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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Mit Folter gegen Drogen

    Mit Folter gegen Drogen

    Eine Routinekontrolle auf der Straße, der Kontrollierte kann sich nicht ausweisen und wird auf die Wache gebracht. Dort „findet“ die Polizei bei ihm Marihuana, konfisziert es und verklagt den vermeintlich Süchtigen oder Dealer. Nicht selten gesteht dieser seine Schuld in Videos öffentlich ein


    Oft sind die Beklagten jedoch unschuldig, wie Recherchen von Republic ergeben. Demnach verläuft der Anti-Drogen-Kampf in Tschetschenien nicht selten nach dem oben beschriebenen Muster, bei Verhören wendet die Polizei zudem häufig Gewalt an. 


    Ilja Roshdestwenski hat mit Betroffenen und deren Anwälten gesprochen – und zeigt, wie plötzlich auch Menschenrechtler ins Visier geraten.

    Ramsan Kadyrow führt angebliche Drogensüchtige öffentlich vor / Foto © Screenshot aus Kadyrow w Pjatigorske poimal Narkotorgowzew i Narkomanow/YouTube
    Ramsan Kadyrow führt angebliche Drogensüchtige öffentlich vor / Foto © Screenshot aus Kadyrow w Pjatigorske poimal Narkotorgowzew i Narkomanow/YouTube

    Am 16. August 2017 wurde Magomed-Ali Meshidow aus dem tschetschenischen Dorf Awtury zum wiederholten Mal in Begleitung eines Vollzugsbeamten ins Büro der Kriminalpolizei des Innenministeriums im Bezirk Schali geführt. Die Kripo-Mitarbeiter gingen zum Safe auf der linken Seite und holten ein Gerät heraus, das mit einer Trainingsjacke abgedeckt war. Das Gerät diente, wie sich kurz darauf herausstellte, der Folter mit Strom. Gewöhnlich nimmt man dafür alte Isolationsmessgeräte, Kondensator-Zündmaschinen oder Feldtelefone mit Kurbelinduktoren; sie erzeugen Starkstrom, aber mit geringer Kraft; Spuren bleiben fast keine zurück, nur schwarze Punkte.


    Die Beamten sagten, dass sie mich so lange foltern, bis ich das Geständnis unterschreibe


    Dem Inhaftierten wurden mit der Trainingsjacke die Augen verbunden, ihm wurden Klemmen an die Daumen gesteckt und das Gerät eingeschaltet. „Ich habe geschrien, es tat höllisch weh. Die Beamten sagten, dass sie mich so lange foltern, bis ich das Geständnis unterschreibe“, erklärt Meshidow in seiner Strafanzeige. Eine Kopie liegt Republic vor. In dem Dokument betont Magomed-Ali, die Beamten hätten mehrmals wiederholt: „Bei uns kommt niemand ohne Schuldgeständnis raus.“ „Zwei Tage später wurde ich wieder mit Strom gefoltert, diesmal wurden die Klemmen an den kleinen Fingern und an den Handschellen befestigt, damit ich etwas gestand, das ich nicht getan hatte“, so Meshidow.


    Er war einer von etwa 70 Menschen, die Mitte August im hiesigen Untersuchungsgefängnis gelandet waren. Die Verhaftungen waren Teil einer Anti-Drogen-Kampagne, die der tschetschenische Staatschef Ramsan Kadyrow ausgerufen hatte. 

    Razzien und Folter

    Auf Anfrage von Republic gab das Innenministerium der Teilrepublik an, die Rechtsschutzorgane hätten bis Ende Dezember 507 Verstöße gegen entsprechende Artikel des Strafgesetzes aufgedeckt. Zwei Informanten, die mit dem Verlauf der Operation vertraut sind, berichten, die Polizisten hätten Razzien in den Ortschaften durchgeführt und jeweils mehrere Dutzend Menschen festgenommen. Sie hätten von ihnen verlangt zuzugeben, illegale Substanzen konsumiert oder verbreitet zu haben, und wollten weitere Personen genannt bekommen, die im Besitz von Drogen seien. 


    Die Situation erinnert zum Teil an das, was in Tschetschenien mit den Menschen geschah, die einer nichttraditionellen sexuellen Orientierung bezichtigt wurden. Diesmal aber ohne Mord und Totschlag: Jetzt setzt man auf das Androhen von besonders schwerwiegenden Strafparagraphen, auf Folter und per Video aufgenommene Geständnisse.


    Wochenlanges Verhör


    Am 14. August hatten zwei Polizeimitarbeiter in Zivil Magomed-Ali Meshidow vor seinem Wohnhaus auf der Bamat-Girej-Straße festgehalten, das offizielle Protokoll ist jedoch auf den 31. August datiert; am 2. September erließ das Gericht den Haftbefehl. Eine Woche lang verhörte man den 31-Jährigen, wer im Dorf Drogen konsumiere oder verkaufe, und schlug mit einem Metallverbundrohr auf ihn ein. Am 20. August willigte Meshidow ein, das Geständnis zu unterschreiben, aber man ließ ihn trotzdem nicht frei, sondern wartete, bis die Spuren der Schläge nicht mehr zu sehen waren.
    Zusammen mit Magomed-Ali wurde auch sein Bruder Magomed-Sidik festgenommen: Er war zu Hause und wollte gerade los, um seine Kinder aus dem Kindergarten abzuholen, als ein Mann in Zivil in den Hof kam und ihn aufforderte, auf ein paar Worte mit vor das Tor zu kommen. Dort steckte man Magomed-Sidik in dasselbe Auto, in dem auch schon sein jüngerer Bruder saß, und brachte die beiden aufs Polizeirevier. 


    Die Polizisten sagten, wenn ich nicht gestehe, würde man mir einen ‚terroristischen Akt‘ anhängen

    „Im Büro waren mehrere Mitarbeiter, die mir sagten, ich hätte keine Wahl, ich würde sowieso gestehen, sonst würde man mir einen ‚terroristischen Akt‘ anhängen oder eine Klage wegen der Mitgliedschaft in einer ‚illegalen bewaffneten Organisation‘, und dann könnte man mit mir sowieso alles machen, was man will“, berichtet Magomed-Sidik in seiner Strafanzeige. Genau wie sein Bruder wurde er mithilfe von Klebeband und Handschellen so lange gefesselt und gefoltert, bis er das Geständnis unterschrieb.


    Schließlich wurde Magomed-Ali zur Last gelegt, am 20. August gut 16 Gramm Marihuana für 1000 Rubel [ca. 14 Euro – dek] verkauft zu haben (für diesen Drogendeal gibt es keine Videobeweise, nicht einmal markierte Geldscheine kamen zum Einsatz). Magomed-Ali hat seine Ware dabei deutlich unter Wert verkauft: Aus einem Bericht des Amtes für Rauschgiftkontrolle beim tschetschenischen Innenministerium geht hervor, dass man 2016 für ein Gramm Marihuana durchschnittlich 600 Rubel hinlegen musste [ca. 8,50 Euro – dek].


    Seinem Bruder wird der Besitz von fast 128 Gramm Marihuana vorgeworfen, die man am selben Tag bei der Körperkontrolle gefunden haben will und die er, so heißt es im Ermittlungsprotokoll, im August 2016 für den Eigengebrauch gekauft habe. 

    Die Strafverteidigung besteht darauf, dass die Fälle gefaked seien, allein, weil die Meshidow-Brüder am 20. August bereits seit einer Woche in Untersuchungshaft saßen. Beweise dafür gibt es reichlich: Mindestens zwei Nachbarn können die Festnahme bezeugen; Magomed-Sidiks Frau hat den beiden zwei Wochen lang Essen gebracht und ihre Wäsche gewaschen; aufgrund der Folter bekam einer der Brüder eine Nierenentzündung, weswegen ein Rettungswagen kommen musste. Nicht zuletzt nennt die Verteidigerin Marina Dubrowina in ihrem Antrag an den Ermittlungsrichter die Namen von vier Mitinsassen, die gesehen haben, wie man die Brüder geschlagen hat.


    Zeugen werden eingeschüchtert

    Die Meshidows befinden sich im Moment in U-Haft und warten auf die Verhandlung. Zeugen, die den Fakt ihrer Entführung bestätigen könnten, seien von den Kriminalbeamten eingeschüchtert worden, berichtet Anwältin Dubrowina. Sie selbst habe sich mehrfach von den Mitarbeitern der Rechtsschutzorgane anhören müssen, sie hätten „so Anwälte schon gesehen“, die mit der „besonderen tschetschenischen Mentalität“ und den Feinheiten der Strafverfolgung in der Republik nicht vertraut seien, aber sobald man ihnen „alles verständlich erklärt“ hätte, wären die bald wieder nach Hause gefahren. Zu guter Letzt wurde Dubrowina, ob spaßeshalber oder im Ernst, von einem der Richter ans Herz gelegt: „Wie wäre es mit Personenschutz, Marina Alexejewna.“


    „Unsere Parole lautet: Drogensucht und Terrorismus sind gleichwertige Übel!“, sagte Ramsan Kadyrow im September 2016. Ihm zufolge sei Tschetschenien, was das angeht, eine der sichersten Regionen denn in der Teilrepublik würden weder illegale Substanzen hergestellt noch führten die Apotheken Psychopharmaka. „Aber sie werden von außerhalb eingeschleust und an Heranwachsende und junge Leute verkauft. Unsere Aufgabe muss es sein, diese Kanäle zu kappen und die Jugend vor diesem üblen Einfluss zu retten“, fügte der Republikchef hinzu. 


    Abknallen! Habt ihr verstanden? Salam Aleikum – Problem gelöst!


    Wenige Tage später berichtete die Novaya Gazeta von einer Konferenz zum Kampf gegen die gestiegene Zahl der Verkehrstoten und gegen den Drogenkonsum. „Wer in der Tschetschenischen Republik Ärger macht, wird verdammt nochmal abgeknallt. Gesetz hin oder her, was bedeutet das schon … Abknallen! Habt ihr verstanden? Salam Aleikum – Problem gelöst! Das ist das Gesetz!“, hatte Kadyrow damals in Anwesenheit von örtlichen Silowiki, Staatsbeamten und Vertretern der Geistlichkeit gesagt. Der Mitschnitt wurde in den 7-Uhr-Nachrichten im TV-Kanal Grosny  ausgestrahlt, aber aus nachfolgenden Beiträgen wurde dieser Teil des Auftritts herausgeschnitten. Die Staatsanwaltschaft behauptete später, die Worte Kadyrows seien aus dem Zusammenhang gerissen worden: „In dem Ausschnitt ging es darum, dass Drogen- und Rauschgiftsüchtige sehr empfänglich sind für die Verlockung von terroristischen Aktivitäten.“


    Mahnrede vor 700 Menschen

    Seit ein paar Jahren bekämpft Kadyrow das Drogenproblem mithilfe des Glaubens: Im März 2015 legten in der Achmat-Kadyrow-Moschee 300 Menschen vor ihm Buße ab, und im Herbst 2016 hielt er im Amphitheater von Grosny eine Mahnrede vor 700 Menschen. Derartige Veranstaltungen führt auch der stellvertretende Vorsitzende des tschetschenischen Innenministeriums Apti Alaudinow durch. Und manche Drogensüchtige fängt Kadyrow fast höchstpersönlich.

    Die aktuelle Anti-Drogen-Kampagne ist ähnlich umfassend: Seit mehreren Monaten schon laufen Festnahmen quer durch die Region. Den Startschuss gab ein Treffen mit der Spitze des tschetschenischen Innenministeriums am 12. August. Damals hatte Kadyrow bekanntgegeben, dass ein Einsatzstab zur Bekämpfung des Drogenproblems eingerichtet wird.


    Urteile nach dem immer gleichen Muster

    Republic hat sich 67 Urteile näher angesehen, die seit August 2017 von tschetschenischen Gerichten in Verbindung mit Drogendelikten gesprochen wurden und die allesamt auf dem Internet-Portal des automatisierten staatlichen Systems Prawosudije (dt.„Rechtssprechung“) öffentlich zugänglich sind. Die Urteilsverkündungen haben einiges gemeinsam. In allen Fällen hatte der Angeklagte einige Blätter von wildwachsenden Cannabispflanzen abgeschnitten und getrocknet. Die Polizei entdeckte die verbotene Substanz, als der Angeklagte sich bei einer Routinekontrolle nicht ausweisen konnte und auf die Wache gebracht wurde, wo man im Zuge einer Durchsuchung das Marihuana fand und konfiszierte. In Einzelfällen wurde der Verdächtige während eines Kontrolleinkaufs festgenommen. Absolut alle Beschuldigten waren geständig, und ihre Fälle wurden fast ausschließlich in Spezialverfahren verhandelt.

    Ein Informant von Republic, der den regionalen Rechtsschutzorganen nahesteht, erklärt, dass die meisten Verhafteten gezwungen würden, Videobotschaften aufzunehmen, in denen sie zugeben, regelmäßig illegale Substanzen zu konsumieren. Wenn jemand sich weigere, vor der Kamera auszusagen, würde man ihn mit Drohungen und Gewalt dazu bringen. Die meisten dieser Fälle hätten sich Ende Oktober bis Anfang November 2017 ereignet, so der Informant.


    „Die Rechtsschutzorgane haben freie Hand, weil sie wissen, dass sie einen Befehl ausführen“, betont ein anderer Gesprächspartner, der Verbindungen zu den obersten Sicherheitskreisen hat. 


    Betroffene holen sich nur selten Hilfe


    Einen praktischen Nutzen hätten die Videogeständnisse nicht, sagt ein dritter Informant. Ihm zufolge würden die Mitarbeiter der Polizei diese Videos wahrscheinlich brauchen, um später vor ihren Vorgesetzten und vor Kadyrow selbst Rechenschaft ablegen zu können. Diese Funktion haben die Videobotschaften auch für die Vorsitzende des Zentrums für Konfliktforschung und -prävention Jekaterina Sokirjanskaja. Darüber hinaus, sagt sie, könnten die Videoaufnahmen im regionalen Fernsehen gezeigt und als Belastungsmaterial eingesetzt werden. Sokirjanskaja merkt an, dass sowohl Anti-Drogen-Kampagnen als auch Anwendung von Gewalt bei Verhören in Tschetschenien keine Seltenheit seien. Die Betroffenen würden sich jedoch nur selten an Journalisten oder Menschenrechtler wenden und die Folter thematisieren.


    ***

    Nicht nur einfache tschetschenische Bürger geraten im Zuge der Anti-Drogen-Kampagnen ins Visier der Rechtsschutzorgane. So hielt die Polizei am 9. Januar auf der Landstraße zwischen Kurtschala und Oischara bei einer Verkehrskontrolle Ojub Titijew an, den Leiter des Memorial-Büros in Grosny. Er wurde festgenommen, und das Innenministerium erklärte, in seinem Pkw sei ein Päckchen gefunden worden, dessen Inhalt „spezifisch nach Marihuana gerochen und ca. 180 Gramm gewogen“ habe. Titijew selbst sagte vor Gericht aus, die Drogen seien ihm untergeschoben worden: Dafür mussten die Polizeibeamten zusammen mit dem Menschenrechtler zur Landstraße zurückkehren, um in Anwesenheit von Zeugen das Protokoll über die Festnahme aufzunehmen. Die Mitarbeiter des Innenministeriums hätten versucht, Titijew zu einem Geständnis zu bewegen, und ihm damit gedroht, dass man andernfalls gegen seinen Sohn ein Verfahren wegen „Mitgliedschaft in einer illegalen bewaffneten Organisation“ einleiten würde.

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  • Gefühlt Alternativlos

    Gefühlt Alternativlos

    Vergangene Woche, am 6. Dezember, kündigte Wladimir Putin an, was quasi schon jeder wusste, dass er bei der Präsidentschaftswahl 2018 kandidieren wird. Kurz vorher war Russland wegen Dopings von den Olympischen Spielen ausgeschlossen worden. Nachweislich nicht belastete russische Sportler können teilnehmen, allerdings unter neutraler Flagge.

    Für Maxim Trudoljubow ist kein Zufall, dass beide Ereignisse nah beieinander lagen. Das analysiert er auf Republic – und den Umgang des Staates mit der Wahrheit.

    Viele erinnern sich noch an die Zeit, als die Wahrheit noch etwas bedeutete. In den 1980er Jahren konnte eine neue Erkenntnis – eine Publikation, die wenig Bekanntes der Öffentlichkeit zugänglich machte – zum Thema einer landesweiten Diskussion werden. Ähnliches geschieht auch heute noch, aber nur in sehr kleinem Maßstab, sicher nicht mehr im ganzen Land. In den Ereignissen der letzten 30 Jahre offenbaren sich Nervenzusammenbrüche und emotionale Schwankungen im Verhältnis der Gesellschaft zu jener ungreifbaren Wirklichkeit, die sich unter dem erstaunlichen russischen Wort Prawda – „Wahrheit“ – verbirgt.

    Der Umgang des Staates mit der Wahrheit

    Gerade kürzlich war es wieder angebracht, sich das ins Gedächtnis zu rufen, angesichts Olympiade und Doping, und davor zum Beispiel, als das Passagierflugzeug über der Ukraine vom Himmel geholt wurde, und in all den anderen Fällen von aktiver staatlicher Arbeit an den Fakten. Nun, der Umgang des Staates mit der Wahrheit wird wohl auch für die nächsten mindestens sechs Jahre ein aktuelles Thema bleiben, denn der „Chefredakteur“ der Arbeit mit Informationen in der Russischen Föderation hat gerade erklärt, für eine weitere Legislaturperiode zu kandidieren.

    Symbolisch ist der Zeitpunkt, der für die Erklärung der Kandidatur gewählt wurde. Nicht auszuschließen, dass das mit Absicht geschah, um auf diese Weise die aufgeflammte Debatte über den Ausschluss der russischen Staatsdiener vom Sport einzudämmen. Wenn dem so ist, dann wäre das nur ein weiterer manipulativer Zug von tausenden, aus denen die vergangenen 18 Jahre unter Wladimir Putin bestehen und alle noch kommenden bestehen werden.

    Die Entdeckung, dass es so etwas wie PR gibt

    Irgendwo tief vergraben unter all den Ereignissen der letzten zwei Jahrzehnte liegt eine Entdeckung Putins und der Leute in seinem Umfeld. Sie entdeckten, dass es auf der Welt so etwas wie PR gibt, eine Erfindung der gewieften Amerikaner; dass man Informationen auch manipulieren kann, anstatt sie einfach zu unterschlagen und direkte Propaganda zu betreiben, so wie zu Zeiten der UdSSR.

    Jemand, der, sagen wir, 1952 geboren ist, wie eben dieser neue russische Präsidentschaftskandidat zum Beispiel, jemand, der den damaligen ideologischen Kampf unmittelbar miterlebt hat, musste irgendwann zu der Einsicht gelangt sein, dass seine sowjetischen Vorgesetzten alte Idioten waren. Erst haben sie das ausgediente System der Zensur ad absurdum geführt und dann alle Schleusen auf einmal geöffnet. Währenddessen haben die Feinde – langsam, aber stetig – mit den Mitteln von PR, Marketing und Merchandising gearbeitet. Und gesiegt. Man hätte also schlauer sein müssen, PR lernen.

    Der lacht am meisten, der am besten lügt

    Schlauer sein wollten damals vermutlich alle. Der Unterschied bestand darin, was man unter „Schlauheit“ verstand. Der Weg, den die Gesellschaft als Ganzes und einzelne ihrer Mitglieder zurücklegen mussten (vor allem die, die beruflich damit zu tun hatten), war hart. Es war der Weg weg von der Enttäuschung durch die Zensur hin zu einem aufrichtigen Glauben an die Macht der empirischen Wahrheit – und dann hin zu einer neuen Enttäuschung und Erkenntnis: Dass Information zum Gegenstand von Manipulation werden kann. Dass der am meisten lacht, der am besten lügt und daran verdient. Natürlich denken nicht alle so, aber die, die so denken, sind sehr einflussreich.

    Den Weg von der Hoffnung in die Hoffnungslosigkeit beschreibt die Anthropologin Natalia Roudakova, Autorin des Buchs Losing Pravda: Ethics and the Press in Post-Truth Russia in einer jüngst erschienenen Untersuchung zur postsowjetischen Presse folgendermaßen: Zu Zeiten der späten Sowjetunion hätten Journalisten sich als die humanste unter den staatstragenden Stützen gesehen, erklärt Roudakova unter Bezug auf Interviews und das jahrelange Eintauchen in die Journalistenkreise von Nishni Nowgorod. Vor der Perestroika hielt man sich für einen Hort der Humanität in der sowjetischen Welt, für die letzte Hoffnung des kleinen, von der Bürokratie verprellten Mannes.

    Der Weg zum Zynismus

    Während der Perestroika verinnerlichte man eine neue Metapher, die die Rolle der Presse beschrieb – „die vierte Macht“. Journalisten sahen sich als Träger progressiver Werte, als Intellektuelle der Öffentlichkeit, die der Gesellschaft Orientierungspunkte boten. Gegen Ende der 1990er Jahre änderte sich die Leitmetapher wieder – nun war man „das zweitälteste Gewerbe der Welt“. Schon gegen Mitte der 1990er taucht in den Gesprächen immer häufiger das Wort „Verkäuflichkeit“ auf. Und zu Beginn der 2000er war es in Nishni Nowgorod weit verbreitet, Journalismus für „politische Prostitution“ zu halten.

    Im Folgenden entwickelte sich die Stimmung Richtung Zynismus. (Es sei kurz angemerkt, dass ich persönlich mich auch an andere Orientierungspunkte erinnere. Das Gefühl einer vergifteten Atmosphäre in der Medienbranche war Ende der 1990er sicher da. Als die Zeitung Vedomosti 1999 gegründet wurde, wurden nur in Ausnahmefällen Leute mit Arbeitserfahrung aus anderen Medien eingestellt. Dasselbe galt für alle neuen Projekte, die sich auf die Fahne geschrieben hatten, zum Vorbild hoher professioneller Standards zu werden. Für mich persönlich waren die 2000er Jahre und der Anfang der 2010er Jahre eine Zeit der aufrichtigen Wahrheitssuche, allerdings ohne irgendwelche Illusionen oder das Gefühl einer höheren Mission.)

    Der allgegenwärtige Zynismus – das ist eine der Errungenschaften der Regierung Wladimir Putins. Unter ihm einen anderen Zustand der Gesellschaft zu erwarten, ist sinnlos: Putin zu wählen heißt, dasselbe wieder zu wählen, nur in verstärkter Form. Für die Elite ist es ein „Zynismus der Herrschaft“, die Einsicht, dass man zum eigenen materiellen Nutzen alles manipulieren kann, was sich bewegt. Und begrenzt ist diese Herrschaft einzig durch Repressionen, die von anderen ebensolchen Mitspielern organisiert werden.

    Für die Mehrheit der Bürger ist es ein „Zynismus der Benachteiligten“, ein Zynismus der Zurechtgewiesenen, ein Zynismus derer, die die Wahrheit kennen, für die sich dieses Wissen jedoch als bitter erweist. Es ist die Wahrheit von Bediensteten, die hinter dem Rücken der Herren tuscheln. Die Dissidenten der 1980er Jahre lachten über die Lügen der Diktatoren. Putin erinnert sich gut daran und tut deshalb alles dafür, dass in seinem postmodernen Imperium nicht die Lüge das Komischste ist, sondern die Wahrheit.

    Das Gefühl, nichts ändern zu können

    Natürlich ist er nicht uneingeschränkt erfolgreich, und dieser Zustand hat sich in seiner Schwere nicht auf die gesamte Gesellschaft verbreitet: Bei Weitem nicht alle sind zu Zynikern geworden. Es gibt viele Inseln positiven Schaffens, das ohne eine gesunde Portion Idealismus unmöglich wäre. Doch das Gefühl, nichts grundlegend verändern zu können, überwiegt. Wichtig ist, dass es sich nur um eine Wahrnehmung, um ein Gefühl handelt. Es entsteht ganz natürlich aus dem Führungsansatz, den Putin gewählt hat (nicht erfunden) und der auf dem Manipulieren von Information und Ressourcen gründet.

    Der Glaube an die Allmacht von PR und Marketing hat seinen Ursprung irgendwo in den 1990ern. Er gesellt sich in dieser Weltsicht zu dem Unglauben an die Eigenständigkeit der Bürger, an ihre Schaffenskraft. Nicht einmal schnell rennen und Sportrivalen besiegen können sie – sie müssen gedopt werden. Selbstständig Geld verdienen können sie auch nicht – deshalb kann man nur kleine Summen an sie verteilen, das Eigentum ist in den Händen des Staates konzentriert. Und wählen können sie ebenfalls nicht.

    Die Idee der Manipulation widerspricht der Idee des Erschaffens, denn Manipulation ist das bloße Hin- und Herschieben von bereits Vorhandenem. Von den einen nehmen, den anderen geben.

    Die Kehrseite der zum Prinzip erhobenen Manipulation ist der Unglaube an die Fähigkeit der Menschen, ihr eigenes Land zu verändern, seine Entwicklung mitzugestalten, nicht bloß beim Überleben mitzuhelfen. Bewegungsunfähigkeit und existenzielle Skepsis – das ist nicht die offensichtliche, aber die wichtigste Seite von Putin als Politiker.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Oktoberrevolution: Erbe ohne Erben

    Oktoberrevolution: Erbe ohne Erben

    100 Jahre Revolution: In Deutschland widmen sich dieser Tage und Wochen Zeitungen, Radio, TV und Kulturinstitute dem Jahrestag – das Jubiläum der Oktoberrevolution findet einen adäquaten Programm-Platz. Und in Russland? Wird die Oktoberrevolution behandelt wie ein „Stiefkind“.

    Auf Republic zeigt Sergej Schelin den komplexen gesellschaftlichen Hintergrund dieser Leerstelle auf.

    Der Oktober dieses Jahres wird uns nicht als kollektives Besinnen auf die große Revolution in Erinnerung bleiben, die vor 100 Jahren die Geschichte des Landes umgewälzt hat. Einverstanden? In Erinnerung bleiben wird der Skandal um das Melodrama Matilda. Der kostümierte Schwank aus dem Leben des Thronfolgers und der Ballerina interessiert Russland im 21. Jahrhundert offenbar weit mehr als das Schicksal der eigenen Vorfahren.

    Die Revolution wird, einer intellektuellen Pflicht Gehorsam leistend, von der Intelligenz diskutiert, obwohl die sich eigentlich mehr um das Heute sorgt. Die russisch-orthodoxe Kirche verflucht die Revolution, denn nicht erst der Mord, sondern schon die Entthronung des heiliggesprochenen Zaren war ein Sakrileg. Die Staatsführung gemahnt unterschwellig boshaft, dass das Jubiläum ein hervorragender Anlass zur nationalen Versöhnung sei – und fügt auf jeden Fall hinzu, dass einem nicht sanktionierten Machtwechsel stets eine Verschwörung äußerer und innerer Feinde vorausgeht.

    Ein Kostümschwank interessiert Russland weit mehr als das Schicksal der eigenen Vorfahren

    Doch in den Köpfen der normalen Menschen hat die Revolution von 1917 keinen Platz. Und das liegt nicht nur daran, dass sie lang her ist und keine Augenzeugen mehr am Leben sind.

    Parteien, die auf jene zurückgehen, die einander 1917 oder im Vorfeld bekämpften, gibt es bei uns nicht. Lebendige Parteien gibt es bei uns heute eigentlich sowieso nicht. Aber auch in den 1990er Jahren, als es sie gab – war etwa damals auch nur eine Partei von Konstitutionellen Demokraten wie Miljukow und Nabokow inspiriert, oder meinetwegen von Sozialrevolutionären wie Tschernow oder Spiridonowa? Die postsowjetischen Politiker hatten mit den präsowjetischen absolut nichts zu tun. Dieses Erbe wollte keiner, nicht mal geschenkt. Und das war kein Zufall.  

    Sagen Sie, haben Sie oder Ihre Freunde Vorfahren, die Sozialrevolutionäre waren?

    Sagen Sie, haben Sie oder Ihre Freunde Vorfahren, die Sozialrevolutionäre waren? Ich vermute, wenige würden diese Frage bejahen. Dabei war die Partei der Sozialrevolutionäre 1917 die stimmenstärkste Partei. Mit ihrer legendären Vergangenheit in der Narodnaja Wolja, mit einer Million Aktivisten (ein Vielfaches der Bolschewiki) und mit massenhafter Unterstützung der bäuerlichen Wählerschaft erhielten die Sozialrevolutionäre die Mehrheit in der Verfassunggebenden Versammlung und hätten rein rechtlich das Land regieren müssen. Doch die Verfassunggebende Versammlung wurde zunächst von den Bolschewiki gesprengt, ihre Überreste ein Jahr später von General Koltschak.

    Die ersten zwei Jahrzehnte wurden die Sozialrevolutionäre von der Sowjetmacht systematisch verfolgt – zuerst die im Untergrund, dann die, die sich aus der Politik zurückgezogen hatten, und schließlich die, die sich zu den Bolschewiki gesellt hatten.

    Ebenso gründlich wurden ehemalige Weiße, ehemalige vorrevolutionäre und revolutionäre Bürgeraktivisten jeglicher nicht-bolschewistischer Couleur und überhaupt alle beseitigt, die nicht beweisen konnten, dass sie mit Leib und Seele auf die Seite der Sieger gewechselt waren.

    Der Terror tötete. In der ihn begleitenden Revolution qua Lebenslauf der 1920er und 1930er Jahre wurden massenhaft Biografien umgeschrieben. Eltern verbargen ihre Vergangenheit vor den eigenen Kindern, lebendiges Familiengedenken, das die Menschen mit der Geschichte viel stärker verbindet als jedes Lehrbuch, wurde fast gänzlich ausgelöscht.  

    Da ist schon lange niemand mehr, mit dem wir uns versöhnen könnten

    Seit Ende der 1980er Jahre bis zum heutigen Tag erklären sich findige Leute gern zu Adeligen, die kühnsten gar zu titelgeschmückten Aristokraten. Tatsächlich besteht das heutige Russland fast zu hundert Prozent aus Nachfahren von Roten und solchen, denen es gelang, mit ihnen zu verschmelzen. Echte Nachfahren von Weißen dagegen oder einfach Antibolschewiki, die sich die Erinnerung an ihr Weißsein und den Antibolschewismus über Generationen hinweg bewahrt haben, gibt es sehr wenige.

    Die „Versöhnung“, von dem die staatlichen Stimmen sprechen, ist eine fade und geistlose Show, die von zwei Mannschaften aus Clowns derselben Herkunft gespielt wird – die eine trägt rote, die andere weiße Kostüme. Natürlich gewinnt da die entzückende Matilda den Kampf ums Publikum. Die ist wenigstens unterhaltsam.      

    Zum echten Versöhnen gibt es also schon lange niemanden mehr. Aber das ist nur einer der Gründe, warum das Jahr 1917 dem Russland des 21. Jahrhunderts so unverständlich und so egal ist.

    Geschätzt werden bei uns vor allem siegreiche Regime und die Bedrohung durch Feinde von außen

    Auf der Champs-Élysées findet am Morgen des 14. Juli immer eine Parade statt, danach löst ein Vergnügen das andere ab, und am Abend werden die vom Feiern erschöpften Besucher mit einem Feuerwerk beglückt. Der Tag des Sturms auf die Bastille wurde erst Ende der 1870er Jahre, 90 Jahre nach dem historischen Ereignis, endgültig zum großen Feiertag gemacht – als die Dritte Republik ausgerufen wurde und sich ihres Ursprungs besann, wobei sie vieles darin korrigierte und umschrieb.

    Der Kult der Französischen Revolution lebt, weil man darin zu Recht ein Ereignis sieht, das die Welt verändert hat, und zudem einen überwältigenden Ausdruck des französischen Nationalbewusstseins. Den halbverrückten Text der Marseillaise muss man ja nicht unbedingt ergründen. Das Wichtige ist, sie gemeinsam anzustimmen.

    In ähnlichem Stil unsere Revolution und die daraus erwachsene frühbolschewistische Ordnung darzustellen, das ist weitaus schwieriger. Zuviel Vernichtung und zweifelhafte Siege über die Mitbürger hat es von 1917 bis Anfang der 1920er Jahre gegeben. 

    Ganz zu schweigen davon, dass fast alle bolschewistischen Helden, Kommandanten und Heerführer aus der Geschichte gelöscht wurden, zuerst als Trotzkisten, dann als Volksfeinde aller Art. Die nachträgliche Rehabilitation hat sie nicht zurück in Schlüsselpositionen gebracht.

    Was die Weißen angeht, waren Denikin, Koltschak und Wrangel von Anfang an nicht beliebt beim Volk und werden das auch nie sein. Das sind Vertreter fremder Klassen, die ihren Krieg verloren haben, dessen Ziele die einfachen Leute gar nicht verstanden haben. 

    Die Revolution von 1917 ist zu unserem historischen Stiefkind geworden

    Eine kohärente Vorstellung von den Geschehnissen 1917 hat der heutige Bürger Russlands nicht, und er hat auch kein Verlangen, sich eine zuzulegen. Das war sieben Jahrzehnte lang anders. Ein Volksfest zum 7. November im französischen Stil – nicht nur als Tag der Grundlegung von Regime und Staat, sondern auch als Ereignis, das die Welt veränderte – fand bis zum Jahr 1990 statt. Damals marschierte die letzte Revolutionsparade über den Roten Platz. Das Tempo, mit dem die Menschen diesen Feiertag vergaßen, sobald er kein offizieller mehr war, zeugt davon, dass er in ihren Köpfen längst nicht mehr verankert war. Der Zauber der Russischen Revolution entpuppte sich als bei weitem nicht so stabil wie jener der Französischen, obwohl eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den beiden nicht zu leugnen ist.

    Noch in den 1990er Jahren wurde zunehmend der 9. Mai als Tag der Staatsgründung begriffen, und dementsprechend Stalin als Gründervater. Das siegreiche Jahr 1945 wird in der Ära Putin zudem präsentiert als fortwährender Triumph des gegenwärtigen Regimes, das sich als Sieger eines Krieges darstellt, den es ja gar nicht gewonnen hat.

    Doch die grandiose Revolution, die von den ersten Monaten 1917 bis zum Ende des Bürgerkriegs dauerte, ist quasi aus dem willkommenen Lauf der Dinge gestrichen und zu unserem historischen Stiefkind geworden.

    Heute reicht dem Revolutionsjahr 1917 wohl nur die systemkritische linke Jugend die Hand

    Die Schwierigkeit besteht allein darin, dass gigantische Massen derer, die 1917 und in den Folgejahren sozial begünstigt waren, in den 1930er Jahren Opfer des Regimes wurden. Bauern, die sich im Sommer 1917 die Ländereien der Gutsherren teilen durften, wurden kollektiviert, entkulakisiert und tödlichen Hungersnöten ausgesetzt. Die revolutionäre Beamtenschaft, die hunderttausende frei gewordene Führungspositionen eingenommen hatte, wurde niedergemetzelt. In Beschuss geriet damals auch eine beachtliche Menge an Fachleuten, die ihre Spezialisierung dem Zugang zu Bildung verdankte, den die Revolution für die Massen ermöglicht hatte.

    Gegen Ende der Sowjetzeit gab es bei uns in verschiedenen Schichten relativ viele Menschen, die mit ihrer Lebenssituation durchaus zufrieden waren. Doch führten sie ihr Wohlergehen keineswegs auf die Taten ihrer Vorfahren im Revolutionsjahr 1917 zurück.

    Heute reicht dem Revolutionsjahr 1917 wohl nur die systemkritische linke Jugend die Hand. Von der gibt es wenige, aber es werden mehr. Und weil unser aktuelles Regime absolut alle seine ideologischen Ressourcen in die Konterrevolution steckt, wird die Zahl der 1917-Sympathisanten nicht nur von Trotzki-Sympathisanten aufgestockt werden, sondern noch von vielen anderen, die gegen dieses Regime sind.  

    Eine längst vergangene, komplett verschimmelte Geschichte kann plötzlich neue Mythen für die aktuelle Politik liefern

    Eine längst vergangene, man sollte meinen, komplett verschimmelte Geschichte kann plötzlich neue Mythen für die aktuelle Politik liefern. Das haben wir kürzlich in den USA beim Konflikt um die Denkmäler für Südstaaten-Generäle beobachtet. Derzeit befindet sich die Russische Revolution sozusagen im Alter ihrer geringsten ideellen Attraktivität. Doch nach historisch kurzer Zeit kann sie wieder Teil des nationalen Mythos werden. 

    Wo die Revolution nun Jubiläum hat, sollten wir über ihre Lehren sprechen. Das ist so üblich, auch wenn man aus der Geschichte bekanntlich keine Lehren ziehen kann. Trotzdem ist es ein netter Brauch.

    Man kann zum Beispiel daran erinnern, dass der Zarismus als Regime verurteilt war, und es ist klar, warum. In seinem letzten Jahrzehnt hatte er keine Chance mehr. An einer linken Revolution führte in Russland kein Weg mehr vorbei. Aber sie hätte nicht unbedingt so sein müssen, wie sie war. Das bei allen revolutionären Umschwüngen siegende Prinzip The Winner takes it all führte innerhalb weniger Jahre, schon gegen Ende 1918, zu einer totalitären Diktatur. Und der rückhaltlose Glaube der Sieger, dass die Geschichte auf ihrer Seite steht und bleiben würde, lockte sie in die historische Falle.

    In der Geschichte Russlands, die jetzt neu geschrieben und immer wieder umgeschrieben wird, gesteht man diesen Ereignissen einfach keinen Platz zu. In unserem heutigen Klima ist das logisch und nachvollziehbar. Morgen oder übermorgen wird man sich sehr darüber wundern.  

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Warum es unter Putin keine Reformen geben wird

    Warum es unter Putin keine Reformen geben wird

    Was ist der Unterschied zwischen einem Staat und einer Räuberbande? Diese Frage hat der Philosoph Augustinus im 5. Jahrhundert gestellt. Seine Antwort gehört zu den geläufigsten politikwissenschaftlichen Abgrenzungen: Es ist das Recht, was den Staat ausmacht; eine Räuberbande ist demgegenüber vor allem durch Willkür gekennzeichnet.

    Im Rechtsstaatlichkeits-Ranking von The World Justice Project besetzte Russland 2017–2018 Platz 89 von 113, weit abgeschlagen hinter Botswana oder Malawi beispielsweise. Viele russische Putin-Kritiker bemühen solche Afrika-Vergleiche, um auf Ungerechtigkeiten in der politischen Ordnung Russlands hinzuweisen. Sie sehen ihr Land kritisch als einen Selbstbedienungsladen für die politische Elite, vor allem für die Silowiki. Diese Amtspersonen, die in Sicherheitsorganen des Staates tätig sind, sind eigentlich mit der Ausübung des Gewaltmonopols betraut, um damit auch das Funktionieren des Rechtsstaats zu ermöglichen. Im Grunde würden viele von ihnen aber mehr einer Räuberbande gleichen, sodass es immer wieder zu willkürlichen Enteignungen komme, wie etwa im Fall Yukos, und es für Unternehmer keine Rechtssicherheit gebe. Ihre Argumentation untermauern Kritiker oft mit einem weiteren Ranking: Russland liegt auf Platz 138 von 180 im Korruptionsindex von Transparency International.    

    Unter Putin nahm die Zahl und die Bedeutung der Silowiki stetig zu. Viele Wissenschaftler sehen in dieser Elitengruppe sogar das Rückgrat des sogenannten System Putin. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahl diskutieren sie nun vermehrt, was Putin tun kann, um die langanhaltende Stagnation zu überwinden. Auf Republic stellt auch der Wirtschaftswissenschaftler Dimitri Trawin die Frage: Da es offenbar kaum andere Möglichkeiten gibt, die Wirtschaft anzukurbeln, „könnte es da nicht vielleicht sein, dass Putin wenigstens jene zügelt, die über die Unternehmen herfallen“?

    Revolution, Evolution oder doch Stillstand –  wie groß ist Putins Reformwillen? / Foto © Marco Fieber/flickr.com
    Revolution, Evolution oder doch Stillstand – wie groß ist Putins Reformwillen? / Foto © Marco Fieber/flickr.com

    In den vergangenen Monaten, als klar wurde, dass es keine ernsthaften Reformen geben wird, nicht einmal nach den „Putin-Wahlen“ im März 2018, ist unter Optimisten die „Theorie der kleinen Dinge“ immer populärer geworden. Diese besagt im Wesentlichen, dass man das System in winzigen Schritten transformieren kann. Beispielsweise könne Putin dazu bewegt werden, die Willkür der Sicherheitsbehörden zu zügeln. Schließlich sprechen Wirtschaftsfachleute seit langem davon, dass Eigentum in Russland schutzlos ist, und dass die Überfälle auf Unternehmen für das Investitionsklima in Russland verantwortlich sind – das schlechter ist als das Märzwetter in St. Petersburg. Die Überfälle werden weniger von Banditen unternommen, als vielmehr von Leuten, die offiziell vom Staat zu unserem Schutz abgestellt werden. Wenn man die zügeln würde, dann bekäme das Land mir nichts dir nichts das Kapital, das es für eine Entwicklung braucht.

    Die „Theorie der kleinen Dinge“

    Die „Theorie der kleinen Dinge“ geht davon aus, dass Putin nicht auf sein Machtmonopol verzichten wird. Dass er sich nicht mit dem Westen versöhnen wird, weil er die Krim nicht herausrückt. Dass er die Bildung nicht fördern wird, weil er dafür kein Geld hat. Dass er nicht auf Importsubstitution verzichten wird, weil das ein Gesichtsverlust wäre.

    Könnte es da nicht vielleicht sein, dass er wenigstens jene zügelt, die über die Unternehmen herfallen? Dass das Regime zwar autoritär und autark bleibt, aber auch effektiver wird? Und wenn dieses Zwischenergebnis erreicht ist, würde das zu einem Meilenstein auf dem großen Weg zur Freiheit – weil wir noch nicht so weit seien, um diesen Weg gänzlich zu bewältigen.

    Derzeit ist allen – denen dort oben wie jenen unten – klar, dass Russland den Pfad einer lange währenden Stagnation eingeschlagen hat. Wie in dieser Situation die Macht gesichert wird und Wahlen gewonnen werden, wie das Volk „glücklich“ zu machen ist, auch wenn der Gürtel etwas enger geschnallt werden muss – dafür sind die Mechanismen bereits etabliert. 

    Die Rolle der Silowiki

    Für die Umsetzung dieser Strategie, die sich in etwa seit 2014 verfestigt hat, sind die Silowiki von immenser Bedeutung. Denn sie sind für einen Autokraten, der seine Macht realistisch einschätzt, sehr viel wichtiger, als illusorische Wünsche, die Wirtschaft mit Hilfe von Reformen wieder auf die Beine zu bringen. Die Silowiki existieren hier und jetzt. Sie sind durchschaubar, zugänglich und wohl motiviert. Ob die Wirtschaft aber am Gängelband der Silowiki wachsen wird, ist die große Frage. Was man allerdings sicher sagen kann, ist, dass angesichts aller für unsere Entwicklung höchst ungünstigen Umstände (Sanktionen, strukturelle Schieflagen, Kapitalflucht) die Wirtschaft selbst im besten Falle kaum jenes denkwürdige Wachstum von sieben Prozent des BIP erreichen wird – wie in den 2000er Jahren, als das Wachstum einen realen Einkommenszuwachs erzeugte und Putin eine aufrichtige Liebe des Volkes einbrachte. Wer würde in einer solchen Situation schon auf die Wirtschaft setzen, und nicht auf die Silowiki?

    Logik des Überlebens

    Es gibt allerdings ein Detail. Könnte es nicht sein, dass die Silowiki dermaßen außer Kontrolle geraten, dass sie die Stagnation zu einer Rezession machen, zu einer Rezession, die unabsehbar lang anhält, vernichtend wirkt und breite Bevölkerungsschichten auf ein Lebensniveau vor dem Maidan zurückwirft? Könnte es nicht passieren, dass sich die Silowiki von „stationären Banditen“ (nach Mancur Olson) zu „umherziehenden Banditen“ mausern? Dass sie endgültig auf Russland pfeifen, selbst auf Russland als ihren „Beute-Raum“, dass sie aus Russland alle Lebenssäfte absaugen und mit ihren Geldern in den Westen emigrieren, der günstige Lebensbedingungen bietet, und wo sich Millionen wohl versorgter ehemaliger Landsleute niedergelassen haben?

    Sollten die Dinge derart liegen, folgt daraus, dass bei einem Machterhalt der Silowiki sogar einem nicht wohlmeinenden Autokraten Gefahr droht. Er daselbst kann ja nicht emigrieren, da er eine allzu sichtbare Figur ist, die in der Weltpolitik keine geringen Spuren hinterlassen hat, und der bei vielen westlichen Richtern und Staatsanwälten den Wunsch geweckt hat, irgendeinen aufsehenerregenden Prozess anzustrengen. In Russland selbst erwartet ihn früher oder später eine soziale Explosion.

    Eine solche Entwicklung ist tatsächlich in einem gewissen Maße wahrscheinlich. Аllerdings hält die überwiegende Mehrheit der qualifizierten Wirtschaftsexperten nicht einen völligen Zusammenbruch, sondern Stagnation für die wahrscheinlichste Entwicklungsperspektive Russlands. 
    Heute weist kaum etwas darauf hin, dass der Lebensstandard künftig derart stark absinken könnte, dass die Leute von außenpolitischen Abenteuern und geistigen Klammern enttäuscht wären.

    Das eskalierende Vorgehen der Sicherheits- und Polizeibehörden, das – den Festnahmen von Gouverneuren und den innerelitären Konflikten nach zu urteilen – in unserem Land tatsächlich stattfindet, betrifft eher die Machtgruppen, nicht die Bevölkerung insgesamt. Im Zuge dieser Konflikte werden die eher schwächeren Silowiki ausgeschaltet, wodurch die Ressourcen dann bei einer nun kleineren Zahl von „Banditen“ konzentriert sind.

    Eine solche Art der Krisenbewältigung ist leicht zu erklären: Technisch gesehen ist es sehr viel einfacher, einem anderen „Banditen“ an die Kehle zu gehen und leicht zugängliche, höchst liquide Ressourcen abzuschöpfen (Bankguthaben, Unternehmensaktien, Staatspapiere, Luxus-Immobilien). Schwieriger wäre es, bei der verarmten Bevölkerung und den Kleinunternehmen (die in die Schattenwirtschaft abtauchen) kärgliche Beträge herauszupressen, indem man die Besteuerung „optimiert“, die Repressionen gegen säumige Steuerzahler verschärft und so einen Maidan der Enttäuschten riskiert.

    Putin gegen die Putinisten?

    Neben der wirtschaftlichen Hypothese, die erklärt, warum sich ein Autokrat mit den Silowiki anlegen sollte, gibt es auch eine politische: Diesem Ansatz zufolge sollte Putin die Putinisten an die Leine nehmen, weil sie bald für ihn selbst gefährlich werden könnten.

    In letzter Zeit ist immer häufiger zu hören, dass unser Präsident eine „lahme Ente“ sei (trotz seines garantierten Wahlsiegs 2018), da er den Kreml nach 2024 verlassen muss. Immer häufiger wird auch darüber geredet, dass Putin in Wirklichkeit bereits jetzt an realer Macht verliere und die Silowiki in einer Reihe von Fällen schon ohne Putins Genehmigung handelten, etwa bei der Verhaftung von Alexej Uljukajew.

    Thesen dieser Art sind allerdings sehr zweifelhaft. Eliten verschwören sich nur dann gegen den Autokraten, wenn sich durch dessen Verbleib im höchsten Staatsamt mehr Nachteile als Vorteile ergeben. Bei uns liegt der Fall eindeutig anders. Die Nachteile werden zwar ganz offensichtlich und zügig größer, wegen der Sanktionen, des Kapitalabflusses und der sinkenden Reputation des Landes. Der Vorteil besteht aber ganz eindeutig darin, dass Putin in der Lage ist, Präsidentschaftswahlen mit Leichtigkeit zu gewinnen und das Regime unter minimalem Kostenaufwand zu erhalten. In diesem Regime können die unterschiedlichen Angehörigen der Elite (einschließlich der Silowiki) ihre Einnahmen vermehren, indem sie die nationalen Ressourcen verwerten und ihre Mittel ins Ausland schaffen. Dort lassen sie sich dann nieder, während in Russland alles vor die Hunde geht. Diese Strategie ist optimal für sie, und so haben sie keinerlei Absichten, sich auf gefährliche Spiele mit Staatsstreichen einzulassen.

    Folglich kann man Putin nur schwerlich mit den Silowiki schrecken. Kopfschmerzen bereiten diese Leute natürlich reichlich, doch hat der Präsident sehr wohl die jüngste Geschichte des Landes in Erinnerung: Reformer bedeuten für Autokraten sehr viel größere Probleme. Der Autokrat weiß: Wenn du deine Macht erhalten willst, dann solltest du in keinem Fall Reformen anstoßen, und schon gar keine wirtschaftlichen. Schließlich sind Michail Gorbatschow und Boris Jelzin gescheitert, weil sie übermäßig bestrebt waren, die soziale Ordnung zu transformieren. Die befand sich so gerade eben noch im Lot und setzte eher der breiten Bevölkerung zu, denn den Angehörigen der Elite. Erstere musste versuchen, Nahrungsmittel ohne Schlangestehen zu ergattern, während letztere über spezielle Versorgungsstellen, staatliche Datschen, eigene Autos und andere Annehmlichkeiten verfügten, mit denen sich das armselige sowjetische System ertragen ließ.

    Reformen wird es unter Putin nicht geben. Weder kleine, noch große. Weder radikale, noch übergangsweise. Nur imitierende und adaptierende. Einfacher gesagt: Sie könnten zum Beispiel eine Steuerreform verkünden, dabei ein oder zwei Steuern senken und das im Fernsehen herumposaunen, gleichzeitig aber die übrigen Steuern derart anheben, dass die Abgabenlast und die Haushaltseinnahmen steigen. Schließlich wird man ja das Haushaltsdefizit irgendwie ausgleichen müssen, wenn alle Reserven aufgebraucht sind.

    Aktualisiert am 29.01.19

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  • (K)ein Abgesang auf Europa

    (K)ein Abgesang auf Europa

    Abgesang auf Europa: Nach dem illegalen Referendum in Katalonien kündeten einige Kommentatoren in staatlichen russischen Medien vom nahenden Ende der EU – sie zerfalle bald, wie auch einst die UdSSR zerfallen sei.

    Derartiges Medien-Echo hält Andrej Archangelski für „Propaganda unterm Deckmantel des Journalismus“. Auf Republic argumentiert er gegen solche Vergleiche und Untergangsszenarien – und für Europa.

    Das Referendum in Katalonien – wie eigentlich jede Krise in Europa, den USA oder der Ukraine – gibt der russischen Propaganda so etwas wie ihren Lebenssinn. Die Intonation der Staatsmedien wird in den letzten Jahren mehr und mehr Teil des Know-how: Man hat gelernt, jede Wunde aufzukratzen, aufzureißen und die Einzelheiten des fremden Fehltritts, der fremden Tragödie auszukosten. Und das alles unter dem Deckmantel der „objektiven Berichterstattung“ oder gar des „Mitgefühls“ .

    Mitte August brachte der Moderator einer Radiosendung bei Vesti FM einen Mitschnitt vom grauenerregenden Geschrei der Menschen, die während des Terroranschlags von Barcelona in Panik auseinanderstoben, und kommentierte sie mit den Worten: „Hört her, so klingt das wundervolle Europa.“
    Am 3. Oktober fragte eine andere Moderatorin des Senders den Sportkommentator: „Sagen Sie, wenn sich Katalonien abspaltet, unter welcher Flagge nimmt es dann an der Fußball-WM teil?“ Die Unschuld und das Alltägliche dieser Phrase vermittelt einzig die Botschaft: „Wir hätten gern, dass es so ist.“ 
    So war es schon beim Referendum in Schottland, während der Wahlen in den USA, in Frankreich und den Niederlanden und erst recht während der Flüchtlingskrise.

    Propaganda unterm Deckmantel des Journalismus

    Das ist Propaganda auf niedrigstem Niveau, unter dem Deckmantel des Journalismus. Ihr Überbau ist die „Analytik“, die dem Gefühlsausbruch den Anschein von Argumentation und Tiefsinn verleihen soll. Eine ihrer grundlegenden Thesen sieht heutzutage so aus: „Die EU wiederholt das Schicksal der UdSSR.“ Auf diesem Vergleich gründen alle möglichen „Beweise“ für einen „Zerfall der Europäischen Union“ und das Referendum in Katalonien als seinen ersten Vorboten.

    Der Politikexperte Fjodor Lukjanow zum Beispiel sagte in einem Radiokommentar zu den Ereignissen, das Geschehen in Katalonien erinnere an die „Zeiten der späten Sowjetunion mit seinen Souveränitätsparaden“. Ein anderer Fernsehkopf und Dauergast in analytischen Talkshows, Vitali Tretjakow, beruft sich auf Zahlenmagie als Argument: „Sie [die Staatenbündnisse] haben eine Lebenserwartung von 50 bis 70 Jahren, das zeigt die Geschichte, doch genauer ausführen will ich das jetzt nicht. […] Beobachten können wir das anhand der Europäischen Union, deren letztes Jahrzehnt jetzt läuft.“

    Vermeintliches „Naturgesetz“: Imperien zerfallen

    „Imperien zerfallen“, so schlussfolgern die Propagandisten nach dem katalanischen Referendum und wollen uns damit weismachen, das seien „Naturgesetze“ und „erst der Anfang“. „Die UdSSR war ein Imperium, und alle Imperien zerfallen, also wird auch die EU auseinanderfallen.“

    Der Vergleich der EU mit einem Imperium gründet auf dem Prinzip der äußeren Ähnlichkeit: Das Wort „Imperium“ assoziiert man schlicht mit etwas, das größer ist als ein Staat. Die EU besteht, wie einst die UdSSR, aus vielen Nationen; Entscheidungen werden zentral getroffen (Brüssel); sie umfasst ein Territorium, das durch wirtschaftliche Verbindungen und eine gemeinsame Idee geeint ist – scheint alles logisch, doch die Analogie bröckelt schon beim ersten kritischen Blick. Allein die Größe der Union bedeutet noch lange nicht, dass es keine Alternative zu einem Beziehungstyp des Imperiums gibt.

    Ein Imperium ist in erster Linie ein System von Beziehungen zwischen Souverän und Vasallen, zwischen Metropole und Peripherie – etwas, das auf Europa so gar nicht zutrifft, allein, wenn man bedenkt, wie sehr sich die politischen Prozesse in Polen von denen in Griechenland oder eben Spanien unterscheiden. Die „Souverän-Vasallen-Beziehungen in Europa“ existieren nur in den Köpfen der Propagandisten, die sich sicher sind, dass die EU „nach deutsch-französischer Pfeife tanzt und Deutschland und Frankreich nach der US-amerikanischen“.

    UdSSR war „Kompromiss auf Zeit“

    Vielmehr ist der Gebrauch des Wortes „Imperium“ auch in Bezug auf die Sowjetunion nicht korrekt. Nur ihre Gegner verwendeten diese Bezeichnung, und das metaphorisch (so bezeichnete zum Beispiel Reagan die UdSSR als „Imperium des Bösen“). Die Sowjet-Ideologen selbst wären angesichts dieser Formulierung höchst erstaunt gewesen.

    Das sowjetische Projekt war von Grund auf ein überweltliches, internationales Projekt, über allen Grenzen und vor allem über allen Ideen des „Nationalen“ stehend – genau das war das Universelle an der kommunistischen Idee; in dieser Logik war die UdSSR nur ein „Kompromiss auf Zeit“ bis zum endgültigen Sieg des Kommunismus.

    Zu all dem schweigt man im heutigen Russland lieber; sogar wenn über das hundertjährige Jubiläum der Revolution gesprochen wird, spricht man über alles, nur nicht über die damalige Ideologie. Das ist kein Zufall. Im Russland von 2017 gilt die UdSSR fast schon offiziell als „Reinkarnation des Tausendjährigen Reiches“, und wenn man von ihrem Zerfall redet (der sich schlecht leugnen lässt), setzt man den Akzent auf den Zerfall des Territoriums und nicht auf den Zusammenbruch der Ideologie.

    1991 zerbrach eine Utopie, nicht nur eine Union

    Und das ist die hauptsächliche Verfälschung. 1991 zerfiel nicht einfach nur eine Union, sondern es zerbrach eine Jahrhunderte währende Utopie der gesamten Menschheit – der Traum von der Errichtung des Paradieses auf Erden, von einer gerechten Gesellschaft. Das grandiose Experiment endete mit einem Zusammenbruch, die Utopie entpuppte sich als historische Sackgasse (dabei hatte sie lange Zeit viele Menschen auf der Welt inspiriert).

    Die Utopie war gescheitert, weil ihr wichtigstes Werkzeug – der Zwang, gegenüber dem Individuum und gegenüber den Gesetzen der Wirtschaft – sich schließlich als ineffektivste Art der Steuerung erwies. Heute ist dieser Erinnerungsblock zuverlässig gelöscht – sowohl aus dem Gedächtnis der Massen als auch aus dem der Fachleute, und zwar mit Hilfe von eben jenem Fernsehen und jener Propaganda. Dabei wäre noch in den 1990er Jahren niemand auf die Idee gekommen zu fragen, warum die UdSSR auseinandergebrochen war – die Menschen hatten einfach keinen Sinn mehr gesehen in den übermenschlichen Anstrengungen zugunsten eines mythischen Morgen.

    Selbst Brexit hebt EU-Prinzipien nicht auf

    Nichts von dem sehen wir heute in der Europäischen Union, weder einen Zusammenbruch der Wirtschaft noch der Ideologie (soweit sie im Falle der EU überhaupt existiert). Natürlich gibt es Probleme und sogar Krisen; aber selbst ein hypothetischer Zerfall hebt, wie der Brexit gezeigt hat, nicht die zugrundeliegenden ethischen und politischen Prinzipien der Mitgliedsstaaten auf – die Achtung der Persönlichkeitsrechte und Freiheiten der Bürger.

    Die als Analytik getarnte Propaganda übermittelt dem Kreml genau das, was er gerne hören möchte: „Europa steht kurz vor dem Kollaps.“ Das Problem dabei ist, dass der Kreml beginnt, selbst an diese Utopie zu glauben, und danach seine Berechnungen anstellt. Die Fehlerhaftigkeit dieser „geopolitischen Analyse“ hat sich bereits mehr als einmal erwiesen: im Falle der Ukraine (mit der angenommenen Spaltung in einen pro-westlichen Westen und pro-russischen Osten) oder im Falle der USA (Trump wird schon aufräumen). Der zentrale Irrtum der kremlnahen „Analytiker“ ist der, dass die Ereignisse in Katalonien oder die „rechte Revanche“ in Europa in Wahrheit keine Rückkehr zur alten Weltordnung darstellen, sondern eine Spiegelung völlig neuer Prozesse, deren Kern die Suche nach einer neuen Identität ist.

    EU auf der Suche nach einer neuen Identität

    Eine neue globale Existenzkrise nach dem Zusammenbruch von Ideologien kann, wie schon Samuel Huntington im Kampf der Kulturen schrieb, verschiedenste Formen annehmen; um sich zu schützen, krallt sich der Mensch alles, was gerade zur Hand ist – Nationalität, Rasse, Religion, Territorium.

    Aber diese Konzepte spielen jetzt eine ganz andere Rolle – sie stellen den Menschen in den Vordergrund, arbeiten seiner eigenen Identität zu. Das bedeutet keine Rückkehr zur alten Ordnung und den einstigen Konzepten, sondern, im Gegenteil, die Suche nach einer neuen Sprache und Lebensform, die durch die alten Formen hindurch aufkeimt.

    Die Welt verändert sich tatsächlich vor unseren Augen, und die Ereignisse in Europa bestätigen das. Aber ihre Konsequenz wird die – zuweilen beschwerliche – Herausbildung einer neuen Identität sein, die die gegnerischen Parteien versöhnen und unter neuen Voraussetzungen alle Akteure der heutigen politischen und weltanschaulichen Kämpfe mit einschließen wird.

    Allerdings, wenn in Europa am Ende eine solche neue Identität gefunden wird, dann sicher nicht mittels einer Rekonstruktion der Vergangenheit. Sondern mit Hilfe einer ehrlichen und gleichberechtigten Diskussion zwischen allen Teilnehmern am Drama.

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  • Ukrainisches Sprachen-Manöver

    Ukrainisches Sprachen-Manöver

    Heftige Debatten um ein neues Bildungsgesetz in der Ukraine: In Schulen soll ab der fünften Klasse Ukrainisch die Unterrichtssprache sein. Das betrifft in erster Linie die Schulen der Minderheiten, die dann ab der fünften Klasse nur noch die eigene Geschichte oder Literatur in ihrer jeweiligen Sprache lehren dürfen. So will es ein neues Bildungsgesetz, das derzeit für heftige Diskussionen sorgt – nicht nur in den Nachbarländern, sondern auch im Inland.

    Hauptargument der Bildungsreformer ist, dass viele Absolventen der Minderheitenschulen nicht ausreichend gut Ukrainisch könnten, um dann an einer ukrainischen Hochschule zu studieren.

    Doch vor allem Russisch ist in der Ukraine stark präsent: Je nach Fragestellung geben in unterschiedlichen Umfragen 30 bis 40 Prozent der Ukrainer das Russische als ihre Muttersprache an. Die Frage, ob man Russisch oder Ukrainisch spricht, ist allerdings mehr und mehr ein Politikum – angesichts von Ideen wie Russki Mir und spätestens seit der Angliederung der Krim an Russland und dem Krieg in der Ostukraine.

    Die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA Nowosti titelte sogleich „Russisch wird aus den Schulen vertrieben“, doch auch in anderen Nachbarländern wie Ungarn regt sich heftiger Protest. Der ukrainische Minderheitenbeauftragte Wadim Rabinowitsch postete einen Kommentar auf Facebook, in dem er Präsident Poroschenko bittet, das Gesetz nicht zu unterschreiben, da es die Rechte der Minderheiten untergrabe.

    Auf Republic begreift Oleg Kaschin das Gesetz als „Abschaffung russischsprachiger Schulen“. Theoretisch dürfen diese allerdings weiter bestehen, müssen aber ab der fünften Klasse hauptsächlich auf Ukrainisch unterrichten.

    Kaschin kommentiert, dass die Ukraine mit dem neuen Gesetz nur nach der Logik ihres russischen Gegners handle – und mutmaßt gleichzeitig, ob alles nicht eventuell nur ein schlaues „Manöver“ für weitere Verhandlungen zwischen beiden Ländern sei.

    Die angekündigte Abschaffung von russischsprachigen Schulen in der Ukraine – auf das entsprechende Gesetz hat Russland drei Jahre lang gewartet. Es hat darauf gewartet, damit es sagen kann: Seht her, diese Nazis, das ist ein Genozid, eine humanitäre Katastrophe, wir können nicht wegsehen, wir entsenden Truppen, und wenn wir keine entsenden, dann unterstützen wir jede Separatistenrepublik, die dort entsteht, oder helfen selbst, dass welche entstehen.

    Russland hat drei Jahre lang auf dieses Gesetz gewartet – vergeblich. Man musste sich mit weniger bedeutenden Vorkommnissen zufriedengeben, darunter frei erfundenen (so die Geschichte vom „gekreuzigten“ Jungen). 

    Russland hat auf die Nazis geschimpft, mit Katastrophen gedroht, Separatisten unterstützt und ihnen dazu verholfen, ihre Republiken auszurufen, hat, wenn auch heimlich, Truppen entsandt, Soldaten beerdigt – auch das heimlich. Wahrscheinlich ist es selbst darüber erschrocken, was es angerichtet hat. Und ist in diesen drei Jahren sehr viel zurückhaltender geworden. Hat das Wort Noworossija hervorgeholt und wieder vergessen, und als jemandem das Wort Malorossija wieder in den Sinn kam, wurde er offenbar dermaßen zusammengestaucht, dass er es gleich wieder vergaß. 

    Das Motiv des ,Russki Mir‘ hat sich in der offiziellen Rhetorik erschöpft und ist versickert

    Das Motiv des Russki Mir (dt. Russische Welt) hat sich in der offiziellen Rhetorik erschöpft und ist versickert. Über die Banderowzy berichtet nicht mal mehr die Komsomolskaja Prawda. Das Thema Russisch in der Schule ist mittlerweile in Russland selbst ein wunder Punkt – gerade erst wurde ein weiterer Sprachenstreit zwischen Moskau und Kasan durch einen Kompromiss beigelegt, und es war sicher nicht der letzte.

    Vor drei Jahren wäre ein Verbot russischsprachiger Schulen in der Ukraine für Russland das Ereignis des Jahres gewesen, ein zweiter Brand von Odessa, und die Propaganda hätte es nicht besonders schwer gehabt, bei den Russen echte und aufrichtige Empörung auszulösen. Wahrscheinlich haben sich die Ukrainer deshalb drei Jahre lang zurückgehalten, damit Russland diese grundlegend verstörende Nachricht mit einer in dieser Situation maximal möglichen Gleichgültigkeit aufnimmt. 

    In der Ukraine gibt es Landstriche mit einer ungarischen Mehrheit, aber künftig soll nur noch Ukrainisch als Unterrichtssprache erlaubt sein. Das ungarische Außenministerium reagierte mit einem empörten Statement, das rumänische Außenministerium zumindest mit einem Statement, Russland reagierte nicht einmal damit, denn was sollte in diesem Statement auch stehen?

    Hätte die Ukraine russischsprachige Schulen vor drei Jahren verboten, wäre es für Russland das Ereignis des Jahres gewesen

    Die Beziehungen werden leiden? Bereits geschehen. Wir werden Separatisten unterstützen? Schon passiert. Wir werden Truppen schicken? Sind längst da. Alle möglichen Worte sind bereits gesagt, manches Gesagte ist sogar schon wieder zurückgenommen. 

    Russland hat das moralische Recht verspielt, die Ukraine für das verabschiedete Gesetz zu kritisieren, mehr noch – Russland scheint dieses Recht nicht einmal mehr für sich zu beanspruchen, dessen Notwendigkeit  teils schon vor drei Jahren erschöpft war, teils durch andere außenpolitische Bedürfnisse von Syrien bis Myanmar ersetzt worden ist. 

    Die Ukraine wiederum hat das moralische Recht auf eine Entrussifizierung der Schulen bekommen und gefestigt – das Verbot russischsprachiger Schulen wird heute als Selbstverteidigungsmaßnahme wahrgenommen, denn die letzten drei Jahre haben gezeigt, dass die russische Sprache, wenn sie nicht eingedämmt wird, Volksrepubliken, burjatische Panzerfahrer und in persona den toten Motorola nach sich zieht. 

    Russland hat das moralische Recht verspielt, die Ukraine für das verabschiedete Gesetz zu kritisieren

    Der Zusammenhang von Sprache und Krieg erscheint derart unbestreitbar, dass sicher auch unter den russischsprachigen Bürgern der Ukraine viele sind, die es gut finden, wenn in den Schulen ihrer Kinder sämtliche Sätze des Pythagoras und Ohmschen Gesetze, jegliche Blütenstempelchen und -fädchen ins Ukrainische übersetzt werden, auch wenn sie es selbst gar nicht können. Sogar in der ATO war die Beteiligung russischsprachiger Ukrainer bekanntlich relativ hoch, und das Thema Schule wiegt, so wichtig es auch sein mag, immer noch weniger als der Krieg. 

    Selbst wenn die Entrussifizierung der Schulen in Wirklichkeit lange vor dem Krieg geplant war – beweisen kann das heute niemand mehr: Das Gesetz wurde 2017 verabschiedet, der Krieg begann 2014.

    Und hier ist das Paradoxe an der ukrainischen Schulreform: Deren Initiatoren gehen quasi davon aus, dass die Frage der russischen Sprache in der Ukraine eine Frage der russisch-ukrainischen Beziehungen ist. Das heißt: Nun ist es die ukrainische Seite, die die alten Kreml-Losungen von dem Russki Mir aufgreift, wonach Russland überall, wo russischsprachige Menschen leben, besondere Interessen hat. 

    Vor drei Jahren hat Russland versucht, ein Monopol auf die russische Sprache für sich zu beanspruchen, und genau das war die größte Schwachstelle der ganzen Russki-Mir-Rhetorik. Kein Staat der Welt hat die Exklusivrechte an irgendeiner Sprache. Es fällt ja auch, sagen wir mal, Großbritannien nicht ein, die USA zu seinem Interessenbereich zu erklären, nur weil die Amerikaner Englisch sprechen. 

    Kein Staat der Welt hat die Exklusivrechte an irgendeiner Sprache

    Auf einmal ist es nun die Ukraine, die ein Monopol Russlands auf die russische Sprache postuliert. Versteht man die Entrussifizierung als ein Mittel der Verteidigung gegen Russland, dann bedeutet das, dass die Ukraine dem russischen Staat Exklusivrechte auf das Russische zuspricht und Russland als Vaterland all derer anerkennt, die auf Russisch sprechen und denken. Übersetzte man das in die Sprache der Losungen, lautete die getreue Übersetzung: „Russland den Russen“ – etwas, das Russland selbst nie laut aussprechen würde und das Artikel 282 des russischen StGB unter Strafe stellt. 

    Millionen künftiger Opfer der Entrussifizierung drohen durch eine Lücke zu fallen: zwischen der ukrainischen Vorstellung von Russland als Nationalstaat und dem, was Russland tatsächlich ist. Sie werden sich entweder gezwungen sehen, nach Russland zu gehen, wo niemand auf sie gewartet hat, oder – und das ist wahrscheinlicher – sich damit abfinden müssen, dass die primäre Sprache ihrer Kinder und Enkel Ukrainisch sein wird.

    Wieder einmal müssen Menschen, die auf Russisch sprechen und denken, feststellen, dass sie keine Heimat haben und dass die Bewahrung der eigenen Identität ihre Privatsache ist, mehr noch – ein Luxus, den sich nicht jeder leisten kann und den die Mehrheit nicht braucht. Prorussische Kommentatoren (allen voran ehemalige ukrainische „Regionale“ [Anhänger der Partei der Regionendek]) drohen mit gesellschaftlichen Ausbrüchen und Protesten, doch das klingt nicht sehr überzeugend – die Wahrscheinlichkeit russischsprachigen Protests ist in der Ukraine momentan ziemlich gering. Der Russki Mir ist und bleibt eine Propaganda-Mär, die nur bei politischer Notwendigkeit aus den staubigen Schränken hervorgeholt wird, so wie es vor drei Jahren geschehen ist. Aber die Russen jenseits der russischen Staatsgrenze werden mithilfe eines still und leise verabschiedeten Gesetzes zu unglücklichen Geiseln gemacht.

    Nur ein gewaltiges Мanöver?

    Womöglich ist aber gerade diese demonstrative Geiselhaft als Zeichen der Hoffnung zu sehen. Einer riesigen nationalen Minderheit (zwischen einem Drittel und der Hälfte der Bevölkerung des Landes) ein grundlegendes Menschenrecht zu entziehen, das ist ein allzu gewaltiges, allzu monströses Projekt – und allzu fragwürdig in Bezug auf seine Realisierbarkeit. Es wirkt mehr wie ein Instrument im Gefeilsche mit Russland, und Anlass für solche Händel hat die Ukraine immer genug. 

    Mit diesem gewaltigen Manöver hat Kiew sich neuen Raum für Zugeständnisse geschaffen: Bei den nächsten Verhandlungen in Minsk könnte das Thema der russischen Schulen leicht gegen ein Entgegenkommen von russischer Seite eingetauscht werden. Und vielleicht werden wir dann schon morgen offizielle Stimmen aus Russland hören, die von einem weiteren Triumph des Russki Mir sprechen: Die Ukraine nimmt das Verbot russischsprachiger Schulen zurück, und dafür werden die Grenzen in den Donezker und Luhansker Gebieten wiederhergestellt – so oder so ähnlich.

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  • Vom Ökostrom-Vorreiter zum Erdöl-Junkie

    Vom Ökostrom-Vorreiter zum Erdöl-Junkie

    Elektroautos, Windkraft und Solaranlagen: Die Sowjetunion hatte das alles schon. Wie die UdSSR zunächst Vorreiter der erneuerbaren Energien wurde und weshalb daraus schließlich doch nichts wurde – das beschreibt Konstantin Ranks in einem Rückblick auf Republic.ru.

    Der Sonnenofen „Sonne“ lenkte mit Hilfe von Heliostaten das Sonnenlicht auf einen Sammelspiegel / Fotos © Victor Borisov/Livejournal

    Was erneuerbare Energien angeht, liegt Russland weit hinter den Weltmarktführern zurück. Was bei genauerer Betrachtung recht sonderbar ist: Denn noch vor einem halben Jahrhundert gehörte Russland zur Avantgarde innerhalb der Bewegung für eine neue Energiewirtschaft. Damals ging es allerdings noch nicht um ökologische Nachhaltigkeit – eher um eine billige Energievariante.

    Man kann sich das heute kaum noch vorstellen, aber bis Mitte der 1960er Jahre war die Sowjetunion im Grunde Erdölmangel-Land. Die Stromgewinnung aus erneuerbaren Energiequellen war eine objektive Notwendigkeit – zumal der Führer des Weltproletariats Lenin und seine Gesinnungsgenossen die saubere Elektroenergie als Hauptquell der neuen Industrialisierung ansahen – und nicht die durch Dampf oder Benzin erzeugte Energie. Der GOELRO-Plan zur staatlichen Elektrifizierung Russlands aus dem Jahr 1920, der von einem 200-köpfigen Wissenschaftlerkollektiv vorgelegt worden war, sah den Einsatz unterschiedlichster Energiequellen vor.

    Exotische ingenieurtechnische Forschungen

    Die Frage, wo die elektrische Energie herkommen sollte, um Industriebetriebe und die über das riesige Land verteilten Orte zu versorgen, regte zu recht exotischen ingenieurtechnischen Forschungen an, die bis Anfang der 1990er Jahre fortgeführt wurden. Im Moskauer Krshishanowski-Institut für Energietechnik erforschte man die Nutzung von Sonnenenergie mit dem Ziel, Sonnenöfen und Solarheizkraft­werke zu bauen.

    Ein Solarofen namens Sonne in Taschkent

    Ein Solarofen namens Sonne wurde 1981 in der Nähe von Taschkent errichtet. Der Ofen war mit 62 beweglichen Heliostaten ausgestattet, die die Sonnenstrahlen auf einen Sammelspiegel lenkten; dieser wiederum bündelte die Strahlen dann auf einem speziellen Versuchstisch. Innerhalb weniger Sekunden stieg die Temperatur im Brennpunkt des Systems auf über 3000 Grad Celsius. Das ermöglichte es, das Verhalten von Stoffen unter den Bedingungen des sogenannten thermischen Schocks zu untersuchen.

    62 bewegliche Heliostaten bündeln das Sonnenlicht auf einem Versuchstisch – in kürzester Zeit steigt die Temperatur auf über 3000 Grad Celsius

    Das Sonnenwärmekraftwerk SES-5 funktionierte nach dem gleichen Prinzip: Ein System von 1600 Heliostaten, die sich automatisch nach der Sonne ausrichteten, warf das Sonnenlicht auf einen in der Spitze des 99 Meter hohen Turms untergebrachten Dampfkessel. Der erhitzte Dampf wurde in den Turbinenraum im unteren Teil des Turms geleitet. Mit Hilfe der dort befindlichen Wärmespeicher konnte der Normalbetrieb des Kraftwerks für drei bis vier Stunden aufrecht­erhalten werden, etwa im Fall unerwarteter Bewölkung.

    Das Kraftwerk stand im Osten der Krim, seine Leistung betrug 5000 kW, womit es damals (1985) zu den stärksten Solarkraftwerken der Welt gehörte. Im Übrigen war das Krim-Kraftwerk in erster Linie eine Versuchsplattform, dort sollte erarbeitet werden, welche Besonderheiten bei einem Kraftwerk mit erheblich höherer Leistung zu beachten wären. Doch als mit dem Zerfall der UdSSR die Finanzierung eingestellt wurde, stellte auch SES-5 seinen Betrieb ein und kam auf den Schrott.

    Erfinder sahen für die Windkraft in Russland eine große Zukunft

    Insgesamt hatte die Nutzung von Wasserkraft einen bedeutenden Anteil an der Energiebilanz des Landes (bis zu 20 Prozent). Doch die Gewinnung von Wasserkraft im Flachland erfordert den Bau von Staudämmen (und verursacht entsprechende Kosten), wohingegen die Nutzung von Windkraft nichts Derartiges notwendig machte.

    Elektroautos, Windkraft und Solaranlagen: Die Sowjetunion war lange Zeit Vorreiter in der Entwicklung erneuerbarer Energie

    1923 hatte der sowjetische Staat für die Windkraftanlage des Kursker Erfinders Anatoli Ufimzew 5000 Rubel bereitgestellt. Im Februar 1931 ging das Kraftwerk an den Start. Die Erfinder sahen für die Windkraft in Russland eine große Zukunft – sie sprachen [in Anspielung auf Lenins Staatsplan zur Elektrifizierung] von der „Anemofizierung“ Russlands: das Ufimzewsche Windrad überlebte sowohl den Zweiten Weltkrieg als auch seine Erbauer und gab erst in den 1950er Jahren seinen Geist auf.

    Nach dem Krieg wurden serienmäßig kleinere Windaggregate für den Betrieb von Rundfunkstationen und für die Ortsbeleuchtung hergestellt. Damals kamen auch die sogenannten kombinierten Windkraftanlagen auf, bei denen Windgeneratoren mit Dieselanlagen kombiniert wurden (sobald der Wind nachließ, sprangen automatisch die Dieselgeneratoren an).

    Auf der Suche nach dem Energie-Eldorado der UdSSR

    In den 1950er Jahren weckte die Suche nach einem Energie-Eldorado in der UdSSR das Interesse an den unterschiedlichsten Energieformen. Neben industriellen Experimenten mit Atom-, Sonnen- und Windenergie wurde auch Exotischeres erforscht. So zum Beispiel im Jahr 1966 in einem Flusstal auf der Kamtschatka-Halbinsel, wo ein Geothermie-Kraftwerk mit einer Leistung von 5000 kW gebaut und in Betrieb genommen wurde – es war landesweit das erste und weltweit das erste mit Niedertemperatursystem. Solche Kraftwerke, die als Wärmeträger leichterhitzbare Flüssigkeiten benutzen, hätte man gut auch im Nordkaukasus, in Ostsibiren und sogar in der Ukraine errichten können.

    Erdölmangelverwaltung

    Offensichtlich konnte Sowjetrussland auf dem Gebiet der Erdölförderung mit den entwickelten Ländern nicht Schritt halten. Obwohl 1932 Öl in Baschkirien entdeckt worden war, kam die Erschließung nur schleppend voran. Zwar betonte die sowjetische Führung stets die Notwendigkeit, die Erdölförderung auszubauen, Öl galt als strategische Ressource, unter anderem für Verteidigungszwecke. Die Frage, weshalb sie damals dennoch prioritär auf Kohleförderung setzte, ist in der Geschichtsforschung Gegenstand zahlreicher Diskussionen.

    Ende der 1960er Jahre hatte die Sowjetunion die Chance verpasst, in der Entwicklung moderner Technologien weiter mitzuhalten

    Der Entwicklung erneuerbarer Energien hingegen lag eine klare Logik zugrunde: Je mehr die nur knappen Erdölprodukte durch „kostenlose“ Elektrizität ersetzt werden konnten, desto mehr blieb für den Bedarf von Armee, Luftwaffe und Flotte sowie weitere nach Ansicht der sowjetischen Führung elementare Aufgaben übrig.

    Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde schnell klar, dass großzügige Erdölreserven eine entscheidende strategische Ressource darstellten. Die USA schwammen in billigem Öl. Auch die Europäer hatten diese Quelle angezapft, aber das Fahren solcher Riesenschlitten, wie sie bei den Amerikanern mittlerweile beliebt waren, konnte man sich im vom Krieg zerstörten Europa und in der UdSSR nicht leisten. Der Bau von Wasserkraftwerken, eines leistungsstärker als das andere, die Errichtung des ersten Atomkraftwerks der Welt in Obninsk, Experimente mit Wind-, Erdwärme- und Flutkraftwerken waren weniger Ausdruck eines neuen Umweltbewusstseins, als vielmehr Konsequenz mangelnder Kohlenwasserstoff­reserven.

    Das „große Öl“ in Westsibirien

    Kurioserweise gab es nach der Entdeckung des „großen Öls“ in Westsibirien 1963 noch mehrere Jahre ein Gerangel mit den Wasserkraftanhängern, die im Flusstal des Ob ein neues Wasserkraftwerk bauen wollten. Doch Ende der 1960er Jahre und besonders nach dem Erdölembargo der arabischen Länder 1973 sah die sowjetische Führung im Öl eine einfache Lösung für den Berg von Problemen, mit denen sich die Wirtschaft der UdSSR konfrontiert sah.

    Die Arbeit mit erneuerbaren Energieträgern verlor vor diesem Hintergrund für die Parteiführung an Reiz. Sie verteilte nun begeistert Öldevisen an Länder, die sich für den „sozialistischen Entwicklungsweg“ entschieden hatten. 

    Entwicklung zum Erdöl-Junkie

    Im Westen hingegen setzte ab Mitte der 1970er Jahre im Zuge der Vervierfachung des Erdölpreises ein rasanter Wettlauf um die Effektivierung der Ressourcennutzung ein. Letztlich hatte die Sowjetunion Ende der 1960er Jahre die Chance verpasst, in der Entwicklung moderner Technologien weiter mitzuhalten. Sonnenöfen und Wärmekraftwerke, Windgeneratoren- und Hydrothermal­kraftwerke auf der Basis von Niedertemperatur-Kältemitteln – das alles war Weltniveau. Darüber hinaus war im Wolga-Automobilwerk jahrelang an der Entwicklung von Elektroautos gearbeitet worden.

    Jahrelang arbeitete man im Wolga-Automobilwerk an der Entwicklung von Elektroautos / Foto © Sergey.G/flickr

    Welches Verhängnis für Russland darin lag, sich zum „Öl-Junkie“ zu entwickeln, erkannte man sogar in der Erdölbranche. Der Entdecker des sibirischen Öls Salman Farmanow sowie der ehemalige Erdölindustrie-Minister und stellvertretende Vorsitzende des sowjetischen Ministerrats Nikolaj Baibakow hatten in den 1980er Jahren nachdrücklich davor gewarnt, dass eine Wirtschaft, die sich auf den Ölhandel gründet, das Land in die technologische Abhängigkeit führen werde. Doch um diese Gefahr abzuwenden, war es bereits zu spät, wie die folgende Entwicklung zeigte. Dass neue Generationen von russischen Ingenieuren in der Lage sein werden, auf dem Gebiet der regenerativen Energien Neuigkeiten vorzulegen – davon kann man ausgehen.

    Das Problem liegt vielmehr darin, dass es eine Nachfrage für diese Entwicklungen nicht nur auf dem Weltmarkt, sondern auch in Russland geben müsste. 

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  • Jenseits von links und rechts

    Jenseits von links und rechts

    Sozialdemokratisch, liberal und konservativ oder schlicht links und rechts – das sind vertraute Zuschreibungen für politische Akteure in (west)europäischen Staaten. Auf das aktuelle politische System in Russland lassen sie sich nicht einfach übertragen, schon gar nicht eins zu eins. Wie aber werden Parteien oder politische Persönlichkeiten stattdessen verortet, insbesondere die außerparlamentarische Opposition? In ihrer Kritik an Präsident Putin erscheint gerade sie auf den ersten Blick wie ein zusammenhängender Block. Was vielen nicht klar ist: Oft genug sind die verschiedenen Gruppen untereinander jedoch völlig zerstritten.

    Woran genau scheiden sich die politischen Geister in Russland? Mit dieser Frage beschäftigt sich der Politologe Wladimir Pastuchow auf republic. Dabei geht er von einer umstrittenen Diskussion aus, die kürzlich der bekannteste russische Oppositionspolitiker öffentlichkeitswirksam geführt hat: Alexej Nawalny. Weil der sich ausgerechnet den Ex-Separatistenführer Igor Strelkow an den Youtube-TV-Tisch holte, musste er massive Kritik einstecken. Aus den großen Streitfragen, die dabei aufkommen, strickt Pastuchow eine handliche Typologie russischer Sichtweisen auf die Politik.

    Die Diskussion zwischen Nawalny und Strelkow ist ein außergewöhnliches Ereignis, was auch immer darüber geschrieben wurde. Mit Blick auf die vergangenen Jahre war es das eindrucksvollste öffentliche Aufeinanderprallen aller bedeutenden russischen Ideenwelten aus der neueren Geschichte des Landes – bislang hatten sich die Seiten lieber auf Ideenkarate ohne Körperkontakt verlegt.

    Es sei jedoch angemerkt, dass ideologisch gesehen, nicht zwei, sondern drei Seiten an der Diskussion beteiligt waren: Im Studio war auch der Geist der russischen liberalen Opposition anwesend. Und damit ist nicht mal vordergründig der Moderator Michail Sygar gemeint, der mit am Tisch saß, sondern vielmehr der allgemeine mediale und politische Kontext, in den die Diskussion von Beginn an versunken war.

    Die zentrale Frage nach der Staatsmacht

    Die einzige zentrale, in Russland sowohl politisch als auch ökonomisch relevante, Frage war die nach der Staatsmacht. Darauf gaben die Teilnehmer eine ausführliche, wenn auch unbefriedigende Antwort. Zwar wird Nawalny oft vorgeworfen, ihm fehle ein Programm. Doch in Wirklichkeit hat er alles gesagt, was man über seine Ansichten als russischer Politiker wissen muss: Er hat sein Verhältnis zur Staatsmacht deutlich zum Ausdruck gebracht.

    Eine politische Ideologie gibt es in Russland nicht und es kann auch keine geben, weil Russland nach wie vor eine vorpolitische Gesellschaft ist. Sie ist noch nicht an den Punkt gelangt, wo sich die Staatsgewalt vom Eigentum löst und ein „politisches Feld“ erschafft. Deswegen ist es völlig sinnlos, russische Politiker danach zu befragen, ob sie rechts oder links stehen. Die Matrix von rechts und links ist auf Russland überhaupt nicht anwendbar. Denn sie leitet sich aus dem Verhältnis zum Privateigentum ab, das es in Russland nach wie vor nicht gibt.

    Die Grundlage des russischen Lebens bildete über viele Jahrhunderte das Herrschereigentum, das Erbe des [gnose-5269]Wotschina-Systems[/gnose]. Es stellt den Ursprung von Recht und Reichtum in Russland dar. In der gesamten russischen Politik dreht sich alles genau darum. Erklärt ein Politiker seine Haltung zur staatlichen Macht, hat er die Frage nach seinem Programm umfassend beantwortet – mehr brauchen wir nicht zu wissen, weder über ihn noch über das Programm.

    Drei Sichtweisen zum Thema Staatsmacht: patriotisch, liberal, progressiv

    Bei der Diskussion waren mehr oder weniger offenkundig alle drei traditionellen russischen Sichtweisen zu diesem heiklen Thema vertreten:

    Die patriotische Haltung (auch die slawophile genannt), war repräsentiert durch Strelkow: Die Staatsgewalt ist a priori das Gute („Denn es ist keine staatliche Macht außer von Gott, und die bestehenden sind von Gott verordnet.“). Sie ist die unmittelbare und irrationale Verkörperung des gemeinschaftlichen Geistes und bedarf keiner weiteren Legitimation. Sie braucht weder Schutz noch Beschränkung durch äußere Kräfte, sondern muss immer und ausschließlich in ihrem eigenen Interesse handeln, das per se mit den Interessen der russischen Gesellschaft übereinstimmt. Wodurch die Demokratie in Russland nicht nur überflüssig, sondern sogar gefährlich ist, denn sie könnte die natürliche Einheit zwischen Volk und Staatsmacht zerstören und zu einem Instrument in den Händen von Plutokraten sowie inneren und äußeren Feinden Russlands werden.

    Die liberale Haltung (auch die westliche genannt), war repräsentiert durch das liberale Publikum, an das sich sowohl Nawalny als auch Strelkow wandte: Die Staatsgewalt ist a priori das Böse. Sie steht im Widerstreit mit der Gesellschaft. Ihre Interessen sind den Interessen der Gesellschaft entgegengesetzt, deswegen muss sie permanent kontrolliert und beschränkt werden. Sie muss dazu angehalten werden, im Interesse der Gesellschaft zu handeln, also entgegen ihren eigenen, egoistischen, „blutrünstigen“ Interessen. Aus dieser Perspektive ist die Entwicklung von demokratischen Institutionen überlebensnotwendig für Russland. Denn nur durch Demokratie lässt sich die Bestie im Zaum halten. 

    Die progressive Haltung (auch die revolutionär-demokratische genannt), repräsentiert durch Nawalny: Die Staatsgewalt ist an sich neutral. Alles hängt davon ab, in wessen Händen sie liegt. Liegt die Macht in „schlechten“ Händen, ist sie „reaktionär“ und muss bekämpft werden. Liegt sie in „guten“ Händen, ist sie „progressiv“ und verdient Unterstützung. Die Interessen einer reaktionären Staatsmacht widersprechen den Interessen der Gesellschaft, die Interessen einer guten Staatsmacht entsprechen denen der Gesellschaft. Deswegen ist die Demokratie in Russland in dem Ausmaß nützlich, in dem sie der Staatsmacht hilft, in guten Händen zu bleiben. Tut sie dies nicht, kann und sollte sie beschränkt werden (Zweckmäßigkeit vor formeller Rechtmäßigkeit).

    Der vertikal organisierte Staat erscheint alternativlos

    Sowohl aus historisch als auch aus streng inhaltlichen Gründen bilden die progressiven, revolutionär-demokratischen Ideen eine ganz eigene Symbiose aus Westlertum und Slawophilie. Die Progressiven erkennen die rationale Notwendigkeit an, die Staatsgewalt der Gesellschaft unterzuordnen, ihre Vorstellung von Staatsgewalt bleibt jedoch irrational.

    In äußerst verkürzter Form lassen sich die drei herrschenden ideologischen Trends in Russland folgendermaßen zusammenfassen: Man muss der Staatsmacht dienen (Patrioten), man muss die Staatsgewalt bekämpfen (Liberale) und man muss die Staatsgewalt nutzen (Progressive).
    Auch wenn die Distanz zwischen diesen drei Positionen auf den ersten Blick enorm  erscheint, liegen sie in Wirklichkeit gar nicht so weit auseinander. Denn sie gehen von derselben Grundlage aus: Die russischen Patrioten, die russischen Liberalen und die russischen Revolutionär-Demokraten (die Progressiven) erkennen allesamt die objektive Alternativlosigkeit, ja sogar Notwendigkeit eines streng zentralisierten, von oben nach unten organisierten, vertikal integrierten Staates für Russland an.

    Der Leviathan als „guter Onkel“, die Gesellschaft als infantiler Teenager

    Aus verschiedenen, sich nicht selten gegenseitig ausschließenden Gründen beten restlos alle – Patrioten, Liberale und revolutionäre Demokraten –  den  russischen Leviathan an. Ihre Einschätzungen, was den russischen Staat betrifft, gehen zwar auseinander, doch betrachten sie ihn alle als einen „sozialen Demiurgen“ und den einzig möglichen Ursprung aller Politik. Die Staatsmacht erscheint ihnen als eine Kraft, die sich von der Gesellschaft losgelöst hat und ein Eigenleben führt. So ein Blick auf die Staatsmacht geht meist mit dem Blick auf die Gesellschaft als einem infantilen Teenager einher. 

    Für die Patrioten mangelt es der russischen Gesellschaft zu sehr an Standhaftigkeit gegenüber dem schlechten Einfluss des Westens, als dass man ihr vertrauen könnte. Für die Liberalen hingegen ist die russische Gesellschaft zu archaisch und reaktionär, als dass man das Schicksal in ihre Hände legen könnte. Für die revolutionären Demokraten ist die Gesellschaft traditionsgemäß kein Subjekt, sondern Objekt der Geschichte. Insgesamt sind sich alle einig: Von der russischen Gesellschaft ist außer Wirren nichts zu erwarten. Die einen vertreten offen, die anderen unterschwellig die Annahme, sie brauche bis heute einen „guten Onkel“. 

    Liberale hoffen insgeheim auf die Autonomie der Staatsmacht 

    Formal stehen die Liberalen im Kampf gegen den Leviathan in der ersten Reihe. Sie der Liebe zu ihm zu bezichtigen, ist also ziemlich schwierig. Doch es gibt einen Lackmustest, der etwas erkennen lässt, worüber man unter Liberalen nicht laut spricht, zumindest nicht öffentlich. Der Indikator ist das Zustimmungs-Level für liberale Ideen in der russischen Gesellschaft – diese Zustimmung überstieg bisher noch nie die derzeitigen „14 Prozent“, die schon zum Mem geworden sind. 

    Die bittere Wahrheit für die Liberalen ist: Auf dem sogenannten demokratischen Weg können sie nicht an die Macht kommen. Bei wirklich demokratischen Wahlen in Russland wird ein Strelkow immer bessere Chancen haben als jeder liberale Kandidat. Wenn die Liberalen also von Demokratie und der freien Wahl des russischen Volkes sprechen, hoffen sie insgeheim auf die Autonomie der Staatsmacht und ihre Fähigkeit, ein Programm umzusetzen, das dem Großteil dieses Volkes fremd ist. Das ist kein Vorwurf, lediglich die Feststellung unangenehmer Fakten, die einen gewichtigen historischen und kulturellen Hintergrund haben.

    Progressive haben eine Chance, an die Macht zu kommen

    Gemessen an der liberalen Utopie erscheinen die bolschewistischen Ansprüche der Progressiven um Nawalny ehrlicher, oder zumindest praktikabler. Die erklärten Ziele der Liberalen sind genauso unerreichbar wie die der Progressiven, aber die Progressiven haben zumindest eine Chance, an die Macht zu kommen. Darüber, was sie dann mit dieser Macht tun wollen, sprechen sie vorsorglich nur in äußerst allgemeinen Formulierungen. Das ist zumindest ehrlich.

    Es gibt verschiedene Arten von Autokratien – orthodoxe, kommunistische, antikommunistische, korrupte und sogar antikorrupte. Bei der Diskussion lieferte keine der Parteien eine Antwort auf die Frage, welche institutionellen (konstitutionellen) Reformen durchgeführt werden müssten, um Russland aus dieser festgefahrenen Spur zu reißen und die Möglichkeit einer weiteren „oligarchischen“ Regierung zu verhindern. Die Ironie des Schicksals liegt darin, dass es Chodorkowski ist, der versucht, eine Antwort zu liefern und so als Beispiel dafür dient, dass Revolutionen in der Regel von Verrätern ihrer Klasse gemacht werden.

    Allgemeine Konfiguration von Staatsgewalt seit Katharina der Großen unangetastet
     

    Die Idee besteht darin, sich grundsätzlich vom streng zentralisierten Modell einer vertikal integrierten Staatsgewalt zu verabschieden sowie eine Reihe von formalen Beschränkungen einzuführen, die eine weitere Reproduktion dieses Modells in Russland unmöglich machen. 

    Es geht also um eine tiefgreifende politische Reform für Russland, die jene allgemeine Konfiguration von Staatsgewalt zerstören soll, die praktisch seit den Zeiten von Katharina der Großen unangetastet geblieben ist. Diese Reform müsste mindestens drei Hauptkomponenten einschließen:

    Ein unbedingter Machtwechsel. Mit Blick auf die historische Erfahrung und Russlands „übles politisches Erbe“ gilt es Maßnahmen zu ergreifen, damit niemand, und zwar unter keinen Umständen, langfristig oder gar auf unbegrenzte Zeit, Schlüsselpositionen in der Regierung bekleiden kann, einschließlich des Postens des Staatsoberhaupts. Dazu muss es in der russischen Verfassung und in den Verfassungsgesetzen eindeutige Formulierungen geben. 

    Eine tiefgreifende Dezentralisierung von Macht. Das ist der wichtigste und inhaltlich weitreichendste Punkt der politischen Reform. Er beinhaltet zwei Kernpunkte: den Übergang zu einer tatsächlichen Föderalisierung und den Ausbau der Selbstverwaltung, auch in den Metropolen. 

    Dabei wird vorausgesetzt, dass eine echte Föderalisierung kein mechanischer Prozess ist, bei dem „so viel Souveränität, wie ihr tragen könnt“ an die bereits bestehenden, halbfiktiven territorialen Gebilde übergeben wird. Es geht um eine tiefgreifende Umstrukturierung des gesamten Beziehungssystems zwischen der Staatsführung in Moskau und den Regionen, die auch die Bildung neuer Föderationssubjekte vorsieht.

    Und schließlich einen Übergang zur parlamentarischen (oder auch parlamentarisch-präsidialen) Republik. Der Erhalt der bestehenden Regierungsform ist nicht zweckdienlich, sowohl wegen ihrer tiefen Verwurzelung in einer autokratischen Tradition als auch wegen ihrer Unvereinbarkeit mit der angestrebten Organisationsstruktur der Beziehungen zwischen Moskau und den Regionen. Diese Struktur erfordert eine andere politische Repräsentationsform. In der neuen Konfiguration der Staatsmacht steht die Regierung in der Verantwortung vor dem Parlament, sie muss das zentrale Element beim Aufbau der Staatsmacht bilden.

    Situation in Russland erinnert stark an ideologische und politische Sackgasse vor hundert Jahren

    Einerseits erinnert die Situation in Russland stark an die ideologische und politische Sackgasse vor hundert Jahren und könnte durchaus genauso traurig enden. Andererseits gibt es einen wesentlichen Unterschied zum Anfang des 20. Jahrhunderts: Heute haben die Widersprüche zwischen den Liberalen und den revolutionären Demokraten keinen antagonistischen Charakter (auch wenn die Leidenschaften hochkochen). Und das bedeutet, dass ein Kompromiss und eine Zusammenarbeit zwischen ihnen nicht nur notwendig, sondern auch möglich ist. 

    Nawalny, der von allen Seiten der Kritik ausgesetzt ist – von rechts und links, von oben und unten – hat in Wirklichkeit noch nichts getan, das die Möglichkeit einer politischen Zusammenarbeit mit den Liberalen ausschließen würde. Das vom Kreml aufgedrängte und von einem Teil der liberalen Intellektuellen aus Konjunkturgründen aufgegriffene Klischee von Nawalny als einem „Faschisten“ entbehrt jeglicher politischer und ideologischer Grundlage. 

    Nawalny ist ein typischer Vertreter der russischen revolutionär-demokratischen Tradition. Er ist natürlich kein Bolschewist im herkömmlichen Sinne, aber ein enger Verwandter der Bolschewisten. Die Wurzeln seiner politischen Philosophie (und die gibt es, glauben Sie mir) gehen auf die Narodniki zurück. Das ist, wie die russische und die Weltgeschichte gezeigt haben, politisch zwar auch „kein Zucker“, hat aber nichts mit Faschismus zu tun. 

    Russische Politik ist wie ein Videospiel mit vielen Levels

    Zudem wissen wir aus der historischen Erfahrung, dass die Weigerung der Liberalen, mit den revolutionären Demokraten zusammenzuarbeiten, den Faschisten den Weg zur Macht bereitet hat. Genau das geschah nämlich im Deutschland der 1930er Jahre, wo der Konflikt zwischen Sozialdemokraten und Thälmann objektiv betrachtet Hitler in die Hände spielte. 

    Die aktuelle russische Politik erinnert an ein Videospiel: Es gibt viele Levels, aber das nächste Level erreicht man nur, wenn man die Aufgaben des vorherigen erfüllt hat. Für die Opposition gibt es nichts gefährlicheres als den Versuch, ein oder sogar zwei Level zu überspringen, indem sie beginnt, die Probleme der nächsten Stufe zu lösen, bevor die aktuellen gelöst sind. 

    Um das erste Level abzuschließen, müssen die liberalen und die revolutions-demokratischen Kräfte einen konstitutionellen Konsens bilden. Das ist die Conditio sine qua non für einen Sieg der Opposition und das Hauptmerkmal ihrer politischen Reife. 

    Im Gegensatz zu dem, was Lenin forderte, muss sich die heutige Opposition zunächst vereinen und später voneinander abgrenzen.

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    Grüne Turbinchen

    Als im Februar/März 2014 plötzlich erste Soldaten in Tarnuniform, aber ohne Hoheitsabzeichen, scheinbar aus dem Nichts auf der Krim aufgetaucht sind, sprach die Bevölkerung von Grünen Männchen. Erst im April 2014, nach der Angliederung der Halbinsel an Russland, erwähnte Wladimir Putin in einem Interview, was eh alle geahnt hatten: nämlich, dass es russische Soldaten gewesen waren.
    Als nun im Juli 2017 plötzlich deutsche Turbinen von Siemens auf der Krim auftauchten, und zwar trotz Embargo, behauptete der russische Industrie- und Handelsminister Denis Manturow, es seien keine deutschen, sondern russische Turbinen „aus Elementen ausländischer Produktion“. 
    Siemens gab in einer ersten Stellungnahme an, die Gasturbinen seien eigentlich für ein Projekt auf der südrussischen Halbinsel Taman hergestellt worden – und reichte Klage ein gegen den Abnehmer Technopromexport. Kritiker werfen dem deutschen Unternehmen jedoch vor, den Auftrag 2015 angenommen zu haben – zu einem Zeitpunkt, als bereits absehbar gewesen sei, dass die Turbinen für die Krim gedacht sind.
    Tatjana Stanowaja deckt auf Republic die rhetorischen Parallelen auf zwischen Grünen Männchen und Siemens-Turbinen. Und sie ist sich sicher: Mit der Affäre beginnt ein neues Zeitalter der Beziehungen zwischen Postkrim-Russland und westlichen Unternehmen.

    An Sanktionen hat sich Russland schon gewöhnt. Auch auf Siemens’ möglichen Rückzug vom russischen Markt reagiert man gelassen. „Wir kommen auch ohne euch zurecht“, verkünden fast einstimmig Arkadi Dworkowitsch, Alexander Nowak und Igor Artemjew.

    Genauso einstimmig behaupten Experten allerdings das Gegenteil: Russland ist noch nicht in der Lage Gasturbinen in entsprechender Qualität selbst herzustellen. 

    Interessant ist an der gesamten Situation aber etwas ganz Anderes: 
    Wie konnten privatwirtschaftliche Interessen wichtiger werden als Staatsinteressen? Und wie wird sich das Ganze auf Russlands Beziehungen zu ausländischen Investoren auswirken?

    Die Hauptrolle spielte in dieser Geschichte natürlich Sergej Tschemesow. Im August 2014 bat ihn Putin persönlich, ein Wärmekraftwerk auf der Krim zu bauen. Zu diesem Vorgang sagte der Generaldirektor der Staatsholding Rostec kein Wort.

    Betrachtet man die jüngsten Aussagen des Generaldirektors, stellen die behandelten Themen irgendwelche Turbinen vollkommen in den Schatten: Die Flugabwehrraketensysteme, die Flugzeuge und Hubschrauber, die Panzer und KAMAZ-Lkws, mit denen sich Tschemesow beschäftigt – das alles wird der Regierung als ein Superprojekt präsentiert, um Russland von den Knien zu heben.

    Die Geschichte mit den Turbinen – ein Lapsus

    Die Geschichte mit den Turbinen – ein Lapsus. Im Zusammenhang mit der Krim hat Tschemesow Putin versprochen, ein Wärmekraftwerk zu bauen, das wird er auch tun. Über das, was dann kommt, sollen sich Medwedew und seine Regierung den Kopf zerbrechen.

    Nur vier Tage nach Veröffentlichung der Stellungnahme von Rostec, man habe die Turbinen auf dem Sekundärmarkt erworben, machte sich der Minister für Industrie und Handel Denis Manturow daran, die Lage zu retten: „Wir haben unseren westlichen Kollegen versichert, dass es sich um Turbinen russischer Produktion handelt. Zugegeben, unter Verwendung von Elementen aus ausländischer Produktion. Dennoch gibt es ein russisches Zertifikat, und es sind russische Turbinen.“

    Die Korrektur der Position ist offenkundig: Auf dem Sekundärmarkt gekaufte deutsche Turbinen und russische Turbinen mit Elementen aus ausländischer Produktion – ein gewisser Unterschied lässt sich nicht leugnen.

    Die Regierung ist enttäuscht

    Und das führt zu einer wichtigen Frage: Wie ist denn die Position der Regierung? 
    Während Siemens seine Anklage vorbereitete, die Europäische Kommission über eine Verschärfung der Sanktionen nachdachte und Deutschland mit einer Verschlechterung der Beziehungen drohte, kommentierte die russische Regierung das Geschehen als privatwirtschaftlich und nicht von staatlicher Relevanz. Stellungnahmen von Seiten der politischen Leader gab es keine – weder von Wladimir Putin noch von Dimitri Medwedew. Genauso wenig wie eine Aussage über russische Investitionsstrategien unter den Sanktionen.

    Für die russische Regierung scheint es bei der entstandenen Situation also gar keine imageschädigende oder strategische Dimension zu geben – man betrachtet das Problem als ein privates.


    Wenn nicht Siemens, dann Andere?!

    Wenn man allerdings die öffentliche Position von Vertretern der russischen Regierung verallgemeinert (besonders deutlich äußerte sich Igor Artemjew), dann wird Russland, erstens, jeden Augenblick eigene Turbinen produzieren, die nicht schlechter sein werden als die deutschen. Wenn es das nicht längst getan hat.

    Und zweitens: Sollte es noch keine Turbinen produziert haben, werden andere Konkurrenten an die Stelle von Siemens treten. „Ihren [Siemens’] Platz werden sehr bald andere einnehmen. Aus China, dem Nahen Osten oder aus Europa – was weiß ich“, äußerte sich Artemjew. Ihm zufolge werden es vermutlich „transnationale Firmen“ sein, „die dank der Globalisierung keine Angst vor irgendwelchen Regierungen haben“. 

    Das Wort Globalisierung bekommt in dieser schwierigen Lage plötzlich einen positiven Beiklang von Hoffnung. Dabei hat der antiglobalistisch eingestellte Kreml westliche transnationale Firmen bislang immer für ihren Egoismus und ihre doppelten Standards verflucht.

    Bleibt nur noch zu klären, ob die großen westlichen Unternehmen, die zu einer Zusammenarbeit mit Russland bereit sind, Teil des internationalen antirussischen Imperialismus sind oder unsere letzte Hoffnung.

    Die Donbass-Strategie

    Die russische Regierung ist offenbar sehr enttäuscht von Siemens – sie hatte ein anderes Verhalten erwartet. Sowohl Rostec als auch die Regierung und der Kreml gingen offenbar davon aus, dass sie und Siemens in einer Mannschaft spielen, als sie lauthals und einhellig behaupteten, die auf die Krim gelieferten Turbinen seien russisch. 
    Dasselbe erwarteten sie wohl auch von den Deutschen, die in so einer Situation gezwungen gewesen wären, sich auf die Seite der russischen Regierung zu stellen, und nicht der deutschen; also ungefähr so zu handeln wie der Kreml bei seinen Stellungnahmen zur Anwesenheit russischer Truppen im Donbass: Anerkennen, dass Truppen da sind, aber leugnen, dass sie russisch sind.

    Die schroffe und eindeutige Weigerung von Siemens, nach diesen Regeln zu spielen, löste in Russland eine Lawine der Empörung aus. Man warf dem Konzern Heuchelei vor (sie wollen schmutzig Geld machen, aber sauber aus der Sache hervorgehen!). 
    Mit der jetzigen Affäre beginnt ein neues Zeitalter der Beziehungen zwischen Postkrim-Russland und den westlichen globalen Unternehmen: Nun brauchen sie für den Zugang zum russischen Markt nicht nur „Pragmatismus“ und „Sachlichkeit“ (sprich die Anerkennung der westlichen Sanktionspolitik als ineffektiv und schädlich), sondern auch die Bereitschaft „schmutzig“ zu spielen, und zwar ohne Rücksicht auf die „Weltgemeinschaft“.

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  • Nawalny vor dem Aus?

    Nawalny vor dem Aus?

    Vor allem mit seiner Unermüdlichkeit hat er viel Respekt gewonnen – auch bei seinen Kritikern: der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny. Allen Versuchen zum Trotz, seine politische Handlungsfähigkeit einzuschränken, eröffnete er ein Wahlkampfbüro nach dem anderen, brachte bei den Anti-Korruptionsprotesten – die auf Recherchen seines Fonds für Korruptionsbekämpfung beruhten – im März und im Juni landesweit Hunderttausende auf die Straßen.

    Aus der Haftstrafe, die er deswegen absitzen musste, wurde er vergangenen Freitag entlassen. Es folgten Durchsuchungen zahlreicher Wahlkampfbüros von Nawalny durch die Polizei, seine Anhänger wurden verhaftet, laut offiziellen Angaben gab es allein in Moskau rund 70 Festnahmen. In Krasnodar war es keine Polizei, sondern es waren etwa 20 Personen – offenbar Aktivisten von Otrjady Putina (dt. Putin-Trupp) – die das Wahlkampfbüro verwüsteten und dabei Slogans wie Nasch Putin (dt. Unser Putin) skandierten [s. Video]. Am gleichen Wochenende wurde Putin auf dem G20-Gipfel danach gefragt, was er von Nawalny halte. Putin vermied es in seiner Antwort, den Namen des Oppositionspolitikers überhaupt zu nennen.

    Oleg Kaschin fragt sich auf Republic unter anderem: Bedeuten die Polizei-Aktionen, dass der Kreml die Entscheidung über die Nicht-Zulassung Nawalnys zur Wahl bereits getroffen hat?

    Rote Punkte kennzeichnen Städte, in denen polizeiliche Durchsuchungen und Festnahmen von Aktivisten stattfanden. Die Briefumschläge markieren Orte, an denen Wahlkampf-Materialien beschlagnahmt wurden. An den mit blauen Punkten gekennzeichneten Orten kam es zu Angriffen durch kremlnahe Aktivisten. Quelle: Meduza

    Der gesamtrussische Pogrom gegen die Wahlkampfbüros von Alexej Nawalny lässt Erinnerungen an die Zeiten der Repressionen gegen [Eduard] Limonows [National-Bolschewistische] Partei wach werden: Dutzende verhaftete Aktivisten, durchsuchte Büros, beschlagnahmtes Agitationsmaterial. Gleichermaßen beeindruckend ist, wie flächendeckend und hart der Staat dabei vorging. Sowas wie Überspitzungen auf örtlicher Ebene oder Täterexzesse kann man ausschließen – weil es zu viele Orte, zu viele Täter sind.

    Befehl aus den obersten Etagen

    Attacken von derartigem Ausmaß sind nur möglich, wenn der Befehl aus den obersten Etagen kommt, und zwar nicht von der Polizei, sondern von der Politik. Wenn man sich vorstellt, dass irgendwo im Kreml regelmäßig Besprechungen zum „Problem Nawalny“ stattfinden, kann man leicht zu dem Schluss kommen, dass die Stimmung bei diesen Besprechungen in den vergangenen Monaten dreimal umgeschlagen ist.

    Zunächst setzte man auf die sogenannte „Zivilgesellschaft“, auf staatsloyale Aktivisten, die zwar von der Polizei gedeckt wurden, aber formal eigenständig operieren. Seljonka, Pikets, Schlägereien und Provokationen bei öffentlichen Veranstaltungen – das Standardprogramm der anti-oppositionellen Aktivitäten, das offensichtlich nicht nur dazu gedacht ist, den letzten Nerv zu rauben und die Arbeit zu behindern, sondern auch eine Grundstimmung erzeugen soll, die vermittelt: Wo Nawalny ist, da sind Skandale, Pöbeleien und andere unangenehme Dinge, von denen man sich besser fernhält. 

    „Wo Nawalny ist, da sind Skandale“

    Zum Bruch kam es nach der Seljonka-Attacke, die für Nawalny mit einer Augenverletzung endete – zwischen psychischem und physischem Terror existiert sogar in Russland eine klare Grenze, und die Verantwortung für diese versuchte Verstümmelung trägt mindestens deswegen stillschweigend der Staat, weil die Polizei untätig zuschaute. 

    Nach der unerwarteten Entscheidung, Nawalny zur Behandlung nach Spanien ausreisen zu lassen, sickerten zahlreiche Informationen durch, der Kreml sei verärgert über die enthemmten [staatsloyalen – dek] Provokateure; das Feuer ihrer Aktivitäten würde nun jedenfalls eingedämmt.

    Startschuss für die Polizeioffensive

    Es wurde tatsächlich für einige Wochen ziemlich still um die sogenannte „Zivilgesellschaft“, bis zu ihrem triumphalen Auftritt in Krasnodar Anfang Juli, der quasi den landesweiten Startschuss für eine weitere Attacke gab – diesmal sogar der Polizei: ohne Seljonka, dafür mit Gefangenentransportern und überbordender Gewalt. 

    Zu deren Symbol wurde das Drama um den Aktivisten Alexander Turowski: Als er beim Polizeiangriff auf das Wahlkampfbüro in Moskau verletzt wurde, bugsierte man ihn, inklusive hämischer Kommentare vom Chefarzt, aus dem Sklifosowski-Krankenhaus geradewegs vors Gericht. Dort verdonnerte man das Opfer von polizeilichem Sadismus auch noch zu einer Strafe von 500 Rubel (von einer Strafe für die Polizisten, die mit Kampf-Sambo gegen Turowski vorgegangen waren, ist natürlich keine Rede).

    Ein Höllenradau, dass das Blut nur so spritzt

    Offensichtlich hat sich in diesen Monaten etwas radikal geändert. Bis dato hatte die Staatsmacht Nawalny an seiner Expansion in die Regionen nicht gehindert, und auf einmal tut sie es mit einem Höllenradau, dass das Blut nur so spritzt. Die Episode mit den regionalen Büros und freiwilligen Wahlkampfhelfern war ohnehin nur ein Nebeneffekt der Unentschlossenheit, ob Nawalny zur Wahl zugelassen wird oder nicht – diese Unentschlossenheit wurde selbst von der Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission Ella Pamfilowa offen benannt. Dann kam der Juli, und die Staatsmacht begann, mit den Wahlkampfbüros aufzuräumen, ohne sich weiterhin hinter den Kosaken, der Nationalen Befreiungsbewegung (NOD) oder dem South East Radical Block (SERB) zu verstecken. Bedeutet das, dass die endgültige Entscheidung über die Nicht-Zulassung Nawalnys zur Wahl bereits gefallen ist?

    Ist Nawalnys Nicht-Zulassung zur Wahl bereits entschieden?

    Ohne zu optimistisch klingen zu wollen: Bisher gibt es keinen Anlass, in der Polizeiattacke gegen Nawalnys Kampagne Anzeichen für eine endgültige Entscheidung zu sehen. Höchst deutlich definiert ist der Gegenstand des staatlichen Unmuts: die Wahlkampfzentralen und die Nawalny-Anhänger. 

    Innerhalb weniger Monaten ist im Land eine gewaltige neue überregionale Oppositionsbewegung entstanden – tausende neuer Anhänger konnten rekrutiert werden, die bislang jenseits der in den Regionen vermuteten zwei, drei Hanseln existiert haben. 

    Seit März sprechen Nawalnys Kritiker von der sogenannten Schkolota [und meinen damit die „dummen Schüler“dek], doch unter dieses abfällige Label fallen nicht die, die man vermeintlich vernachlässigen könnte (zum Beispiel der typische Leiter eines regionalen Wahlkampfbüros, der „Gewinner der regionalen Schüler-Olympiade für Geschäftsleute“, der Harvard-Student in spe, der künftige Programmierer). 

    Die Jugend wird Opposition

    Dass diese Jugendlichen einmal zu Oppositionellen mutieren würden, damit hat die Staatsmacht wohl nicht gerechnet. Und aller Wahrscheinlichkeit nach wird sie diese Leute erbarmungslos aus der Politik jagen, genauso wie einst die Limonow-Anhänger. Die Unterbindung jeglichen größeren Aktivismus mithilfe von Polizeigewalt ist ja nicht einmal neu – es ist eine Konstante des gesellschaftspolitischen Lebens in Russland. Ein paar Monate lang hat man aus irgendeinem Grund zugelassen, dass die Menschen diese Konstante vergessen, und jetzt erinnert man sie wieder daran. 

    Der Staat attackiert jetzt die Jugend

    Die aktuelle Säuberung macht sowieso den Anschein, als hielte die Staatsmacht ihr bisheriges Verhalten für einen Fehler: Indem sie die Eröffnung von Wahlkampfbüros in diversen Städten des Landes nicht verhinderte, senkte sie den Grad an Leidenschaftlichkeit, den die jungen Menschen mitbringen mussten, um in die Opposition zu gehen. Ein legales Stabsquartier in einem echten Büroraum, angemietet irgendwo im Stadtzentrum – an einen solchen Ort zu kommen ist psychologisch deutlich leichter, als in irgendeine Wohnung, die dem Untergrund als Treffpunkt dient. Die jungen Leute, die gestern noch schlicht keine Möglichkeit gesehen hatten, sich der Opposition anzuschließen, strömten plötzlich in diese Wahlkampfbüros. Damit zerstörten sie die gestrigen Vorstellungen von den unpolitischen Massen und den begrenzten menschlichen Ressourcen der Opposition. 

    Die Staatsmacht attackiert jetzt genau diese Jugend, versucht, sie von der Politik abzuschneiden. Sie versucht sie in den vorherigen Zustand zurückzuführen, als oppositionell zu sein noch bedeutete, in unnützen Pikets suspekter Organisationen herumzustehen und danach lange, unangenehme Gespräche in Extremismus-Zentren des FSB zu führen, am Arbeitsplatz, in der Schule oder Universität.

    Nawalny: Alternativlos in Anti-Putin-Kreisen

    Die Ränkespiele um Nawalnys politische Perspektiven bleiben dabei genauso offen wie im Frühjahr. Nawalnys Gelassenheit in Bezug auf Turowski und andere betroffene Aktivisten verunsichert viele, erscheint aber verständlich, wenn man die Attacken auf die Wahlkampfbüros und die gegen Nawalnys Kampagne selbst als zwei verschiedene, wenn auch miteinander verbundene, Dinge begreift. 

    Während die Polizei auf Freiwillige einprügelt und Flugblätter und T-Shirts beschlagnahmt, wettern die Sprecher bei Echo Moskwy gegen Intellektuelle, die sich weigern, in Nawalny zu investieren, dessen Alternativlosigkeit längst zum Mainstream und allgemeinen Konsens in Anti-Putin-Kreisen geworden ist. Selbst wenn man alle Wahlkampfhelfer hintereinanderweg einbuchten und die Zentralen niederbrennen würde – an Nawalnys Führungsposition würde das nichts ändern. 

    Damit Wladimir Putin sich vor Journalisten rechtfertigen muss, warum er denn nicht mit Nawalny debattiere, braucht es weder Wahlkampfbüros noch Wahlkampfhelfer. Die Kreml-Besprechung, bei der entschieden wird, was man mit Nawalny im Kontext der Präsidentschaftswahlen tun soll, die steht noch bevor.

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