дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Die Täter-Debatte

    Die Täter-Debatte

    Vier Jahre lang hatte Denis Karagodin gesucht, Schlagzeilen gemacht, viel Unmut erregt. Nun gab er öffentlich bekannt, die Menschen identifiziert zu haben, die seinen Urgroßvater 1938 im Auftrag des Staates ermordet haben sollen. Was er sich wünscht? Dem Töten Namen und Gesichter zu geben, verbunden mit juristischen Konsequenzen, einem Strafverfahren. Etwas, das in Russland im Umgang mit Stalins Großem Terror der 1930er Jahre bisher nicht geschehen ist. Nun ging ein Einzelner los, um das öffentlichkeitswirksam zu ändern, zu versuchen, einem der mehr als eine Million Opfer von damals Täter gegenüberzustellen. Mit der Nennung von Namen – woran sich eine breite öffentliche Debatte entzündet hat.

    Historiker und Journalist Sergej Medwedew fragt sich für das liberale Webmagazin Republic: Wieso erfährt der Enkel mit seinen Recherche-Ergebnissen dabei so viel Gegenwind?

    „In der Gorochowaja-Straße herrscht Panik …“ Die regierungsfreundlichen Medien in Russland sind in Wallung. Ein Kommando ging durch ihre Reihen: Anzuprangern sei die Studie von Denis Karagodin über die Erschießung seines Urgroßvaters 1938 durch die Tschekisten.

    „Die liberal-nationalistische Clique hat seit einigen Tagen einen neuen Helden“, giftet die Föderale Nachrichtenagentur. „Dieser Herr hat eine wahrlich antisowjetische Heldentat vollbracht: Er hat die Namen aller ermittelt, die an der Repression seines Urgroßvaters beteiligt waren.“ Zu den Anklägern gehörten außerdem die Izvestia und die Komsomolskaja Prawda, am weitesten ging jedoch Konstantin Sjomin, Moderator der Sendung Agitprop auf Rossija 24, der geradeheraus sagte, jede Rede von einem Geschichtstrauma sei ein Versuch, den Staat zu zerrütten, und dass der Zerfall der UdSSR mit dem Abriss des Dserschinski-Denkmals begonnen habe.

    Was erscheint so besonders an Karagodins Veröffentlichung der Namen jener, die an der Ermordung seines Urgroßvaters beteiligt waren, wo doch allesamt längst tot und die Fälle verjährt sind? Und welche Gefahr soll für das Regime von der jüngst von Memorial publizierten Andrej-Shukow-Liste ausgehen? Hier wurden detaillierte Informationen zu über 40.000 Mitarbeitern des NKWD aus den Jahren 1935 bis 1939 zusammengetragen. Es ist eine Art Wikipedia des NKWD von vor 75 Jahren.

    Das Besondere an unserer Situation ist, dass die Gewalt anonym ist, Regime-immanent, in der Gesellschaft aufgelöst wie eine Konstante des russischen Lebens

    Im Grunde können diese Informationen nur von akademischem und archivarischem Interesse sein und dürften wohl kaum juristische Folgen haben. Die Eile jedoch, mit der sich die Propagandisten des Regimes daran gemacht haben, die Arbeit von Karagodin und die Shukow-Liste in Misskredit zu bringen, zeugt davon, dass diese Akte des Gedenkens einen wunden Punkt getroffen haben, jene Nadel, mit der im Tod des unsterblichen Koschtschei auch der staatliche Terror seinen Abschluss finden kann.

    Das Besondere an unserer Situation ist, dass die Gewalt anonym ist, Regime-immanent, in der Gesellschaft aufgelöst wie eine Konstante des russischen Lebens, so wie das unentrinnbare kalte Klima. Anonym waren die Urteile der Troikas und die Kämpfer der Erschießungskommandos; die Namen der Ermittler und Denunzianten liegen verborgen in den Archiven des KGB.

    Nach 1956 galt in der UdSSR ein unausgesprochener Pakt, durch den es zu einem Abtausch kam: Rehabilitierung der Opfer des Stalinismus gegen Entpersonifizierung der Ausführenden des Terrors. Jede Information über die Repressionen hat der KGB sorgsam zensiert. In den persönlichen Akten der Opfer wurden die Namen der Ermittler und Denunzianten geschwärzt, den Angehörigen wurden Akten mit zugeklebten oder herausgerissenen Seiten vorgelegt. Man dachte, der Akt einer Rehabilitierung reiche aus, damit jemand Satisfaktion empfindet: Er hat ja überlebt (alternativ: er wurde zwar erschossen, aber der gute Ruf ist wiederhergestellt), Gott sei Dank. In einer Situation, in der man sich ständig auf der Grenze zwischen Leben und Tod befand, galt ein Staat, der nicht erschießt, schon als großer Segen.

    „Gern hätt’ ich sie alle mit Namen genannt“, schrieb Anna Achmatowa in ihrem Requiem. Allerdings wurde nur von einer Nennung der Opfer geträumt, von den Tätern war gar nicht erst die Rede. In der Ära Chruschtschow wurden die Ermittler des NKWD von den Stellen der Staatsanwaltschaft zur Rechenschaft gezogen, die auch mit den Rehabilitierungen befasst waren. Zu tatsächlichen Strafen wurden nur einige wenige verurteilt – überwiegend folgten verwaltungsrechtliche Strafen, Entlassungen, Entzug der Rente, Aberkennung von Rang oder Titel. Nach Angaben des Historikers Nikita Petrow sind bei den Prozessen, die unter Chruschtschow offen gegen Stalins leitende Tschekisten geführt wurden, über Berija hinaus nicht mehr als 100 Menschen zur Verantwortung gezogen worden. Unter Breshnew und Gorbatschow ist dieser Prozess ganz zum Erliegen gekommen. Es wurden zwar einzelne entlarvende Materialien veröffentlicht, etwa über den Ermittler Alexander Chwat, der Nikolaj Wawilow gefoltert hat; oder über Generalleutnant Wassili Blochin, Kommandantur-Chef des OGPU-NKWD-MGB, der persönlich zwischen zehn- und fünfzehntausend Menschen erschossen hat. Doch waren das nur einzelne Fälle, die ohne juristische Folgen blieben.

    Täter und Opfer lebten weiter Seite an Seite, begegneten einander auf der Straße oder in der Schlange vorm Geschäft, bisweilen saßen sie sogar beisammen und tranken miteinander (bekannt wurde eine solche Begebenheit mit Juri Dombrowski). Das alles geschah in dem anonymen Raum namens Sowjetvolk. In dessen Mitte klaffte ein riesiges schwarzes Loch namens „Repressionen“ – doch dieser Abgrund wurde von allen penibel gemieden, vom offiziellen staatlichen Bereich bis in die persönlichen Familiengeschichten, wo das Thema sorgsam beschwiegen wurde.

    Unterdessen bot dieser Schweigepakt die Gewähr für eine Fortführung des Terrors. Genau wie das Räderwerk der Stalinschen Repressionen anonym arbeitete, so lief auch die Verfolgung der Dissidenten unter Breshnew anonym: Hier war die Maschine der Strafpsychiatrie am Werk.

    Heute haben wir es mit der anonymen Gewalt des Systems von Polizei- und Sicherheitsbehörden zu tun, in dem Folter die Regel ist und nur einzelne Fälle an die Öffentlichkeit gelangen, etwa die Folter im Polizeiabschnitt Dalny in Kasan, der Fall Magnitski, der Fall Ildar Dadin. Hunderte anderer Polizeiabschnitte, Untersuchungsgefängnisse und Strafkolonien jedoch bleiben Gebiete der totalen, entpersonifizierten Gewalt.

    Täter und Opfer lebten weiter Seite an Seite, begegneten einander auf der Straße, saßen sogar beisammen und tranken miteinander

    Wie auch tausende Haushalte in Russland, in denen alltäglich, allstündlich Frauen Opfer häuslicher Gewalt werden (in Russland sterben offiziell bis zu 40 Frauen täglich durch Schläge, und wie viele weitere Todesfälle die Ärzte und Polizisten unter anderen Ursachen einordnen, weiß nur Gott). Häusliche Gewalt gilt in Russland als Regelfall; sie bleibt unerwähnt und anonym, gewöhnlich wird sie nicht angesprochen, nicht der Polizei gemeldet. Und jetzt wird einem neuen Gesetzentwurf zufolge beabsichtigt, sie zu entkriminalisieren, indem sie aus dem Bereich des Strafrechts in den der Ordnungswidrigkeiten überführt wird. Bekannt werden nur Fälle, die in die Sozialen Netzwerke gelangen, wie jüngst in Orjol, als die Polizei sich weigerte, einer jungen Frau zu helfen. Die Beamten versprachen, sollte sie getötet werden, ihre Leiche zu Protokoll zu nehmen – und tatsächlich prügelte ihr Lebensgefährte sie eine halbe Stunde später tot.

    Das Problem ist, dass Gewalt in Russland eine sozial anerkannte Norm ist, ein Weg, um Probleme zu lösen und Beziehungen zu klären, ein Mittel der Interaktion zwischen Regime und Bevölkerung, Mann und Frau, Eltern und Kind, Lehrer und Schüler. Genau deshalb brauchen wir eine Entautomatisierung und Entanonymisierung von Gewalt; sie muss beim Namen genannt, genau beschrieben und verurteilt werden.

    Unsere Gesellschaft wird erwachsener und beginnt, über Gewalt zu reden. Allein über das Jahr 2016 kam es zu dem Flashmob Ich habe keine Angst zu reden, in dem Frauen erstmals von ihrer als standardmäßig erlebten Erfahrung sexueller Gewalt und Erniedrigung sprachen; zum Offenlegen des Skandals an der Schule Nr. 57 in Moskau, wo erstmals die Namen jener Lehrer genannt wurden, die eine Beziehung mit Schülern eingegangen waren. Zum Abschluss dieses Jahres übergibt der geheimnisvolle Sammler Andrej Shukow, der 15 Jahre lang Dossiers und persönliche Akten von Mitarbeitern des NKWD aus der zweiten Hälfte der 1930er Jahre gekauft hat, noch eine Liste zur Veröffentlichung an Memorial; und dann kommt der furchtlose Philosoph Denis Karagodin aus Tomsk, der vier Jahre lang hartnäckig in den Archiven des KGB die Namen jener Mitarbeiter gesucht hat, die seinen Urgroßvater verurteilt und erschossen haben, bringt alle Namen in Erfahrung und rekonstruiert das gesamte Verbrecherteam, das an dem Mord beteiligt war: Vom Fahrer des Schwarzen Raben und der Schreibkraft beim NKWD bis hin zu Jeshow und Stalin. Wenn Namen genannt werden, dann löst sich die Kette des Schweigens, die Gesellschaft wird von der mafiösen Omertà befreit.

    Das ist wichtig, weil die Gewaltkultur in Russland auf zwei Säulen ruht: auf dem Recht des Stärkeren und dem Schweigen des Schwächeren, wobei Letzteres nicht weniger wichtig ist als das Erste. Erinnern Sie sich, wie alle die Frauen angingen, die endlich von den Vergewaltigungen und den Belästigungen sprachen: Die sind doch selbst schuld! Was provozieren die denn so! Ganz genauso spann sich der Pakt des Schweigens um die prestigeträchtige Moskauer Schule, aus der Furcht heraus, das Image der hauptstädtischen Intelligenzija könnte Schaden nehmen.

    Noch wichtiger für das Verständnis, welche Komplexe und Ängste in der modernen Gesellschaft Russlands bestehen, ist das „Schweigen der Lämmer“ angesichts ihrer Henker, der Unwille, das Thema Stalins Terror aufzugreifen und durchzusprechen. Nachdem die Shukow-Liste und Karagodins Posts mit den Namen der Mörder im Netz verfügbar waren, folgten umgehend Stellungnahmen, dass man die Vergangenheit nicht schwarzmalen und nicht das Boot zum Wanken bringen dürfe.

    Alexander Chinschtein, ehemaliger Duma-Abgeordneter mit Verbindungen zu den Sicherheitsorganen und stellvertretender Leiter von Rosgwardija, erinnerte im Moskowski Komsomolez mit gütigen Worten an die Streitkräfte des NKWD und überschüttet jene mit Kritik, die „unsere jüngere Vergangenheit in Schwarz und Weiß trennen wollen“. Die Journalistin Natalja Ossipowa fürchtet in einer Kolumne in der Izvestia mit dem bezeichnenden Titel Ich fürchte die Gerechtigkeit ebenfalls Enthüllungen und wiederholt dabei die Lieblingsthese russischer Propagandisten der Postmoderne: Jeder hat seine eigene Wahrheit, seine Version der Wirklichkeit, seine Liste der Schuldigen und sein Märtyrologium – und kommt zu dem Schluss, dass „ein schlechter Frieden besser ist als ein guter Bürgerkrieg. Einen Krieg für Gerechtigkeit kann man nicht ohne Barmherzigkeit und Vergebung führen“.

    Es kommt die Zeit, da man dem Gesetz folgt und dem Stalinschen Terror und seinen Henkern eine klare juristische Bewertung gibt

    Der Aufruf zur Vergebung und Versöhnung zwischen den Nachkommen der Henker und Opfer ist ein typisch russischer Ansatz, die Probleme nicht qua Gesetz zu lösen, sondern über ungeschriebene Normen und Regeln – es ist die Verlagerung der Verantwortung weg von juristischen Formulierungen und Folgen hinein in die nebulöse Welt der Ethik und politischen Zweckmäßigkeit. Der Terror ist in Russland wie eine klebrige Schicht über die Gesellschaft und die Geschichte geschmiert worden, und so scheint es, als wären alle und jeder daran beteiligt, alle und jeder schuldig und unschuldig. Als Heilmittel wird die süße Illusion einer allgemeinen Reue und Vergebung angeboten, eine postapokalyptische Nihilierung der Erinnerung, in der Wolf und Lamm friedlich beieinander weiden, die Nachkommen der Henker und der Opfer sich umarmen, und die russische Geschichte auf einem leeren Blatt neu beginnt.

    Karagodin verlagert die Frage nicht auf die ethische, sondern auf die juristische Ebene: Wenn das Regime – seiner teuflischen, quasi-legalen Kasuistik folgend – Menschen umbringt, dann soll es das jetzt qua Gesetz verantworten. Aus der Ungegliedertheit und Subjektlosigkeit des Lebens in Russland hebt er die Namen der Exekutanten und Mittäter des Terrors hervor – und damit ist er gefährlich für ein System, das auf der Anonymität des Terrors und dem Schweigen der Opfer beruht – in der Vergangenheit wie in der Gegenwart.

    Die Wächter des Systems verstehen sehr wohl, dass angefangen mit der Entlarvung toter Täter ein Prozess der Entanonymisierung auch auf lebende Beteiligte am Terror übergreifen könnte – im öffentlichen Bewusstsein taucht sofort die Magnitski-Liste auf und setzt die herrschende Elite schmerzhaft unter Druck (es ist kein Zufall, dass deren Abschaffung als eine der ersten Forderungen Putins gegenüber der neuen US-Führung genannt wurde, hervorgebracht im Oktober 2016).

    Zudem ruft das Europäische Parlament zur Verabschiedung einer Dadin-Liste auf, inklusive konkreter Nennung jener, die an den mutmaßlichen Misshandlungen des Aktivisten Ildar Dadin in der Strafkolonie IK-7 im karelischen Segesha beteiligt waren. Einen ähnlichen Weg schlägt Alexej Nawalny ein, der beabsichtigt, gegen Sergej Blinow Klage einzureichen, den Richter am Amtsgericht des Leninski-Rayons im Gebiet Kirow, der den Schuldspruch im Fall Kirowles gefällt hat.

    Ganz wie bei Stalins Henkern wäre eine einfache Rehabilitierung der Betroffenen nicht ausreichend. Notwendig wäre eine qualifizierte Bewertung des kriminellen Handelns jeder konkreten Person, die an den Repressionen beteiligt war, und womöglich deren Bestrafung. Doch zeichnen sich nach dieser Logik am Horizont Risiken für das Regime in Russland ab – wegen der Krim, wegen des Fluges MH-17 und wegen des Kriegs im Osten der Ukraine und wegen vieler interessanter Momente der jüngsten russischen Geschichte, die allesamt für sehr viele Bürokraten – bis hin zu höchsten Amtsträgern des Staates – mit juristischen Konsequenzen verknüpft sein könnten. Ganz wie Karagodin Josef Stalin zum Mittäter bei der Ermordung seines Urgroßvaters erklärt.

    Genau so, indem man an dem Faden einer einzigen Geschichte über einen 1938 von den Tschekisten ermordeten Getreidebauern zieht, lässt sich allmählich das ganze Spinnennetz aus Anonymität und Lüge auftrennen – und gerade deshalb fürchtet das Regime einen „Karagodin-Effekt“ und lässt seine Propaganda-Hunde auf ihn los.

    Für Russland gibt es keinen anderen Weg in die Zukunft als einen juristischen. Zu lange hat das Land sich einer illusorischen Hoffnung von Errettung anvertraut und nach ungeschrieben kriminellen Regeln gelebt (hinter denen meist höchst persönliche Interessen des Regimes stehen und die Sorge um das eigene Fell).

    Es kommt die Zeit, da man dem Gesetz folgt und dem Stalinschen Terror und seinen Henkern eine klare juristische Bewertung gibt und in der man deren Rechtfertigung oder Leugnung unter Strafe stellt, genau wie jetzt in den meisten Ländern des Westens die Leugnung des Holocaust unter Strafe steht. Ohne echte juristische Klarheit in Bezug auf den historischen Stalinismus und den politischen Terror wird in Russland kein gesellschaftlicher Frieden möglich sein – weder im gegenwärtigen Regime, noch in nachfolgenden.

    Weitere Themen

    Die Fragen der Enkel

    Zurück in die UdSSR

    Historische Presseschau: Oktober 1917

    Erinnerungs-Entzündung

    Stalins Follower

    Sprache und das Trauma der Befreiung

  • Russland – plötzlich im Spiegel der USA

    Trumps Wahlsieg hat in deutschen und internationalen Medien Anstoß zu zahlreichen Texten gegeben, die nach Gründen für seinen Aufstieg und für den Misserfolg von Hillary Clinton suchen. Die Autoren fragen sich, ob die politische Klasse noch eine gemeinsame Sprache mit der breiten Bevölkerung spreche, ob noch genug Verständnis für deren Probleme bestehe. Manche dieser Texte grenzen an Selbstkasteiung. Ganz so weit lässt es der kremlkritische Journalist Oleg Kaschin in seinem bissigen Stück für Republic nicht kommen, er begreift die US-Wahl und die riesige Debatte darum jedoch als Anschauungsobjekt: Da es in Russland schon jetzt nicht an Führungsfiguren nach Trumps Muster mangele, müsse die russische Öffentlichkeit doch auch etwas lernen können, oder?

    „Menschen, die in Russland heute an der Macht sind, ähneln sich in vielem. Sie sind alle reich, sie sind – im Großen und Ganzen – alle Rednecks.“ Foto © [RAW] unter CC BY-NC-ND 2.0
    „Menschen, die in Russland heute an der Macht sind, ähneln sich in vielem. Sie sind alle reich, sie sind – im Großen und Ganzen – alle Rednecks.“ Foto © [RAW] unter CC BY-NC-ND 2.0

    Ein anrüchiger reicher Mann mit komischer Frisur, schlechtem Geschmack, schwieriger Reputation und einem seit langem und auf lange Sicht beschädigten Verhältnis zur Presse, mit junger Ehefrau von modelhaftem Äußeren – wie heißt der? Natürlich Igor Setschin; aber wenn Sie an jemand anders gedacht haben, etwa an Donald Trump, dann wäre das nicht verwunderlich. Solch einzigartige Typen gibt es nicht so viele auf der Welt. Die einen kommen in Mode, die anderen geraten aus der Mode, so ist das beim Film, so ist das im Showbusiness, so ist das in der Politik.

    Russland erinnert sich noch, wie im Gefolge des ikonenhaften Lushkow in den Regionalregierungen das Standardgesicht „kerniger Wirtschaftsfunktionär“ auftauchte – und zügig die Helden der vorangegangenen Mode verdrängte, die Demokraten der ersten Welle –, bevor das Feld schließlich mit dem Amtsantritt Putins den wortkargen Silowiki und Bürokraten überlassen wurde. Moskau kann aber seine Standards nur nach unten, auf die Regionen übertragen, während es selbst, und mag sein Weg noch so „besonders“ sein, den globalen Trends ausgesetzt ist. Und da ist er schon: Trump, der neue globale Trend und eine echte Herausforderung. Welche Auswirkungen wird er auf die politische Mode in Russland haben?

    Gemeinsames Zauberwort suchen

    Einen russischen Trump zu finden, ist das Einfachste auf der Welt. Eine Kandidatur Igor Setschins wäre wohl die radikalste Variante, doch an seiner Stelle könnte stehen, wer will. Menschen, die in Russland heute an der Macht sind oder in deren Nähe, ähneln sich in vielem: Sie sind alle reich, sie sind – im Großen und Ganzen – alle Rednecks, und sie würden sich alle harmonischer ins Interieur des Casinos Trump Taj Mahal einpassen als in ein Co-Working Space im Silicon Valley. Der ideale russische Trump ist natürlich Wladimir Putin, den muss man nicht groß suchen, er ist eh ständig da und wird uns bei den nächsten Präsidentschaftswahlen erneut versprechen, Russland wieder groß zu machen. Soviel ist klar.

    Interessanter ist die Gesellschaft. Im amerikanischen Wahlkampf schien über den gesamten Verlauf auch unsere gesellschaftliche Dauerdiskussion durch: Debatten über das Volk, das plötzlich zum größten Konservativen geworden sei, über die progressive Minderheit, dazu verdammt, massenhaft auf Unverständnis zu stoßen, über die Grenzen des Populismus und die Grenzen der ideologischen Flexibilität des Regimes – solche Diskussionen werden bei uns schon lange geführt. Und wenn die gleiche Debatte sich nun plötzlich am amerikanischen Objekt wiederholt, dann ist das doch eine hervorragende Gelegenheit, sich von der Seite zu betrachten. Wann war denn so etwas schon mal möglich?

    Verweise auf die russischen Präsidentschaftswahlen von 1996 gelten vor dem Hintergrund dessen, was diesen Herbst in den amerikanischen Medien abging, längst als völlig unpassend. Wahrscheinlich ist der Vergleich insoweit unzutreffend, als dass der Wahlkampfsumpf für die Amerikaner ein Schauspiel von begrenzter Dauer war, während sich bei uns das Komplott von Regime und Presse gegen die Gesellschaft, dem im System keine Grenzen gesetzt sind, als unbefristet herausgestellt und in der Ära von „gekreuzigten Jungen“ zu ganz widerwärtigen Zuständen geführt hat. Auch ohne Bezug auf die Wahlen in Amerika ist es stets sinnvoll, sich daran zu erinnern, dass bei uns alles mit guten Absichten begann, als Journalisten sich in Reih und Glied stellten, um die Regierung vor dem unvernünftigen Wähler zu schützen. Bei uns wurde darüber seit zwanzig Jahren nicht reflektiert, und vielleicht ist das der Grund dafür, dass die hysterischsten Texte über den Tod der amerikanischen Demokratie derzeit eben auch auf Russisch geschrieben werden.

    Das Jahr 1996 ist jedoch Geschichte, während 2011/2012 beispielsweise noch Gegenwart ist: Wir haben die Erfahrung einer Konfrontation der gutsituierten, protestierenden Moskauer Intelligenz mit dem Regime, das damals den breit angelegten Versuch unternahm, die Volksmassen auf seine Seite zu ziehen (oder diese Anziehung zu imitieren). Jetzt lieferte Amerika dem Bolotnaja-Platz von damals ein anschauliches Modell einer ebensolchen Konfrontation, bei der die Minderheit so sehr Recht haben mag, wie sie will, aber dennoch zur Niederlage verdammt ist. Es liegt auf der Hand: All jene, die in Russland irgendetwas erreichen wollen, sollten sich die amerikanische Suche nach jenem Zauberwort genau anschauen, mit dem man eine gemeinsame Sprache mit der Mehrheit finden kann. Es ist schwer zu sagen, welches dieses Wort sein könnte, aber eines steht fest: Es muss ehrlich sein und darf nicht von oben herab kommen.

    Moment für Eingeständnisse

    Das klassische „Russland, du bist wohl völlig durchgedreht“ nach den Wahlen (auch schon 1993, als die LDPR bei den Dumawahlen auf dem ersten Platz landete), das man heute paradoxerweise ins Englische übertragen kann, bedeutet und bedeutete im Grunde immer so etwas wie: „Wir dachten wir könnten die Meinung derer einfach ignorieren, die wir für Rednecks halten.“ Gerade ist wohl der Moment gekommen, sich einzugestehen, dass solche Formeln schäbig sind und man akzeptablen Ersatz für sie suchen sollte.

    Und hier steckt das größte Paradoxon: So oder so werden es die Amerikaner sein, die etwas suchen, um das bestehende Verhältnis zwischen der „klugen“ Minderheit und der „dummen“ Mehrheit zu erneuern. Aus der Niederlage, die Trump dem linksliberalen Establishment beibrachte, müssen unbedingt Schlüsse gezogen werden. Lektionen werden gelernt und auf Englisch formuliert werden, und zwar auf den Seiten der gleichen Medien, die jetzt den ganzen Herbst Angst verbreitet haben vor Trumps möglichem Einzug ins Weiße Haus. Und dann wird unsere verwestlichte „kluge“ Minderheit, die nicht immer fähig ist, etwas eigenes hervorzubringen, die aber sehr sensibel für die weltweite intellektuelle Mode ist, die amerikanischen Schlussfolgerungen vielleicht lesen, sie als gegeben annehmen und sich mit ihnen rüsten. Es mag wohl eine naive Hoffnung sein, aber dennoch: Wenn ein Autor des New Yorker überlegt, wie man sich verhalten sollte, damit der Spießbürger in Oklahoma nicht zu Trump umschwenkt, dann könnte es auch innerhalb der russischen kreativen Klasse möglich werden, ein solches Gespräch mit Menschen in Nishni Tagil zu führen, damit man dort nicht verstört schaudert und denkt: Dann lieber Putin als die da.

    Die Wahlen, die die amerikanische Intelligenz verloren hat, werden die Verlierer etwas lehren, woran sie bislang noch nicht gedacht hatten. Und auch die russischen Epigonen der amerikanischen Intelligenz werden dann etwas lernen. Wir haben genug eigene Trumps. Und es mangelt uns auch nicht an jenen, die überzeugend und detailliert darstellen, was für ein Pech sie doch hätten mit dem russischen Volk. Aber es mangelt uns an jenen, die mit der Volksmehrheit angemessen in deren Sprache sprechen können. In Amerika, so hat sich jetzt herausgestellt, gibt es ein ähnliches Problem, aber das werden sie wohl lösen. Und wir werden bei ihnen abgucken. Und es auch bei uns lösen.

    Weitere Themen

    Trump ein Agent Putins?

    „Wir haben lange genug stillgehalten“

    „Der Point of no Return liegt hinter uns“

    Journalisten in der Provinzfalle

    Zuhause im 8-Bett-Zimmer

    Presseschau № 44: Trumps Wahlsieg