensichtlichste Beispiel hierfür ist die Jackson-Vanik-Klausel. Ihre Abschaffung sollte (ihrem Sinn nach) mit dem Ende der Perestroika und der Einführung der Reisefreiheit in Kraft treten. Doch in der Praxis belegte der US-Kongress die Abschaffung mit immer neuen Bedingungen, bevor die Änderung schließlich in einem Zuge mit der Einführung neuer Sanktionen gänzlich verworfen wurde (so gerechtfertigt die Sanktionen auch gewesen sein mögen, trug diese Verquickung nicht gerade dazu bei, die USA als verlässlichen Partner wahrzunehmen).

    Kosovo als kritischer Moment

    Zum Anderen ist da die Weigerung der USA, dem internationalen Recht Priorität einzuräumen. Die Vereinigten Staaten stellen die eigene Gesetzgebung traditionell über das internationale Recht, aber die Anerkennung der Unabhängigkeit Kosovos war ein besonders kritischer Moment. USA und NATO sprechen von einem „speziellen Einzelfall“, aber Ausnahmen machen das Prinzip zunichte. (Ohne näher auf die Auseinandersetzungen um den Kosovo einzugehen, sei daran erinnert, dass die internationale Gemeinschaft Bosnien, das eine ähnliche Tragödie erlebt hat, als einen Staat aus zwei Landesteilen erhalten hat.) Auf diese Weise hat ein starkes Land die Möglichkeit klar und deutlich demonstriert, dass es internationale Normen umgehen kann – und es ist nicht verwunderlich, dass folglich auch die russische Führung irgendwann beschlossen hat, das internationale Recht zu brechen und so die eigene Stärke zu demonstrieren.

    Für die bestmögliche Zukunft der ganzen Welt wird jede Seite ihre Fehler eingestehen müssen 

    Jede Entscheidung der USA und ihrer europäischen Partner lässt sich anhand von innenpolitischen Motiven und Einschränkungen erklären. Doch das ändert nichts an der Verantwortung der politischen Eliten im Westen – genauso wenig, wie objektive Gründe nichts ändern an der Verantwortung der russischen Führung dafür, dass das russische Regime wurde wie es ist.

    Wenn es darum geht, über die bestmögliche Zukunft für die ganze Welt nachzudenken, wird jede Seite ihre Fehler eingestehen müssen. Anders ist kein Vertrauensverhältnis möglich (dabei geht es nicht um Gleichberechtigung oder eine Verantwortungsbalance, sondern um die Bereitschaft des Partners zum Kompromiss). Wenn man in Russlands Fall von der nächsten Regierung erwarten kann, dass sie bereit sein wird, gewisse Aktivitäten der heutigen Führung zu verurteilen, stellt sich die Frage, ob das auch von politischen Kräften im Westen denkbar ist. Die NATO kann das per Definition nicht – sie besitzt schlicht kein Organ für das Eingestehen von politischen Fehlern. Es wäre also nur gerecht, solche Eingeständnisse von den jeweiligen Regierungen zu erwarten, allen voran den USA, so schwer das innerhalb der politischen Kultur Amerikas auch sein mag.

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    Üblicherweise rollt der Rubel nur in eine Richtung – dem Ölpreis nach: Steigt dieser, dann gewinnt auch der Rubel gegenüber dem US-Dollar an Wert und umgekehrt. Seit über einem halben Jahr ist diese Gesetzmäßigkeit gestört: Unabhängig vom derzeit relativ hohen Ölpreis bleibt der Rubelkurs unten. Warum ist das so?


    Quelle: wallstreet-online / OFX

    Die meisten Experten erklären das Phänomen mit äußeren Faktoren: Die Sanktionen würden dem Rubel zusetzen, außerdem sei die russische Währung Geisel einer globalen Entwicklung, die derzeit die Kurse von vielen Schwellenländern runterzieht. Während die meisten dieser Länder aber Stützungsmaßnahmen ergreifen, tut weder die russische Politik noch die Zentralbank etwas.  
    Heißt das, dass der Rubelkurs für den Kreml keine Rolle spielt? Im Gegenteil, meint Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew: Das Ziel bestehe allerdings nicht in der Stabilisierung, sondern in einer kontrollierten Senkung. 
    Da man diese These so sonst noch nirgends gehört hat, haben wir uns entschieden, den Text, der auf Riddle erschienen ist, hier in deutscher Übersetzung zu veröffentlichen.

    Warum nimmt die russische Regierung Kurs auf Schwächung des Rubels? Drei entscheidende Gründe, sortiert nach Wichtigkeit:

    Autarkie ist Trumpf

    Erstens: Alles deutet darauf hin, dass die russische Regierung heute auf wirtschaftliche Autarkie setzt. Erfolge bei den Importsubstitutionen sind quasi zum Effektivitätskriterium geworden. Ohne Zweifel fördert die gezielte Abwertung des Rubels diese Art der Wirtschaftsentwicklung. Experten, die darauf hinweisen, dass diese Maßnahme nur eine geringe Wirkung auf die Förderung der russischen Exporte habe, liegen völlig richtig: Der Anteil der industriellen Endprodukte am Export ist gering. 

    Gleichzeitig sichert die stetige Verteuerung der Importe den russischen Produzenten ihre Dominanz auf dem inländischen Markt, und die Wirtschaftsindikatoren bleiben dadurch stabil. Ein Land, dessen Wirtschaft sich in vollem Umfang auf Ausgabenerhöhungen stützt, macht eine Korrektur durch Währungsabwertung zur periodischen Notwendigkeit. Je sanfter und kalkulierter diese Anpassung ausfällt, desto geringer ist die Schockwirkung für Produzenten und Bevölkerung. 

    Sanfte Kursabwertung erzeugt Gefühl von Wachstum

    Ohne schrittweise Abwertung der nationalen Währung kann in der russischen Wirtschaft kein Gefühl von Wachstum aufkommen, ungeachtet dessen, dass eine solche Abwertung keine zusätzlichen Exporteinnahmen bringt. Für einen solchen Doping-Effekt müsste das Abwertungstempo gesichert über den Inflationsindikatoren liegen, da ansonsten der Effekt schlichtweg verpufft. Es sei darauf hingewiesen, dass dies nur unter Bedingungen einer eingeschränkten oder gar stagnierenden Endnachfrage möglich ist. Darin findet sich auch die Antwort auf die Frage, warum sich die russische Regierung gegenüber einer Nachfragestimulation apathisch verhält, obwohl in den letzten zehn Jahren eine solche Maßnahme in den meisten Industriestaaten die Antwort auf die Wirtschaftskrise war.

    Währungsabwertung füllt sehr wirksam die Staatskasse 

    Zweitens: Der Kreml hat einen noch wichtigeren Grund, eine Rubelschwäche anzustreben. Der russische Haushalt weist nämlich vor allem folgende Besonderheit auf: seine große Abhängigkeit von Import- und Exportzöllen sowie von Steuern auf die Gewinnung von Bodenschätzen. Was haben denn die Einfuhrzölle für Autos und der Steuersatz auf Erdölgewinnung miteinander zu tun? Beiden ist gemeinsam, dass sie in Euro (Importzölle) oder in Dollar (die Förderabgabe, die an den Erdölpreis auf dem Weltmarkt gebunden ist oder Exportzölle) errechnet werden. So erhält die Regierung im Grunde genommen einen Teil der Erträge in Fremdwährungen, erklärt aber den Rubel zum alleinigen Zahlungsmittel im Land. 2017 beispielsweise beliefen sich diese Abgaben an den Staatshaushalt insgesamt auf 5,97 Billionen Rubel [etwa 77 Mrd. Euro – dek] bei einem durchschnittlichen Kurs von 58,35 Rubel pro Dollar. 2018 betrug der durchschnittliche Kurs der ersten acht Monate bereits 62,66 Rubel pro Dollar. Bei unverändertem Import- und Exportvolumen vermehrten sich dadurch die Einnahmen der Staatskasse um nicht weniger als 400 Milliarden Rubel [etwa 5 Mrd. Euro – dek]. Auf das ganze Jahr wird mit über 900 Milliarden [etwa 11 Mrd. Euro – dek] gerechnet. 

    Über den rückläufigen Erdölpreis kann lange diskutiert werden. Jüngst aber überstieg der Barrel-Preis in Rubel, und gerade das ist wichtig für den Haushalt, die 5000er-Marke. Im Mai 2008 – und das waren historische Höchststände – lag er bei nur bei 3600 Rubel pro Barrel. Ich möchte hinzufügen: All diese Einnahmeposten werden ausschließlich dem Staatshaushalt gutgeschrieben, aus dem die für den Kreml so hohen Sozialausgaben finanziert werden (in Rubel, selbstverständlich). Diese, wie auch die Renten und Sozialhilfen, sind nicht an den Dollarkurs, sondern an die offizielle Inflation gekoppelt. Anders ausgedrückt ist die Währungsabwertung ein sehr wirksames und wenig konfliktreiches Instrument, um die Staatskasse zu füllen.

    Psychologischer Gewinn, wenn Volkseinkommen nominal hoch

    Drittens hat die Abwertung der nationalen Währung eine extrem wichtige psychologische Funktion. Nehmen wir die berühmte Rentenerhöhung von 1000 Rubel [etwa 13 Euro – dek] – das bedeutet für die kommenden Jahre ein jährliches Wachstum von 7 Prozent (wenn wir von der heutigen durchschnittlichen Monatsrente von 14.000 Rubel [etwa 180 Euro – dek] ausgehen), wobei dieses Wachstum bei steigendem Nominalbetrag abflaut. Die Einkommen der russischen Bevölkerung gerechnet in Dollar (er dient für den internationalen Vergleich sowie als Berechnungsgrundlage für die reale Konsumnachfrage der Bürger) – haben von Anfang 2017 bis August 2018 um 8,5 Prozent abgenommen, und diese Entwicklung denkt gar nicht daran zu stoppen. 

     

     

    Der Big-Mac-Index vergleicht die Kaufkraft von verschiedenen Währungen anhand der Preise (in US-Dollar) für einen Big Mac. Demnach ist der Rubel stark unterbewertet. 

     

    Jedoch ermöglicht die Abwertung des Rubels der Regierung, von wachsenden Nominalinvestitionen in Rubel zu berichten, von einem höheren Volkseinkommen und steigenden Renten. De facto plündert sie dabei Haushaltsposten aus, die bei einer stagnierenden Wirtschaft den korruptionsintensivsten Spielraum bieten. 

    Propaganda schlägt Vorteile aus Entdollarisierung der Wirtschaft

    Wenn in den ersten zwei Amtszeiten von Putin beteuert wurde, Portugal werde rasant eingeholt, das BIP und die Einkommen würden in Dollar berechnet wachsen, so geriet diese Ankündigung in den letzten Jahren völlig in Vergessenheit. Die Propaganda schlägt alle möglichen Vorteile aus einer völlig illusorischen Entdollarisierung der Wirtschaft. Was leider nur sichtbar ist, wenn man von unten nach oben schaut und nicht von oben nach unten. 

    Meiner Meinung nach besteht heute kein Zweifel darüber, dass eine fortschreitende Abwertung die ideale „symmetrische Antwort“ ist auf die westlichen Sanktionen, die Verschlechterung des Investitionsklimas und den unausweichlichen Rückgang des Lebensstandards der Bevölkerung. Sie garantiert „Stabilität“ im Inneren, lässt nicht zu, dass alle russischen Produkte zu Ladenhütern werden, erlaubt höhere Einnahmen im Haushalt, der bei einem Vor-Krim-Kurs von 32,50 Rubel pro Dollar nun mit nicht weniger als 2 Billionen Rubel [etwa 25 Mrd. Euro – dek] defizitär wäre. Und beruhigt die Bürger, die sich bereits über die wenigen Rubel Einkommenssteigerung freuen, in einem Land, das sich schrittweise von der Außenwelt abkapselt. 

    Das alles bedeutet, dass die Regierung alles in ihrer Macht Stehende tun wird, um einen Kursanstieg zu verhindern, selbst wenn unsere „geopolitischen Feinde“ morgen alle gegen Moskau verhängten Sanktionen aufheben würden.

     

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