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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Telegram: Privatsphäre first

    Telegram: Privatsphäre first

    Als Don Quijote des russischen Internet feiern ihn große Teile der Web-Community: Pawel Durow, Begründer des facebook-Pendants VKontakte und des Messenger-Dienstes Telegram. Vergangene Woche hat die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor verschiedene Informationen von Telegram eingefordert, um die Organisation in das sogenannte Rejestr (dt. Register) aufnehmen zu können. Andernfalls, so die Drohung, werde der Dienst in Russland gesperrt.

    Mit seinem „Unwillen die [Dechiffrier]-Schlüssel zur Verfügung zu stellen“ helfe Durow Terroristen dabei, weiter ungestraft Morde zu verüben, meinte Roskomnadsor-Chef Alexander Sharow später.

    Doch Durow weigerte sich. In mehreren Mitteilungen auf VKontakte nannte er seine Argumente, warf Roskomnadsor vor, gegen das in der Verfassung garantierte Briefgeheimnis zu verstoßen, den Terrorismus dagegen so nicht wirkungsvoll bekämpfen zu können. Der Streit vollzog sich vor Augen der Social-Media-Community und die feierte Durow für seine Hartnäckigkeit.

    Dann nannte Durow, ebenfalls auf VKontakte, die Bedingungen, unter denen er einer Aufnahme ins Rejestr zustimmen würde, vor allem: kein Zugriff auf die persönlichen Mitteilungen der Nutzer. Sämtliche geforderte Firmen-Angaben seien sowieso öffentlich einsehbar. Am gestrigen Mittwoch schließlich erklärte Roskomnadsor-Chef Sharow persönlich, dass die von Durow erwähnten Firmenangaben ausreichten, Telegram wird damit ins Rejestr aufgenommen.

    „Letzten Endes hat Roskomnadsor eine Möglichkeit gefunden, mit einer Niederlage aus den Verhandlungen zu gehen, ohne aber dabei das Gesicht zu verlieren“, kommentiert der Blogger Ilya Varlamov.

    Durow, der Don Quijote des Internet? Und wie sicher ist Telegram tatsächlich? Noch während der Streit zwischen Durow und Roskomnadsor schwelte, hat Republic-Korrespondent Dimitri Filonow einige Hintergrundinformationen zusammengetragen.

    „Das Recht auf Privatsphäre ist wesentlich wichtiger als unsere Angst vor möglichen negativen Dingen wie Terrorismus“ – Pawel Durow / Foto © TechCrunch/Wikipedia unter CC BY-SA 2.0
    „Das Recht auf Privatsphäre ist wesentlich wichtiger als unsere Angst vor möglichen negativen Dingen wie Terrorismus“ – Pawel Durow / Foto © TechCrunch/Wikipedia unter CC BY-SA 2.0

    Seine Premiere in der Rolle des Gründers von Telegram hatte Pawel Durow bei der TechCrunch-Konferenz im September 2015. Für die Präsentation seiner neuesten Schöpfung wählte Durow die Figur Neo aus Matrix: ganz in Schwarz mit Stehkragen. Einzig die Sonnenbrille fehlte, wäre aber auch zuviel gewesen. 
    „Egal, ob es schon viele Messenger-Dienste gibt – sie stinken alle ab. Und für mich und mein Team stinkt WhatsApp am meisten ab“, lautete Durows zweiter Satz bei seinem Auftritt. Sein geniales Marketingtalent, das ihm schon während der VKontakte-Zeit eine große Hilfe war, brach damals voll durch. Im Zuge der Enthüllungen durch Assange und Snowden setzte er auf Datenschutz: komplette Verschlüsselung, keinerlei Verhandlungen mit Behörden jeglicher Staaten.

    Durows „Nein“ ist alternativlos

    Knapp zwei Jahre später stellten die russischen Behörden Durow vor die Wahl: Entweder Kooperation oder Blockade von Telegram auf russischem Staatsgebiet. Warum ist Durows „Nein“ alternativlos, selbst wenn er es anders wollte?

    Telegram nahm seinen Ursprung in einem Algorithmus, den Pawel Durows Bruder Nikolaj erfunden hat. Die Brüder versicherten, dass nach diesem Algorithmus verschlüsselte Nachrichten nicht entschlüsselt werden können.

    Sie schrieben sogar einen Wettbewerb mit einem Preisgeld von 200.000 US-Dollar aus, für den- oder diejenige, dem dies gelänge. Später wurde die Aufgabe vereinfacht: Bereits für die Entschlüsselung eines Ausschnitts aus einem Nachrichtenverlauf wurde der Zugang zu einem Geldbeutel mit 200 Bitcoins [im russischen Original ist die Summe in 60.000 US-Dollar umgerechnet, der Kurs liegt derzeit allerdings bei 2.500 US-Dollar für 1 Bitcoin – dek] versprochen. Letzten Endes gelang es niemandem, diesen Preis zu gewinnen.

    Die Sicherheit der Kommunikation und das geschützte Übermitteln von Nachrichten wurden zum wichtigsten Marketinginstrument beim Vormarsch von Telegram. Die Ausgangslage dafür war denkbar günstig: Nach den Enthüllungen der weltweiten Internetüberwachung amerikanischer Sicherheitsbehörden durch Edward Snowden stand die ganze Welt Kopf.

    Bruch mit Russland

    Vom ersten Tag an wollte Durow Telegram auf dem globalen Markt etablieren. Öffentlich brach er mit Russland: Er bekam eine zweite Staatsbürgerschaft und gab bekannt, sein Heimatland zu verlassen und das Entwicklerteam ins Ausland auszulagern. Die Entwickler arbeiteten jedoch laut RBK und Sekret firmy weiterhin im St. Petersburger Singer-Haus am Code für Telegram, wo sich auch der Hauptsitz von VKontakte befindet.

    Der Unternehmer Durow ritt gekonnt auf der Welle im Kampf um die Unantastbarkeit der Privatsphäre: „Das Recht auf Privatsphäre ist wesentlich wichtiger als unsere Angst vor möglichen negativen Dingen wie Terrorismus“, erklärte er auf der besagten TechCrunch-Konferenz.

    Nach dem Terroranschlag in Paris kam die Frage auf, ob ISIS-Anhänger den Messenger Telegram anderen Diensten vorziehen würden. Gegenüber den russischen Behörden, die bereits 2015 einen Versuch unternommen hatten, Telegram zu verbieten, reagierte Durow harsch: „Ich schlage vor, Wörter zu verbieten. Es gibt Informationen, denen zufolge Terroristen sie zur Kommunikation nutzen.“

    Übrigens begann man seitdem, die Kanäle von ISIS-Sympathisanten auf Telegram ausfindig zu machen und zu sperren; die Administratoren des Dienstes erstatten in einem gesonderten Kanal täglich Bericht über die Zahl der gesperrten ISIS-Kanäle: Im Juni 2017 waren es bereits 5773.

    Ist Telegram tatsächlich so sicher?

    Aber ist Telegram tatsächlich so sicher, wie Durow beteuert, oder ist das einfach eine Marketingstrategie? Teils, teils: Sicher ist es zwar – aber mit Einschränkungen. 
    Im September 2016 traten Edward Snowden und Pawel Durow in einen Streit bezüglich der Sicherheit. Ursprünglich hatte sich Snowden für den Chat-Dienst Signal ausgesprochen. Müsste er sich zwischen Telegram und WhatsApp entscheiden, würde er aber Letzteren vorziehen. 
    Laut Snowden ist WhatsApp deshalb sicherer, weil in den Einstellungen bereits standardisiert eine End-to-end-Verschlüsselung festgelegt ist, also ein Algorithmus, der das Lesen der Nachrichten nur auf den Geräten des Senders und des Empfängers erlaubt. Bei Telegram hingegen werden auf diese Weise nur Nachrichten in geheimen Chats verschlüsselt, welche aber lange nicht von allen genutzt werden. 

    Darauf erwiderte Durow, dass WhatsApp obligatorisch alle Nachrichten der Nutzer ungeschützt auf seinen Servern in den USA speichere, zu denen die Landesregierung Zugang erhalten könne. „Und die End-to-end-Verschlüsselung kann WhatsApp jederzeit auf seinem Server abschalten“, so Durow. 
    Was die Verschlüsselung in Telegram betrifft, so geschehe das laut Durow tatsächlich nur in geheimen Chats. Das Fehlen einer Verschlüsselung in gewöhnlichen Chatgesprächen würde aber erlauben, die Nachrichten auf verschiedenen Geräten zu synchronisieren, was durchaus nutzerfreundlich sei. 
    Belege für ihre Behauptungen lieferten allerdings weder Snowden noch Durow.

    End-to-end-Verschlüsselung nur in Geheim-Chats

    Wie sieht die Sache in Wirklichkeit aus? Auf der Website von Telegram steht, dass End-to-end-Verschlüsselung nur in geheimen Chats angewendet wird: Die Krypto-Schlüssel liegen dann auf den jeweiligen Endgeräten der Nutzer. Wenn sie in gewöhnlichen Chats miteinander kommunizieren, werden die Daten in den Rechenzentren von Telegram verschlüsselt. „Die Schlüssel werden immer in verschiedenen Rechenzentren aufbewahrt, die sich wiederum in verschiedenen Gerichtsstandorten befinden. Deswegen sind lokale Ingenieure sogar im Falle eines physischen Eindringens nicht in der Lage, Zugang zu den Nutzerdaten zu bekommen“, heißt es auf der Telegram-Seite.

    Dienst für „Terroristen und Drogenhändler“?

    Bereits seit mehr als einem Monat führten die russischen Behörden eine systematische Informationsoffensive gegen Telegram, die sich in den letzten Tagen drastisch zugespitzt hatte [am gestrigen Mittwoch, 28. Juni 2017, haben sich Durow und Roskomnadsor-Chef Alexander Sharow geeinigt, s.o. – dek].

    Am Wochenende wurde auf den drei führenden Fernsehsendern Erster Kanal, Rossija und NTW über Telegram berichtet. Alle stimmten in den Refrain ein, Telegram würde von Terroristen und Drogenhändlern genutzt. „Telegram wird immer mehr zu einem Kommunikationssystem für Terroristen“, so der Moderator des Senders Rossija 1 Dimitri Kisseljow.

    Auch der FSB stimmte ins Mantra der Liebe der Terroristen zu Telegram ein. Die Behörde ließ verlauten, dass die Terroranschläge in Russland, einschließlich der Explosion in der Metro von St. Petersburg, über eben jenen Dienst organisiert worden seien.

    Terror nur als Vorwand?

    „Es ist traurig, wenn die Geheimdienste Russlands eine solche Tragödie zum Vorwand nehmen, um ihren Einfluss und die Kontrolle über die Bevölkerung zu verstärken“, so Durows Reaktion auf die Erklärung aus dem FSB. „Sollte Telegram gesperrt werden, wird das die Tätigkeit der Terroristen und Drogendealer in keinerlei Hinsicht erschweren. Dutzende anderer Instant-Messaging-Dienste mit End-to-end-Verschlüsselung (+VPN) werden ihnen weiterhin zur Verfügung stehen. In keinem Land der Welt sind alle vergleichbaren Chat- oder VPN-Dienste gesperrt. Wenn man den Terrorismus mit Hilfe von Sperren besiegen will, muss man schon das gesamte Internet sperren“, so Durow.

    Null Bite offengelegt

    Natürlich sei eine Übergabe der Krypto-Schlüssel völlig ausgeschlossen – eine andere Antwort war von Durow nicht zu erwarten. Das gesamte Konzept von Telegram wurde im Laufe mehrerer Jahre um die Sicherheit und Privatsphäre von Kommunikation aufgebaut. „Wir werden eure Informationen niemals weitergeben. Bis zum jetzigen Zeitpunkt haben wir Dritten, einschließlich Regierungen, null Bite Nutzerinformationen offengelegt“, heißt es im ersten Punkt der Datenschutzerklärung auf der Homepage von Telegram.

    Lässt sich Telegram jemals auf einen Handel mit den russischen Behörden ein, zerfällt das Image des Vorkämpfers für die Freiheit von Internetnutzern, das Durow Stein für Stein seit dem Start von Vkontakte aufgebaut hat.

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  • Kalte Freundschaft

    Kalte Freundschaft

    „Wir sehen die USA nicht als Feind”, sagte Putin während des Direkten Drahts; zahlreiche westliche Medien berichteten darüber. Umgekehrt beschreiben russische Staatsmedien die außenpolitische Situation ihres Landes gerne als die „einer belagerten Festung“: Umgeben von Feinden trotze Russland aber erfolgreich den ständigen Versuchen des Westens, es zu vereinnahmen, so der Tenor.

    Auch Wladimir Putin betont wiederholt Russlands Großmacht-Stellung, die ständig vom Ausland unterminiert werde: Diesmal auf dem Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg. Dieses von der russischen Regierung organisierte Jahrestreffen internationaler Politiker, Wirtschaftsführer und -experten will neben der Wirtschaft auch die Antworten auf drängende globale Fragen fördern.

    In einer öffentlichkeitswirksamen Ansprache empfiehlt Putin dem Westen, Russlands „volle Souveränität“ anzuerkennen und seine „rechtmäßigen Interessen“ zu akzeptieren – nur so könne ein globales Machtgleichgewicht wiederhergestellt werden.

    Dem Außenpolitik-Experten Wladimir Frolow deucht dies wie ein „Zurück in die 1970er“. Auf republic.ru kommentiert der einstige Diplomat Putins geopolitisches Weltbild und zeigt auch anhand jüngster Hacker-Attacken Parallelen zur Breshnew-Zeit auf.
    Diese gilt in der russischen Geschichtsschreibung als eine Zeit, in der die Sowjetunion dem Westen Paroli bieten konnte. Ansonsten wird sie aber vor allem mit dem Sastoi assoziiert – der Epoche des Stillstands. 

    Die außenpolitische Botschaft Wladimir Putins an den sogenannten Westen ist klar: „Da könnt ihr lange warten!“ Signifikante Veränderungen in der russischen Außenpolitik sind nicht geplant, geschweige denn eine Revision des zugrundeliegenden Konzepts: „Der Westen wirkt der Wiedergeburt Russlands als Supermacht entgegen und will so die eigene Vormachtstellung in einer unipolaren Weltordnung erhalten, und Russland reagiert entsprechend auf diese Beschneidung seiner rechtmäßigen Interessen.“

    Der Konflikt mit dem Westen bleibt ein ideologischer Grundpfeiler der russischen Außenpolitik und bestimmt Moskaus Handeln auf der internationalen Bühne. Die russischen Interessen zu vertreten heißt nun fast ausschließlich, die geopolitischen und wirtschaftlichen Positionen des Westens in einem Nullsummenspiel zu untergraben.

    Das Ausmaß des Konflikts und die konkreten territorialen und diplomatischen Fronten werden variieren. Beeinflusst werden sie durch die aktuelle politische Weltlage, die Maßnahmen und die Entschiedenheit des Westens, russische Bestrebungen abzublocken, sowie die innenpolitische Situation und die außenwirtschaftliche Konjunktur. Von Letzterer hängen Russlands Ressourcen für die Durchführung einer entschlossenen Außenpolitik ab.

    Gemäßigte Phase der Konfrontation

    Putin bekundete Moskaus Interesse an einer gemäßigten Phase der Konfrontation (nicht ihrer Beendigung), das heißt an einer „Entspannung der internationalen Lage“ im Stil der zweiten Hälfte der 1970er Jahre.

    Dem Westen wird angetragen, sich mit Russlands neuem geopolitischen Status abzufinden, Russlands regionale und globale Ambitionen als legitimes Interesse zu akzeptieren und seine uneingeschränkte Souveränität anzuerkennen, sprich: sich nicht in die inneren Angelegenheiten Russlands einzumischen.

    Außerdem wird dem Westen nahegelegt, auf jegliche Kritik der russischen Innenpolitik zu verzichten, die Sanktionen aufzuheben und zu einer umfassenden wirtschaftlichen Zusammenarbeit zurückzukehren.

    Zudem sollte man zu einer engen politischen Zusammenarbeit mit Moskau in allen wichtigen globalen Fragen übergehen, wobei Russlands Gleichstellung mit dem Westen anerkannt und Moskaus Propagandanarrativ Berücksichtung finden muss.

    Helsinki 2.0 – nicht nur für Europa, sondern für die ganze Welt

    Das alles sieht aus wie der Vorschlag eines Helsinki 2.0 – allerdings nicht mehr nur für Europa, sondern für die ganze Welt. Und mit ein paar grundlegenden Neuerungen, insbesondere im „humanitären Korb“.

    Dabei geht es um die endgültige Festlegung der Einflussgrenzen (nicht nur der geografischen, sondern auch der ideologischen – man hat nunmal unterschiedliche Auffassungen von Menschen- und Persönlichkeitsrechten), um die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten (die Art und Weise eines Machtwechsels darf nicht Gegenstand internationaler Beziehungen sein). 
    Es geht um für Russland vorteilhafte Regeln für die Anwendung von Waffengewalt (die gewaltsame äußere Einmischung als „humanitäre Intervention“ oder „Verantwortung zum Schutz der Bevölkerung“ ist unzulässig, legitim sind hingegen militärische Interventionen nach Aufforderung, zur „Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung“). 
    Außerdem geht es um die Souveränität des Informationsraumes (Kontrolle über das Internet und die Medien auf dem eigenen Interessengebiet) sowie die Handelsfreiheit und staatlich kontrollierte Investitionen, unabhängig vom innen- oder außenpolitischen Tagesgeschehen.

    Völlige Intransparenz außenpolitischer Entscheidungsfindung

    Damit sind zwei potentiell destabilisierende außenpolitische Konzepte zur vorbehaltlosen Annahme auf dem Tisch. Sie stammen ebenfalls aus den guten alten 1970ern, sind aber in ihrer Form leicht abgewandelt: Die „rechtmäßigen Interessen“ und die „uneingeschränkte Souveränität“.

    Das erste Konzept schreibt Moskaus Recht auf militärisches Eingreifen im Ausland fest – sowohl im Umkreis der eigenen Landesgrenzen als auch in anderen Regionen der Welt, wo sich eine Möglichkeit bietet, bei verhältnismäßig geringem Kostenaufwand auf den Westen Druck auszuüben. Die Grenzen der „Rechtmäßigkeit“ dieser Interessen sind absichtlich nicht klar definiert und können bei Bedarf kurzerhand uminterpretiert werden. Aber das Recht zur Neuinterpretation und zur Anpassung der gesamten Außenpolitik an diese neue Fassung hat nur eine Person.

    Bei der völligen Intransparenz außenpolitischer Entscheidungsfindung wirkt die Unberechenbarkeit der russischen Außenpolitik destabilisierend auf die Weltgemeinschaft und provoziert eine Politik der Zurückhaltung.

    „Rechtmäßige Interessen“ sind heute die Krim, morgen der Donbass und der Südosten der Ukraine, in einem Jahr Syrien, in zwei Jahren Libyen, in drei Jahren die Balkanstaaten und Afghanistan. Nicht auszuschließen, dass irgendwann auch Venezuela oder Nicaragua auf dieser Liste landen.

    Enger Kreis von wahren Souveränen

    Das Konzept der „uneingeschränkten Souveränität“ für die einen birgt die Gefahr, dass sie automatisch eine begrenzte Souveränität aller anderen bedeutet. Damit wird eine Zwei-Klassen-Struktur in den internationalen Beziehungen geschaffen, in denen dann einige Länder gleicher sind als andere.

    In Wladimir Putins Weltauffassung gibt es nur wenige Staaten, die über uneingeschränkte Souveränität verfügen, sprich über die Fähigkeit, eine gänzlich unabhängige Außenpolitik zu betreiben, ohne Rücksicht auf die Meinung anderer Großmächte. Neben Russland und den USA sind das Indien, China, Brasilien und der Iran. Aber auch diese Liste ist nicht endgültig und unterliegt gelegentlicher Revision.

    Die restlichen Staaten verfügen über begrenzte Souveränität. Sie können keine eigenständigen außenpolitischen Entscheidungen treffen und müssen ihr Handeln mit ihrem Lehensherren abstimmen. Zu dieser Gruppe zählt Putin alle NATO-Länder, einschließlich Deutschland und Frankreich, weil er annimmt, dass in diesem Bündnis alles von den USA entschieden wird.

    Dieses vereinfachte Bild dient Moskau als eine perfekte Matrix der internationalen Beziehungen: Alle Schlüsselfragen und Regeln der Weltordnung werden in einem engen Kreis von wahren Souveränen ausgehandelt. Sie kontrollieren jeweils ihren Bereich und können die Meinung der anderen Staaten getrost außer Acht lassen.

    Breshnew Doktrin wiederbelebt

    Dieses Konzert der Großmächte bedeutet auch, dass Russland seinen Vasallen-Bereich hat – eine Reihe von Staaten, deren Souveränität dadurch beschränkt ist, dass sie bestimmte Aspekte der Außen-, Verteidigungs- und Handelspolitik mit Moskau abstimmen müssen. Vor allem gilt das für den Aufbau jeglicher Beziehungen zum Westen.

    Offenbar wurde Breshnews Doktrin wiederbelebt: Die Souveränität der Länder des russischen Lagers wird demzufolge nicht durch das marxistische Dogma vom Aufbau des Sozialismus begrenzt. Vielmehr geht es um den Verzicht auf eigenständige Beziehungen zum Westen und auf ein demokratisches Regierungssystem. Denn die Regierungschefs müssen in erster Linie Moskau gefallen.

    Verschärfter Ideologie-Kampf gegen den Westen

    Es gibt außerdem noch Anzeichen, dass auch an ein weiteres außenpolitisches Konzept der 1970er Jahre angeknüpft wird: Die Politik der Entspannung geht nämlich einher mit einer Verschärfung des ideologischen Kampfes der „Völker“, gegen den Westen.

    Das zeigt sich anhand von Putins wohlwollenden Aussagen über die „patriotischen Hacker, die frei sind wie Künstler“ und bereit, für das Land einzustehen. Oder dann, wenn Putin eine für den Westen schmerzliche Kontinuität suggeriert, indem er die Kritik an Russland als ein Zeichen ethnischer Russophobie darstellt.

    Der Partisanenkrieg der „patriotischen Hacker“ gegen die „russophoben Politiker“ in den westlichen Ländern wird befürwortet, quasi in alter sowjetischer Tradition einer Außenpolitik, die „befehlshörige Komsomol-Freiwillige“ unterstützt. Dank moderner Technologien ist es relativ einfach und günstig, sich direkt an das westliche Publikum zu richten und dabei eine glaubhafte Abstreitbarkeit (plausible deniability) zu wahren. So entgeht man westlichen Sanktionen („auf staatlicher Ebene machen wir das nicht“) und kann unverfroren verkünden, Russland mische sich nicht in fremde Wahlen ein, während man bei Facebook zielgerichtet Werbung für den richtigen Kandidaten postet.

    Die „freien Hacker“ und die Kriege der Bots in Sozialen Netzwerken – das ist die neue Dimension des ideologischen Kampfes, gegen die man sich im Westen im Rahmen der Meinungsfreiheit bislang nicht zur Wehr setzen kann. Im Gegensatz zu Russland können westliche Politiker unliebsame Seiten oder Postings nicht einfach blockieren. Und die Versuche des Westens, Gleiches mit Gleichem zu vergelten würden am Roskomnadsor scheitern.

    Russland wirft dem Westen „Hysterie“ vor

    Moskau behauptet, dass im Westen wegen der russischen Hacker und deren Einmischung in Wahlen geradezu „Hysterie“ und „politische Schizophrenie“ herrsche. Das sei ein Zeichen der Schwäche der westlichen Demokratien und des fehlenden Vertrauens in die eigenen Institutionen.

    Diese in zentralistischer Manier verbreitete Argumentation lässt vermuten, dass man die schöne Arbeit der Cyberfreiwilligen auch weiter billigend in Kauf nehmen wird, ohne sie als Einmischung in innere Angelegenheiten anzusehen.

    Das beim Forum vorgeschlagene Remake mit Upgrade der außenpolitischen Konzepte der 1970er Jahre ergänzt sich tatsächlich gut mit einem ähnlichen Upgrade in der Wirtschafts- und Sozialpolitik: Statt Strukturreformen, Entstaatlichung und mehr Konkurrenz wird eine allgemeine Block-Chain und Digitalwirtschaft unter strenger staatlicher Kontrolle vorgeschlagen, bei der Staatsfirmen vorschriftsgemäß „sogenannte Startups“ unterstützen. In den 1970ern nannte man das „Kampaneischina“.

    Innen- und Außenpolitik sind eng verzahnt

    Anatoli Tschubais, der ebenfalls am Forum teilgenommen hat, beschrieb das konzeptuelle Problem sehr treffend: „Das soziale, ökonomische und politische System im Land deckt überraschend viel ab, ist ausgeglichen und auf seine Weise sogar harmonisch. Es ist ein System, bei dem die Innenpolitik die Außenpolitik ergänzt. Was wiederum bedeutet, dass eine ernsthafte Umstrukturierung der Innenpolitik kaum möglich ist, ohne die Außenpolitik anzurühren. Vermutlich braucht es ganzheitliche Schritte, und das birgt große Risiken.“

    Man könnte meinen, bei einem Zeithorizont von sieben Jahren sei man mit der Strategie „Zurück in die 1970er“ innen- und außenpolitisch auf der sicheren Seite. Bleibt nur noch, die äußere Realität daran anzupassen.

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  • Warum Putin kein Populist ist

    Warum Putin kein Populist ist

    Trump, Orban und wie sie alle heißen: Populisten, so konstatieren viele Politikwissenschaftler, seien auf dem Vormarsch. Immer öfter hört man dabei die These, Russland habe bei dieser Entwicklung eine Art „Vorreiterrolle“ gespielt. Denn Putin verführe die Massen, manipuliere die öffentliche Meinung und spiele sich als Stimme des Volkes auf.

    Putin, der lupenreine Populist? Im Gegenteil, meint Soziologe Grigori Judin. Bei allen Parallelen, ein genauerer Blick lohne sich – seine Analyse auf Republic:

    Brexit, Trump, Orban & Co. – Putin als Vorreiter populistischer Bewegungen? / Foto © TaylorHerring/flickr.com

    Derzeit stehen in Europa und Amerika alle großen Wahlen unter dem Zeichen des Populismus. Zu den populistischen Politikern wird oft auch Wladimir Putin gezählt. Manchmal scheint es sogar, als sei Putin der erste gewesen, der in den liberalen demokratischen Ordnungen eine Lücke gefunden hat: nämlich über breite Unterstützung in der Bevölkerung zu verfügen und gleichzeitig autoritär zu handeln, indem man leere Versprechen macht und den mangelnden politischen Weitblick und die Verantwortungslosigkeit der Massen nutzt.

    Demzufolge versucht die neue Generation der Populisten einfach, Putins Rezept anzuwenden, um die Grundlagen der westlichen Demokratie zu untergraben. Aufgeschreckte Experten sprechen vom Populismus als einem Symbol für die Verwundbarkeit des Westens, von einer Schattenseite der Demokratie, die sie durch die eigenen, einfältigen Bürger zu Fall bringen könnte.

    Populismus als Schimpfwort

    Mittlerweile wird das Wort „Populismus“ unterschiedslos zur Beschreibung aller möglichen gefährlichen politischen Entwicklungen verwendet. Sein negativer Beiklang erzeugt ein trügerisches Gefühl von Klarheit, verhindert, die Gründe für das Geschehen zu verstehen, und lähmt das politische Handeln.

    Soll Populismus aber nicht einfach nur ein Schimpfwort zur Brandmarkung unbequemer Opponenten sein, sondern ein spezieller Typus politischer Mobilisierung, dann braucht es zunächst eine klare Definition.

    Populismus ist die Gegenüberstellung von „uns“ (dem Volk) und „denen“ (der Elite) – eine Rhetorik des Kampfes gegen das Establishment. Dabei werden „das Volk“ und „die Elite“ nicht in Gruppen unterteilt: Sie bilden homogene Gemeinschaften. Zwischentöne gibt es nicht.

    Zwischen „dem Volk“ und „der Elite“ steht die populistische Partei oder eine Führungsfigur, der Leader, Sprachrohr für die Sehnsüchte des Volkes und Schrecken für die korrupten „fetten Tiere“ da oben.

    Der Konflikt zwischen „Volk“ und „Elite“ ist unter Umständen absolut und grenzenlos, weshalb sich Populismus schlecht mit dem System der Checks and Balances verträgt, das die liberalen Demokratien charakterisiert.

    Populismus ist dem Wesen nach ein demokratisches Phänomen, und nicht nur, weil populistische Politiker ein Produkt von Wahldemokratien sind und nicht das von autoritären Regimen. Populismus bringt „das Volk“ auf die Bühne, ohne das die moderne demokratische Politik inhaltlich ausgehöhlt wäre – denn sie basiert ja auf dem Konzept der Volkssouveränität.

    POPULISMUS – SYMPTOM DER KRISE

    Gleichzeitig ist der Populismus ein Symptom der Krise liberaler Demokratie, genauer gesagt: der Krise des Systems politischer Repräsentation. Populisten agieren über Grenzen hinweg, die durch traditionelle politische Identifikations­muster entstanden sind. Ihr Erfolg ist nur deshalb möglich, weil diese Grenzen verwischen und die traditionellen politischen Kräfte die Unterstützung der Bevölkerung verlieren.

    Kennzeichen des Populismus sind demnach ein Angriff auf die Elite, eine Mobilisierung der Massen, Demokratiehaftigkeit und Publicity.

    Das Regime Putin ist genau das Gegenteil davon.

    PUTIN – DAS GEGENTEIL EINES POPULISTEN

    Erstens war Wladimir Putin offizieller Nachfolger von Boris Jelzin und Günstling von Jelzins Eliten. Als Outsider kann man ihn wohl kaum bezeichnen. Selbst zu Beginn seiner Regierungszeit, als Putin die Oligarchen kritisierte, stellte er ihnen nicht das Volk gegenüber, sondern den Staat, den die Oligarchen untergruben und von innen heraus zerstörten.
    Sobald Putin die Loyalität der Eliten erlangt und unzuverlässige durch eigene Leute ersetzt hatte, vergaß er das Problem der Oligarchen sofort – mal abgesehen davon, dass das Verschmelzen von Macht und Reichtum seither nur zugenommen hat.

    Demobilisierung und Entpolitisierung

    Zweitens, und das ist von grundsätzlicher Bedeutung, gründet der Putinismus im Unterschied zum Populismus auf Demobilisierung und Entpolitisierung.
    Was er braucht, ist nicht die aktive Unterstützung der Bevölkerung, sondern ihre Gleichgültigkeit und Nichteinmischung in die Angelegenheiten jener, die oben am Ruder sind.

    Das Putinsche Regime hat nie versucht, Anhänger zu mobilisieren. Es war vielmehr bestrebt, sie zu demobilisieren und die Vorherrschaft des Privatlebens über gesellschaftspolitisches Handeln sicherzustellen.
    Unter Putin verwandelte sich Partizipation am politischen Leben in den Augen der Russen in eine Beschäftigung für Leute, die nicht ganz bei Trost sind: Wie kann denn jemand, der seinen Verstand beisammen hat, noch Wahlen ernstnehmen, wenn dort ganz offensichtliche Clowns nominiert werden? Wenn es jedes Mal auf den Stimmzetteln von Doppelgängern und Namensvettern wimmelt? Wenn die Wahlergebnisse letztendlich so ausfallen, wie es der Regierung passt?

    Die Reaktion der Bevölkerung ist offensichtlich: Den Großteil der Wähler stellen seit langem die vom Staat abhängigen Bevölkerungsgruppen. Die Wahlbeteiligung bei regionalen und landesweiten Wahlen sinkt ein ums andere Mal drastisch. Der Anteil der Teilnehmer an Meinungsumfragen liegt bei weit unter 50 Prozent.

    Angst vor dem Volk

    Drittens ist die gesamte Elite in Russland nicht einfach nur antidemokratisch, sondern sie hat totale Angst vor dem Volk.

    Viele Jahre schon ist eine Revolution, ein Volksaufstand, der schlimmste Albtraum der Eliten – er muss mit allen Mitteln verhindert werden. Die Eliten behandeln das Volk wie ein leicht beeinflussbares Kind, das nicht in der Lage ist, selbständig zu denken und das ständigen Schutz vor gewissen feindlichen Kräfte benötigt.

    Viertens schließlich reicht ein Blick auf das Drehbuch der Inauguration Putins, um zu sehen wie Putins Stil und der Stil populistischer (ja überhaupt demokratischer) Politik auseinanderklaffen: Die Autokolonne mit dem Leader fährt durch die vollkommen leere Stadt zum Kreml, wo ihn inmitten des überbordend feierlichen Prunks des Großen Kremlsaales „des Herrschers Getreue“ empfangen.

    POLITIKER OHNE VOLK

    Kann ein Politiker ohne Volk Populist sein? Kann man einen Politiker, der noch nie in seinem Leben an öffentlichen Debatten teilgenommen hat, als Populisten bezeichnen? Das gilt nicht nur für Putin, sondern für das gesamte Establishment in Russland, das alles daran setzt, selbst mit der Presse nie anders als im Modus eingeübter und inszenierter Fragen zu sprechen.
    Vergleichen wir Putin einmal mit klassischen Populisten wie Chavez, Morales oder Correa: Jeder von ihnen fühlt sich bei der direkten, nicht inszenierten Interaktion mit dem Volk wie ein Fisch im Wasser.

    Selbst 2012 und 2014, als das Regime auf Geschlossenheit gegen den äußeren Feind setzte und eine emotionsgeladene Propaganda startete, war im Instrumentarium des Regimes kein Populismus – keine anti-elitäre Mobilisierung oder Rhetorik – festzustellen.

    Jahr um Jahr wird den Russen Angst eingejagt, dass der Feind nicht schläft, dass man zusammenstehen muss, dass man dabei aber um Gottes Willen keine irgendwie gearteten Aktionen starten darf. Aus Sicht des russischen Regimes hat sich der Bürger – um dem Feind erfolgreich die Stirn zu bieten – in seine eigene Welt zurückzuziehen, beim Fernsehen vor Angst zu zittern und der Armee sowie den Geheimdiensten völlig freie Hand zu lassen – die werden schon wissen, was zu tun ist.

    Das alles hat mit der Logik des Populismus nichts zu tun, im Grunde widerspricht es ihm.

    Putin den Populisten zuzurechnen hieße, einen strategischen Fehler zu begehen. Während Populisten die Masse des Volkes gegen die Eliten mobilisieren, stützt sich Putins Regime auf die Eliten, um die Massen zu demobilisieren.

    Das Volk als Bedrohung, nicht als Stütze

    Das Gespenst der „86 Prozent“, von dem in den letzten Jahren viele in Russland erfasst wurden, versperrt den Blick auf den Schwachpunkt des gegenwärtigen Regimes: Das Volk ist für das Regime nicht die größte Stütze, sondern die größte Bedrohung.
    Mit seiner gigantischen Kluft zwischen Herrschenden und Bevölkerung, der Dominanz der Technokraten in der Regierung und der völligen Enttäuschung der Menschen durch die Politik, ist Russland ein ideales Feld für das Bedürfnis nach Demokratie und das Aufkommen populistischer Bewegungen.

    Das Bedürfnis nach Populismus ist in Russland heute objektive Realität. Und es kann auch gar nicht anders sein in einem Land, in dem die himmelschreiende Ungleichheit tagtäglich auf den Straßen zu beobachten ist, wo die Bürger von der Politik ausgeschlossen sind, und wo man der neuen Generation in den Schulen und Universitäten Angst vor den „Feinden“ einjagt und ihr beibringt, stillzusitzen.

    Populismus ist nicht unbedingt ein Übel: Er kann in den Menschen Energie und Enthusiasmus wecken, ihre Bereitschaft, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und die Geschicke des eigenen Landes mitzubestimmen.
    Das Gefühl, dass deine Stimme und dein Handeln einen Unterschied machen, ist viel wert. Es ist ein Gefühl, das die Russen seit langem entbehren.

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  • Geschichte als Rummelplatz

    Geschichte als Rummelplatz

    Der von Deutschland ausgelöste Krieg forderte schätzungsweise 25 bis 42 Millionen sowjetische Todesopfer. Die offizielle russische Geschichtspolitik zelebriere einen regelrechten „Kult um den Sieg“, meint Sergej Medwedew, eine der profiliertesten Stimmen des liberalen Lagers. Dabei verwandle sich das Erinnern zunehmend in einen Marketing-Gag, die dunklen Epochen der russischen Geschichte würden übertüncht.

    Auf republic.ru analysiert Medwedew, inwiefern das Tragische des Krieges zunehmend als spielerische Farce inszeniert wird.

    Nachrichten aus der Welt des Schönen: Einen Monat vor dem Tag des Sieges kam heraus, dass sich Russen nun eine Hitlerfrisur schneiden lassen können.

    Die Facebook-Userin Olga Makarowa hatte die Preisliste eines Kinderfriseurs in einem Moskauer Einkaufszentrum gepostet, wo Kunden das „Modell Hitlerjugend in zwei Stylingvarianten“ angeboten wird.

    In den sozialen Netzwerken herrschte Aufregung, die Friseurin entschuldigte sich und ließ die strittige Bezeichnung verschwinden. Aber im Zuge der Diskussion wurde klar, dass „Hitlerjugend“ in Friseur-Fachkreisen ein allgemein gebräuchlicher Terminus ist und dieser Haarschnitt in Salons und Barbershops russlandweit angeboten wird.

    Wieso denn immer gleich Hitler?

    Das könnte man kurios finden, für ungeschicktes Naming und eine unerfreuliche Ausnahme halten, aber das Problem liegt viel tiefer. In den letzten Jahren ist in Russland eine ganze Schicht von Wörtern und Begriffen rund um den Zweiten Weltkrieg enttabuisiert worden.

    So wurde etwa das Wort „Faschist“ zu einer derart gängigen Beleidigung, dass es seine Bedeutung komplett verloren hat.

    „Faschismus“ wird heute jegliche für den Sprecher unangenehme Erscheinung genannt: Faschismus findet man in Kiew und im Kreml, in den Reden von Marine Le Pen und Alexander Dugin, bei den Donezker Separatisten und den estnischen Nationalisten. Seit Beginn des Krieges mit der Ukraine hat sich das Wort bis zum endgültigen Bedeutungsverlust abgenutzt.

    Ebenso armselig sind die jüngsten Versuche des Staates, Nawalny mithilfe eines anonymen Videos zu diskreditieren, in dem er mit Hitler verglichen wird – die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens sah man sogar im Kreml ein.

    Hitler ist mittlerweile zum Internet-Mem geworden: Im Netz kursiert ein Demotivator, wo der beleidigte Führer aus einem Zugfenster heraus fragt: „Wieso denn immer gleich Hitler?“    

    Als Ergebnis dieser Wort-Inflation taucht der Haarschnitt Hitlerjugend auf, der gewitzte Unternehmer in Nowosibirsk nennt seine Banja Abwehr und versieht sie mit dem Slogan Mal so richtig Auschwitz-en1, und die Schwestern Karatygin, zwei Studentinnen aus Moskau, antworten im TV-Quiz auf die Frage „Was ist der Holocaust?“ „Ein Tapetenkleister“.

    Wozu denn so an Worten kleben?  

    Ähnliche Fragen warf der Eistanz von Tatjana Nawka und Andrej Burkowski in Auschwitz-Lagerkluft auf. Sie tauften ihn Tanz mit Sternen, da auf den Hemden gelbe Judensterne aufgenäht waren. Und obwohl damit nur das Sujet des Films Das Leben ist schön von Roberto Benigni künstlerisch umgesetzt wurde, war ein so unbeschwerter Umgang mit der Erinnerung an den Holocaust – in Form einer Unterhaltungsshow, mit applaudierendem Publikum und lächelnden Tänzern – nur durch diese Wertminderung der Wörter und Begriffe möglich, durch die Umwandlung der Katastrophe vom tragischen Symbol in eine choreografische Komposition mit historischem Thema und sicherem Sieg.

    Will man manchen Leuten erklären, warum Frisuren wie Hitlerjugend moralische Konventionen sprengen, stößt man auf offenes Unverständnis: Ist doch ein stylischer Haarschnitt! Wozu denn so an Worten kleben?   

    Dieselbe Abnutzung von Wörtern und Bedeutungen findet sich beim Thema der Stalinschen Säuberungen. Ende letzten Jahres wurde in Moskau in der Uliza Ostoshenka das Restaurant NKWD eröffnet, und obwohl das Schild ein paar Tage später verschwand und man im Restaurant beteuert, die Abkürzung stehe für „Nationale Küchen der Großmacht“, prangen auf der Speisekarte Portraits von Stalin und Dsershinski, im Saal hängt ein großes Portrait des sowjetischen Führers, und die Kellner tragen die Militärhemden aus der Stalinzeit.

    In Tjumen gibt es eine Security-Firma namens Tschekist, die Kindergärten bewacht, in Sotschi die Firma Stalinism, in Barnaul gab es mal einen Erdbaubetrieb namens Gulag und in Wolgograd die OOO Berija. Ihre Besitzer sind wohl kaum überzeugte Verfechter der Säuberungen (auch wenn man das nicht ausschließen kann). Wahrscheinlich wollen sie provozieren und finden, diese Namen hätten Witz und Schärfe, und moralische Bedenken kennen sie nicht.

    Zwei Arten von historischem Gedächtnis

    Hier muss man einräumen, dass im modernen Russland zwei Arten von historischem Gedächtnis existieren: das traumatisierte und das spielerische.

    Zunächst zum traumatisierten: Das entstammt der Erinnerungskultur der Nachkriegsgenerationen, basiert auf dem Trauma des Krieges, der Liste von Verlusten, auf der Idee, der Krieg sei eine fundamentale Katastrophe gewesen und ein Opfer, das die Nation gebracht habe.

    Der sowjetische Diskurs über den Krieg war abgesteckt von moralischen Markern und Tabus, von inneren Beschränkungen und stilistischen Vorgaben. Es war nicht üblich, laut von Heldentaten und Siegen zu sprechen, der Kameraden gedachte man schweigend, ohne mit den Gläsern anzustoßen, ja, und sogar der Tag des Sieges hatte noch 30 Jahre nach dem Krieg, als die Mehrheit der Veteranen noch lebte, den Charakter eines Gedenkrituals, eines frühlingshaften, weltlichen Osterfestes: Ein Fest, begangen mit Augen voll Tränen trifft es am besten.

    Faschisten gab es in der Propaganda, aber nicht im Alltag

    Das Wort „Faschist“ trug eine ernsthafte moralische Ladung, vor allem für die Generation, die den Krieg miterlebt hatte.

    Genauso war der Name „Hitler“ ein mystischer Fluch, den man nicht achtlos aussprechen durfte, da er beim Sprecher blanken Hass auslöste. So erzählte mir meine Mutter, wie sie sich als Kind nachts grausame Hinrichtungen für ihn ausgedacht hatte.

    Und dann gibt es noch ein anderes Kriegsgedenken: das Spiel. Kinder haben es immer gespielt: Als Schuljungen konnten wir einander als „Faschisten“ und Hitler beschimpfen, doch den Erwachsenen war das verboten.

    Außerdem kamen Faschisten in der Propaganda vor, aber nicht im Alltag.

    Ins normale Leben hielten die Faschisten in den 1990ern Einzug. Dieser Wendepunkt ist in Brat 2 von Alexej Balabanow deutlich markiert (zusammen mit Brat 1 eine bis heute gültige Enzyklopädie des russischen Unbewussten): Danila wird zum Waffenkauf in einen Keller geführt, die Figur des Verkäufers trägt den Namen „Faschist“ und eine Wehrmachtsjacke. Danila, mit seinem moralischen Bewusstsein, sagt verblüfft: „Also, mein Opa ist im Krieg gefallen“, worauf Faschist phlegmatisch meint: „Soll vorkommen.“

    Und das war’s dann – das Ende der normativen Kultur, der Beginn der Spiel-Realität, in der Danilas Augen beim Anblick der Schatzkammer voller Waffentrophäen zu glänzen beginnen („Hör mal, woher ist das alles?“ – „Ein Echo des Krieges.“).

    Pathos von Größe und Selbstgefälligkeit

    In den 2000er Jahren drang die spielerisch-kindliche Vorstellung vom Krieg in die offizielle Ideologie und ins Massenbewusstsein durch – der Krieg wurde als harmloses Soldatenspiel betrachtet, die Erinnerung mythologisiert und kommerzialisiert, sie wurde zur gefragten Ware auf dem Markt der Ideologien und Identitäten. Die Epoche der historischen Rekonstruktion und politischen Restauration hatte begonnen.

    Anhänger des zweiten spielerischen Erinnerungstyps sind ebenfalls erfüllt von moralischem Bewusstsein, aber hier ist es bereits Pathos von Größe und Selbstgefälligkeit, von Hochmut und Selbstisolierung.

    Die Opfer sind Anlass zum Stolz, nicht aber zur Trauer. Während das traumatische Gedenken wie eine Beschwörung wiederholt „bloß kein Krieg mehr“, verkündet die spielerische Erinnerung großmäulig: „Wir können das auch wiederholen!“

    Pyrotechnik ersetzt Patriotismus

    In diesen Maitagen läuft in Russland wieder das Festival der Wiederholer, und an den Autos tauchen widerliche Sticker auf, auf denen unter eben diesem Motto Hammer und Sichel ein Hakenkreuz vergewaltigen. Das Land versenkt sich in ein endloses Sarniza-Spiel, in dem der Krieg inszeniert und rekonstruiert und Patriotismus durch Pyrotechnik ersetzt wird – von Alexander Saldostanows Biker-Pride auf der Krim bis zur heiteren Stürmung des Sperrholz-Reichstags im Freizeitpark Patriot.

    Extra zu erwähnen ist die Live-Rekonstruktion des Zweiten Weltkriegs im Donbass mit Hilfe von militärhistorischen Klubs: Die Schlacht um Awdijiwka verwies direkt auf Gefechte des Großen Vaterländischen Kriegs, ukrainische Kriegsgefangene wurden durch Donezk getrieben wie deutsche 1944 durch Moskau. Und Strelkow erschoss Plünderer und Marodeure auf Grundlage einer Verordnung Stalins von 1941.

    Die Grenze zwischen Tragödie und Trolling verschiebt sich

    Für das spielerische Erinnern ist charakteristisch, dass Menschen zu Spielzeugsoldaten werden, zu Hieroglyphen auf einem Plakat, zu den Steinen eines Brettspiels. Die Inflation von Erinnerung und Trauer führt dazu, dass Personen und Dinge, die wir uns nicht getrauten, beim Namen zu nennen, jetzt zu Memes, Werbegags, Markennamen werden – und dann gibt es eben Hitlerjugend-Haarschnitte und Holocaust-Tänze. Vor unseren Augen verschiebt sich die Grenze zwischen Tragödie und Trolling, Schmerz und Witz, Traumata werden enttabuisiert und bereinigt.

    Das ist wahrscheinlich der Zeitgeist, die Postmoderne. An die Stelle der Generationen, die mit Kriegs- und Lagerprosa aufwuchsen, tritt eine Generation, die mit Fjodor Bondartschuks Stalingrad und Sachar Prilepins Obitel aufgewachsen ist, mit Memes, Videogames, bunten Kriegsfilmen und einer Light-Version der Geschichte.

    Auch der Staat macht gern auf postmodern, veranstaltet Reenactments und Paraden, betäubt die Erinnerung an Tragödien und verstärkt den Kult um den Sieg und die Erfolge der UdSSR.

    Spiel statt Trauma, Anästhesie statt Schmerz, Cosplay statt Katharsis: Vor unseren Augen ist das neue, ungetrübte Bewusstsein der 2000er Jahre geboren, das sich ohne Zögern das Georgsband anheftet, die Kinder in Tschekistenkostüme steckt und mit derselben Leichtigkeit beim Friseur oder in der Propaganda den Namen Hitlers dekliniert – die Geschichte ist ein Rummelplatz geworden, auf dem alles tanzt.


    1.Der Slogan aus dem russischen Original – Освенцим отдыхает (Oswenzim otdychajet, wörtl.: „Auschwitz erholt sich“) – verwendet eine weitverbreitete Redewendung aus der Umgangssprache, in der das Verb „sich erholen“ im Sinne von „ist nichts dagegen“, „kann einpacken“ gebraucht wird. Ein direktes deutsches Äquivalent dafür gibt es nicht. In einer ersten Übersetzungsvariante hatten wir uns für die wörtliche Version entschieden („Auschwitz erholt sich“) – ein Teil der Bedeutungsaspekte des Originals muss hier ja in jedem Fall geopfert werden. Nachdem uns ein Leser auf die entstehenden Verständnisschwierigkeiten hingewiesen hat, haben wir nun mit der Konstruktion eines neuen Slogans, der dem russischen in Sinn und Duktus weitgehend analog ist, eine, wie wir finden, gute Alternativlösung gefunden.

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  • Bringen Sie uns bloß die Wirtschaft in Ordnung!

    Bringen Sie uns bloß die Wirtschaft in Ordnung!

    Tiefer geht’s nicht mehr – über die Richtung der russischen Konjunktur sind sich die meisten Wirtschaftsexperten einig. Nach einer ernsthaften Wirtschaftskrise und Stagnation schwört die russische Politik schon Aufbruchstimmung herauf. Angeheizt wird diese – rund zehn Monate vor der Präsidentschaftswahl – vor allem durch zwei Wirtschaftsprogramme, die Wachstum verheißen: das Programm des sogenannten Stolypin-Klubs sowie eine Strategie, die ein Team rund um Ex-Finanzminister Kudrin erstellt. Erarbeitet in einer zur Schau gestellten Konkurrenz, sollen beide Programme im Mai dem Präsidenten vorgelegt werden. Der entscheidet dann darüber, welche Wirtschaftsstrategie das Land in den nächsten Jahren prägen wird.

    Auf republic.ru fragt Wladimir Korowkin, Wirtschaftswissenschaftler der Moskauer Skolkovo School of Management, nach den Unterschieden dieser beiden Drehbücher. Auf welche Strategie soll Russland setzen – angesichts des weiterhin niedrigen Ölpreises, der Sanktionen und einer Staatsbeteiligung im Wirtschaftsprozess von bis zu 70 Prozent?

    Unter Familien-Psychotherapeuten kursiert ein Insider-Spruch: „Bringen Sie bitte das Kind wieder in Ordnung.“ Er beschreibt den populären Anspruch der Kunden: „Es war ein gutes Kind, aber plötzlich ist es ‚kaputt gegangen‘, kam mit Fünfen nach Haus, wurde grob, fing an zu lügen, zu klauen, zu rauchen. Machen Sie wieder ein gutes Kind draus, bringen Sie es in Ordnung!“

    Erfahrene Psychotherapeuten hassen diesen Anspruch. Denn Kinder gehen nicht von allein kaputt. Eine erhebliche Verhaltensänderung eines Kindes ist ein Anzeichen für ernste Probleme in der Familie, die allein mit einer systemisch greifenden Therapie behandelt werden können. Eltern scheuen für gewöhnlich davor zurück, das Systemische anzuerkennen: „Nicht die ganze Familie muss behandelt werden, es geht einfach nur darum, dass das Kind wieder gut wird.“

    Keine Verbesserung ohne eine Änderung im System

    Diese Situation erinnert einen auf frappierende Weise an die gegenwärtigen Diskussionen über die Wirtschaft in Russland. Die hat nach der Veröffentlichung  der Strategie des Stolypin-Klubs am 9. März dieses Jahres heftig an Fahrt gewonnen. „Bringt unsere Wirtschaft in Ordnung!“, so lautet die Forderung an die Fachleute. „Sie soll keine Fünfen mehr bekommen, freundlich sein und nicht mehr hinter der Turnhalle rauchen!“

    In Wirklichkeit aber ist jede Wirtschaftsdiskussion ein tiefgreifender Streit über Staat und Gesellschaft. Über die Verteilung von Macht und Recht zwischen ihnen. Über die Art und Weise, in der Konflikte zwischen ihnen geregelt werden.

    Ohne eine Bereitschaft zu diesbezüglichen Systemänderungen ist kaum zu erwarten, dass die Wirtschaft plötzlich eine drastisch bessere Entwicklung nimmt.

    Eine echte Wirtschaftsdiskussion ist eine Seltenheit

    Eine vollwertige Wirtschaftsdiskussion ist in Russland eine Seltenheit. Die letzte Diskussion entbrannte in jenem fernen Jahr 1999, während der heftigsten Parlamentswahlen, die es in der neuesten Geschichte Russlands gegeben hat. Seinerzeit bestand eine wichtige Kampflinie zwischen Jabloko und dem Block Vaterland – Ganz Russland (OWR) auf der einen Seite der Barrikaden sowie Einheit und Union der Rechten Kräfte auf der anderen Seite. Bei dem Streit ging es um die Entwicklung Moskaus unter Bürgermeister Juri Lushkow, einem der Führungsmänner von OWR.

    Im Vergleich zum übrigen Russland erschien Moskau zu dieser Zeit mit seinen Megaprojekten wie dem Dritten Verkehrsring und seiner halbwegs handgesteuerten Wirtschaftsführung wie ein merkwürdiger Hort des Wohlstandes.

    Michail Leontjew war ein politischer Gegner Lushkows und trat damals als wichtigster Wirtschaftsanalytiker von Einheit auf. Dem Moskauer Bürgermeister warf er regelmäßig „Keynesianismus“ vor, wobei er dieses Wort voller Verachtung aussprach. Laut Leontjew sei die richtige Wirtschaftspolitik nur dann gegeben, wenn die Rolle des Staates minimal ist: Der solle lediglich die nötigen Bedingungen für die Entwicklung des privaten Unternehmertums schaffen.

    „Effiziente“ versus „soziale“ Wirtschaft

    Wenn es um langfristige Wirtschaftspläne geht, geht es immer auch um Wirtschaftszyklen, nämlich um die Frage, an welchem Punkt des Zyklus die Wirtschaft gerade steckt und mit welchen Bewegungen der Weltkonjunktur sie zu rechnen hat. Weit weniger Aufmerksamkeit wird jedoch den Zyklen des Wirtschaftsdenkens geschenkt.
    Was schlecht ist. Gerade diese bestimmen in erheblichem Maße die Probleme, Instrumente und Ansätze, die in die Planung einfließen. Die wirtschaftlichen Denkzyklen bewegen sich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts zwischen zwei Polen, der „effizienten Wirtschaft“ und der „sozialen Wirtschaft“.
    Die effiziente Wirtschaft ist seit Adam Smith ein Fetisch der Klassiker und Neoklassiker. Die soziale dagegen erfuhr ihre machtvolle theoretische Darstellung durch den britischen Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes – eben jenen Keynes, dem Michail Leontjew eine solche Abneigung entgegenbrachte.


     


    Quelle: IWF

    Die Diskussion in Russland läuft aktuell in einer einzigartigen historischen Situation, da die Kräfte hinter den beiden theoretischen Ansätzen ungefähr gleich stark sind. Wie schon in den 1930er Jahren, befand sich die Keynessche Lehre nach der weltweiten Wirtschaftskrise 2008 im Einklang mit den praktischen Maßnahmen, die Regierungen in aller Welt unternahmen. Die Krise wurde einem Scheitern des neoklassischen Ansatzes zugeschrieben und der Keynesianismus verlor seinen schlechten Ruf. Paul Krugman, ein prominenter Vertreter dieser Lehre, erhielt den Nobelpreis, und Michail Leontjew ist nun Topmanager bei einem Staatsunternehmen.

    So arbeitet auch das im März vorgestellte Programm [des Stolypin-Klubsdek] unverkrampft mit dem ganzen Instrumentarium der Jünger Keynes’: Es verweist direkt auf die Notwendigkeit, Nachfrage zu schaffen, es erkennt an, dass zu diesem Zweck Staatsverschuldung möglich und nützlich ist, es erwähnt den „Multiplikator-Effekt“, bei dem jeder staatliche Rubel vier bis fünf Rubel privater Investitionen nach sich zieht.

    Gegenprogramm: Staatliche Einmischung als Hauptfeind von Wachstum

    Ein Gegengewicht hierzu bildet das Programm von Alexej Kudrin: Es konzentriert sich auf die „makroökonomische Stabilität“, also vor allem auf eine niedrige Inflation. In der Tradition der klassischen Wirtschaftstheorie ist eine hohe Inflation die Folge zu starker staatlicher Einmischung und der Hauptfeind von Wirtschaftswachstum, da sie Anreize für langfristige Investitionen untergräbt.

    Die Programme gehen auch hinsichtlich des Rubelkurses ganz grundsätzlich auseinander: Die Vertreter des Stolypin-Klubs fordern die Stützung des Kurses durch den Staat – im Denkschema der Marktwirtschaft dagegen gilt das als eine der sinnlosesten Maßnahmen, als ein Versuch, sich den objektiven Kräften von Nachfrage und Angebot entgegenzustellen.

    Entgegengesetzte Grundlogik

    Insgesamt stehen die beiden Programme für entgegengesetzte Grundlogiken. Das Stolypin-Programm geht davon aus, dass die Ankurbelung der Mikroökonomie (indem die Arbeit der einzelnen Unternehmen fast handgesteuert organisiert wird) wie von selbst auch die allgemeine wirtschaftliche Situation in Ordnung bringen werde. Kudrin dagegen setzt bei der Makroökonomie an: Sind die Verhältnisse dort günstig, bedeutet das automatisch Anreize für die Unternehmen.

    Allerdings lassen die beiden Programme auch überraschend viele Gemeinsamkeiten erkennen. Hier wie dort wird eine grundlegende Verbesserung des Rechtssystems in den Fokus gestellt. Hier wie dort wird von der Notwendigkeit gesprochen, das Unternehmertum stärker zu entwickeln und die Steuerlast sowie den bürokratischen Druck zu senken.

    Beide Ansätze sind sich einig: Es ist nicht nur (oder dermaßen) wichtig, was getan wird, sondern wie es geschieht. Es wird dort zwar nicht explizit gesagt, aber: Diese Erkenntnis ist angesichts der gegenwärtigen Situation in Russland von höchster Bedeutung.

    Eine theoretische Grundlage für die Beachtung des Wie bietet die stetig stärker werdende Schule des Institutionalismus. Die lässt sich folgendermaßen auf den Punkt bringen: Wenn die Qualität der wirtschaftspolitischen Instrumente im Land zu schlecht ist, wird keine Steuerungsmaßnahme die erwarteten Ergebnisse bringen.

    Katastrophales Ungleichgewicht

    Ein Institutionalist würde wahrscheinlich darauf verweisen, dass das Wirtschaftswachstum in Russland jetzt weniger durch die schwache internationale Konjunktur oder die Sanktionen und Gegensanktionen unterminiert wird. Ursache sei vielmehr das katastrophale Macht- und Rechts-Ungleichgewicht der Schlüsselakteure im Wirtschaftssystem: Gesellschaft, Unternehmen und Staat.

    Letzterer hat sich von einem Instrument zur zielgerichteten Umverteilung und zum Ausgleich von Marktversagen in einen vollauf eigenständigen Akteur verwandelt, der der Gesellschaft de facto seine wirtschaftlichen Ziele diktiert. Eine solche Position entbehrt einer stabilen Grundlage und bedeutet erwiesenermaßen eine geringe Effizienz.

    Privatwirtschaft als effektives Zugpferd

    Beide Programme, Kudrins Programm und das des Stolypin-Klubs, versuchen den Staat dezent auf seinen rechtmäßigen Platz zu verweisen, indem sie daran erinnern, dass nur die Privatwirtschaft zu einem effektiven Zugpferd für Wachstum werden kann.
    In den Kommentaren zu beiden Programmen wird explizit festgestellt, dass der Anteil der mittelbaren oder unmittelbaren Staatsbeteiligung im Wirtschaftsprozess mit bis zu 70 Prozent unglaublich hoch ist. In den Korridoren des Staates allerdings, vor allem in jenen der Staatsunternehmen, weht derzeit eher ein Wind der Nostalgie mit Sehnsucht nach den Zeiten des Gosplan.

    Die gegenwärtigen Probleme mit der „kaputtgegangenen“ Wirtschaft Russlands sind das Ergebnis eines systemimmanenten Ungleichgewichts: Wie verstehen Gesellschaft und Staat die wechselseitigen Rechte und Pflichten? Die Gesellschaft hat dem Ideal der „Stabilität“ den Zuschlag gegeben und ist größtenteils froh darüber, dass der Staat sich um sie kümmert und sie versorgt, selbst wenn das Niveau allmählich sinkt.

    Vater Staat soll’s richten

    „Wir nehmen es erstmal hin, der Staat wird es dann schon richten.“ Mit Phrasen dieser Art lässt sich ungefähr die gegenwärtige wirtschaftliche Passivität umreißen. Es ist die gleiche Gesellschaft, die mittels Richtern und Verwaltungen wirkungsvoll wirtschaftliche Unabhängigkeit missbilligt und bestraft.
    Das russische Wort „bisnes“ [von engl. business, gemeint ist privates Unternehmertum – dek] ist im Massenbewusstsein stabil mit illegaler Vorgehensweise assoziiert, einzig und allein Unternehmen mit dem Zusatz „staatlich“ haben eine Existenzberechtigung.

    Der Staat befindet sich jetzt in einer fast uneingeschränkten Komfortzone und hat kaum Anreize, diese wieder zu verlassen.

    Es wird weitergehen wie bisher

    Man kann sich durchaus vorstellen, wie der Staat mit den beiden Programmen umgehen wird: Er wird wohlklingende Deklarationen – Wachstum, Innovationen, Einkommenssteigerungen – aufgreifen. Alle schwer umzusetzenden, dabei jedoch unbedingt notwendigen Punkte, dagegen wird er rausschmeißen, etwa die Frage nach einer wirksamen Justiz- und Gesetzgebungsreform. Im Endeffekt wird er so weitermachen wie bisher und instinktiv seine Präsenz in der Wirtschaft ausbauen.

    Gegenwärtig ist weder ein wirksamer Imperativ des Staates für die Modernisierung der Gesellschaft zu erkennen, noch eine gesellschaftliche Nachfrage nach Veränderung. Man könnte sagen, es hat sich eine ideale „konterrevolutionäre Situation“ ergeben, die der Leninschen revolutionären Situation entgegengesetzt ist: Die da oben können nicht auf neue Art leben, und die unten wollen es nicht. Daher erwarten uns aller Wahrscheinlichkeit nach – unabhängig von der formalen Entscheidung für ein wirtschaftliches Aktionsprogramm – Jahre sozialer Bequemlichkeit und zunehmender wirtschaftlicher Rückständigkeit.

    Das „kaputtgegangene Kind“ (die Wirtschaft) kann nicht ohne wesentliche Verschiebungen im Verhältnis von Staat und Gesellschaft repariert werden. Wobei derzeit weder die eine noch die andere Seite überhaupt bereit ist, ernsthaft an sich zu arbeiten.

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  • Der Fall Uljukajew – und seine Vorbilder

    Der Fall Uljukajew – und seine Vorbilder

    Um den Fall Uljukajew ist es leiser geworden. Der ehemalige Wirtschaftsminister steht unter Hausarrest, seit er vor drei Monaten öffentlichkeitswirksam festgenommen und innerhalb weniger Stunden seines Amtes enthoben wurde – weil er zwei Millionen Dollar erpresst haben soll. Seitdem wartet er auf ein Gerichtsverfahren.

    Was offiziell als Korruptionsfall behandelt wird, könnte – so wird spekuliert – ein verdeckter Kampf um Posten oder gar eine offene persönliche Rechnung sein. Fest steht: Uljukajew ist nur einer von vielen Staatsbeamten und Politikern, seien es Gouverneure, Bürgermeister oder Berater, die in den vergangenen Jahren von Strafverfolgungsbehörden ins Visier genommen wurden – allerdings ist er der erste Minister, der wegen Korruptionsvorwürfen seinen Posten räumen musste.

    Die beiden Journalisten Dimitri Filonow und Anastasia Jakorewa nahmen diesen bisher prominentesten Fall zum Anlass, um für das liberale Webmagazin Republic nach bewährten Mustern zu suchen, wenn es um das Ausschalten von Amts- und Würdenträgern geht.

    Witali Teslenko, Gesundheitsminister des Gebietes Tscheljabinsk, saß einfach so mit Freunden in der Banja: bei Wodka, Gurken und Tomaten, Schinkenknackern und dick geschnittenem Schwarzbrot – wobei sie sich durchaus ein erlesenes Bankett hätten leisten können. Die Mitarbeiter des FSB, die die Banja stürmten, fanden dort 12 Millionen Rubel [umgerechnet knapp 200.000 Euro – dek]: „Provisionen“, die Teslenko erhalten hatte. In der Folge legte man dem Minister den Erhalt von insgesamt 69 Millionen Rubel [umgerechnet 1 Million Euro – dek] Schmiergeldern über einen Zeitraum von wenigen Jahren zur Last und verurteilte ihn zu sieben Jahren Strafkolonie.

    Das ist nur eine kleine Episode im Kampf gegen die Korruption in Russland. Der Höhepunkt war die Festnahme des Wirtschaftsministers Alexej Uljukajew, der angeblich mit zwei Millionen US-Dollar aus dem Büro von Rosneft herausspaziert ist. Das war das erste Mal in der Geschichte Russlands, dass ein amtierender Minister verhaftet wurde.

    Wartet seit November 2016 auf sein Gerichtsverfahren – Alexej Uljukajew / Foto © kremlin.ru
    Wartet seit November 2016 auf sein Gerichtsverfahren – Alexej Uljukajew / Foto © kremlin.ru

    Im April 2016 hat Generalstaatsanwalt Tschaika erklärt, im Jahr zuvor seien gegen 958 Tschinowniki Ermittlungen wegen Korruption aufgenommen worden. Wenn jemand in den Knast gebracht wird, könnte das als glatter Sieg von Polizei und Justiz betrachtet werden, doch ist Korruption in Russland auch schlicht die bequemste Art, einen missliebigen Tschinownik „aus dem Rennen zu nehmen“. In der Wirtschaft ist es immer schlimmer, der Kampf ums Geld wird immer erbitterter.

    Niemand zählt mit

    Nowosibirsk, Wladiwostok, Syktywkar, Birobidshan, Perm, Smolensk. Gouverneure, Bürgermeister, Minister, ihre Stellvertreter – den von Republic zusammengetragenen Daten zufolge werden in Russland im Schnitt monatlich drei hohe Tschinowniki auf Grund von Anti-Korruptions-Paragraphen festgenommen.
    Eine offizielle Statistik fehlt, und so hat nun Republic selbst Informationen über Verfahren gegen höhere Tschinowniki gesammelt. Insgesamt wurde seit 2010 in den Medien von rund 120 Festnahmen berichtet: von Bürgermeistern, Gouverneuren, Ministern und deren Stellvertretern (Verfahren gegen Tschinowniki niederen Ranges gelangten nicht in die Stichprobe).

    In diesen sechs Jahren fiel der Spitzenwert mit 30 Festnahmen auf das Jahr 2013, das Jahr nach den Präsidentschaftswahlen. 2014 ging die Zahl der verhafteten Tschinowniki drastisch zurück. 2015 (in dem 34 hohe Tschinowniki festgenommen wurden) und 2016 (rund 30 Fälle) wurden allerdings die früheren Werte wieder erreicht. Um Bestechung geht es nur in einem Drittel der Verfahren: Oft werden die Tschinowniki des Betrugs oder der Überschreitung von Amtsbefugnissen beschuldigt, seltener der Unterschlagung, Veruntreuung oder der Bildung einer kriminellen Vereinigung.

    „Für kriminelles Handeln wird niemand einfach so eingebuchtet, da muss es schon einen politischen Willen geben“, sagt ein auf derartige Fälle spezialisierter Anwalt.

    Wie werden die Fälle bearbeitet?

    Am 17. März 2014 hat Wladimir Putin zwei Dekrete unterzeichnet: Durch den einen wurde die Krim an Russland angeschlossen, mit dem anderen enthob er Wassili Jurtschenko, den Gouverneur der Oblast Nowosibirsk, seines Amtes. Er war der erste Gouverneur, den Putin mit der Formulierung „aufgrund von Vertrauensverlust“ entließ.

    Nach Jurtschenkos Darstellung steht hinter seiner Abberufung eine Aktion ihm nicht wohlgesonnener Leute. Ihnen soll er in die Quere gekommen sein. Jurtschenko stammte aus dem Team des vorherigen Gouverneurs. Nachdem er seinen Posten angetreten hatte, soll Jurtschenko bald seine eigenen Leute auf Schlüsselposten gehievt haben. Aber als einer der wichtigsten Gründe für die Unzufriedenheit im Umkreis von Jurtschenko gilt sein Bestreben, einen örtlichen Tscherkison aufzulösen: den großen Kleidermarkt Gusinoborodski, zu dem Waren aus China gelangten und dann in ganz Sibirien vertrieben wurden. Es heißt, schon die Versuche, diesen Markt Anfang der 2000er Jahre zu reformieren, seien der Grund für die Ermordung der beiden Nowosibirsker Vizebürgermeister Igor Beljakow und Waleri Marjassow gewesen. 
    Gegen Jurtschenko wurde (wegen des Verkaufs eines Grundstücks in Nowosibirsk zu Niedrigpreisen) bereits im Sommer 2013 ein Strafverfahren eingeleitet – das derzeit bei Gericht verhandelt wird. Im Juli 2016 wurde gegen Jurtschenkos Frau Natalja ein Verfahren eingeleitet. 

    Wessen Interessen hat Jurtschenko beeinträchtigt? Der Gesprächspartner von Republic schweigt, dann holt er das Telefon heraus und gibt den Namen eines ehemaligen Tschinowniks aus der Präsidialadministration ein.

    Seit 2009 aufgelöst – der Tscherkisowoer Markt im östlichen Moskau / Foto © Egor Sofronov/flickr
    Seit 2009 aufgelöst – der Tscherkisowoer Markt im östlichen Moskau / Foto © Egor Sofronov/flickr

    Die Entscheidung zur Abberufung eines Gouverneurs oder eines föderalen Ministers kann nur einer treffen: der Präsident. Wie mehrere Gesprächspartner erklären, mit denen Republic sprechen konnte, besteht die Kunst allein darin, ihn zu einem solchen Schritt zu bewegen. Hierzu braucht es Strafverfahren und unwiderlegbare Beweise. „Dossiers mit kompromittierenden Unterlagen gibt es über jeden. Wann diese eingesetzt werden, ist nur eine Frage der Zeit“, erklärt einer der Gesprächspartner von Republic.

    Wer ins Visier kommt, der wird abgehört

    Der Moment kann dann eintreten, wenn in einem Gebiet, das in die Zuständigkeit eines Bürgermeisters oder Gouverneurs fällt, zu starke Proteststimmungen herrschen oder Wahlen verloren gehen. So hatte zum Beispiel der Föderale Antimonopol-Dienst (FAS) 2015 den Bürgermeister von Wladiwostok Igor Puschkarjow verdächtigt, dessen Verwandte würden an Verträgen mit der Stadt verdienen. Festgenommen wurde Puschkarjow jedoch erst 2016, vor dem Hintergrund des Skandals, als er die Wahlkommissionen umsiedelte: „Nach personellen Veränderungen in den territorialen Wahlkommissionen von Wladiwostok, die nun nicht mehr der Kontrolle des Bürgermeisters unterstanden, hatte der Bürgermeister zur Strafe ,ein wenig nachgeholfen‘, so dass die Pachtverträge für die Räumlichkeiten der Kommissionen gekündigt wurden“, sagt Ella Pamfilowa, die Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission in einem Interview.

    Interesse an einer Abberufung könnte ein Unternehmer oder ein anderer Tschinownik haben, und manchmal treffen sich die Interessen gleich mehrerer Parteien. Lautet das Kommando schließlich, einen Tschinownik zu entfernen, wird er abgehört. Das kann lange dauern. So meinen etwa die Anwälte des ehemaligen Gouverneurs von Sachalin, Alexander Choroschawin, er sei mindestens ein Jahr lang abgehört worden. Der Anwalt des Wladiwostoker Bürgermeisters Igor Puschkarjow gab an, sein Mandant sei über mehrere Jahre abgehört worden. Wie RBK berichtete, war auch Alexej Uljukajew mindestens ein Jahr lang auf dem Radar. Laut Vedomosti betraf das nicht nur den Minister, sondern auch den stellvertretenden Ministerpräsidenten Arkadi Dworkowitsch und den Assistenten des Präsidenten, Andrej Beloussow.

    Abhören ist eine unbedingte Maßnahme bei praktisch jedem dieser Vorgänge. Eine Abhörgenehmigung ist per Gericht zu erwirken, doch das ist reine Routine; eine Verweigerung erfolgt äußerst selten. Dem Richter die unbedingte Notwendigkeit von Gesprächsaufzeichnungen eines Tschinowniks plausibel zu machen, ist einfach: Gleich mehrere Anwälte, in deren Verfahren Abhörunterlagen verwendet werden, berichteten davon, dass in den Anträgen folgender Standardsatz auftaucht: „Es besteht der Verdacht, dass Dienstvollmachten überschritten wurden.“ Die Gerichte haben 2015 insgesamt 845.600 Abhörgenehmigungen erteilt. Selbstredend werden nicht nur die Worte des Verdächtigen aufgezeichnet, sondern auch die seiner Gesprächspartner. Das erweitert den Kreis der Leute, deren Gespräche in FSB-Hände gelangen. Und aus ihren Worten können sich neue Strafverfahren ergeben.

    Ein ehemaliger Ermittler sagt im Gespräch mit Republic, manchmal sei es möglich, auch ohne Genehmigung des Gerichts abzuhören, was jedoch niemand zugeben würde. Sobald ein Verdächtiger etwas Wertvolles sagt, laufen die Fahnder los, um die Genehmigung einzuholen. „Manchmal streuen sie ein Gerücht und schauen, wie die Abgehörten reagieren. So kann man jemanden bei der Rückgabe von Bestechungsgeldern ertappen, sollte er zu nervös geworden sein“, erklärt ein ehemaliger Ermittler. Beispielsweise wurde 2013 im Restaurant Genazwale auf dem Alten Arbat in Moskau Wjatscheslaw Denissow festgenommen, ein Oberst des Innenministeriums, der wohl einem Geschäftsmann 835.000 Rubel zurückgab.

    Gleichzeitig wird durch das Abhören ein Kreis von Personen umrissen, von denen man Aussagen über die betreffende Person erhalten kann. So kam es aufgrund von Aussagen des Bürgermeisters von Iwanowo, der der Bestechlichkeit verdächtigt wurde, zu einem Verfahren gegen Dimitri Kulikow, den Vizegouverneur des Gebiets Iwanowo.

    Gegen den ehemaligen Gouverneur von Sachalin Alexander Choroschawin hatte der an Krebs erkrankte und in Untersuchungshaft sitzende Geschäftsmann Nikolaj Kern ausgesagt. Anschließend wurde Kern entlassen und blieb unter Hausarrest; er starb einige Monate später. „Es ist klar, dass er ausgesagt hat, um in Freiheit zu sterben“, sagt Iwan Mironow, der Anwalt der Familie Choroschawin.

    Ein ehemaliger Ermittler erklärt, absolut jedes Strafverfahren bringe das Recht mit sich, Hausdurchsuchungen und andere Ermittlungsmaßnahmen vorzunehmen – und so können auch für andere Strafverfahren Beweise gesammelt werden.

    Beim Schach gibt es klare Regeln, hier nicht

    Müssen die Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden das Vorgehen gegen einen Tschinownik von oben absegnen lassen? Formal ist der FSB nicht verpflichtet, die Präsidialadministration über die Aufnahme operativer Fahndungsmaßnahmen in Kenntnis zu setzen. Allerdings sagen die Tschinowniki, mit denen Republic gesprochen hat, dass man im Kreml selbstverständlich von allen Fällen wisse. Man ging davon aus, dass die großen Korruptionsfälle früher von Sergej Iwanow als Chef der Präsidialadministration betreut wurden. Allerdings wurde Iwanow im August 2016 abgesetzt. Über Untersuchungen gegen Gouverneure wusste man auch in der Verwaltung Innenpolitik der Präsidialadministration Bescheid, wo Wjatscheslaw Wolodin das Sagen hatte.

    Ein standardisiertes Schema, wie man eine Genehmigung für die Untersuchung eines Gouverneurs oder Angehörigen des Sicherheitsapparats erhält, gibt es nicht. Das läuft immer individuell. Es gewinnt derjenige, der einen direkten Zugang zum Präsidenten hat und sein Dossier mit kompromittierenden Materialien auf dessen Schreibtisch weiter oben platzieren kann. Zugang zu Putin haben übrigens nicht nur Tschinowniki der Präsidialadministration, sondern unter anderem auch die Chefs der Staatskorporation Rostech (Sergej Tschemesow) und von Rosneft (Igor Setschin). „Das ist wie beim Schach“, erklärt einer der Gesprächspartner. Beim Schach gebe es allerdings klare Regeln, hier nicht, korrigiert ihn ein anderer.

     

     

     


    * Stand 11/2016. Quelle: Republic

    Dass bei Uljukajews Festnahme der FSB die Hauptrolle spielte, sei Standard, erklären eine Reihe ehemaliger Ermittler gegenüber Republic. Die Erstbearbeitung übernehmen immer die operativen Fahnder von FSB und Innenministerium. Später dann, wenn das Material für ein Strafverfahren gesammelt wird, kommen die Ermittler hinzu. Ein Gesprächspartner erklärt Republic, die Ermittler seien laut Gesetz unabhängig und befugt, den Mitarbeitern des FSB Anweisungen zu geben. Es gebe allerdings Ausnahmen, beispielsweise die Sechser, die 6. Gruppe der internen Sicherheitsabteilung des FSB. Sie wird auch „Spezialeinheit Setschin“ genannt, weil die Gruppe auf Initiative Igor Setschins gegründet wurde, als dieser noch Vize-Chef der Präsidialadministration war.

    Die interne Sicherheitsabteilung kontrolliert die Mitarbeiter des FSB, und die Sechser kontrollieren die Kontrolleure.

    „Sie kommen einfach und sagen dir, was zu tun ist. Das ist der Inbegriff von Macht. Sie sind fast niemandem untergeordnet. Ihr Ding ist die Exklusivität, und Vollstreckung ihr besonderer Fetisch“, sagt einer der Gesprächspartner zu Republic. Wenn die 6. Gruppe dabei ist, geht es seinen Worten zufolge entweder um eine sehr wichtige Person oder um einen sehr großen Auftrag.

    Die Sechser stehen hinter fast allen aufsehenerregenden Korruptionsfällen der letzten Zeit: Ihre Mitarbeiter haben sich sowohl Choroschawin und Gaiser vorgenommen, wie auch den Gouverneur des Gebietes Kirow Nikita Belych.

    Bei der Festnahme von Uljukajew hatte Oleg Feoktistow, der für Sicherheit zuständige Vizepräsident von Rosneft, den Mitarbeitern der Sondereinheit geholfen. Feoktistow war im September 2016 zu dem Ölkonzern gekommen, als der Vorgang Uljukajew bereits lief und der Minister mindestens seit dem Sommer abgehört wurde.

    Zuvor war Feoktistow stellvertretender Leiter der internen Sicherheitsabteilung des FSB gewesen. Er war für Belych zuständig und für den aufsehenerregenden Fall um Denis Sugrobow und Boris Kolesnikow, ihres Zeichens die Leiter der Hauptverwaltung wirtschaftliche Sicherheit und Korruptionsbekämpfung des Innenministeriums. Wie die New York Times schrieb, war Feoktistow als Anwärter für den Leitungsposten gehandelt worden, verlor aber den apparatsinternen Kampf und gelangte zu den abkommandierten Mitarbeitern des FSB.

    Stand vor Gericht: Alexander Choroschawin / Foto © Wikipedia unter CC BY-SA 4.0
    Stand vor Gericht: Alexander Choroschawin / Foto © Wikipedia unter CC BY-SA 4.0

    Was geschieht nach der Festnahme des Verdächtigen? Der Ermittler eröffnet ein Verfahren, und das Gericht entscheidet über eine Inhaftierung.

    Die Festnahme selbst ist eine recht langweilige Angelegenheit. Tschinowniki  können an ihrem Arbeitsplatz festgenommen werden (wie im Fall Gaiser und Choroschawin), im Restaurant bei einer angeblichen Geldübergabe (wie bei Belych) oder sogar in der Banja (wie im Fall Teslenko). Die Ermittler nehmen dann über mehrere Stunden Protokolle auf, schreiben Aussagen nieder und durchsuchen die Räumlichkeiten.

    Es gibt aber auch Ausnahmen. So erfolgte die Festnahme des Bürgermeisters von Machatschkala, Said Amirow, unter Einsatz von Sondereinheiten, Hubschraubern und Militärfahrzeugen, die die Zufahrtswege zum Haus blockierten. Allerdings sticht der Fall Amirow auch in anderer Hinsicht heraus: Den meisten Bürgermeistern und Gouverneuren werden Wirtschaftsstraftaten zur Last gelegt, während Amirow des Mordes und enger Verbindungen zu örtlichen Straftätern verdächtigt wird.

    Die Festnahme wird zur Show

    Eine Festnahme zur Show zu machen, war bis vor kurzem das Privileg von Wladimir Markin als Pressesprecher des Ermittlungskomitees. „Im Zuge der Durchsuchungen sind 800 wertvolle Juwelier-Erzeugnisse sichergestellt worden. Sehen Sie, dieses scheinbar einfache Schreibgerät. In Wirklichkeit hat der Stift einen Wert von 36 Millionen Rubel [knapp 600.000 Euro]. Können Sie sich das vorstellen?“, berichtete Markin verzückt in der Fernsehsendung Vesti über die Durchsuchung bei Choroschawin. Mehrere Anwälte beklagten gegenüber Republic, bei Markin würden Informationen über Fundstücke im Fernsehen schon auftauchen, bevor sie im Strafverfahren aufgenommen seien.

    Choroschawin gab später in einem Interview zu, dass es einen goldenen Stift mit Brillanten gab, doch habe der rund 1,3 Millionen Rubel [rund 21.000 Euro] gekostet. „Die werden von der Firma Montblanc in Serie hergestellt. Ich bin nicht der einzige Tschinownik, der so einen hat. Ich habe ihn selbst gekauft. Ich war schon immer wohlhabend“, sagte Choroschawin dem Moskowski Komsomolez. In den Meldungen über Gaiser kursierte dann statt eines Stifts eine Kollektion teurer Uhren.

    Zur Festnahme Uljukajews sind offiziell keine Details nach außen gedrungen. Gesprächspartner von Republic nehmen an, das könne daran liegen, dass Markin zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr im Amt gewesen sei.

    Treffpunkt Kreml-Zentrale

    Die Kreml-Zentrale ist ein gesonderter Block für hochrangige Häftlinge im Moskauer Untersuchungsgefängnis Matrosenstille. Die Haftbedingungen sind hier strenger, aber komfortabler. Es gibt Zweierzellen mit Fernseher und Kühlschrank, einige sogar mit Dusche. Allerdings wird es in der Kreml-Zentrale langsam eng vor lauter prominenten Insassen. So sitzt Choroschawin, der ehemalige Gouverneur von Sachalin, in einer Zelle mit dem ehemaligen Bürgermeister von Wladiwostok, Igor Puschkarjow. Ein Gesprächspartner erzählt Republic, Choroschawin habe bei einer der Fahrten ins Gericht mit General Sugrobow in einem Gefangenentransport gesessen.

    „Wenn jemand in Untersuchungshaft sitzt, ist es für die Ermittler einfacher, Druck auf ihn auszuüben. Und für Anwälte ist es schwieriger, Kontakt mit dem Mandanten zu halten“, meint Darja Konstantinowa, Anwältin des stellvertretenden Regierungschefs des Gebiets Iwanowo, Dimitri Kulikow. Ihr Mandant hatte Glück: Kulikow wurde fast umgehend unter Hausarrest gestellt und später gegen Kaution ganz entlassen. Einer der Anwälte meint, so etwas sei in Moskau praktisch unmöglich; man müsse sich darauf einstellen, dass die Entscheidung des Richters zugunsten der Anklage und nicht zugunsten der Mandanten getroffen werde.

    Einer der spektakulärsten Fälle war der von Boris Kolesnikow / Foto © kresy24.pl
    Einer der spektakulärsten Fälle war der von Boris Kolesnikow / Foto © kresy24.pl

    Wjatscheslaw Leontjew, Anwalt von Wjatscheslaw Gaiser, berichtet, im Verfahren gegen seinen Mandanten habe der Richter den Haftbeschluss aufgrund eines standardmäßig formulierten FSB-Berichts gefällt: „Angehörige und Vermögen im Ausland sind vorhanden; es besteht Fluchtgefahr und die Möglichkeit, dass auf Zeugen Druck ausgeübt wird; es gibt Verbindungen zur kriminellen Strukturen.”

    Leontjew meint (wie auch andere Anwälte, mit denen Republic gesprochen hat), in den Gerichtsverfahren sei keine Parteiengleichheit gegeben. Für eine Haftverlängerung muss der Ermittler die im Bericht genannten Gründe und Fakten bestätigen. Diese Anforderung ist vom Obersten Gericht festgelegt. Praktisch aber verlängere der Richter die Haft lediglich aufgrund der Worte des Ermittlers und ohne, dass dieser irgendwelche Beweise beigebracht hätte, erklärt der Jurist. Ein weiteres Druckmittel ist das Verbot, Angehörige zu sehen. Dem erwähnten Gaiser wird dies bereits seit 14 Monaten verweigert.

    „Vielleicht sind die Beschuldigten bei diesen aufsehenerregenden Verfahren gute Menschen, vielleicht aber auch schlechte. Dazu müssen Beweise vorgelegt und es muss fair verhandelt werden“, meint der Anwalt Andrej Griwzow. Die Anwälte schreiben Beschwerden, berichten von Verstößen gegen die Verfahrensvorschriften, gehen vergeblich in Berufung.

    „Das Problem bei den aufsehenerregenden Fällen ist, dass sie all das Perverse dieses Systems zu Tage fördern“, sagt Gaisers Anwalt Leontjew. Keiner der großen Prozesse garantiere, dass das System nicht umgehend an gleicher Stelle reproduziert wird. Die Korruptionsbekämpfung in Russland gleicht einem landesweiten Wettkampf um einen Platz an der Sonne, bei dem jeder mit jedem abrechnet.
     

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  • Russischer Winter

    Russischer Winter

    Im Donbass gibt es im Moment die schwersten Kämpfe seit Langem zwischen der ukrainischen Armee und prorussischen Separatisten. In Awdijiwka harren zehntausende Einwohner ohne Strom und Heizung aus, auf beiden Seiten der Frontlinie gibt es Tote. Neue Tote in einem Konflikt, der nach UN-Angaben bislang knapp 10.000 Menschen das Leben gekostet hat. Die Waffen haben trotz des 2015 vereinbarten Minsker Friedensabkommens nie geschwiegen.

    In einigen russischen Medien wird derzeit über die konkrete Gemengelage vor Ort spekuliert, während andere analysieren, wie sich die Haltung des neuen US-Präsidenten Trump künftig auswirken könnte. Auf dem unabhängigen Online-Portal Republic fragt Journalist Oleg Kaschin dagegen nur am Rande nach möglichen Interessen oder Stellungskämpfen, sondern fokussiert auf Gefühle und Befindlichkeiten innerhalb der russischen Gesellschaft.

    Kaschin selbst polarisierte mitunter mit Aussprüchen wie dem, dass die Ukraine von Russland keinen Kniefall erwarten könne, gilt jedoch als  scharfsinniger Kritiker des Kreml und der russischen Ukraine-Politik.

    In seinem Kommentar nun fragt Kaschin: Ist das, was im Donbass geschieht, eigentlich jemals in den Köpfen angekommen?

    Beschuss von Awdijiwka und Donezk – das klingt wie eine Nachricht aus dem vorletzten Winter, die wie durch ein Missverständnis in den Informationsstrom von 2017 geraten ist. Dimitri Peskows Wortschöpfung „eigenmächtige Kampfeinheiten“, denen die Schuld an der Eskalation zugeschrieben wird, ist dermaßen schwammig, dass man darunter fassen kann, wen man will – sowohl prorussische Separatisten als auch ukrainische Freiwilligenbataillone, die unabhängig handeln, oder aber auch die ukrainische Armee (in dem Sinne, dass die Ukraine ein eigenmächtiger Staat ist und seine Kampfeinheiten entsprechend auch eigenmächtig sind). Die unvorsichtige Äußerung eines ukrainischen Generals, die ukrainischen Streitkräfte würden „Schritt für Schritt“ vordringen, hatte Peskow ebenfalls aufgeschnappt: Seht, die Ukrainer haben selbst zugegeben, dass sie angreifen, also sind sie der Aggressor. Und ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung, in dem eine anonyme Quelle aus deutschen Regierungskreisen davon spricht, die ukrainische Seite sei an einer Zuspitzung interessiert, wird in der offiziellen russischen Presse schon den dritten Tag munter zitiert.

    Interessant ist eine Beobachtung der russischen Life-Journalistin Anastasija Kaschewarowa. Sie schreibt, Drehteams staatlicher russischer Fernsehsender aus Moskau seien schon frühzeitig nach Donezk geschickt worden – und zieht den naiven Schluss, dass die russischen Geheimdienste offensichtlich wussten, die Ukrainer würden einen Angriff beginnen. Aber genauso gut kann man die Entsendung von Journalisten in den Donbass als Beweis dafür nehmen, dass man in Moskau schon frühzeitig über einen bevorstehenden Angriff der Separatisten im Bilde war – schließlich sind solche Informationen für Russland einfacher zugänglich als die Pläne der ukrainischen Armee. 

    Geblieben ist einfach nur ein Krieg. Ein endloser, sinnloser, keine Seele mehr berührender Krieg

    Noch vor kurzem wurde dem Donbass gern ein ähnliches Schicksal wie Transnistrien vorausgesagt. Vorerst jedoch erinnert er eher an Bergkarabach. Denn die beiden Seiten stehen dem derzeitigen politischen Schwebezustand und umstrittenen Status nicht gleichgültig gegenüber, wie es dagegen in Moldawien der Fall ist. Stattdessen kommt es bei jeder erstbesten Gelegenheit zu Gefechten, unter ständiger Gefahr eines großen Krieges. Aber auch der Vergleich mit Bergkarabach hinkt ein wenig: In dem südkaukasischen Konflikt sind beide Seiten zumindest in einem, wenn auch ausgedachten, Geist erzogen, nämlich im Geist einer fanatischen Verbundenheit mit der für beide Länder heiligen Erde.

    Im Donbass dagegen klingt schon allein das Wort Koksochim (so heißt die beschossene Fabrik in Awdijiwka, von der die Wärmeversorgung der Stadt abhängt) dermaßen finster, dass bei seinem Klang nicht einmal das Herz des glühendsten Patrioten höher schlagen wird. Tote Erde, bevölkert von lebenden Menschen – so müsste man den Donbass im Moment wohl korrekterweise nennen.

    Nach nicht einmal drei Jahren herrscht hier Krieg in seiner reinsten Form, jeglicher Verzierungen entledigt: ohne ergreifende Losungen, eingängige Parolen, weltweite Aufmerksamkeit und ohne klaren Schlusspunkt, auf den ein garantierter Frieden folgt.

    Das alles ist in den Jahren 2014 und 2015 verlorengegangen und geblieben ist einfach nur ein Krieg. Ein endloser, sinnloser, keine Seele mehr berührender Krieg. 
    Es ist schwer zu sagen, ob Donald Trump sich darüber im Klaren ist oder ob er überhaupt Zeit hat, sich darüber Gedanken zu machen – zwischen Migrantenbekämpfung und Mauerbau an der mexikanischen Grenze. Doch liegt es auf der Hand, dass es dabei gerade um ihn geht: Jede Salve bei Awdijiwka ist an den neuen amerikanischen Präsidenten adressiert, selbst wenn er das gar nicht im Blick hat.

    Für den Kreml gehörten die vorherigen Phasen dieses Kriegs zu einem großen, in vielen Teilen imaginierten, internationalen Spiel, in dem gleichermaßen nonchalant mal Sewastopol, mal Aleppo auf den Tisch geworfen wurden. Donezk kam irgendwo dazwischen – auch wenn das niemand laut gesagt hat.

    Der Kreml hat die Beziehungen zur Ukraine nach 2014 nie als bilateral angesehen. Das Propagandabild eines Barack Obama, der Kiew unmittelbar steuert, hat auf die eine oder andere Weise sicherlich die Vorstellung Moskaus und ganz persönlich die von Putin über das Geschehen widergespiegelt. Alles Weitere hängt vom Rahmen ab, den der Kreml sich ausdenkt: Wenn es nun keinen Obama gibt, dann gibt es auch keine Regeln, nach denen man mit ihm spielen muss. Aber was nun die neuen Regeln sind, das wird man via Trial and Error herausfinden müssen.

    Die Abwesenheit der russischen Gesellschaft in diesem Krieg schützt sie in keiner Weise vor großen Traumata

    Diese Logik kann man übrigens gleichermaßen auch auf die ukrainische Seite anwenden: Schließlich wurde über Trumps Loyalität gegenüber Russland in den vergangenen Monaten derart viel geredet, dass wohl keine Menschenseele sie im tiefsten Herzen anzweifeln konnte. Was muss passieren, damit die Stimme des amerikanischen Präsidenten in diesem Konflikt erklingt? Keiner weiß es, aber alle glauben, dass sie erklingen wird; also muss man ausprobieren. Und egal wie unterschiedlich die Ziele und Weltanschauungen Moskaus und Kiews sein mögen, Instrumente haben beide nur wenige, und das erste dieser Instrumente ist leider die Artillerie.

    Das ist der einzig mögliche Schluss aus der Verschärfung um Awdijiwka: Ja, wir haben es mit einem diplomatischen Feldexperiment zu tun. Beide Seiten tasten in einer verfahrenen Situation mit Grad-Raketenfeuer neue Grenzen des Möglichen ab. Die Neutralität der russischen Machthaber gleicht einer Parodie, wenn die einzige offizielle Positionierung ein verhaltenes Mitgefühl für die Separatisten ist, bei denen sowieso allen klar ist, wie unabhängig diese von Moskau sind (nämlich gar nicht).

    Aus diplomatischer Sicht ist das wahrscheinlich wirklich die bequemste Positionierung. Aber so bequem sie auch für internationale Deals ist, so unmoralisch ist sie in Bezug auf die sterbenden und ohne Obdach dastehenden Bewohner des Donbass auf beiden Seiten der Front.

    Dasselbe gilt in Bezug auf die russischen Soldaten, deren Intervention (natürlich in der für diesen Krieg traditionell anonymen Form des Nordwinds) nun sowohl in Donezk als auch in Kiew erwartet wird. Menschenleben und Zerstörungen sind belanglos, es gibt nur gewichtige internationale Interessen und die vom Kreml geliebte Geopolitik, in der ein Anruf von Trump tatsächlich wesentlich mehr wert ist als hunderte Awdijiwkas und ihre Bewohner.

    Die Chronologie dieses Krieges in Donezk ist verwirrend – es ist nicht einmal klar, ob man ihn als andauernd begreifen soll, oder ob man sagen kann, dass es vor einer Woche keinen Krieg gab, und er jetzt, da in Awdijiwka geschossen wird, von Neuem begonnen hat. Streng genommen hat es diesen Krieg im Leben der russischen Gesellschaft nie gegeben – es gab das Jahr 2014 mit Fernsehgeschichten über Banderowzy und Jubel ob des Russischen Frühlings, es gab anschließend ein Umschalten der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit auf andere Themen. Und nun gibt es das Awdijiwka von heute, das nur noch als belangloser Hintergrund zu den Weltnachrichten läuft.

    In der Zeit, als die Ukrainer sich ihrer Selbstwahrnehmung nach auf dem Höhepunkt eines Vaterländischen Krieges befanden, scherzte in Russland die patriotische Öffentlichkeit, dass die russische Armee auf dem Schlachtfeld sogar dann gewinne, wenn sie gar nicht anwesend ist. Zwei Jahre später kommt dieser patriotische Witz wie ein Bumerang zurück: Die Abwesenheit der russischen Gesellschaft in diesem Krieg schützt sie in keiner Weise vor großen Traumata, die sich auch noch Jahrzehnte später durch völlig unerwartete Probleme bemerkbar machen können. 

    In Russland verhält sich mittlerweile eine breite Masse gegenüber lebendigen Menschen so, als seien diese Statisten in TV-Geschichten. Es gibt eine allgemeine Bereitschaft, über den Krieg nur noch in der Sprache einer frei erfundenen Geopolitik zu sprechen, eine Gleichgültigkeit gegenüber Todesopfern und ein Desinteresse daran, ob die russische Armee sich an Konflikten beteiligt, und wenn ja, auf welcher Grundlage. All das hat die russische Gesellschaft auf jeden Fall verändert.

    Bisher ist nicht klar, wer stärker traumatisiert ist – der, der bei der Beerdigung geweint hat, oder der, der den Tag der Beerdigung verbracht hat, ohne auch nur entfernt daran gedacht und sich nicht im geringsten dafür interessiert zu haben. Statt des Russischen Frühlings ist jetzt Russischer Winter. Aber wenn sein Schnee schmilzt, werden Schmutz und Blut, die unbemerkt unter ihm liegen, noch ihre Rolle spielen.

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  • Karriere in Uniform

    Karriere in Uniform

    „In der ganzen Welt wünschen sich Eltern für ihre Kinder eine Karriere als Arzt“, schreibt Jewgeni Karassjuk auf Republic. In Russland, so legt er dar, steht daneben noch etwas anderes hoch im Kurs: der Dienst beim Militär oder bei Sicherheitsorganen.

    Wie kommt das? Gerade die Armee hatte eine Mehrheit laut einer Umfrage noch vor sechs Jahren als Zukunft für ihre Kinder abgelehnt, zu viel Angst vor Gewalt, Willkür und politischer Verantwortungslosigkeit gaben die Befragten als Gründe an. Das hat sich geändert. Es sind heute meist Eltern ärmerer Schichten, die für ihren Nachwuchs eine Karriere in der Armee oder bei den Sicherheitskräften erträumen. Wo Jobs fehlen, wo Perspektiven ausbleiben, bietet sich hier zumindest die Aussicht auf ein stabiles Gehalt: Je nach Dienstgrad und -jahren kann zum Beispiel ein Berufssoldat rund 1000 Euro im Monat verdienen. Ärzte bekommen Umfragen zufolge oft nur rund 310 Euro. Entsprechend legendär sind die Wsjatki, Bestechungsgelder, die Patienten oft an Ärzte zahlen.

    Karassjuk erklärt auf Republic, weshalb es nicht nur an Propaganda, Ukraine und Syrien liegt, dass viele Russen ihren Kindern eine Karriere ausgerechnet dort wünschen – und verdeutlicht das mit anschaulichen Infografiken.

    „Innenministerium, Geheimdienst und Armee spielen heute im gesellschaftlichen und Wirtschaftsleben eine immer größere Rolle“ / Foto ©  Verteidigungsministerium <br> der Russischen Förderation/Wikipedia CC BY-SA 4.0
    „Innenministerium, Geheimdienst und Armee spielen heute im gesellschaftlichen und Wirtschaftsleben eine immer größere Rolle“ / Foto © Verteidigungsministerium <br> der Russischen Förderation/Wikipedia CC BY-SA 4.0

    Vergangenen Herbst hielt Wladimir Mau, Rektor der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst, einen Vortrag an der privaten Wirtschaftshochschule Skolkowo. Dort sprach er über die Zukunft der Bildung in Russland und zeigte dem Publikum erneut auf, welche Zukunft sich die Russen für ihre Kinder wünschen: Reichere Familien erwägen eine Karriere als Manager in einem staatlichen Unternehmen, ärmere Familien eine Laufbahn beim Militär oder bei den Sicherheitsbehörden.

    „Eine unanständige Menge Bürokraten und Millionen Bewacher“

    Die Armut im Land nimmt weiter zu, dem entsprechen auch die Ergebnisse einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts WZIOM: Über die Hälfte der Bürger (53 Prozent) ziehen als zukünftigen Arbeitsplatz für ihre Kinder die Polizei-, Justiz- oder andere Sicherheitsbehörden in Betracht. Den Staat mit seiner jetzigen Beschäftigungsstruktur – eine „unanständige Menge Bürokraten und Millionen Bewacher“ – nennt Alexander Idrissow, Chef der Strategy Partners Group, eine Katastrophe. Doch das Interessanteste steht womöglich erst noch bevor. Denn die kommende Generation von Russen folgt vielleicht dem elterlichen Rat und schlüpft massenhaft in Uniformen. Warum halten die Russen eine Karriere als Militärangehöriger, Polizist oder Mitarbeiter der Geheimdienste für eine gute Idee?

    In ihren Präferenzen unterscheiden sich russische Eltern gar nicht so sehr von Eltern in anderen Ländern. Fast alle Untersuchungsergebnisse sind mit den Daten ähnlicher internationaler Erhebungen vergleichbar – einzige Ausnahme: der Wunsch nach einer Karriere in den Sicherheitsbehörden.



     * Die Angaben zu den Berufswünschen Ärzte, Unternehmer, Lehrer und Wissenschaftler sind einer Studie entnommen, die die Higher School of Economics 2013 durchgeführt hat. In der Umfrage waren mehrere Antworten möglich. Laut dieser Studie haben 14 Prozent der Befragten eine Karriere bei der Armee als bevorzugt angegeben. Quelle: Republic (WZIOM, HSE)


    Quelle: Republic (WZIOM)

    Assoziation einer längst vergessenen Stabilität

    Eltern aus 16 Ländern, die von der [weltweit agierenden Bank] HSBC im Rahmen der Studie Learning for Life befragt wurden, wollten im Schnitt, dass ihre Kinder Ärzte (19 Prozent), Ingenieure (11 Prozent) oder Programmierer/Software-Entwickler (8 Prozent) werden. Die russischen Daten zu diesen Berufswünschen fallen ähnlich aus: 21, 13 und 14 Prozent. Doch spielen das Innenministerium (MWD), der Inlandsgeheimdienst FSB und die Armee heute im gesellschaftlichen und Wirtschaftsleben eine immer größere Rolle, wenn es um die Prioritäten geht, die in Familien gesetzt werden.

    In den letzten Jahren wecken Menschen in Uniform bei Russen Assoziationen einer fast vergessenen Stabilität. Die monatliche Vergütung für Militärangehörige steigt. 2015 betrug sie im Schnitt 62.200 Rubel [rund 1000 EUR – dek], was mehr als das Doppelte des Durchschnittslohns ist.

    Außerdem steigen die Renten und Pensionen, die ein Großteil der Mitarbeiter in den Militär- und Sicherheitsstrukturen bereits früher beziehen (vor dem üblichen Renteneintrittsalter: 55 Jahre bei Frauen und 60 Jahre bei Männern). In Zeiten der Krise, so verkündete die stellvertretende Verteidigungsministerin Tatjana Schewzowa stolz, „gelingt es, die finanzielle Vergütung der Militärangehörigen auf dem Niveau der führenden Wirtschaftsbranchen zu halten“. Im Jahr 2015 haben auch erstmals in der neuesten Geschichte Russlands mehr Berufssoldаten (300.000) als normale Wehrdienstpflichtige (276.000) in der Armee gedient.



    * Mittelwerte für die Offiziershochschulen Blagoweschtschensk, Nowosibirsk, Rjasan
    ** Mittelwerte für die MGTU, MIFI und MFTI 2014-2016
    Quelle: Republic (Universitäten, Verteidigungsministerium)

    „Ich beschäftige mich seit langem mit den Aufnahmeprüfungen an den Militärhochschulen. Eine derartige Konkurrenz wie in diesem Jahr hat es noch nie gegeben“, meinte im Jahr 2015 der stellvertretende Verteidigungsminister Nikolaj Pankow. Verteidigungsminister Sergej Schoigu zufolge ist die Zahl der Abiturienten, die auf Militärhochschulen gehen, im Laufe des vergangenen Jahres um 36 Prozent gestiegen. „Heute haben wir, wie es aussieht, den größten Andrang auf unsere Ausbildungsstätten“, erklärte der Minister.

    Gleichzeitig steigt auch die Nachfrage nach Plätzen in den Nachimow– und Suworow-Militärschulen und Kadettenkorps (2015 gab es 3,5 Bewerber pro Platz). An den zivilen technischen Hochschulen werden sogenannte Wissenschafts-Kompanien eingerichtet, und auch da ist der Andrang groß.

    Selbstisolierung spielt Militär in die Hände

    Der explosionsartige Beliebtheitssprung bei militärischen Berufen erfolgt vor dem Hintergrund einer fortschreitenden Selbstisolierung der Bevölkerung, auch im Bildungssektor. Für jene, die sich von Feinden umringt fühlen (laut Lewada-Zentrum 68 Prozent), die meinen, dass man Russland in der Welt fürchte und dass das gut sei (75 Prozent laut FOM), wäre es merkwürdig, davon zu träumen, die Kinder zum Studium ins Ausland zu schicken.

    68 Prozent der Russen, die 2015 im Rahmen der Studie Integrationsbarometer der Eurasischen Entwicklungsbank befragt wurden, konnten oder wollten kein einziges Land nennen, in das sie ihre Kinder theoretisch zwecks Studium fahren lassen könnten. Zum Vergleich: Den Daten der HSBC zufolge denken in westlichen und asiatischen Ländern 77 Prozent der Eltern mit Kindern bis 23 Jahre daran, die Kinder für Bachelor-, Master- oder Doktoranden-Programme ins Ausland zu schicken.

    Die Russen in Uniform fühlen sich sicher

    Es wäre zu einfach, das gestiegene Interesse der Russen an einer Arbeit in den Sicherheitsbehörden mit den Ereignissen in der Ukraine und in Syrien zu erklären oder mit der speziellen Art, wie darüber in den staatlichen Medien berichtet wird. Das Internationale Konversionszentrum Bonn (BICC) führt Russland bereits seit vielen Jahren unter den zehn (und häufiger noch: fünf) am stärksten militarisierten Staaten. Dem Ranking des internationalen Zentrums liegen mehrere Faktoren zugrunde, beispielsweise die Haushaltsausgaben für Militär im Verhältnis zu denen im Gesundheitssektor, das Zahlenverhältnis von Militärangehörigen (inklusive Milizen, aber ohne Mitarbeiter von Polizei und Justiz) und Ärzten zur Gesamtbevölkerung sowie die Menge schwerer Waffen bezogen auf die Bevölkerungszahl.



    Quelle: Republic (Finanzministerium)

    Viele Russen fühlen sich in Uniform sicher – und zwar ungeachtet der Wirtschaftskrise und planmäßigen Kürzungen sowie der außerplanmäßigen Reformen in einigen Behörden. Was die Staatsfunktionäre auch immer sagen mögen über die Unterstützung aller Beschäftigten im öffentlichen Dienst – die Silowiki erfahren die Fürsorge des Staates zuerst. So bedeutet der Anstieg der Ausgaben für den öffentlichen Dienst, wie er im Haushaltsplanentwurf 2017 bis 2019 vorgesehen ist, in erster Linie eine Ausgabensteigerung für die Staatsanwaltschaften, das Ermittlungskomitee, den FSB und andere privilegierte Behörden des Innen- und Verteidigungsministeriums.

    Auch die immaterielle Motivation wird immer größer. „Ränge, Auszeichnungen, die Vertikale der Macht und das Unterordnungsprinzip gehören zu den Grundsätzen einer militärischen Organisation der Gesellschaft. Und diese Prinzipien zeigen sich wieder im alltäglichen Leben des heutigen Russland“, schreibt Cyril Bret vom Pariser Institut für politische Studien (Sciences Po).

    Wie es aussieht, ist die Mehrheit der Russen aufrichtig davon überzeugt, dass diese Kasernenstruktur im Land noch lange Bestand haben wird. Wenigstens für die Kinder wird’s reichen.

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  • Schläge als Privatsache?

    Schläge als Privatsache?

    „Wenn er dich schlägt, liebt er dich.“ So könnte man ein viel zitiertes russisches Sprichwort übersetzen. Jetzt soll eine Gesetzesnovelle dafür sorgen, dass häusliche Gewalt weniger hart bestraft wird. Demnach sollen gemeldete Erstfälle als Ordnungswidrigkeit geahndet werden, wenn das Opfer keine ernsthaften gesundheitlichen Schäden erlitten hat. Nur, wer innerhalb eines Jahres zum zweiten Mal gewalttätig wird, dem drohen strafrechtliche Konsequenzen. Geplant ist dann etwa eine Höchststrafe von bis zu drei Monaten Haft. Derzeit liegt sie bei zwei Jahren.

    In erster Lesung hat die Duma das Gesetz bereits durchgewunken, am 25. Januar folgt die zweite. Kritiker bemerkten ironisch, jetzt sei es nach Logik der Abgeordneten in Ordnung, seine Frau ein Mal im Jahr zu schlagen, nur zwei Mal ginge nicht.

    Ljubow Borussjak, Soziologin an der Moskauer Higher School of Economics, beschreibt auf Republic die Hintergründe der Gesetzesänderung und fragt danach, was die Befürworter bewegt. Mit der Verteidigung „traditioneller Werte“ allein ist der Zuspruch ihrer Meinung nach nicht zu erklären. Man müsse stattdessen auch danach fragen, wie Gewalt allgemein assoziiert werde – und inwiefern die Angst vor einem willkürlichen Staat den Gesetzesbefürwortern in die Hände spiele. 


    Update: Anfang Februar unterzeichnete Präsident Wladimir Putin das Gesetz, nachdem die Duma die Novelle am 27. Januar 2017 in dritter und letzter Lesung angenommen hatte. 380 Abgeordnete stimmten dafür, drei dagegen.

    Nur hin und wieder rückt das Problem der familiären, häuslichen, ehelichen Gewalt ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Dann flacht das Interesse wieder ab bis zum nächsten Anlass für eine Berichterstattung. Diese Anlässe sind für gewöhnlich irgendwelche krassen Fälle. Im vergangenen Sommer haben sich zehntausende Frauen in Russland und anderswo am Internet-Flashmob #ЯнеБоюсьСказать [dt. #IchhabkeineAngsteszusagen] beteiligt und markerschütternde Geschichten von Gewalt erzählt, die ihnen widerfahren ist.

    Im November sorgte der Fall einer jungen Frau aus dem Gebiet Orjol für Entrüstung. Sie hatte die Polizei gerufen, weil ihr Partner sie bedrohte. Die Antwort, die sie am Telefon bekam, war schockierend: „Wenn man Sie umbringt, kommen wir natürlich und nehmen Ihre Leiche zu Protokoll, keine Sorge!“ Die junge Frau wurde tatsächlich getötet.

    Geschichten wie diese passieren dutzend-, wenn nicht hundertfach. Jetzt redet man über das Thema, weil ein Gesetzentwurf – vorerst in erster Lesung – angenommen wurde, der Gewalt in der Familie entkriminalisieren soll.

    Eine offizielle Statistik gibt es nicht

    Dass häusliche Gewalt in Russland enorm weit verbreitet ist, da sind sich viele sicher. Jedoch existiert keine offizielle Statistik. Und zwar aus dem einfachen Grund, dass es im Strafgesetzbuch keine Paragraphen gibt, die explizit häusliche Gewalt unter Strafe stellen. Und selbst wenn es sie gäbe, würden sie nichts über das Ausmaß sagen: Kinder erzählen so gut wie nie, dass sie von ihren Eltern geschlagen werden, Frauen zeigen ihre Männer äußerst selten bei der Polizei an, und wenn sie es tun, ziehen sie die Anzeige häufig wieder zurück.

    Aufgrund fehlender offizieller Daten berufen wir uns auf die stichprobenartige Untersuchung Gewalt gegen Frauen in Russland: Demnach hat jede fünfte Frau körperliche Gewalt durch den Ehemann oder Liebhaber erlebt, jede zwanzigste wurde gewaltsam zu sexuellem Kontakt gezwungen. Drei Viertel der betroffenen Frauen haben jemandem von der Gewalt, die sie durchgemacht haben, erzählt (fast alle nur Verwandten und Freunden), zur Polizei gingen nur zehn Prozent. Ein Viertel der Frauen hat es für sich behalten.

    Stark ist der, vor dem man Angst hat

    Es ist nicht auszuschließen, dass selbst diese Zahlen untertrieben sind, denn Frauen, denen Gewalt widerfährt, empfinden Scham. Sehr oft, manchmal sogar im Todesfall, wird das Opfer nach der Tat öffentlich diffamiert: „Hat ihn bestimmt gereizt, bis ihm der Kragen geplatzt ist.“

    So seltsam es klingt, aber ganz abgesehen davon existiert bis heute die Vorstellung, Gewalt sei – solange sie nicht lebensbedrohlich ist – zwar unschön, aber normal. Für einen erheblichen Teil der Gesellschaft stellen Stärke und das Recht, sie anzuwenden, einen grundlegenden Wert dar. Das zeigen deutlich die Ergebnisse einer unlängst (im Dezember 2016) von der Stiftung Öffentliche Meinung durchgeführten Umfrage. Demnach beurteilen 86 Prozent der Russen ihr Land als frei und wohlhabend, sie schreiben ihm eine Vormachtstellung zu, vor der sich die Welt fürchtet. Dass man vor Russland Angst hat, wird als entschieden positiv empfunden. Ganz offenbar ist das eine Projektion auch der Verhältnisse innerhalb der Familie. Angst bedeutet Respekt; stark ist der, vor dem man Angst hat. Viele derjenigen, die gegen Gewalt in der Familie kämpfen und für die Schwachen einstehen, fallen heutzutage unter das Agentengesetz, verlieren ihre Finanzierung oder müssen gar ihre Arbeit einstellen, was als völlig gesetzmäßig erscheint. Das betrifft so etablierte NGOs wie das Frauen- und Kinderhilfszentrum Anna, das Hilfszentrum für Opfer sexueller Gewalt Sjostry [dt. Schwestern], das sich mit Crowdfunding über Wasser zu halten versucht, aber auch viele andere.

    Gayropa setzen wir unsere reinen, traditionellen Werte entgegen

    Obwohl die „Erziehung“ von Frauen mit Hilfe von Schlägen eine weit verbreitete Praxis ist, wird sie von der Gesellschaft doch verurteilt. Allerdings erfreut sich das Recht auf körperliche Bestrafung innerhalb der Kindererziehung vieler Befürworter. Leichte Schläge (ohne Gefahr für Leben und Gesundheit, versteht sich) gelten als traditionell, üblich und bewährtes Mittel der Disziplinierung. Einerseits sind wir ein europäisches Land und befinden uns mehr und mehr auf dem Weg zur Humanisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen, einschließlich der familiären. Andererseits ist die außenpolitische Rhetorik Russlands seit einigen Jahren auf eine Konfrontation mit dem Westen gerichtet, und damit gegen viele der Werte, die diesem zugeschrieben werden. Dem in seinen Sünden versinkenden Gayropa setzen wir unsere reinen, traditionellen Werte entgegen. Mit diesen Werten wird die „normale“ Familie proklamiert, „normale“ Beziehungen zwischen Eltern und Kind, in die sich niemand einzumischen hat.

    Im Konzeptentwurf zur staatlichen Familienpolitik der Russischen Föderation bis zum Jahr 2025 wird „Eltern in Bezug auf die Erfüllung ihrer elterlichen Pflichten Gewissenhaftigkeit unterstellt“. Was im Klartext heißen soll, dass Eltern immer zum Wohle des Kindes handeln. Das ist einerseits gut, denn gesunde soziale Institutionen bedürfen keiner Einmischung von Außen. Andererseits sind damit die schwachen Familienmitglieder den stärkeren schutzlos ausgeliefert.

    Auf dem Recht des Stärkeren beharren auch Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche und verschiedener anderer Organisationen, die sich als orthodox ansehen. So äußerte die Patriarchenkommission zu Fragen der Familie und des Schutzes von Mutterschaft und Kindheit im vergangenen Sommer ihre „tiefe Besorgnis“ über die Verabschiedung einer Neufassung des Artikels 116 („Schläge“). Nach Ansicht des Patriarchats könnte die Änderung dazu führen, dass nun gewissenhafte Eltern strafrechtlich verfolgt würden, die ihre Kinder „in Maßen und sinnvoll“ bestrafen. Die Russisch-Orthodoxe Kirche vertritt die Auffassung, dass körperliche Bestrafung von Kindern ein „traditioneller Wert“ der russischen Gesellschaft sei, der erwähnte Artikel wiederum „entbehrt moralischer und juristischer Grundlagen, richtet sich in seinem Inhalt gegen die Familie und das innerhalb der russischen Gesellschaft etablierte Verständnis von Elternrechten, ist diskriminierend, widerspricht den Grundprinzipien einer gesunden staatlichen Familienpolitik und lässt die traditionellen familiären und moralischen Werte der russischen Gesellschaft außer Acht“.

    Klapse und leichte Schläge auf den Hinterkopf halten 51 Prozent der Befragten für „normal“

    Wie „maß- und sinnvoll“ eine körperliche Strafe ist, wird dem Ermessen der Eltern selbst überlassen. Darüber, dass Eltern das Recht  zugesprochen werden soll, ihre Kinder physisch zu maßregeln, liest man viel auf der Homepage des Allrussischen Elternwiderstandes, deren Mitwirkende sich aktiv für traditionelle, orthodox begründete Werte einsetzen. Das Recht der Eltern auf Gewaltanwendung wird hier damit erklärt, dass dies die Norm für die heutige russische Gesellschaft sei: „Das Zentrum AKSIO hat eine umfassende Meinungsumfrage durchgeführt, befragt wurden 43.687 Menschen aus allen Regionen der Russischen Föderation. Das Hauptziel der Umfrage war die Messung der öffentlichen Meinung zu den (…) Änderungen im russischen Familiengesetz. Die Bestrafung von Kindern mit Klapsen und leichten Schlägen auf den Hinterkopf halten 51 Prozent der Befragten für normal.“

    Weil es normal ist, darf man sich also nicht in die Erziehung innerhalb der Familie einmischen. Schon erstaunlich, aber sogar einige Organisationen, die sich dem Schutz der Familie verschrieben haben, setzen sich gegen eine gesetzliche Einschränkung elterlicher Schläge ein und gegen das Recht von Kindern und Jugendlichen, sich zu verteidigen. So bezeichnet beispielsweise Tatjana Borowikowa, Leiterin der Organisation Viele Kinderchen – das ist gut!, Aushänge mit Seelsorgerufnummern für Jugendliche in den Schulen als „Einmischung in familiäre Angelegenheiten“. Solche Beispiele gibt es zur Genüge. Der Allrussische Elternwiderstand teilt mit, für die Entkriminalisierung von Schlägen seien 213.000 Unterschriften gesammelt worden, und notfalls werde die Hälfte aller russischen Eltern vor Gericht ziehen.

    Angst vor Willkür

    Was diese Leute antreibt, ist nicht die Angst vor Massenverhaftungen, sondern die Angst vor Willkür der Rechtsschutz- und Vormundschaftsorgane, die häufig nur formal die Rechte von Kindern schützen. Sie fürchten nicht den aus dem Westen kommenden Kinder- und Jugendschutz, von dem sie reden, sondern unseren eigenen Staat. Erst vor Kurzem entsetzte ein Vorfall die Öffentlichkeit, bei dem Vormundschaftsorgane und Polizei ohne jegliche Untersuchung zehn Kinder aus einer wohlsituierten Pflegefamilie genommen hatten, nachdem den Eltern Gewaltanwendung vorgeworfen worden war.

    Dieser Vorfall bestätigte nur die allgemein herrschende Vorstellung, jedes Gesetz könnte so ausgelegt werden, dass die Unschuldigen mehr leiden als die, die schuldig sind. Wer aber schuldig ist und wer nicht, in welchem Rahmen sich häusliche Gewalt bewegen darf, das versteht so gut wie niemand. Aber allen ist klar, dass noch die schlechteste Familie, in der das Kind nicht nur hin und wieder einen Klaps bekommt, sondern ständig Prügel, in den allermeisten Fällen immer noch besser ist, als ein Kinderheim, das heißt die Vormundschaft durch den Staat.

    Kinder werden nicht gehört – mit oder ohne Gesetz

    Die Gesellschaft hat Angst vor weiterer Einmischung ins Privatleben. Weil sie nicht daran glaubt, dass das dem allgemeinen Wohl dienen wird, sondern weil sie berechtigter Weise annimmt, dass man nach dieser Einmischung Hilfe braucht, die man nirgendwo bekommt.

    Organisationen, die trotz allem versuchen, Familien in der Not beizustehen, solche wie Anna und Sjostry, sind mittlerweile selbst auf Hilfe und Schutz angewiesen.

    Das Gesetz über die Entkriminalisierung von Gewalt in der Familie wird vermutlich kaum etwas zum Besseren oder Schlechteren verändern. Weil Kinder in ihrer Mehrheit stumm bleiben, hilft ihnen dieses Gesetz jedenfalls nicht. Die Mehrheit der Frauen wendet sich ohnehin nicht an die Polizei. Aber wenn Gewalt in der Familie als Ordnungswidrigkeit behandelt wird, rückt die Polizei bald nicht einmal mehr bei seltenen Anrufen aus – warum auch solch kleinen Vergehen Beachtung schenken?

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  • Die schleichende Wende

    Die schleichende Wende

    Der Krieg in Syrien war bestimmend für die außenpolitische Agenda Russlands. Die Nachrichtensendungen im Staatsfernsehen wurden nicht müde, unentwegt große Erfolge zu verkünden. Währenddessen rutschte das Land im Innern immer weiter in die Rezession. Die Dumawahl brachte zugleich eine erdrückende Mehrheit für die Regierungspartei Einiges Russland. Was bleibt vom vergangenen Jahr für 2017?

    Die Politologin Ekaterina Schulmann sagt in ihrer Analyse für das liberale Webmagazin republic: Vor allem die Sorgen der Menschen bleiben. Wie aber sollen sie diese kanalisieren? Und was bedeutet das für den Kreml? Muss er sich fürchten?

    2016 brachte für die russische Gesellschaft vor allem einen Wandel der gesellschaftlichen Forderungen, der mit einer Verlagerung des Interesses auf innere sozioökonomische Probleme einherging. Allerdings lassen sich solche langwierigen Prozesse nicht an Kalenderdaten festmachen – dieser Wandel hat weder 2016 begonnen, noch wird er 2017 oder 2018 enden. Die Stimmungswende ist zweifellos auf die Krise und auf ein für uns neues Phänomen zurückzuführen: auf das Sinken der real verfügbaren Einkommen. Das ist in der Tat etwas Neues.

    Für gewöhnlich sagen wir, bei uns herrscht große Armut, oder dass soundsoviele Menschen unter der Armutsgrenze leben. Aber für die Stimmung sind nicht die absoluten Zahlen entscheidend, wer wieviel bekommt, sondern die Änderungen bestehender Tendenzen. Denn erstens vergleichen die Menschen sich mit ihrem Nachbarn, mit ihrer jeweiligen Referenzgruppe und zweitens vergleichen sie ihre eigene Situation von gestern mit der von heute. Der Eindruck einer positiven Dynamik, an die man sich bereits gewöhnt hatte, wurde vom Eindruck einer negativen Dynamik abgelöst, wobei diese bereits seit zwei Jahren anhält, ohne dass eine Veränderung dieses Trends in Sicht wäre.

    Schulman diagnostiziert stille Verärgerung bei den Menschen – „Wir sorgen uns um das eine, und die schert etwas ganz anderes.“ / Foto © Dimitri Duchanin
    Schulman diagnostiziert stille Verärgerung bei den Menschen – „Wir sorgen uns um das eine, und die schert etwas ganz anderes.“ / Foto © Dimitri Duchanin

    Das hat zwei konträre Folgen: Entweder die Menschen empören sich über die existierende politische Ordnung und entwickeln ein Protestverhalten, oder niemand entwickelt ein Protestverhalten und die Menschen passen sich an, grob gesagt. Beides ist der Fall: Die Menschen passen sich tatsächlich an – und das ist eine vernünftige Taktik in so einer Situation. Aber die Forderungen der Gesellschaft verändern sich: Die Menschen interessieren sich mehr und mehr dafür, was sie selbst ganz unmittelbar betrifft.

    Sogar in den Umfragen zeigt sich: Es wächst die Zahl derer, die auf die recht schwammige Frage: „Denken Sie, dass im Land alles richtig läuft?“ (Das Lewada-Zentrum stellt die Frage regelmäßig in genau dieser Formulierung), antwortet: Nein, es läuft falsch, es läuft nicht so, wie es laufen sollte.

    In diesem Zusammenhang lohnt es sich, einen Blick auf den Artikel von Sergei Guriew und Daniel Treisman aus dem vergangenen Jahr zu werfen, in dem sie erklären, wie moderne autoritäre und semi-autoritäre politische Führer ihre Legitimität aufrechterhalten. Darin stellen sie eine Theorie der ausreichenden Kompetenz auf. Was versteht man darunter?

    Es gibt revolutionäre Anführer wie Hugo Chávez oder Fidel Castro, deren Legitimation auf einer Revolution oder auf Charisma beruht. Für die Aufrechterhaltung ihrer Legitimität müssen sie ständig demonstrative Siege über Feinde erringen, über reale oder fiktive, oder auch Erfolge, reale oder fiktive. Um ihre charismatische und revolutionäre Legitimität zu bekräftigen, müssen sie von Sieg zu Sieg schreiten.

    Die außenpolitische Agenda hingegen interessiert offensichtlich die Menschen nicht einfach nur kaum, sie sind offenbar sogar darüber verärgert

    Bei neueren Formen eines Semi-Autoritarismus braucht es nach Guriew und Treisman für die Aufrechterhaltung der Legitimität keine demonstrativen Siege für die Bevölkerung. Es gilt lediglich, den Eindruck einer ausreichenden Kompetenz zu erwecken und zu erhalten. Die Bevölkerung muss glauben können, dass die Regierung mit ihren Aufgaben eher zurechtkommt, als dass sie das nicht tut. Daher werden Probleme nie verborgen, im Gegenteil: Sie werden akzentuiert. Deswegen heißt es: „Ja, wir haben eine Krise. Ja, es gibt Sanktionen. Wir sind umringt von Feinden. Die außenwirtschaftliche Konjunktur ist schlecht. Aber schaut nur, wir sind nicht verhungert, wir sind nicht zusammengebrochen, in Einzelteile zerfallen, wir kommen irgendwie zurecht.“

    Genau das ist besagte ausreichende Kompetenz. Solange sie in den Köpfen der Menschen vorhanden ist, besitzt die Regierung Legitimität, selbst bei schlechten wirtschaftlichen Ergebnissen. Aus diesem Grund gebe es keine Proteste, nehmen Guriew und Treisman an. (Und zwar nicht nur wegen der repressiven Gesetzgebung und des staatlichen Zwangsapparats,  obwohl auch die wichtig sind: Denn den Preis für Protest zu erhöhen, ist ein effektives Mittel, um die Protestaktivität zu senken.) Proteste gebe es auch deshalb nicht, weil die Menschen denken: „Die Staatsführung funktioniert ja offenbar irgendwie. Und kommt sogar halbwegs gut zurecht.“

    Erst wenn ein spürbarer Teil der Bevölkerung der Meinung ist, die Staatslenker seien nicht die Lösung, sondern das Problem, beginne die Grundlage für diese Legitimität zu bröckeln – nicht allein aufgrund einer Verschlechterung der Lebensumstände. Wenn also das Gefühl überhand nimmt, dass sie nicht dabei helfen, die Krise zu bewältigen, sondern sie noch verschärfen.

    Enttäuschung, Niedergeschlagenheit und apathisch-depressive Stimmung haben sich besonders deutlich während der Parlamentswahlen gezeigt. Für die Politmanager war davon anscheinend nichts zu erahnen, waren sie doch vornehmlich damit beschäftigt, die Wahlbeteiligung der Unzufriedenen zu senken, aus Angst, sie könnte zu hoch ausfallen. Wie sich herausstellte, hatten sie sich nicht davor zu fürchten: In den Städten und den zentralrussischen Gebieten sind die Menschen einfach nicht zur Wahl erschienen. Tatsächlich aber sind diese Stimmungen, die sich in einer Nichtteilnahme an den Wahlen niederschlugen, weniger harmlos, als man glauben könnte: Sie sind es, die allmählich das Fundament der Legitimität unterminieren – ganz besonders vor dem Hintergrund, dass man unbedingt einen Post-Krim-Konsens und die absolute Einigkeit von Volk und Regierung demonstrieren will. Erschwert wird diese Demonstration zunehmend durch den Umstand, dass die Bürger die gewünschte Zustimmung nur noch bei Meinungsumfragen ausdrücken, indem sie die von ihnen erwarteten Antworten geben. Letztendlich wurde das Wahlergebnis von Regionen bestimmt, die die nötigen Zahlen mit Methoden erzielten, für die sie die Wähler gar nicht brauchten.

    Das ist eine ziemlich gefährliche Situation, denn sie bringt Moskau, das föderale Zentrum, in ein Abhängigkeitsverhältnis zu diesen Regionen und verändert die Zusammensetzung der Staatsduma, in der diese Regionen wesentlich mehr Mandate bekommen haben. Das wird 2018 der Knackpunkt sein, denn natürlich kann man unter diesen Umständen Präsidentschaftswahlen abhalten, aber es ist gefährlich. Ich vermute, sie werden sie trotzdem durchführen, weil ihnen nichts Besseres einfällt. Und das wird ein Problem sein.

    Das zweite wichtige Thema bei dem Stimmungsumschwung ist das wachsende Interesse an sozioökonomischen Fragen. Die außenpolitische Agenda hingegen interessiert offensichtlich die Menschen nicht einfach nur kaum, sie sind offenbar sogar darüber verärgert. Nicht, weil sie sich nicht über Größe und Macht Russlands freuen würden, das tun sie durchaus, sondern weil andere Probleme für sie prioritär und wesentlich sind – nicht bloß wichtig, sondern aktuell drängend. Und gleichzeitig beobachten sie, wie die finanziellen Mittel konträr zu ihren Prioritäten eingesetzt werden.

    Das, was in letzter Zeit als Forderung nach Gerechtigkeit bezeichnet wird, umfasst auch eine gerechte Verteilung finanzieller Ressourcen. Die Vorstellung, dass bei uns Krankenhäuser geschlossen werden, während wir wer weiß wo wer weiß wen bombardieren, ruft stille Verärgerung über offensichtlich unangemessenes Handeln seitens der Staatsführung hervor: Wir sorgen uns um das eine, und die schert etwas ganz anderes.

    Das erinnert stark an die Stimmungslage in den USA und Europa, die im vergangenen Jahr zu den, wie es hieß, unerwarteten Wahlergebnissen führte. Eliten und Bevölkerung reden aneinander vorbei. Es gibt keinen Punkt, an dem sie sich treffen und miteinander ins Gespräch kommen könnten, weil sie einander überhaupt nicht hören. Ist so etwas in Demokratien überhaupt möglich, so ist es umso charakteristischer für geschlossene politische Systeme, in denen sich der Regierungsapparat vorsätzlich von der Gesellschaft isoliert, sie als Bedrohung empfindet und keinerlei Kommunikation mit ihr anstrebt.

    Das Tragische ist, dass diese Stimmungen in offenen Systemen, wo die Feedback-Kanäle funktionieren, in friedliche, legale politische Aktivität münden können. In Form von Wahlen. Dort kann man sich dann zwar über die Ergebnisse entrüsten, aber es ist und bleibt ein friedlicher, politischer Prozess, der nach der Machtübernahme durch eine neue Partei oder eine neue Führungsfigur zu einer Kurskorrektur führt. Es ist eine friedliche und nicht einmal besonders kostenträchtige Form des Wandels. In Russland ist es komplizierter. Doch auch hier versucht die Regierungsmaschine zu hören, was in den Köpfen der Menschen vorgeht.

    Das geschieht auf unterschiedliche Art und Weise – durch geheime Umfragen, über den einen oder anderen Direkten Draht. Besonders bezeichnend war diesbezüglich die Aussage Peskows: „Der Direkte Draht zum Präsidenten ist die beste Meinungsumfrage.“ Darin offenbart sich zum einen der Wunsch nach zumindest irgendeiner Meinungsumfrage und zum anderen das Unwissen darüber, dass beim Direkten Draht nur ausgewählte Personen teilnehmen. Die Auswahl ist nicht repräsentativ und es ist keine Meinungsumfrage, sondern einfach nur eine Parade des Klagens. Aber sie hätten gern Meinungsumfragen, denen man glauben kann.

    Wie stimmen sich in Russland Staatsführung und Gesellschaft miteinander ab? In Demokratien geschieht das nach den Wahlen: Die Menschen haben Wünsche, dementsprechend wählen sie etwas aus dem bestehenden Angebot. Diejenigen, die in der Folge Mandate erhalten, beginnen mit der Umsetzung der bestellten Politik.

    Die Vorstellung, dass bei uns Krankenhäuser geschlossen werden, während wir wer weiß wo wer weiß wen bombardieren, ruft stille Verärgerung hervor

    Bei uns ist es andersherum. Schon vor den Wahlen, deren Ergebnisse wie bestellt ausfallen müssen, versucht die Regierung, zu jenem neuen Kandidaten zu werden – und darauf zu reagieren, was die Menschen brauchen. Deswegen wird der politische Kurs vor den Wahlen korrigiert. Alle Fingerübungen der neuen Leitung in der Präsidialadministration, die gesamten Vorhaben der Staatsführung, die Ausarbeitung neuer Reformprogramme – all dies sind Versuche einer Kurskorrektur vor den Wahlen, die dann bitte die geforderten Ergebnisse bringen mögen. Das ist besser als nichts.

    So wird die Agenda 2017 (auch wenn man es nicht so formulieren wird) im Wesentlichen ein Versuch sein, sich selbst zu korrigieren und dabei im Kern zu bleiben, wie man ist. Es wird ein Versuch sein, auf die gesellschaftlichen Forderungen zu reagieren und zu verhindern, dass irgendeine politische Konkurrenz reagiert.  

    Doch hier beginnen die Schwierigkeiten. Wenn wir beispielsweise darüber sprechen, dass es gut wäre, unsere außenpolitische Aktivität zu drosseln, weil wir kein Geld haben und die Menschen darüber verärgert sind, müssen wir bedenken, dass Wille allein nicht genügt, um die Aktivität einzuschränken – man sollte die persönliche politische Macht Einzelner nicht überschätzen. Es gibt Interessengruppen, die auf den entsprechenden Budgets sitzen und daran interessiert sind, eine Politik des Krieges fortzuführen. Das sind einflussreiche Mitglieder unserer herrschenden Elite – Rüstungsindustrie, Verteidigungsministerium, Mitglieder des Sicherheitsrates. Es wird wohl kaum genügen zu sagen: „Das war’s, Jungs. Sorry. Wir packen ein.“ Die müssten das irgendwie kompensieren. Sich einen Ausweg aus dieser Situation ausdenken – das wird das Jahr 2017 ausfüllen.

    Ein weiteres wichtiges Thema der kommenden zwei Jahre wird das Bildungs- und Gesundheitswesen sein mit allem, was dazu gehört. Hier zeichnet sich eine sehr gefährliche, radikale Kluft zwischen der Agenda der Regierung und der Gesellschaft ab. Denn für die Menschen wird dieser Bereich immer wichtiger. Zum einen, weil die Bevölkerung älter wird. Zum anderen, weil sich in den letzten Jahren ein Kinderkult entwickelt hat und die Menschen ihre Elternrolle als eine soziale und zum Teil sogar politische Rolle begreifen. Gleichzeitig entledigt sich der Staat im Bildungs- und Gesundheitswesen massenhaft seiner Verpflichtungen. Eine unglücklichere Kombination ist kaum denkbar. Mit der Diskrepanz dieser zwei Agenden wird man etwas machen müssen, denn sie verärgert die Menschen sehr. Sie können nicht nachvollziehen, warum der Staat sich so verhält. Der Staat hingegen erklärt nichts, er macht noch nicht einmal irgendwelche Versprechungen.

    Einerseits scheint es, als würde sich die Situation der 1990er Jahre auf einem anderen Level wiederholen. Andererseits verfügte der Staat in den 1990ern nicht über diese Bereiche, er hatte sie nicht unter Kontrolle. Damals sagte er: „Ich gebe euch kein Geld, verdient es euch, wie ihr wollt.“ Heute heißt es: „Ich gebe euch kein Geld, aber ich sperre euch ein.“ Die Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen unterstehen einer strengen Kontrolle durch Ermittlungsbehörden und Staatsanwaltschaft, die bei jeder Gelegenheit auftauchen. Gleichzeitig bekommen die Einrichtungen kein Geld. Das ist eine unmögliche Lage.

    Für das System ist es sehr schwer, sich selbst zu reformieren, doch es wird gezwungen sein, dies zu tun, weil die Mittel knapper werden. Auf die Forderungen der Gesellschaft muss es wohl oder übel reagieren. Das System könnte autonom sein, wenn es eigene Einnahmequellen hätte wie noch in den Nullerjahren. Aber die hat es nicht mehr. Wenn man sein Geld von den Bürgern und nicht durch Erdölförderung bekommt, kommt man nicht umhin, sich mit den Bürgern gut arrangieren zu müssen. Das System hat das noch nicht so recht begriffen, um nicht zu sagen gar nicht. Es ist nicht gewohnt, in diesem Modus zu agieren und weiß nicht, wie es damit umgehen soll. Die nächsten zwei Jahre wird es versuchen, das zu lernen.


    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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