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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Stört die Rente den WM-Frieden?

    Stört die Rente den WM-Frieden?

    Am Eröffnungstag der Fußball-WM in Russland wurde es verkündet: Die Regierung plant, das Rentenalter anzuheben. Für Frauen soll es bis 2034 schrittweise auf 63 Jahre steigen, für Männer bis 2028 auf 65 Jahre – bei einer derzeitigen Lebenserwartung von 67,5 Jahren für Männer. Seit 1932 gehen Frauen in Russland mit 55, Männer mit 60 Jahren in Rente. Sozialpolitische Maßnahmen hatte Putin bereits bei seiner Antrittsrede im Mai angekündigt. 

    Die geplante Reform findet im Volk nur wenig Anklang und stößt auch bei Gewerkschaften auf viel Unmut. Der Oppositionelle Alexej Nawalny hat für kommenden Sonntag, 1. Juli, Proteste in mehreren russischen Städten angekündigt – allerdings nicht in den WM-Austragungsorten, wo während der Fußball-Weltmeisterschaft ein Versammlungs- und Protestverbot gilt. Einzelne Oppositionsparteien, die liberale Jabloko-Partei und die linksradikale Lewy Front, kündeten trotz des Verbots für den 3. und 4. Juli Proteste auch in Moskau an.

    Oleg Kaschin kommentiert auf Republic, warum es allerdings sein kann, dass der wirkmächtigste Protest gegen die Rentenreform aus dem Machtzirkel selbst kommt.

    Was die Wortverbindung „menschlicher Faktor“ eigentlich bedeutet, das hat uns das Leben innerhalb weniger Tage auf verblüffende Weise neu vor Augen geführt. Klar, dieser Faktor muss stets beachtet werden: Hinter allen Maschinen, Lenkrädern, Computern, überall stehen und sitzen lebendige Menschen, die Menschen haben Nerven, die Nerven können versagen, der Mensch kann alles vermurksen. Darüber wurden Hunderte von Büchern geschrieben, das ist nichts Neues.

    Aber so anschaulich und klar wie diesmal, das ist doch sehr selten und sucht seinesgleichen. Da sitzen sie, in ihren Ministerien, in Instituten, im Kreml, und offenbar hat Kudrin kluge Köpfe um sich – Ökonomen, Finanzanalysten, Soziologen, PR-Leute. Sie sitzen, bereiten die Rentenreform vor, kalkulieren, was sich gehört, analysieren Risiken, zeichnen Tabellen und Grafiken. Alles durchdacht, alles fertig, kann losgehen.

    Der menschliche Faktor

    Und im entscheidenden Moment setzt er ein, der menschliche Faktor: Ein konkreter lebendiger Mensch, der 18 Jahre an seinem Image so sehr gefeilt hat, dass alle denken, von diesem Menschen würde im Land buchstäblich alles abhängen. Und der will plötzlich, dass diese offenkundig unpopuläre und sozial gefährliche Reform unter keinen Umständen mit ihm in Verbindung gebracht wird – mit Wladimir Putin.

    Beim Direkten Draht wurde eine sichtlich vorab vorbereitete Frage nach dem Rentenalter gestellt. Hier hätte Putin sagen können, ja, sie werden es erhöhen, doch stattdessen antwortete er: „Welche Maßnahmen die Regierung zur Lösung dieser Schlüsselaufgabe vorschlagen wird, das müssten wir in Kürze erfahren.“

    „Müssten wir erfahren“ – also auch er, Putin, weiß nicht, was sich die Regierung ausgedacht hat. Das ist seine offizielle Position: nichts zu wissen. Und eine Woche später, als Dimitri Medwedew das Reformprojekt verkündet, sagt Dimitri Peskow, Putin nehme nicht Teil an der Debatte über diese Reform, alle Fragen würden an die Regierung gehen. Das Prinzip „sie sind da nicht“ kann Putin offenbar auch auf sich selbst anwenden: Ich bin da nicht (obwohl alle wissen, dass er es ist). 

    Die Hauptnachricht ist nicht die Erhöhung des Rentenalters, sondern, dass Putin dafür keine Verantwortung übernimmt

    Insofern alle Macht auf Putin konzentriert ist, wird sein Unwille, mit der Rentenreform in Verbindung gebracht zu werden, zu deren wichtigster Eigenschaft. Das heißt wörtlich: Die Hauptnachricht ist nicht, dass das Rentenalter erhöht wird, sondern dass Putin keine Kraft gefunden hat, die Verantwortung dafür zu übernehmen.

    Eine anonyme, hinter dem Profilbild von Dimitri Medwedew versteckte Reform ist ein deutlich riskanteres Unterfangen, als wenn Putin beim Direkten Draht mit ruhiger Stimme gesagt hätte, ja, wir erhöhen das Alter, anders geht es nicht.

    Es gibt eine Palette von Argumenten für die Reform, die deren Befürworter verbreiten. (Ideal war in diesem Sinne ein Beitrag in der Sendung von Dimitri Kisseljow: „Ein munterer Schritt, ideale Körperhaltung. Und das mit 91 Jahren! Der dienstälteste Dozent des Stawropoler DOSAAF Dimitri Skorobogatsch eilt zum Unterricht.“) Diese hätten sogar überzeugend klingen können, wenn zu den Fragen nach Geld und Menschen nicht im letzten Moment noch die Frage nach Putin gekommen wäre, auf die es in keinem Methodik-Lehrbuch eine Antwort gibt.

    Die geleakte Info in Vedomosti, dass je nach möglichen Protesten die Reform abgemildert werden könnte, die gilt es durchaus ernstzunehmen. Dass in der seriösen Presse mit anonymen Quellen der Regierung gearbeitet wird, ist eine schon seit langem herrschende Praxis. Und wenn in Vedomosti von einem „der Präsidialadministration nahestehenden Gesprächspartner“ die Rede ist, dann ist der Name des Gesprächspartners sowohl dem Redakteur als auch dem Kreml bekannt, der nichts dagegen einzuwenden hat, dass dieser Gesprächspartner, ohne dass sein Name genannt wird, der Zeitung erzählt, was der Kreml denkt.

    Und das Leck darüber, dass „negative Reaktionen zu verringern“ seien, ist ein Zeichen von Unsicherheit des gesamten Machtapparates, denn so ist die Vertikale geschaffen: Wenn Putin diffus ist, dann verschwimmt und wackelt sowieso alles. Die Erwartung von massenweiser Unzufriedenheit kann man als Grund für dieses fehlende Selbstvertrauen erachten – oder auch als Folge. Denn schon jetzt hat insbesondere das Verhalten der Regierung die Reform als umstritten markiert (und nicht durch sie ausgelöste Massenproteste, die es ja noch gar nicht gab).

    Destabilisierung von oben

    Man kann es auch als Destabilisierung von oben bezeichnen, wenn die Regierung selbst den Anlass für die Proteste liefert. Aber die Frage ist – wer da wem was liefert. Öffentliche politische Kräfte, für die die Rentenreform ein Geschenk hätte darstellen können, gibt es im Land nicht. Eine soziale Protestkultur hat sich in Putins Russland schon vor längerer Zeit herausgebildet. Ihr zugrunde liegt folgender Konsens: Wenn man keine politischen Forderungen stellt, aber beharrlich bleibt, dann kann die Regierung in einen Dialog treten und Zugeständnisse machen.

    Dieses Prinzip ist mittlerweile mythologisiert und wird in der Praxis weiter gefestigt, im besten Fall in der Hälfte der laut gewordenen Themen. Doch wie auch immer, die Fernfahrer mit dem Platon-System, die Stadtsanierung, die Mülldeponien um Moskau in diesem Frühjahr, die ewigen Probleme betrogener Baukapitalgeber – nie kam es dazu, dass es den Moskauer Oppositionellen (solchen wie den ehemaligen Bolotnaja-Demonstranten)  gelungen wäre, sich in den sozialen Protest einzuklinken und sich an seine Spitze zu stellen. Wache geschoben wird bei den apolitischen sozialen Protesten vor allem von den Protestierenden selbst, die aufrichtig glauben, dass ein Bitten und Niederknien vor der Regierung effektiver ist als Politisierung und Zuspitzung.

    Bitten und Knien statt Politisieren

    Als eine Art Eichmaß dient bei der Geschichte fast schon seit anderthalb Jahrzehnten der damalige Versuch, staatliche Vergünstigungen durch Geldleistungen zu ersetzen. Als die Regierung, wie es heißt, nach einigen Monaten der Proteste, Zugeständnisse machte und die Reform soweit abmilderte, dass die Proteste aufhörten.

    An den Kundgebungen der Vergünstigungs-Befürworter nahm die Nicht-Systemopposition jener Zeit nicht teil. Dafür gab es in vielen Fällen Anlass für die Vermutung, dass lokale Machthaber den Protestierenden loyal oder zumindest neutral gegenüberstanden. Einen offenen Streit mit dem föderalen Zentrum konnten die Gouverneure damals schon nicht mehr führen. Kurz vor den geplanten Geldleistungen waren die Gouverneurswahlen abgeschafft worden. 
    Unter anderem die Unzufriedenheit im Volk war zu dieser Zeit eine neue Form des Feedbacks zwischen den Regionen und Moskau, und ein Druckmittel innerhalb der Machtvertikale. Und obwohl sich die Vertikale des Jahres 2018 selbstverständlich von der Vertikale 2005 unterscheidet, so hat auch jetzt jeder Gouverneur das Bedürfnis nach Verhandlungen mit dem Zentrum und nach Druck auf das Zentrum, selbst wenn er ein dem Kreml maximal treuer junger Technokrat der neuesten Generation ist.

    Für die Medwedew-Gegner auf föderaler Ebene eröffnen sich naheliegende Möglichkeiten – es wäre merkwürdig, wenn sie diese quasi laut verkündete Angreifbarkeit der Regierung nicht nutzen würden. Die Destabilisierung von oben, die durch die Unsicherheit Putins provoziert wurde, eröffnet vor allem Kampfmöglichkeiten innerhalb des Systems. Und alle realen Teilnehmer des zukünftigen öffentlichen Kampfes um die Rentenreform sitzen im Machtzirkel.

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  • WM: Potemkinsche Städte

    WM: Potemkinsche Städte

    Alles dreht sich im Kreis und nicht um den Fußball: Die WM-Gäste werden natürlich nichts davon erfahren, wie ganz Moskau drei Jahre lang brav im Stau gestanden hat, während die Innenstadt und die Ausfallstraßen einmal komplett für die WM umgegraben wurden. Und auch über andere Dinge wird geschwiegen. Aber Andrej Archangelski hat’s aufgeschrieben und so erfahren sie’s nun doch.

    „Ein Deutscher“, sagte sich Berlioz. „Ein Engländer“, dachte Besdomny. „Boah, dass dem nicht zu heiß wird mit seinen Handschuhen!“

    Es war Frühling, eine ungewöhnlich heiße Dämmerstunde am Patriarchenteich … und Bulgakow betrachtet Moskau, wie wir uns erinnern, durch die Augen eines ausländischen Konsultanten – eines Ausländers. Diese Projektion kommt nicht von ungefähr: So sieht man Moskau besser.

    Auch jetzt, kurz vor der Weltmeisterschaft, ist die Stadt, wenn man sie durch die Augen eines ausländischen Besuchers betrachtet, ungewöhnlich schön. Ohne die jahrelang aufgerissenen Straßen, die dann ganz plötzlich, innerhalb von nur zwei Wochen nigelnagelneu aussahen, wie von Zauberhand … Die Gäste werden natürlich nichts davon erfahren, wie ganz Moskau drei Jahre lang brav im Stau gestanden hat, während die Innenstadt und die Ausfallstraßen einmal komplett umgegraben wurden – „wir bitten um Geduld für die WM“. Wie es in all den anderen Städten ausgesehen hat, in denen die Fußballsause ausgetragen wird, kann man nur erahnen.

    Wir bitten um Geduld für die WM

    Eine der Absonderlichkeiten an jenem Frühlingsabend, mit dessen Schilderung Meister und Margarita beginnt, ist die folgende: „Nicht nur am Büdchen, nein, auf der gesamten Allee […] war nicht ein einziger Mensch zu sehen.“ Und auch jetzt wirkt Moskau halbleer – nur dass diesmal niemandes teuflischer Plan dahintersteckt. Ja, stimmt, laut Gerüchten gab es in manchen Ecken der Hauptstadt hier und da Säuberungsaktionen gegen Migranten, aber wesentlich für die Leere Moskaus ist heute etwas ganz anderes: seine städtebauliche Struktur.

    Die Stadt, in der wir heute leben und wie wir sie kennen, wurde noch unter Stalin erdacht. Aus dieser Zeit stammen ihre Hochhäuser und Prospekte, damals wurde ihr die totalitäre Logik aufgeprägt. Eine solche Stadt entsprach, wie man heute sagen würde, dem Geist der totalen Repräsentation: Alles war ausgerichtet auf die Durchführung von Fest- und Arbeiterkundgebungen, Ehrenformationen und Pionierparaden – all das sollte der Welt den Sieg des Sozialismus demonstrieren. Der Sozialismus ist längst Geschichte, aber das Schaufenster, zu dem die ganze Stadt gemacht wurde, ist noch da. Nur dass man sie jetzt Podium nennt.

    Moskauer Menschenleere

    Der Abriss der Verkaufspavillons, aber auch die Verbreiterung der Gehwege waren Teil einer „Vermenschlichungsstrategie“, die die Stadt den Menschen zurückgeben sollte, doch sie brachte den entgegengesetzten Effekt. In ihrem Alltag brauchen die Leute keine derart breiten Gehwege mehr; der moderne Städter flaniert und lustwandelt nicht mehr wie im 19. Jahrhundert. Vor allem abends wird das allzu deutlich – die breiten Trottoirs unterstreichen nur die Moskauer Menschenleere.

    Im Endeffekt hat Sobjanin nur die Idee des stalinistischen Moskaus, die einer anderen Gesellschaft galt, verewigt und neu verputzt. Leuchtende Beispiele sind der Gorki-Park oder das WDNCh, die zum Denkmal des Stalinismus, seiner Geometrie und Totalität geworden sind. Die totalitäre Infrastruktur zwingt den heutigen Stadtbewohner, entgegen seinen Bedürfnissen, Gewohnheiten und Wünschen zu leben, sie nimmt ihm die Alternative, zwingt ihn wieder und wieder, sich im Kreis zu bewegen. Die Menschen stimmen unbewusst mit ihren Füßen ab – gegen diese Logik; und weil die Weltmeisterschaft mit zusätzlichen Einschränkungen droht, halten sie sich naturgemäß ganz von selbst aus der Stadt fern.

    Moskau ist nun zugeschnitten für den Blick aus dem Busfenster

    Das ist das paradoxe Ergebnis der Umgestaltung: Moskau ist nun zugeschnitten für den Blick aus dem Busfenster – und der fällt genau auf diese Leere, die Menschenlosigkeit, dem unkontrollierbaren, aber bestimmenden Merkmal der Stadt. Genau so wird sich die Stadt den WM-Besuchern präsentieren. Und das offenbart die unbewusste Aufgabe, die mit dem Umbau einhergeht: Das ganze Land in die Vergangenheit zurückzuversetzen, sagen wir, in die 1980er Jahre, um dann die Zeit für immer anzuhalten.

    1980 reloaded

    Moskau wird sich genauso präsentieren, wie es 1980 war. Die Gäste der Hauptstadt bekommen die einmalige Gelegenheit zu einer Reise in die fortgesetzte Vergangenheit. Das äußere Beiwerk ändert dabei nichts am Grundprinzip der Existenz: Was zählt, sind die Wünsche des Staates, nicht die der Menschen.
    Wie es der Zufall will, kommt ausgerechnet in diesen Tagen Kirill Serebrennikows neuer Film Sommer in die Kinos – während der Regisseur selbst seit einem Jahr unter Hausarrest steht.

    Sein Film spielt ebenfalls in den 1980ern. Auch dort herrscht eben jenes Gefühl von Endlosigkeit – es scheint, als würde alles für immer so bleiben; nur die Rockmusik überschwemmt von Zeit zu Zeit das von allen Seiten abgedichtete Gebäude namens UdSSR. Schließlich beschließt der Staat, dies zu kanalisieren – in Form des Leningrader Rock-Klubs. Die Freiheit des Menschen, seine Emotionen, sein Tatendrang gepaart mit staatlicher Kontrolle – das ist noch ein Geheimrezept der späten Sowjetunion.

    Auch heute wird jede menschliche Regung, jedes Verlangen kontrolliert. Du kannst zum Beispiel dein Fußballteam anfeuern, aber halte deine Gefühle bitte im Zaum, denn die Rostower Kosaken werden „alle Männer, die sich während der WM 2018 küssen, der Polizei melden“.

    Das Grundprinzip der Existenz ist und bleibt: Jeder, der leben will, muss eine Erlaubnis für dieses Leben einholen. 

    Freiwillig unfrei

    Den Zustand freiwilliger Unfreiheit können Ausländer nur schwer nachvollziehen. Allein die Existenz dieser menschlichen Maschine ist auf ihre Art einzigartig – es braucht dafür gleichzeitig millionenfache Selbstzensur. Nur eine Minderheit empfindet die Abwesenheit von Freiheit als Problem; die Erfahrung der individuellen Freiheit hat es nicht bis in den kollektiven Erfahrungsschatz geschafft, Freiheit ist nie zu einem Wert geworden.

    „Im Sport sind alle Länder vereint!“ verkündet fröhlich ein Werbespot im Propagandaradio, das noch gestern fast Funken sprühte vor antiwestlicher Rhetorik. Und auch das spiegelt nur einen Wunsch der obersten Führung wider: Solange wir das Sportfest zelebrieren, sollen „alle alles vergessen“ – weil es ihr, der Führung, gerade so passt. Genau das ist das totalitäre Bewusstsein, von dem Orwell schreibt: Es will alles vergessen, wenn es gerade bequem ist, und erwartet von allen, dass sie dasselbe tun.

    Aber die Welt funktioniert anders, und dort wird man nichts vergessen, auch nicht für die Dauer der Weltmeisterschaft: Weder die Ukraine, noch Senzow, noch Serebrennikow. Und dann, wenn die WM vorbei ist, wird alles wieder von vorne beginnen – immer im Kreis, immer im Kreis.

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  • Die Schule der inneren Emigration

    Die Schule der inneren Emigration

    In Deutschland ist das Phänomen bekannt aus NS- und DDR-Zeit: Statt auszuwandern oder in eine offene Opposition zu treten, ziehen sich Menschen unter unliebsamen äußeren Umständen oft zurück in eine innere Emigration. Wer in der Sowjetunion aufgewachsen ist, verfügt hier über einen reichhaltigen Erfahrungsschatz, der zu einem gefragten Gut werden könnte, meint Maxim Trudoljubow auf Republic.

    Unbeteiligt und abwesend sein, den lästigen Lärm der Außenwelt ausblenden, innerlich emigrieren, an verschiedenen Orten und zugleich nirgendwo sein können – diese Fähigkeiten sowie die damit verbundene Geistesschule sollten wir zum goldenen Erbe der Sowjetunion zählen. Es ist ein Gut, das sich mit anderen zu teilen lohnt.

    Brodskys Strategie macht Schule in den USA

    „[Joseph – dek] Brodskys Strategie des Abschaltens machte plötzlich auf abstruse Weise Sinn für mich“, schreibt eine Redakteurin des jungen amerikanischen Magazins The Point mit Blick auf die aktuelle politische Lage in den USA. Der ehemalige Top-Manager eines internationalen Konzerns setzt diese Strategie in die Praxis um – indem er seinen Alltag so gestaltet, dass er buchstäblich keine Nachrichten mehr bekommt, und die New York Times bringt darüber eine große Reportage. Außerdem gibt es mittlerweile zahlreiche praktische Ratgeber und Berichte über das Flüchten aus der US-amerikanischen Wirklichkeit nach Kanada.

    Und das bereits nach anderthalb Jahren Trump. Was kommt nach vier oder nach – gar nicht so undenkbaren – acht Jahren? Genau hier können wir eine helfende Hand reichen. Die Russen haben sich von den Amerikanern so einiges an Technologie und Praxis abgeguckt. Es ist höchste Zeit, die Schuld zu begleichen.

    Ein Leben im Kloster des eigenen Geistes

    Doch die Sache ist ernst, und so schnell wird das nicht gehen. Dort, wo der US-Bürger vor der simplen Entscheidung des An- oder Abschaltens steht, verfügen wir über fünfzig Facetten der Teilnahmslosigkeit und inneren Emigration. In welcher Kultur sonst findet man so feine, ausgeklügelte Überlebenstechniken und Wege, den gesunden Menschenverstand unter Bedingungen zu bewahren, die dafür nicht geschaffen sind? Wo sonst hatten die Menschen so viel Gelegenheit zu lernen, wie man abwesend ist, während man anwesend zu sein vorgibt?

    Brodsky hat ein völlig neues Verhaltensmuster vorgelegt. Er lebte nicht in einem proletarischen Staat, sondern im Kloster seines eigenen Geistes. Er kämpfte nicht gegen das Regime. Er nahm es nicht zur Kenntnis.

    (Sergej Dowlatow, Das unsichtbare Buch)

    „Die ewigen Fotos von Stahlgießereien in jeder Morgenzeitung und der ununterbrochene Tschaikowski im Radio – diese Dinge hätten einen in den Wahnsinn treiben können, hätte man nicht gelernt abzuschalten“, schreibt Brodsky selbst in [seinem autobiographischen Essay – dek] Weniger als man. Nicht nur Brodsky beherrschte das Abschalten, viele konnten das, vielleicht sogar alle, selbst die Parteifunktionäre. Man hat gelernt, die Außenwelt zu akzeptieren, aber diese Akzeptanz war eine rein oberflächliche, formelle. Die sowjetischen Gelehrten fügten Lenin-Zitate in ihre Schriften ein, ohne den abgetippten Buchstaben den geringsten Sinn beizumessen. Sowjetische Führungskräfte hielten Reden, ohne sich bewusst zu machen, was sie da eigentlich erzählen. Der sowjetische Mensch konnte anwesend sein, ohne wirklich da zu sein.

    Das Außerhalbsein – ein sowjetisches Konzept

    „Innerhalb des Systems, als Teil davon, existierte das Individuum im selben Moment auch außerhalb dessen, an einem anderen Ort“, schreibt der Anthropologe Alexei Yurchak in seinem Buch Everything Was Forever, Until It Was No More. Diesen Zustand, wenn man sich gleichzeitig innerhalb und außerhalb des Systems befindet, bezeichnet Yurchak als wnenachodimost – das Außerhalbsein.

    Und es geht nicht nur um die Hausmeister und Nachtwächter, das heißt, um Menschen, die in Heizwerken und Kesselhäusern arbeitend Lieder dichteten, alte Sprachen lernten und philosophische Traktate verfassten. Auch Verkäufer und Kassierer waren oft gleichzeitig anwesend und woanders. Ganz zu schweigen von der praktischen Unmöglichkeit, einen zuständigen Beamten physisch an seinem Arbeitsplatz anzutreffen. Die Menschen konnten Positionen bekleiden und, ob sie nun da waren oder nicht, anstatt zu arbeiten, ihre gesamte Zeit mit Gesprächen zubringen. Eine gängige Praxis war das Abfeiern – man verdiente sich Urlaubstage, indem man an (den ausschließlich offiziellen) Demonstrationen teilnahm oder zur Kartoffelernte aufs Land fuhr.

    Das Regime war etwas, das man am besten einfach nicht bemerkte

    Aktives Dissidententum konnte dabei genauso zu Ausgrenzung führen wie aktive Unterstützung des Regimes. Politische Themen galten in der spätsowjetischen Kultur als nicht der Rede wert. So war es – das ist wichtig – bis zum Beginn der Perestroika. Gegen das Regime zu kämpfen hätte bedeutet, es anzuerkennen, doch das Regime war etwas, das man am besten einfach nicht bemerkte.

    Verbotene Literatur wurde gelesen – von denen, die an sie herankamen, aber gelesen wurde auch sonst alles, was unter den Bedingungen des Informationsdefizits nur entfernt Beachtung verdiente. Was zählte, war das Gespräch.

    Diskussion als lebendige Reaktion der Gesellschaft auf Zensur und Kontrolle

    Der Raum der Diskussion und des – persönlichen – Austauschs war eine lebendige Reaktion der Gesellschaft auf Zensur und Kontrolle. Aber weil solcher Austausch Vertrauen voraussetzt, bildeten sich bald Erkennungsmethoden nach dem Prinzip „Freund oder Feind“: Man konnte in den engeren Kreis aufgenommen, aber auch plötzlich ausgestoßen werden, was in einer Kultur, die sehr sensibel mit der Würdigung per Handschlag umging, eine empfindliche Strafe sein konnte. Formelle Anerkennung war so gut wie nie deckungsgleich mit informeller Anerkennung, inoffizielle Autorität wog schwerer als die offizielle.

    Übrigens, wir sollten die Prinzipien der Realitätsflucht auch heute an uns selbst überprüfen. Die Praktiken liegen uns im Blut und lassen sich sicher leicht abrufen. Es würde mich zum Beispiel nicht wundern, wenn Angestellte im öffentlichen Dienst für die Teilnahme an offiziellen Demonstrationen einen Ausgleichstag bekämen. Genauso wenig würde mich wundern, wenn Führungskräfte ihre Reden heute wieder hielten, ohne groß über deren Inhalt nachzudenken. Und genügend Arbeitsplätze, wo sich die Angestellten den ganzen Tag nur unterhalten, gibt es sowieso.

    Die russische Lebensweise als unvollständig anwesende Existenz

    Sich entziehen, sich um etwas herumdrücken, anwesend sein und im selben Moment nicht – diese Dinge sind in den unterschiedlichsten Formen weit verbreitet. Die russische Lebensweise – mit ihren ständigen Abstechern auf die Datscha oder, wenn man in der Provinz lebt, Ausflügen in die Großstadt – hat an und für sich etwas von einer unvollständigen Anwesenheit.

    Und doch hindert uns irgendetwas daran, die Glückseligkeit des totalen Abschaltens zuzulassen. Die Ähnlichkeiten mit der späten UdSSR sind augenfällig, sollten uns jedoch nicht täuschen. Im heutigen Russland ist es ohnehin schwer, sich eine allgemeingültige Praktik auszumalen.

    Heutzutage gibt es ungleich mehr Möglichkeiten, sein Leben nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten, sich seinen eigenen Raum und seine eigene Zeit zu schaffen, als zu Sowjetzeiten.

    Aber das sollte uns natürlich nicht davon abhalten, jene Praktiken des Abschaltens zu erforschen, die so tief in unserer Kultur verwurzelt sind – und diese Kunst der jungen und noch unerfahrenen US-amerikanischen Intelligenzija beizubringen.

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  • Hetzjagd auf eine Rocklegende

    Hetzjagd auf eine Rocklegende

    Auf Andrej Makarewitsch und seine Band Maschina Wremeni – ein Urgestein der russischen Rockmusik – konnten sich jahrzehntelang breite Teile der Bevölkerung einigen. 

    Das änderte sich im Frühjahr 2014, als Makarewitsch – noch vor der Krim-Angliederung und dem Krieg im Donbass – vor einer „entfesselten Propaganda“ und einem möglichen Krieg mit der Ukraine warnte. Beim Friedensmarsch zeigte er sich mit einem Peace-Symbol und einer Schleife in den ukrainischen Nationalfarben. Wenig später hing im Zentrum Moskaus ein riesiges Banner mit der Aufschrift „Die Fünfte Kolonne“ – dazu die Gesichter von Makarewitsch, Juri Schewtschuk, Boris Nemzow, Alexej Nawalny und Ilja Ponomarjow.

    Die Lage spitzte sich weiter zu, als Makarewitsch im August 2014 ein Konzert in der Ukraine gab – in einem dortigen Lager für Geflüchtete aus den umkämpften Donbass-Gebieten. 

    Dem Musiker wurde öffentlich „antirussisches“ Handeln vorgeworfen, Politiker sprachen von „Kooperation mit Faschisten“, in staatsnahen Medien erschienen Beiträge und Sendungen wie 13 Freunde der Junta, die Makarewitsch als Volksverräter darstellten, und das Netz füllte sich mit Hasskommentaren über den Musiker.

    Die Shitstorms gegen Makarewitsch nehmen auch vier Jahre später kein Ende, wie ein aktueller Vorfall zeigt, in den sogar Außenamtssprecherin Maria Sacharowa involviert ist. Diesen kommentiert Oleg Kaschin auf Republic und fordert: Lasst den Klassiker in Ruhe!

    Bevor ihr jemanden vom Dampfer der Modernität werft, denkt an seine Bedeutung für die Kultur unseres Landes – möglicherweise wiegt sie schwerer als die Worte und Taten, für die ihr ihn bestrafen wollt. 

    Natürlich ist es in Zeiten von Harvey Weinstein und Kevin Spacey merkwürdig, das zu sagen. Am nächsten an Weinstein und Spacey dran scheint in unserem Kontext der Abgeordnete Sluzki, doch nein, eine lineare Logik greift hier nicht. Sluzki steht eine Untersuchung in der Staatsduma bevor, aber sonst wohl erstmal nichts; zumindest gibt es bisher keinen Anlass zu sagen, dass alle gegen Sluzki wären. Klar, da sind diese drei Journalistinnen, da sind ein paar ihrer Kollegen, die sogar vor der Duma protestierten oder wie Sergej Dorenko zum Boykott aller Nachrichten mit Sluzki aufriefen.

    Hingegen hat Wjatscheslaw Wolodin bereits Partei für den der Belästigung Beschuldigten ergriffen, und Duma-Kollegen, also Leute, die das Disziplinarverfahren gegen Sluzki durchführen werden, äußern sich nicht negativ über ihn. In diesem Sinne ist er von Weinstein offenbar noch meilenweit entfernt. 

    Weniger davon entfernt ist Andrej Makarewitsch. Der Vergleich mag weit hergeholt erscheinen, aber im Grunde ist es so: Den Platz, den in westlichen Gesellschaften sexuelle Belästigung einnimmt, besetzt bei uns echter oder (öfter) angeblicher Antipatriotismus.

    Die Rolle einer gesellschaftlichen Naturgewalt, die Makarewitsch auf die Unzulässigkeit seiner Worte hinweist, spielen die loyalistische Presse und einige offizielle Personen. Darunter auch Maria Sacharowa vom Außenministerium. Ihren Bemühungen ist es zu verdanken, dass ein beiläufiger Facebook-Kommentar ordentlich eingedampft wurde. Wörtlich hieß es da: „Mir scheint, die staatliche Propaganda hat ein 25. Einzelbild erfunden, das die Menschen wahrhaftig in boshafte Deppen verwandelt“ und daraus wurde dann: „Makarewitsch nannte die Russen boshafte Deppen.“ Ausgerechnet dank jenen, die sich derart ereifern, wurde dieser Satz dermaßen ungeheuerlich und unzumutbar, als hätte Makarewitsch Russland den Krieg erklärt, und nicht nur erklärt, sondern sofort auf Kreml, Christ-Erlöser-Kathedrale und noch auf irgendeinen Kindergarten das Feuer eröffnet.  

    Als Zielscheibe staatlicher und staatsnaher Kritik steht Makarewitsch nicht alleine da – die Propaganda fällt in Russland regelmäßig über Leute her, die etwas gesagt haben, was irgendwie daneben war. Das letzte prominente Beispiel war die „Kraft, Unverschämtheit und Grobheit“ des Schauspielers Alexej Serebrjakow [Hauptdarsteller in Leviathandek]. 

    Aber das Lieblings-Angriffsobjekt ist Makarewitsch, der die Macht der loyalistischen Missbilligung erstmals 2014 zu spüren bekam, als die Hetzjagd auf ihn begann für seinen Auftritt im Frontgebiet im Donbass, das von den ukrainischen Streitkräften kontrolliert wurde. Innerhalb von vier Jahren wurde Makarewitschs Image durch die Bemühungen von kremltreuen Medien und Aktivisten ernsthaft korrigiert – er ist nicht mehr unser Mick Jagger, kein ehrwürdiges Rock-Urgestein, sondern eher ein moderner Galitsch: für die einen Feind und ausgekochter Anti-Sowok, für die anderen, im Gegenteil, das Gewissen der Nation. In jedem Fall aber vor allem eine politische Figur, die vor einer einfachen Entscheidung steht – entweder durchhalten bis zum Zusammenbruch des Regimes, und dann am Tag der Bestattung der russischen „Himmlischen Hundertschaft“ am Roten Platz irgendwas Trauriges singen oder still und heimlich abziehen und seine Bürger-Lyrik einem immer größer werdenden Exilpublikum präsentieren. Klar ist die zweite Variante ungleich wahrscheinlicher und realistischer als die erste, doch eine dritte gibt es offenbar einfach nicht mehr (obwohl es sie ja gerade noch gab – vor nur zehn Jahren sang Makarewitsch bei der Inauguration Dimitri Medwedews und musste sich gegen Angriffe der liberalen Öffentlichkeit verteidigen).

    Es geschieht ein furchtbares Unrecht, wenn das Schicksal eines unbestrittenen Klassikers der heimischen Popmusik formal in die Hände der Jungs von Lenta.ru und der Mädels von NTW gerät. Die Band Maschina Wremeni wird kommenden Frühling fünfzig, mit ihren Songs sind tatsächlich mehrere Generationen aufgewachsen (Nasche obschtscheje detstwo proschlo na odnich bukwarjach/dt. „Wir haben als Kinder alle aus der gleichen Fibel gelernt“). Man kann sie durchaus als einzigartige kulturelle Institution bezeichnen – wenn schon nicht wie das Bolschoi-Theater, so doch mindestens wie das Alexandrow-Ensemble, und eine solche Institution hat in jedem Fall eine sorgsame Behandlung verdient. 

    Tun wir doch nicht so, als würden beiläufige Kommentare auf Facebook tatsächlich jemanden kränken. Das sieht mir eher nach dem Testlauf irgendwelcher Medientechnologien aus, nach der Konstruktion eines Skandals aus dem Nichts, einer Mobilisierung der öffentlichen Meinung. Gut, offenbar braucht ihr solche Experimente, wie man längst erkennen kann, seid ihr ganz versessen auf Informationskriege. Aber was veranlasst euch, gerade mit diesem Menschen zu experimentieren, einem altehrwürdigen Künstler? Wenn er dadurch einen Herzinfarkt erleidet, wie gut schlaft ihr dann noch, wie lebt ihr dann überhaupt weiter?

    Man kann darüber diskutieren, ob das Fernsehen seine Zuschauer zu boshaften Deppen macht, aber es steht völlig außer Frage, dass konkret Andrej Makarewitsch einen solchen Umgang nicht verdient, und sich ihm gegenüber so zu verhalten, wie seine Ankläger es tun, ist reinste, destillierte Niedertracht. 
    Rein formal ist nicht bekannt, ob diese Niedertracht einen konkreten Autor hat. Sie verteilt sich auf beliebte Online-Publikationen, Boulevardblätter, staatliche Fernsehsender und öffentliche Personen, die es anscheinend nötig haben, Makarewitsch einen Tritt zu versetzen. Aber all diese Medien und all diese Personen eint, dass jeder von ihnen durch einen einzigen Anruf aus dem Kreml zu stoppen wäre.

    Sergej Kirijenko, der 1999 beim Wahlbündnis Union der rechten Kräfte (SPS) die Liste anführte, sollte sich daran erinnern, wie während der Wahlkampfes gerade Maschina Wremeni Konzerte zur Unterstützung der SPS gab und in den TV-Wahlspots sang – wahrscheinlich für Geld, aber Kirijenko hat ja dieses Geld investiert, weil er dachte, gerade die Stimme Makarewitschs (und nicht etwa Kobsons) sei imstande, ihm die Stimmen der Wähler zu bringen.

    Die russische Gesellschaft und vor allem jener Teil, um den es beim Thema Hetze gegen Makarewitsch geht, befindet sich derzeit nicht in einem Zustand, wo man auf ihre Klugheit und Nachsicht zählen könnte. Daher hätte es keinen Sinn, Makarewitschs Äußerung und ihre Unzulässigkeit inhaltlich zu erörtern – die Wahrheit kommt derzeit oft nicht im Disput ans Licht, sondern in direkten Anweisungen.

    So wendet man sich besser direkt an Kirijenko und seine Kollegen: Zeigt Gewissen, gebietet der Jagd auf Makarewitsch Einhalt, und lügt nicht, dass ihr das nicht könnt. 

     

    Das Lied „Marionetten“ aus dem Jahr 1974 war in der Sowjetunion verboten. Erst während der Perestroika wurde es auf der Compilation „Zehn Jahre später“ veröffentlicht

     


     


    Ende Februar 2014 , direkt nach den Ereignissen auf dem Maidan und noch vor der Angliederung der Krim, äußerte sich Andrej Makarewitsch in einer Kolumne, die auf Snob erschien. Diese Äußerungen bilden den Anfang der Demontage, der der Frontmann der Gruppe Maschina Wremeni laut Oleg Kaschin bis heute ausgesetzt ist und die im obigen Text kommentiert wird.

    Deutsch

    Über die Widerwärtigkeit

    Ich mache mir Sorgen ob der Ereignisse in der Ukraine. Aber noch mehr Sorgen bereitet mir das, was in diesem Zusammenhang bei uns geschieht. Ich habe schon Eindruck, dass unsere Staatsmacht denkt: Das Land, das Volk – das sind die, die regieren. Wenn ein Herrscher jedoch nicht auf sein Volk hört und er ihm darüber hinaus Gewalt antut, so wird das Volk ihn wegfegen. Insofern hat in der Ukraine eine ganz typische Revolution stattgefunden. Und bei all meiner Abscheu gegenüber Revolutionen, kann ich sie nicht als ungerechtfertigt bezeichnen. Jetzt kann man, soviel man will, mit den Flügeln schlagen oder die aufständischen Bürger als „braune Pest“ bezeichnen – es sieht einfach widerwärtig aus.

    An eine solch entfesselte Propaganda und einе solche Menge von Lügen kann ich mich seit den besten Breshnew-Zeiten nicht erinnern. Und das lässt sich auch gar nicht vergleichen: Damals gab es viel weniger Möglichkeiten. Leute, was wollt ihr denn bloß? Ein öffentliches Klima schaffen für den Truppen-Einmarsch in das Gebiet eines souveränen Staates? Die Krim abhacken?

    Das Zentralkomitee der KPdSU hatte sich vor der Entsendung von Truppen in die Tschechoslowakei nicht mit dem Volk abgestimmt. Und was war, außer dass sie sich vor der ganzen Welt bloßgestellt haben?
    Heute sind dort zwei Länder statt einem. Und was ist mit dem einen und dem anderen? Haben wir ihre Liebe gewonnen? Oder sonst irgendwas?

    Es ist ja bereits gelungen, eine ziemlich große Masse von Idioten und Unbelehrbaren mit instabiler Psyche zu Zombies zu machen. Mit der Waffe in der Hand reißen sie sich schon darum, die russischsprachige Bevölkerung zu retten – als hätte sie darum gefleht. Und sie hat es tatsächlich geglaubt. Mensch, ihr Fernsehmacher, was wollt ihr denn bloß? Auf lange Zeit die Völker entzweien, die Seite an Seite leben? Das gelingt euch. Aber wisst ihr auch, wie das endet? Wollt ihr einen Krieg mit der Ukraine? Genau wie mit Abchasien wird das nicht klappen: Die Leute auf dem Maidan sind schon abgehärtet und wissen, wofür sie kämpfen: für ihr Land, für ihre Unabhängigkeit. Und für wen wir? Für Janukowitsch? 

    Mensch, Leute, warum habt ihr ihn in Russland versteckt? Ein ehrlicher Mensch wird keine Verbrecher und Diebe decken. Ein Dieb schon. Warum bringt ihr euch vor der Menschheit in Verruf? Ich weiß, es ist euch scheißegal, aber trotzdem?

    Natürlich wurden in der Ukraine zahlreiche Dummheiten begangen – mit der russischen Sprache, mit dem Abriss von Denkmälern. Aber es ist unvermeidbar, dass eine Revolution von solchen Dummheiten begleitet wird – eine gespannte Feder entlädt sich  in die Gegenrichtung. Aber danach findet alles seinen Platz – Dummheit kann nicht ewig dauern.

    Mensch, Leute, wir müssen mit denen leben. Wie bisher in Nachbarschaft. Und nach Möglichkeit in Freundschaft. Und wie sie leben, das entscheiden sie selber.

    Oder habt ihr Lust zu schießen? Es heißt, Patriotismus stärkt und festigt.

    Nicht für lange.


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  • Besondere russische Werte?!

    Besondere russische Werte?!

    „Wir haben eben andere Werte als ihr“: Egal, ob es um LGBT, häusliche Gewalt oder auch politische Konflikte geht, in den letzten Jahren betont Russland in Streitfragen mit dem Westen immer wieder die  „besonderen russischen Werte“. Sie sind auch im Disput zwischen russischer Staatsmacht und Liberalen oft ein Hauptargument. Doch welche konkreten Werte sind damit gemeint? Und worin unterscheiden sie sich von „westlichen Werten“?

    Der Moskauer Soziologe Grigori Judin sprach am Hertie Innovationskolleg in Berlin im Rahmen des Projektes von Dr. Evgeniya Sayko Wertediskurs mit Russland über solche Werte-Debatten, Republic bringt eine Kurzfassung des Vortrags:


    In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    Der Mythos von den „besonderen russischen Werten“ ist einer der gefährlichsten, den die Staatspropaganda den Menschen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Landesgrenzen eingeimpft hat. In seiner Extremversion lautet er: „Im Gegensatz zum Westen hat Russland Werte.“

    Die Wirksamkeit dieses Mythos lässt sich kaum überbewerten. Einerseits hört man immer häufiger europäische Politiker sagen, man müsse mit Russland einen Dialog über gemeinsame Werte führen. Dieser Dialog endet dann aber jedes Mal in der gleichen Sackgasse: „Was sind eure Werte?“ „Andere als eure.“ „Und welche genau?“ „Besondere.“

    Gleichzeitig sprechen die Russen von Werten in einem Atemzug mit Mentalität und anderen sinnentleerten Begriffen, die sich gut eignen, wenn man sich selbst erklären will, warum etwas unnütz ist und sowieso nicht klappt.

    Werte – ein ziemlich neues rhetorisches Phänomen

    „Werte“ sind in der politischen Rhetorik Russlands vergleichsweise neu. Weder für die Jelzin- noch für die frühe Putin-Zeit waren sie charakteristisch – damals sprach man vielmehr von „Entwicklung“, „Demokratie“ und „Freiheit“.

    Diese Begriffe fügten sich in die Ideologie der Modernisierung: Es gibt für alle Gesellschaften den einen richtigen Entwicklungsweg, der über liberale Demokratie und einen freien Markt führt. Von diesem Weg ist Russland abgekommen und nun hat es die Aufgabe, den Westen, der schon um Längen voraus ist, einzuholen. Über Werte diskutierten damals hauptsächlich Politologen, von denen viele daran glaubten, dass man für Fortschritt, Demokratie und Freiheit erst die richtigen Werte innerhalb der Bevölkerung braucht.

    Vor etwa zehn, zwölf Jahren änderte sich alles. Die Russen waren ermüdet von der Ideologie der nachholenden Modernisierung, derzufolge sie vom Westen lernen sollten: Der Westen kommt und erklärt euch, wie ihr euer Land organisieren müsst, um richtig zu leben. Genau das war (und ist bis heute) die Rhetorik der russischen Liberalen seit Ende der 1980er Jahre. Dumm nur, dass sich Menschen nicht gerne belehren lassen, besonders wenn es zu lange geschieht und sie sich nicht einmal sicher sind, ob sie darum gebeten haben. Es entstand ein Minderwertigkeitskomplex und Russlands Eliten sahen dann im Zuge der arabischen und der Farbrevolutionen plötzlich, dass der Glaube an die Überlegenheit des Westens sie – unter anderem – die Macht kosten könnte. Genau in diesem Moment begannen die Staatsdiener, allen voran der Präsident, die Sprache der „besonderen Werte“ zu sprechen.

    Der Westen kommt und erklärt euch alles

    Die russische Werte-Debatte der letzten zehn Jahre ist sehr einfach gestrickt. Fast alle genannten Werte lassen sich leicht in zwei Schubladen stecken. In der ersten liegen die westlichen Werte, die europäischen, liberalen und allgemein-menschlichen sowie ein Fehlen von Werten. In der zweiten liegen die besonderen, traditionellen, konservativen und russischen Werte, die im Gegensatz zu den anderen stehen, und außerdem das Vorhandensein von moralischen und geistlich-kirchlichen Werten. Es liegt auf der Hand, dass die beiden Schubladen nicht ohne einander existieren: Ihre Opposition gründet auf dem Prinzip Westen versus Russland. Spricht in Russland jemand von Werten, dann will er mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit entweder sagen: „Wir müssen so sein wie der Westen“, oder er will sagen: „Wir müssen unter uns bleiben“.

    Sehr viel seltener wird über konkrete Werte diskutiert. Wenn Wladimir Putin jene Werte aufzählt, die für ihn und das Land am wichtigsten sind, fällt die Liste symptomatisch inhaltsleer aus: Leben, Liebe, Freiheit, Nächstenliebe, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Güte. So ähnlich antwortet ein Kind, wenn es gefragt wird: „Welche Eigenschaften sind am wichtigsten, wenn man ein braver Junge sein will?“

    Die innere Leere der Werte-Ideologie ist im Übrigen leicht zu erklären. Sie kommt daher, dass Werte-Bekenntnisse nicht darauf abzielen, Werte zu verteidigen. Sie funktionieren nur ex negativo – man braucht sie in Russland nur, um die „uns fremden“ Werte abzulehnen.

    Werte-Bekenntnisse nur ex negativo

    Es ist zwecklos, in den Russen nach irgendwelchen besonderen „konservativen“ Werten zu suchen. Gilt womöglich in Russland eine gemeinnützige Tätigkeit mehr als persönlicher Erfolg? Soziologische Umfragen sind ein nur wenig verlässliches Instrument, denn sie fallen der Propaganda als erstes zum Opfer. Aber selbst die bescheinigen den Russen eher einen stark ausgeprägten Individualismus, keineswegs Konservatismus. Wie die führenden russischen Werte-Forscher Wladimir Magun und Maxim Rudnew zeigen, ist für Russland eine individualistische Orientierung charakteristisch, die mit der Zeit immer stärker wird.

    Sind die Russen womöglich immun gegen das Hauptleiden der Neuzeit – das Schwinden von althergebrachten Beziehungen und Vertrauen? Nein. Wie aus den Erhebungen des World Value Survey hervorgeht, ist Vertrauensmangel und der hohe Grad sozialer Atomisierung nach wie vor ein zentrales Problem: 66 Prozent der Befragten geben an, dass man anderen Menschen nicht vertrauen könne. Von familiären und religiösen Werten braucht man gar nicht erst zu reden: Zum Beispiel sind in Deutschland Kirchengemeinden um ein Vielfaches stärker und aktiver als in Russland, und die Scheidungsrate ist deutlich geringer.

    Die Werte-Rhetorik ist leeres Gerede: Russland hat heute keine „besonderen Werte“, die es sich selbst und der Welt anzubieten hätte. Man sollte aber gleichzeitig genau hinhören, was hinter den hochtrabenden Worten steckt und in den Herzen der Russen tatsächlich Anklang findet. Der Begriff „Werte“ wird in Russland verwendet, um sich selbst vom sogenannten „Westen“ abzugrenzen, um zu zeigen, dass man „nicht so“ ist. Das Wort verspricht Freiheit – die Freiheit von ideologischer und moralischer Abhängigkeit, von der Rolle eines unzulänglichen Erwachsenen, der belehrt werden muss.

    Die Erziehungsmetapher: Ihr habt mir gar nichts zu sagen

    Die Ideologie der Modernisierung mit ihrer Unterteilung in entwickelte und Entwicklungsländer zwingt eine Erziehungsmetapher auf. Russland hatte sich in der Rolle des Heranwachsenden so gut eingerichtet, dass es die offensichtlichen Schwachstellen der Metapher aufdeckte, die ihre Schöpfer nicht bedacht hatten. Nämlich, dass ein Heranwachsender längst nicht immer brav den Belehrungen der Erwachsenen und „Entwickelten“ folgt: Viel häufiger rebelliert er, strebt nach Unabhängigkeit und hat keine Lust, dass jemand über ihn bestimmt. Er weigert sich, etwas zu tun, nur weil es alle tun, und erklärt, er sei eben „nicht so“, und überhaupt, wer seid ihr schon, dass ihr mich belehren wollt? Unter diesen Bedingungen autoritären Druck auszuüben und auf „allgemein-menschliche Werte“ zu verweisen, ist die denkbar schlechteste Strategie.

    Aber vielleicht wird ja ausgerechnet in Russland die Sprache der Werte irgendwie falsch benutzt? Dem ist leider nicht so. Die Werte-Philosophie geht zurück auf die Arbeiten von Hermann Lotze Mitte des 19. Jahrhunderts. Und sie hat schon mehr als einmal ihr aggressives Potential gezeigt. Die Idee, der Mensch würde von höheren, ewigen Werten geleitet, die aus einer anderen Welt sind, führt schnell zu der Überzeugung, dass es zwischen Menschen, die unterschiedliche Werte vertreten, auch sonst keine Verständigung geben kann.

    Mit dem Verweis auf die ‚eigenen Werte‘ legitimiert man die ewige Feindschaft mit dem imaginierten Westen

    Max Weber bezeichnete in seiner berühmten Rede [Wissenschaft als Beruf, 1917 – dek] den Widerstreit der Werte als einen „Kampf der Götter“, zwischen denen es keinen Kompromiss gibt und geben kann. Jeder Versuch, „universelle Werte“ aufzustellen, führe unweigerlich zum Vorwurf der Anmaßung und zur Beschuldigung, man wolle seine eigenen Interessen als allgemeingültige Werte ausgeben. Im Grunde ist das genau die Position, die Russlands Elite heute erfolgreich auf der internationalen Bühne einnimmt.

    Die Logik von Werten erlaubt es, Unterschiede zwischen den Menschen als radikal, ergo als unüberwindbar zu beschreiben. Zwischen verschiedenen Standpunkten kann es einen Dialog geben, zwischen verschiedenen Wertesystemen aber nicht. Werte sind wie Geschmack (versuchen Sie mal jemanden davon zu überzeugen, dass Käsekuchen besser schmeckt als Apfelstrudel), mit dem einzigen Unterschied, dass Werte unser gesamtes Leben durchdringen, uns abverlangen, dass wir für sie einstehen und die feindlichen Werte bekämpfen. „Die Wertlehre feiert, wie wir sahen, in der Erörterung der Frage des gerechten Krieges ihre eigentlichen Triumphe“1, konstatierte Carl Schmitt 1960 in seiner Streitschrift mit dem sprechenden Titel Die Tyrannei der Werte. Genauso funktioniert die Sprache der Werte heute in Russland: Mit dem Verweis auf die „eigenen Werte“ legitimiert man die ewige Feindschaft mit dem imaginierten Westen.

    Wenn von „besonderen Werten“ die Rede ist, liegt die Betonung immer auf dem ersten, nicht auf dem zweiten Wort. Russland ist in keiner Hinsicht besonders in Bezug auf seine Werte, aber es hat den Komplex einer Kolonie, die sich aus der Fremdherrschaft befreien will. Trotz allem Lamento, „freiheitliche Werte“ seien nichts für die Russen, steckt hinter der fixen Idee, die eigene Einzigartigkeit hervorzuheben, das Streben nach der Emanzipation von einem allwissenden und autoritären Westen. Und auch wenn die Russen bislang kaum eine Vorstellung davon haben, was sie stattdessen wollen, kommt man schwer umhin, in diesem Drang eine echte Freiheitsliebe zu sehen, die Respekt verdient.  


    1.Schmitt, Carl (1967): Die Tyrannei der Werte, Berlin [3. Aufl., 2011]   

     

    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

     

    Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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  • Loveless – die verlassene Gesellschaft

    Loveless – die verlassene Gesellschaft

    Mutter und Kind in der Wohnung eines Moskauer Außenbezirks. Zwecks Verkauf wird die Wohnung von Menschen besichtigt. Der Vater kommt spät abends nach Hause. Die Eltern streiten. Eine Familie ist dabei, sich zu trennen. Und keiner will den Sohn zu sich nehmen. Alle haben Besseres zu tun. „Ich kann nicht mehr“, sagt der Sohn beim Frühstück. Dann ist er weg. Verschwunden. Andrej Swjaginzews Film Neljubow (engl. Loveless) erzählt von der Suche nach dem Jungen, einem Jungen in der Atmosphäre von Nichtliebe.

    Bei der Oscar-Verleihung am kommenden Sonntag ist der aktuelle Film des mehrfach ausgezeichneten Regisseurs Andrej Swjaginzew (Die Rückkehr, Leviathan) in der Kategorie „Bester ausländischer Film“ nominiert. Sergej Medwedew hat ihn sich für Republic angesehen – und versteht Neljubow als Diagnose für die gesamte Gesellschaft.

    Unerwünschte, verlassene Kinder sind ein Schlüsselbild für den zerfallenden Kosmos / Foto © Screenshot aus dem Trailer zum Film „Neljubow“/ YouTube
    Unerwünschte, verlassene Kinder sind ein Schlüsselbild für den zerfallenden Kosmos / Foto © Screenshot aus dem Trailer zum Film „Neljubow“/ YouTube

    Neljubow ist ein Film von Andrej Swjaginzew über ein verschwundenes Kind. Swjaginzew trifft damit einen wunden Punkt an der Schnittstelle zwischen Politik, Propaganda und kollektivem Trauma.

    Im Prinzip geht es in allen seinen Filmen auf die eine oder andere Art um das Thema verlassene Kinder. Die Rückkehr eines verlorenen Vaters zu seinen allein gelassenen Söhnen endet tragisch, im Film Die Verbannung setzt die Abtreibung eines unerwünschten Kindes eine Serie von Todesfällen in Gang, in Jelena ist der zentrale Konflikt jener zwischen Vater und Tochter, in Leviathan kommt der Sohn der Hauptfigur in eine Pflegefamilie.

    Ungeborene, unerwünschte, verlassene, entrissene Kinder sind ein Schlüsselbild und ein Symbol für den zerfallenden Kosmos, die wachsende Entropie, die moralische Katastrophe, die der Regisseur in jedem seiner Filme zeigt.   

    Schlüsselbild für den zerfallenden Kosmos

    Auch in Neljubow steht im Zentrum des Geschehens ein Kind – beziehungsweise sein Verschwinden. Im Raum des Films entsteht eine Leere, die sich ausbreitet wie ein Erdtrichter, der die Protagonisten und ihre Nächsten verschluckt – die Häuser, das Wohngebiet und den Stadtwald. Die Ästhetik der Abwesenheit – markiert durch die Spuren des verschwundenen Jungen, seine Jacke, die Vermisstenanzeigen, das Rufen der Suchtrupps im leeren Wald – steigert die Spannung, macht aus dem Familiendrama einen Psychothriller, macht die Suche nach dem Kind zu einem Leidensweg, der mehr als einmal an Stalker von Tarkowski erinnert. Die Kamera von Swjaginzews Langzeit-Kameramann Michail Kritschman verleiht einfachen Dingen schonungslose Härte und metaphysische Tiefe. Seine langen Einstellungen und matten Farben verwandeln den Moskauer Schlafbezirk in ein Totenreich, dem nur der erste Schnee vorübergehende Anmut verleiht, ihn für Sekunden in eine Bruegelsche Winterlandschaft verzaubert.

    Einen Gott gibt es hier nicht

    In diesem Raum nimmt die Entropie gemäß den Gesetzen der Thermodynamik zu: Einen Gott gibt es hier nicht (obwohl es bärtige Männer und ein pseudo-orthodoxes Büro gibt), genau so wenig wie einen Staat – der Polizeibeamte macht den Eltern sofort klar, dass man nicht nach dem Jungen suchen wird. Stattdessen taucht ein freiwilliger Such- und Rettungstrupp auf, ein direktes Zitat von Lisa Alert (die Geschichte der Retter wird insgesamt zu einem eigenen Handlungsstrang und zu dem einzigen Quell von Handlung im ganzen Film).

    Die Familien sind tot und die Schule ohnmächtig: Die Lehrerin wischt hilflos mit dem Lappen über die Tafel, lässt Kreideschlieren zurück, und draußen beginnt es langsam zu schneien. Hier gibt es nicht mal Schuldige: Alle wurden in einen lieblosen Raum hineingeboren und leben darin und reproduzieren ihn sorgfältig als einzige ihnen zugängliche Daseins- und Kommunikationsform.

    Die Leere kommt mit Macht

    Die Apotheose der Leere: ein zerstörter Kulturpalast irgendwo im Wald, der letzte Aufenthaltsort des Jungen. Das undichte Dach, Pfützen auf dem Boden, Scherben der menschlichen Zivilisation – das alles erinnert  wieder an das Zimmer und die Zone in Stalker, die für Tarkowski eine Metapher für die verwaiste, leere Seele waren.  

    Und sogar die geniale Szene im Leichenschauhaus, die in ihrer Vieldeutigkeit und Unentschiedenheit unbedingt Eingang in die Regie-Lehrbücher finden muss, ist rund um die Abwesenheit aufgebaut. Wir sehen weder Sachverhalt noch Ereignis, nur dessen Spiegelung in den Gesichtern und Reaktionen der Protagonisten.

    Doch die allerschrecklichste Leere tut sich im Epilog des Films auf, in den Augen der Protagonistin, die in einem Trainingsanzug von Bosco mit der Aufschrift RUSSIA auf dem Laufband joggt: Die Kamera versinkt gleichsam in diesem abwesenden Blick. Am einfachsten wäre es, sie als Zerrbild von Mütterchen Russland zu verstehen, das ihr eigenes Kind verloren hat und nun in der Loggia einer schicken Wohnung auf dem Laufband auf der Stelle tritt, während ihr neuer Mann geistesabwesend Nachrichten aus dem Donbass mit Dimitri Kisseljow guckt.

    Moralischer Defekt, mitten im Herzstück unserer Existenz

    Aber mit so flachen Metaphern arbeitet Swjaginzew nicht: Er entlarvt nicht, sondern stellt fest, er beschuldigt nicht, sondern stellt eine Diagnose. Er hat einen Film über eine zerbrechende Familie gedreht, und heraus kam ein Film über Russland; Kisseljow und der Donbass in den letzten Einstellungen sind kein politisches Pamphlet wie in Leviathan, sondern der Geist der Zeit, der auf dem Fernsehschirm zum Bild erstarrt ist.  

    Geht es bei Boris Godunow letztendlich um einen getöteten Jungen oder um die russische Staatsmacht? Genau so ist es bei Neljubow: Der Film deckt einen moralischen Defekt auf, einen im Stich gelassenen Jungen, mitten im Herzstück unserer Existenz. Die politischen Umstände sind jeweils nur einzelne Folgen dieser umfassenden ethischen Katastrophe.

    Das  Mistkerl-Gesetz

    Von zentraler Bedeutung ist, dass die Zeit der Handlung im Film deutlich markiert ist: Dezember 2012 (im Radio diskutiert man das Ende der Welt laut Maya-Kalender), kurz vor Verabschiedung des Dima-Jakowlew-Gesetzes, das den Spitznamen Mistkerl-Gesetz erhielt und das Dutzende kranke russische Waisenkinder, deren Adoption ins Ausland bereits kurz bevorstand, zu einem Leben im Heim, zu Krankheit und manche auch zum Tod verurteilte. Gerade in diesem Moment, der die herrschende Klasse mit dem Blut von Kindern verquickte, begann der endgültige moralische Verfall der Machthaber bei lähmender Gleichgültigkeit der Bevölkerung.

    Der Film endet 2015, im Jahr der Normalisierung, als der Schock der Krim und der Boeing vorbei war und Russland sich mit den Sanktionen abgefunden und eingesehen hat: Dieser Zustand von Regierung und Gesellschaft ist ernst und wird länger dauern. Swjaginzew dreht einen Film über eine Familie, aber die Handlung vollzieht sich unter den Bedingungen eines nie dagewesenen moralischen Verfalls.

    Und das Hauptproblem sind hier nicht Putin und Kisseljow, nicht die Krim und der Donbass und nicht mal die Korruption und Ausbeutung – das alles sind Symptome einer Krankheit, während der Regisseur von der Krankheit selbst spricht: Von einer Gesellschaft, die in Lüge, Zynismus und Misstrauen feststeckt, die die Hoffnung auf Zukunft und Veränderung verloren hat. Putin und Kisseljow gießen diese Lüge nur in die Formen von Politik und Medien, exportieren sie in die Außenwelt. 

    In der moralischen Sackgasse

    Es war absolut kein Zufall, dass 2016 im öffentlichen Diskurs Russlands das Thema Ethik aufkam: die Aktion #янебоюсьсказать (Ja ne bojus skasat – dt: „Ich habe keine Angst, es zu sagen“), der Skandal um die Schule Nr. 57, Diskussionen über häusliche Gewalt und Folter in Gefängnissen, Debatten über das historische Gedenken und die Verantwortlichkeit von Stalins Henkern (Der Fall Karagodin). Der reflektierende Teil der Gesellschaft beginnt, sich der moralischen Sackgasse bewusst zu werden, in die wir alle geraten sind, und jenes konspirativen Schweigens, das die Probleme Gewalt, Demütigung und Trauma umgibt.

    Das sind genau die Fragen, von denen Swjaginzew seit vielen Jahren spricht, mitsamt dem Problem der Stummheit, des Abreißens der Kommunikation. Unter Bedingungen, in denen es weder einen Staat mit Sozialpolitik gibt noch eine sozial verantwortliche und nahe am Menschen stehende Kirche noch eine Kultur des öffentlichen Dialogs zu Themen rund um Familie, Kindheit, Geschlechterrollen, stellen seine Filme genau die fundamentalen moralischen Fragen, über die wir lieber schweigen – oder die wir an zynische Populisten wie Milonow und Misulina verpachten. Wenn man darüber nachdenkt, ist Andrej Swjaginzew heute in Russland eigentlich der, der sich am meisten mit Klammern befasst – mit echten, nicht mit solchen, die die Propaganda sich ausdenkt, doch die Staatsmacht würde ihm diese Rolle niemals zugestehen, sondern schränkt lieber den Verleih ein und verteufelt den Film in der Presse, so wie es auch bei Leviathan war.

    Eines der durchgehenden Motive in Neljubow ist ein Absperrband. Ganz zu Beginn des Films findet es der Junge im Wald, bindet es an einen Stock und wirft es auf einen Baum. Jahre vergehen, neue Kinder werden geboren, doch das Band ist immer noch dort. Swjaginzew hat unsere Gesellschaft mit diesem Band quasi abgegrenzt, hat damit den Umkreis der humanistischen Katastrophe und des moralischen Sumpfes, in dem wir versinken, abgesteckt.

    So wie Puschkins „blutender Knabe“ kündet sein verschwundenes Kind von dem fundamentalen Verbrechen, das unserem vermeintlichen Wohlstand zugrunde liegt, von Dingen, die wir vergeblich zu vergessen versuchen. Das macht seine Filme so schonungslos, so unbequem und so absolut sehenswert.   

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  • Staat im Staat 2.0

    Staat im Staat 2.0

    Egal, ob es um Vorwürfe wegen vermeintlicher Wahleinmischung in den USA oder russischen Kämpfern in der Ostukraine geht: Der Kreml bestreitet dies stets. Offiziell hat sich Putin immer von Hackerangriffen distanziert (s. Video). Zu den aktuellsten Recherchen von Nawalnys Fonds für Korruptionsbekämpfung, die eine russische Einflussnahme auf die US-Wahlen über Vize-Premier Prichodko und den Oligarchen Oleg Deripaska nahelegen, hat sich der Kreml offiziell nie geäußert.

    Einen Monat vor der russischen Präsidentschaftswahl beobachtet Maxim Trudoljubow eine Art „Staat im Staat“, die Auslagerung wichtiger Operationen aus den staatlichen Institutionen heraus.

    Ausländische Staaten sprechen von einer Einmischung Russlands in ihre inneren Angelegenheiten und in ihre Wahlen. Russlands offizielle Vertreter dementieren das. Und sichtbare Anzeichen für eine Beteiligung russischer Staatsangehöriger an den Kriegshandlungen in Syrien und in der Ukraine oder an den Troll-Angriffen auf amerikanische Wähler ändern nichts an der offiziellen Position: Das sind nur Privatpersonen, Urlauber und Enthusiasten. 

    Wenn Putin auf die Frage eines ausländischen Journalisten nach möglichen Hackerangriffen auf die Wahlen in Deutschland sagt: „Auf staatlicher Ebene machen wir so etwas nie“, dann wählt er seine Worte sorgsam und zieht eine für ihn wichtige juristische Grenze zwischen Privatem und Staatlichem.

    Wie sind die gefallenen Kämpfer nach Syrien gekommen?

    Das Außenministerium räumt ein, dass in Syrien bei Kämpfen zwischen Assad-treuen Einheiten und Kräften, die von den Amerikanern unterstützt werden, russische Staatsangehörige ums Leben gekommen sind. Wie aber diese russischen Kämpfer, die nicht im Dienst der Armee standen, nach Syrien gelangten, ist den Behörden nicht bekannt.

    Nicht bekannt ist auch, warum individuelle Mitarbeiter privater Medienunternehmen amerikanisch anmutende Accounts in Sozialen Netzwerken einrichten oder sogar E-Mail-Server amerikanischer Politiker hacken. „Hacker, das sind freie Menschen, wie Künstler: Die stehen auf, und wenn sie in Stimmung sind, setzen sie sich hin und malen. Genau wie Hacker: Die wachen auf und lesen, dass da was los ist in den internationalen Beziehungen, und wenn sie patriotisch gesinnt sind, dann leisten sie ihren Beitrag“, meinte Wladimir Putin im vergangenen Jahr.

    Projekte, bei denen nichtstaatliche Kräfte eingesetzt werden, sind von erheblicher Bedeutung. Es ist also kein Programmfehler, sondern es ist das Programm – eine bewusst aufgebaute Public-private-Partnership im politischen und militärischen Bereich. Ganz offensichtlich ist das Besondere an in diesem Ansatz, dass sich eine Beteiligung des Staates leugnen lässt, ohne sich groß verbiegen zu müssen. 

    Alibi für den Kreml

    Dem Kreml ein Alibi zu verschaffen, ist natürlich nicht die einzige Aufgabe, an der Oleg Deripaska, Jewgeni Prigoshin, Konstantin Malofejew und andere sehr wichtige Privatpersonen arbeiten – jeder in seinem Bereich.

    Eine untergründige, aber wichtige Entwicklung all der Jahre unter Putin bestand darin, den Charakter von Eigentum zu ändern: Grundsätzliche Voraussetzung für Besitz ist mittlerweile der Dienst am Staat. Wer über „altes Geld“ verfügte (in Wirklichkeit waren das natürlich junge Leute mit sehr jungem Geld), ging auf dem Wege von trial and error dazu über, ungeschriebene Eigentumsverträge durch neue zu ersetzen, nachdem man gelernt hatte, wie Verhandlungen laufen; jeder gab nach seinen Fähigkeiten: Die einen subventionierten ganze Regionen sowie verlustträchtige, aber sozialpolitisch wichtige Unternehmen. Andere unterstützten Jugendgruppen und politische Parteien, bei denen die Regierung Pate steht, die dritten beteiligten sich an der Sanierung oder dem Bau von Palästen und Projekten zur nationalen Prestigesteigerung.

    Es ging dabei nicht nur um den Neuabschluss alter Verträge, sondern auch um das Knüpfen neuer Beziehungen. Im Unterschied zu den alten Oligarchen erhalten die neuen Leute – von denen viele lustigerweise gar nicht so jung sind – einfach die Möglichkeit großer Gewinne (beispielsweise durch Kontakte zu Gazprom oder dem Verteidigungsministerium), vorausgesetzt, sie übernehmen für das Gemeinwohl nützliche Aufgaben. Ein wertvoller Beleg für diesen Prozess sind die Materialien von Sergej Kolesnikow, der einst munter medizinische Geräte aus Deutschland nach Russland lieferte, sich dann aber entschloss, die Geschichte des „Putinpalastes“ publik zu machen.

    Wichtige Vorgänge aus den staatlichen Institutionen auszulagern, ist heute ein äußerst wichtiges politisches Instrument des Kreml. Natürlich könnte man den Einsatz dieser Mechanismen ausschließlich in Korruptionsmotiven suchen: weniger Transparenz, also mehr Möglichkeiten zu stehlen. Das wäre jedoch zu eindimensional. Für das konsequente Vorgehen, das außerhalb Russlands oft angriffslustig wirkt, ist eine solche Erklärung nicht hinreichend. Es ist völlig klar: Putins neue Oligarchen erhalten unbeschränkt Zugang zu Gewinnquellen, aber sie führen seine Kriege und bauen seine Brücken.

    Sie führen Putins Kriege und bauen Putins Brücken

    Paradoxerweise vertraut der Staatsmann Putin dem gewöhnlichen Staat nicht, der ihm zu unpersönlich ist. Und für jeden CIA-Agenten ist es ein Leichtes, die Berichte einzusehen; er ist also für den Feind transparent. Der Staat mag sich zwar heute unter der Kontrolle Putins befinden, aber er ist nach Grundzügen aufgebaut, die – zumindest theoretisch – Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und eine Verantwortlichkeit gewählter Politiker gegenüber der Gesellschaft vorsehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein nicht im Vorhinein abgesegneter Kandidat bei Wahlen gewinnt, ist natürlich verschwindend gering, aber sie ist nicht gleich Null. Und für einen vorsichtigen Spieler ist bereits diese geringe Wahrscheinlichkeit einer Niederlage Grund genug, sich abzusichern.

    Gewöhnlicher Staat versus Staat des Zaren

    Eine solche Absicherung ist die Schaffung eines Staates, der außerhalb des gewöhnlichen Staates existiert. Einst gab es ein Synonym für wne („außerhalb“), otdelno („gesondert“) oder snarushi („von außen“): Es lautete opritsch. Die Opritschnina war ihrem Sinne nach ein Staat des Zaren außerhalb der gewöhnlichen Semschtschina. Sie war eine neue institutionelle Realität, mit neuen Leuten, die Eigentum und Reichtum nur für treue Dienste erhielten und dem Geltungsbereich der verhassten Feudalordnung entzogen waren.

    Die Beziehungen zwischen diesen beiden Staaten müssen sich nicht unbedingt derart blutig gestalten, wie Iwan IV. („der Schreckliche“) es eingerichtet hatte (auch wenn die Abrechnung mit einigen Gouverneuren und dem ehemaligen Minister für wirtschaftliche Entwicklung, Alexej Uljukajew, etwas von Opritschnina hatte). Ein Hort idyllischer Harmonie werden sie aber wohl nie werden.

    Der „andere Staat“ sammelt Einkommensquellen und rekrutiert Oligarchen, die sie überwachen. Dem gewöhnlichen Staat überlässt er die Kosten, soziale Verpflichtungen und das Fußvolk der Gouverneure.

    Den gewöhnlichen Staat leitet der Premierminister, dem ist alles übertragen, womit sich der Anführer des „anderen“, des zarischen Staates, nicht befassen will.

    Die Reformprogramme werden für den gewöhnlichen Staat geschrieben, dessen Beamte berechnen ächzend die Haushalte und führen Handelsgespräche. Aber es reicht eine Bewegung des unberechenbaren „anderen Staates“ und alles war umsonst – wie schon mehrfach geschehen. 


    Sollte Putin irgendwann einmal die Kontrolle über die Wahlen lockern, wird er zwar die Wahl eines Oberhaupts für den gewöhnlichen Staat zulassen, den Staat des Zaren aber wird er selbst behalten.

    Der „andere Staat“ bleibt unsichtbar

    Russland fällt in der Welt immer stärker durch das Vorgehen des „anderen Staates“ auf (jenes Staates, der private Kriege führt und die öffentliche Meinung manipuliert). Doch ist der „andere Staat“ für Russen wie für Ausländer unsichtbar: Wir kennen seine Dimensionen nicht, wissen nicht, wieviel Geld und wieviel Leben durch ihn aus dem gewöhnlichen Staat abgezapft werden und dann in der Blackbox des parallelen, privaten Staates verschwinden. Offiziell werden nur die üblichen Zahlen veröffentlicht und diskutiert, und nur auf dieser Grundlage werden Prognosen erstellt. Das vermittelt uns aber keine Vorstellung von den Plänen des privaten Staates. 

    Welcher von beiden Staaten wird mehr Gewicht haben? Den meisten Bürgern des Landes, so scheint es, gefällt es, auf die Erfolge des agilen „anderen Staates“ stolz zu sein. Sie leben aber in der Realität des depressiven gewöhnlichen Staates, eines Staates, in dem die staatlichen Angestellten mit Ach und Krach versuchen, ein schändliches Minimalgehalt an das kärgliche Existenzminimum anzugleichen.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Putin, Patriarch, Premier – bitte nicht berühren

    Putin, Patriarch, Premier – bitte nicht berühren

    Am 23. Januar hatte das Investigativ-Portal Russiangate seine Recherchen über unversteuerten Immobilienbesitz von FSB-Chef Alexander Bortnikow veröffentlicht. Innerhalb weniger Stunden war die Website blockiert – ohne Vorwarnung durch die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor. Am 24. Januar war die Seite wieder zugänglich, der Artikel über Bortnikow allerdings nicht mehr darauf zu finden. Chefredakteurin Alexandrina Jelagina erklärte am gleichen Tag im Radiosender Echo Moskwy, dass ihr gekündigt worden und das Medium geschlossen worden sei, da die Investoren ihre Unterstützung zurückgezogen hätten. Der offizielle Vorwurf gegen Russiangate laute, es würde „extremistische Inhalte“ verbreiten.

    Oleg Kaschin nimmt den Fall zum Anlass und thematisiert auf Republic offene und weniger offene Zensur, „durchgezogene Linien“ und ein paar Faustregeln für russische Journalisten.

    „Ich verhehle nicht, dass das für das Land ein verbotenes Thema ist: Putin … das hab ich immer gesagt. Der Präsident, der Premier und der Patriarch von ganz Russland, das sind drei verbotene Themen.“  Aram Gabreljanow, Boulevardpresse-Zar der 2000er Jahre, der 2011 die Leitung der Zeitung Izvestia übertragen bekam, war wohl der erste, der so offen und laut die grundsätzlichen Beschränkungen umriss, die für ein dem Kreml gegenüber loyales (oder sogar unter dessen Kontrolle stehendes) großes Medium bestehen.

    Heute ist nurmehr schwer vorstellbar, wie monströs in jenen Jahren solch ein Bekenntnis klang. Auf seine Unfreiheit stolz zu sein, sie gar leichtfertig zur Schau zu stellen, das konnte wohl nur ein Neuling auf dem Markt der „erwachsenen“ Medien fertig bringen. Zudem ein einschlägig bekannter, der in einer ganz anderen Welt großgeworden ist, wo es statt Freiheit und Grundsätzen Exklusivberichte über ein Gemetzel oder über die Hochzeit von Alla Pugatschowa (mit Maxim Galkin – die Redaktion) gibt.

    Verbote sind Teil des Alltags

    Mittlerweile ist klar, dass Gabreljanow einfach seiner Zeit voraus war. Die damals von ihm benannten Verbote sind innerhalb nur weniger Jahre für Medien in Russland Teil des Alltags geworden. Als 2016 die Führung von RBC wechselte, versuchten die neuen Redakteure nicht zu sagen, welche konkreten Recherchen der Grund für den Wechsel an der Holdingspitze waren. Sie bemühten vielmehr Begriffe der Straßenverkehrsordnung und beschrieben die neuen Regeln derart, dass es eine gewisse „doppelt durchgezogene Mittellinie“ gebe, die in keinem Fall überschritten werden dürfe, aber eben nur diese, alles andere sei möglich. Seither ist die „doppelt durchgezogene Linie“ zum allgemeinen Mem der Journalisten geworden.

    Offene Zensur

    Inzwischen wundert es niemanden mehr, wenn ein entlassener Chefredakteur eines geschlossenen Presseorgans unumwunden davon spricht, dass die Investoren bei der Gründung des Mediums jene Bedingung formulierten, die seit langem allseits bekannt ist: Man könne über alles Mögliche schreiben, außer über den Präsidenten, die Regierung und den Patriarchen.

    Das Ende Januar geschlossene Medienprojekt namens Russiangate hatte sich auf investigative Recherchen spezialisiert. Der Skandal begann nach der Veröffentlichung eines Artikels über eine nicht deklarierte Immobilie des Direktors des FSB, Alexander Bortnikow. Hier haben wir es eindeutig mit einer äußerst weiten Auslegung der Drei-P-Regel zu tun. Denn Bortnikow ist weder Präsident, noch Premier & Co, noch Patriarch, allerdings – so hat es den Anschein – eine Figur, die allen dreien nahesteht und somit ihnen gleichzustellen ist.

    Ruft man sich die journalistischen Standards nicht nur der 1990er, ja selbst noch der 2000er Jahre in Erinnerung, so erscheint eine solche Beschränkung inakzeptabel und unterscheidet sich nicht im Geringsten von offener Zensur.

    Millimeter um Millimeter

    Jetzt befinden wir uns am Ende der 2010er Jahre – und die russischen Medien haben seit jenen Jahren kein einziges Mal erlebt, dass die journalistische Freiheit von einem Moment auf den anderen drastisch eingeengt worden wäre. Im Gegenteil, dieser Prozess vollzog sich fließend und allmählich, Millimeter um Millimeter.

    Es gibt keinen Grund für Vorwürfe, schließlich lässt es sich viel einfacher arbeiten, wenn die durch Zensur gesteckten Grenzen klar und deutlich formuliert sind. Dann ist es nicht wie auf einem Minenfeld, wo jederzeit etwas hochgehen kann, ganz gleich wo man hintritt. Dann ist jede Tretmine gekennzeichnet und durch eine „doppelt durchgezogene Linie“ markiert. Solange du nicht über Putin oder den Patriarchen schreibst, ist alles in Ordnung. So stellt es sich zumindest in der Theorie dar.

    Irgendeine Mine gibt es immer

    In der Praxis jedoch gibt es immer irgendeine Mine, die nicht markiert war und mit der man nicht gerechnet hatte, ganz wie mit Bortnikow im Fall von Russiangate. Den leidtragenden Journalisten käme in dieser Situation die dissidentische Parole aus der Sowjetzeiten zupass: „Haltet euch an eure Verfassung!“. Deren Finesse bestand darin, dass das totalitäre Regime aus irgendeinem Grund nicht in der Lage war, sich an die Gesetze zu halten, die es selbst geschaffen hatte. Die einzige öffentliche Kraft, die seinerzeit bereit war, für diese Gesetze zu kämpfen und deren Einhaltung zu fordern, war nicht der Staat, sondern es waren seine Feinde.

    Heute ist es ganz ähnlich: Wenn sich das Regime und die regimeloyalen Medienbesitzer an die klare Regel „Putin und der Patriarch werden nicht angerührt“ halten würden, gäbe es keine Probleme. Doch aus irgendeinem Grund ist es ausgerechnet die Staatsmacht – die diese Regel ja gesetzt hatte – die ein ums andere Mal neue verbotene Themen findet, die über jene hinausgehen, die öffentlich und klar abgesteckt sind. Die „doppelt durchgezogene Linie" ist nicht statisch, sie liegt nicht ruhig in der Mitte der Fahrbahn, sondern rutscht darauf so herum, dass die Spur für Journalisten immer schmaler wird.

    Die Spur für Journalisten wird immer schmaler

    Das ist ein ganz natürlicher und unausweichlicher Prozess. Beim Verbot Putin, den Premier oder den Patriarchen zu kritisieren geht es nicht um die Person, die außerhalb jeder Kritik stehen soll. Sondern es geht um die Möglichkeit an sich, verbotene Themen zu setzen. Und wenn diese Möglichkeit besteht, wenn niemand sie anficht, dann wird die Verbotsliste unweigerlich immer länger.

    Nach der Geschichte mit Russiangate werden es sich die Chefredakteure etliche Male überlegen, bevor sie in ihren Artikeln Alexander Bortnikow erwähnen. Und schon könnte ein neuer Skandal heraufziehen, dessen Hauptfigur irgendein neuer Bürokrat ist, den zu kritisieren früher erlaubt war und der jetzt davor geschützt ist. Wer das nun sein wird, ob Sobjanin, Schoigu oder jemand aus den weniger prominenten Reihen, werden wir erst erfahren, wenn der nächste Chefredakteur bei Echo Moskwy in der Sendung sitzt und leicht verwirrt erklärt, dass er wohl nicht mehr Chefredakteur ist.

    Ein breit zu interpretierendes Verbot

    Ein Verbot mit der Möglichkeit, es breit auszulegen, ist in der Tat genauso angelegt wie die Gesetze eines totalitären Regimes, denen jeder durchaus loyale Bürger zum Opfer fallen kann. Dafür ist andererseits klar, wie man zum Helden wird: Man muss nur einen Schritt auf verbotenes Terrain tun.

    Ist die russischen Medienwelt heute zu solch einem Schritt in der Lage? Offensichtlich nein, und der Titel der mutigsten russischen Journalisten geht an Irina Resnik, Ilja Archipow und Alexander Sasonow, die einzigen Moskauer Autoren, die heute fähig sind, Recherchen über das Familienleben einer Frau zu schreiben und zu veröffentlichen, die bei uns üblicherweise als „mutmaßliche Tochter Wladimir Putins“ bezeichnet wird. Allerdings muss man erwähnen, dass es sich hier um russische Journalisten handelt, die auf Englisch für die amerikanische Agentur Bloomberg schreiben. Nicht auszuschließen, dass sich die einzige Möglichkeit für unzensierten Journalismus in Russland in absehbarer Zukunft genau so darstellen wird: nicht auf Russisch und nicht in russischen Medien.

    Diese Übersetzung wird gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Streiken oder Wählen? Aber wen?

    Streiken oder Wählen? Aber wen?

    Oppositionspolitiker Alexej Nawalny darf bei der Präsidentschaftswahl im März 2018 nicht kandidieren und hat zum Wählerstreik aufgerufen. An Xenia Sobtschak, die erklärt hat, Kandidatin gegen alle zu sein, scheiden sich die Geister: Ist sie am Ende eine Marionette des Kreml, angetreten, um die liberale Wählerschaft zu spalten? 
    So oder so: Was Nawalny grundlegend von Sobtschak unterscheidet, obwohl sich ihre Positionen ähneln, und welche Möglichkeiten ein kritischer Wähler im März sonst noch hat – das analysiert Politologe Alexander Kynew auf Republic.

    Es scheint so, als wären die Wahlkampagnen von Nawalny und Sobtschak quasi identisch. Tatsächlich aber unterscheiden sie sich sehr und ziehen völlig unterschiedliche Folgen nach sich.  

    Worum geht es in Nawalnys Kampagne? Nawalny ist zweifellos ein Mensch mit demokratischen Ansichten, er ist bestrebt, mit den Menschen in der Sprache zu sprechen, die die Mehrheit versteht und zwar über das, was diese Mehrheit anzuhören bereit ist. Er übersetzt den liberalen Diskurs in eine für die Mehrheit verständliche Sprache und führt Beispiele an, die jeweils für sich genommen überzeugend sind – im Prinzip schafft er eine Synthese von Freiheit und Gerechtigkeit. Denn sein zentrales Thema – der Kampf gegen Korruption – entspricht im Grunde dem Thema soziale Gerechtigkeit, nur knackig und anschaulich serviert.

    Die Sprache der Mehrheit

    Ob er auch auf andere Bürgerrechte Wert legt, auf freie Religionsausübung und so weiter und so fort? Bestimmt, und kaum jemand bezweifelt das. Nur orientiert er sich an einem breiten Auditorium, wenn es darum geht, die Probleme zu gewichten. Er versucht, mit dem Übertragen des liberalen Diskurses in die „Sprache der Menschen“ eine neue Mehrheit zu schaffen. Genau deswegen ist er für die gegenwärtige Staatsmacht eine Bedrohung.

    Alles, was bei Nawalny die Grundlage für sein Image und sein politisches Programm bildet, kommt bei Sobtschak entweder gar nicht vor oder nur irgendwo am Rande. Und umgekehrt: Das, was bei Nawalny zwar implizit ist, im Kampf um die Wählermassen aber keine Rolle spielt, ist in Sobtschaks Kampagne ein Hauptanliegen. Ob die Krim uns gehört oder nicht, europäische Werte, Sanktionen gegen Russland, Legalisierung leichter Drogen, LGBT-Rechte, Säkularisierung des gesellschaftlichen Lebens und so weiter – das alles sind natürlich wichtige Fragen. Doch aus der Sicht des einfachen Bürgers stehen sie nicht an erster oder zweiter und nicht mal an dritter Stelle.

    Mobilisierung einer Minderheit

    Weil sie Probleme anders hierarchisiert und weil die Kandidatin ein anderes Image hat, ist die an sich ähnliche Kampagne Sobtschaks nicht dazu geeignet, eine neue Mehrheit zu erzeugen, sondern nur dazu, eine Minderheit zu mobilisieren. Wobei dieser Effekt durch die geringe Beliebtheit der Kandidatin verstärkt wird.

    Wie unterscheiden sich die Folgen dieser beiden Strategien, der Erzeugung einer neuen Mehrheit (bei Nawalny) und der Mobilisierung einer ultraliberalen Minderheit (bei Sobtschak)?

    Die Strategie der neuen Mehrheit ist immerhin ein realer Kampf um die Macht – Macht, zumindest was [einen hypothetischen – dek] politischen Einfluss im Parlament angeht. Und sie ist eine Chance, die gesellschaftliche Evolution durch Schritte voranzutreiben, die die Menschen zu verstehen und anzunehmen bereit sind.

    Kampf um die Macht versus Wähler-Ghetto

    Die Strategie der Mobilisierung einer Minderheit bedeutet, dass auf sehr lange Sicht kein realer Einfluss auf die Machthaber zu erwarten ist, ganz zu schweigen von einer Chance, sie abzulösen. Im Grunde ist es ein Kampf für das Recht auf ein ruhiges Leben im Wähler-Ghetto, es ist eine Strategie der langfristigen politischen Aufklärung und ein Versuch, die Gesellschaft allmählich an die Existenz und Akzeptanz eines liberalen Diskurses zu gewöhnen – in der Hoffnung, sie würde sich von selbst schrittweise weiterentwickeln.

    Auch wenn sich also die Positionen in vielen Fragen ähneln, sind die Aussichten in realita völlig unterschiedlich. Die zweite Strategie zu wählen, würde für Anhänger der ersten nicht bedeuten, „quasi Gleichgesinnte“ zu unterstützen – es wäre eine Kapitulation und ein Eingeständnis, auf Ambitionen und Kampfgeist zu verzichten. Und genau so wird das auch benutzt werden. „Quasi dasselbe“ zu unterstützen, wird sich als Falle erweisen.  

    Nawalny: kein Ritter im weißen Gewand

    Nawalny als Ritter im weißen Gewand zu bezeichnen, ist sicher auch nicht angebracht.

    In verschiedener Hinsicht kann man ihn kritisieren, vor allem für seinen fehlenden Teamgeist: Im Prinzip wurde nichts unternommen, um anderen oppositionellen Kandidaten zu helfen, sei es bei den Wahlen zum Moskauer Stadtrat 2014, zur Staatsduma 2016 oder bei den Moskauer Kommunalwahlen 2017. Die offenbar gut organisierten Mitarbeiter Nawalnys sind heute praktisch das einzige funktionsfähige regionale Netzwerk eines führenden demokratischen Politikers.

    Stimme „gegen alle“ gibt es nicht

    Vielleicht ändert sich diese Situation in der Zukunft, aber derzeit unterstützen Sie bei den bevorstehenden Wahlen, wenn Sie eine der beiden genannten Strategien wählen, auch den Trend, der die Demokratiebewegung weiterhin dominieren wird. Eine Stimme „gegen alle“ gibt es bei diesen Wahlen nicht. Das ist eine Illusion. Sie unterstützen (oder auch nicht) einen ganz konkreten Politiker und mit ihm die Strategie, die er verkörpert. Das Ergebnis derer, die an der Macht sind, werden Sie bei solchen Wahlen fast nicht beeinflussen, das Schicksal der Demokratiebewegung jedoch durchaus.

    Also, wenn Sie für ein kleines liberales Ghetto und Versuche einer schrittweisen Aufklärung sind, dann ist Ihre Kandidatin Xenia Sobtschak. Andernfalls haben Sie gleich drei Möglichkeiten: beim „Wählerstreik“ mitzumachen; Stimmzettel zu verschandeln oder mitzunehmen; oder aber „für jeden anderen Kandidaten“ zu stimmen, der chancenlos, aber unschädlich ist (wie Jawlinski und Titow).
     

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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    Kaum bekleidet und teilweise in Latex mit SM-Anmutung, drangen im vergangenen Jahr selbsternannte „Sex-Jägerinnen“ ins Moskauer Wahlkampfbüro des Oppositionellen Alexej Nawalny ein. Eine lächerliche Geschichte, begleitet vom Sender Life, die man normalerweise gar nicht erwähnen würde. Doch über sie wurde Nawalnys Team vom Fond für Korruptionsbekämpfung (FBK) auf Nastya Rybka aufmerksam, die an der Aktion beteiligt war. Auf Rybkas öffentlich einsehbaren Instagram-Kanal erregten einige öffentlich einsehbare Fotos und Videos die Aufmerksamkeit der FBK-Mitarbeiter: Diese zeigen das Escort-Girl zusammen mit dem Oligarchen Oleg Deripaska auf dessen Yacht – in einem Video ist neben Deripaska auch der russische Vize-Premier Sergej Prichodko zu sehen, der laut Nawalny „wenig bekannt, aber sehr einflussreich ist”.

    Am 8. Februar 2018 veröffentlichte Nawalny schließlich ein Enthüllungs-Video, das inzwischen mehr als 4 Millionen Aufrufe verzeichnet. Darin stellt Nawalny das auf dem Instagram-Kanal dokumentierte Treffen als ein fehlendes Puzzlestück im Rätselraten um russische Einflussnahme auf den US-amerikanischen Wahlkampf dar: Trumps Ex-Berater Paul Manafort und Deripaska waren geschäftlich verbunden. Im Instagram-Video von Nastya Rybka, die ursprünglich aus Belarus stammt, ist dabei auch eine Audiopassage, in der man jemanden sagen hört: „Wir haben schlechte Beziehungen zu Amerika. Warum? Dafür ist die Freundin von Sergej Eduardowitsch verantwortlich, Nuland heißt sie.” Nawalny ordnet die Stimme Deripaska zu, Sergej Eduardowitsch sind Vor- und Vatersname von Vize-Premier Prichodko, Victoria Nuland war unter Obama im US-Außenministerin zuständig für Europa und Eurasien.

    Laut FBK-Recherchen fand das Treffen von Prichodko und Deripaska im August 2016 statt. Wie Nawalny ausführt, ist dies auch deswegen bemerkenswert, weil laut US-amerikanischen Medienberichten Trumps Ex-Berater Paul Manafort dem Oligarchen im Vormonat private Briefings zum Wahlkampf angeboten hatte. Prichodko ist demnach der missing link von Deripaska zu Putin.

    Nicht mal zwei Tage nach der Veröffentlichung verbot ein Gericht in Ust-Labinsk, der Geburtsstadt Deripaskas im Süden Russlands, Nawalnys Film. Kurz darauf nahm die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor das Video und den Blogeintrag ins Register verbotener Internetseiten auf.

    Bei so viel Aufsehen und Lärm um einen Film hat sich Oleg Kaschin auf Republic Gedanken über unterschiedliche Wahrnehmungsmuster gemacht – und stellt viele beunruhigende Fragen.

    Nawalnys Recherchen über Sergej Prichodko auf der Yacht von Oleg Deripaska – das ist ein absolut westlicher Plot, europäisch oder amerikanisch. Da braucht es ein Happy-End: Der Staatsbeamte muss zurücktreten, der Milliardär meldet Konkurs an, der Oppositionelle kommt an die Macht. Das Russland von heute unterscheidet sich allerdings sehr vom Westen, wie man ihn aus dem Kino kennt.

    Will man den Plot vom Staatsbeamten und dem Milliardär für unsere Lebenswirklichkeit adaptieren, dann müsste er ganz anders ablaufen. Bestechung heißt in unserer Tradition, dass man einem Amtsträger Geld bar in die Hand drückt; dann tauchen von irgendwoher Fahnder auf und durchleuchten das Geld und die Hand mit UV-Lampen. Das ist Bestechung, aber wenn jemand jemanden auf eine Yacht einlädt – für sowas wird man bei uns nicht verklagt.

    Wessen Ruf kratzt das an?

    Die Amoral im vorliegenden Plot ist auch keine wirkliche Amoral. Nun ja, ein Escort-Girl. Aber wessen Ruf kratzt das an? Die russische Vorstellung von Reichtum beinhaltet, dass ein reicher Mensch von allem viel hat, auch Frauen, er kann’s sich halt leisten. Bei staatlichen Amtsträgern ist das formal schwieriger, aber nur formal. Über praktisch jeden mehr oder weniger bekannten Staatsdiener weiß man, dass für sein Privatleben gilt, was in den sozialen Netzwerken als „es ist kompliziert“ bezeichnet wird: Es gibt eine vor langer Zeit verlassene Ehefrau, außerdem irgendein Mädchen, mit dem er überall hingeht, ohne es auch nur ein bisschen peinlich zu finden, und dann ist da noch, bildlich gesprochen, die Komitee-eigene Banja, die sie alle von Zeit zu Zeit besuchen, ebenfalls ohne es peinlich zu finden.

    Das heißt: Wenn man den Plot für die russische Lebenswirklichkeit adaptiert, dann müsste man ihn dahingehend ändern, dass der Milliardär den Staatsbeamten nicht mit einem Ausflug auf einer Yacht besticht (wie das überhaupt klingt! Mit einem Ausflug bestochen! Mit frischer Luft bestochen!), sondern mit Bargeld, außerdem muss der Moment der Übergabe per Video gefilmt und das Geld mit Spezialfarbe behandelt worden sein.

    Auch der Sex-Strang des Plots muss außerhalb etablierter Normen angesiedelt sein. Ideal wäre, wenn der Staatsbeamte gleich mit dem Milliardär schläft – Homosexualität ist bei uns zwar nicht ausgerottet, aber dennoch nicht gern gesehen – und wenn es schon nicht miteinander geht, dann muss man auf die Yacht irgendwelche Jünglinge einladen, am besten minderjährige. Dann kann man von einem Skandal sprechen.

    Alle möglichen Zufälle

    Nawalny zu verdächtigen, für den Kreml, den FSB oder für Putin persönlich zu arbeiten – das ist mies. Wenn eine statistisch signifikante Zahl von Bürgern an Zufall und Unvoreingenommenheit der Ermittlungen glaubt, wird es ganz von selbst eine Tatsache, und Verschwörungstheorie bleibt Verschwörungstheorie. Im russischen Plot gibt es keine Verschwörungstheorien, hier kann es generell alle möglichen Zufälle geben, denn der Glaube an den Zufall ist eine konstituierende Eigenschaft der Gesellschaft, die man keinesfalls ignorieren darf.

    Sollen sich doch die paranoiden Zeitgenossen den Kopf zerbrechen, wer hier wen beauftragt hat. Prichodko Deripaska, Deripaska Prichodko oder Setschin alle beide. Wenn die Menschen glauben, dass niemand niemanden beauftragt hat, dann ist das auch so – in solchen Fällen ist der Glaube wichtiger als der Verdacht.

    Eine echte Weltsensation

    Wichtig ist auch, dass für einen Teil des Publikums ein westlicher Plot gar nicht adaptiert werden muss, weil es ein westliches Publikum ist und ihm all die Plot-Linien mit Staatsbeamten, Milliardären und Oppositionellen durchaus vertraut sind.  Für dieses Publikum ist die Verbindung von Deripaska mit Prichodko das fehlende Glied in der Kette zwischen Donald Trump und Wladimir Putin (Paul Manafort, der Chef von Trumps Wahlkampfteam, hat für Deripaska gearbeitet, und ohne die Yacht war die Kette genau bei Deripaska abgerissen) – und das ist eine echte Weltsensation, die übrigens auch Moskau neue Möglichkeiten eröffnet, die Einmischung in den amerikanischen Wahlkampf zu rechtfertigen. Bei Bedarf kann man alles auf Prichodko abwälzen und ihn in Rente schicken und so zur Entspannung der internationalen Missstimmungen beitragen. Obwohl letzteres eher in der Phantastik anzusiedeln ist.

    Das Verhalten des Escort-Girls, die auf der Yacht ein Video für Instagram gedreht hat, ist das unverständlichste an allem. Ihre öffentlichen Aktivitäten begannen ein halbes Jahr, bevor Nawalny sich für sie zu interessieren begann. Wer hat dem Mädchen ihre Sicherheit garantiert? Warum wurde ihr nicht gleich am Anfang ihrer Medienaktivität Einhalt geboten? Warum ist sie ins Wahlkampfbüro von Nawalny eingedrungen? Wenn sie die Situation in ihren Videobotschaften ins Absurde treibt, möchte sie Nawalny dann in die Hände spielen oder sein Drehbuch kaputtmachen?

    Der Plot gerät aus den Fugen

    Antworten darauf gibt es nicht, und dass sie fehlen, das ist eine entscheidende Tatsache, durch die der ganze Plot fast aus den Fugen gerät, völlig unabhängig davon, ob er für die russische Lebenswirklichkeit adaptiert ist oder nicht.

    In ihrem Video lädt das Mädchen alle Protagonisten der Geschichte zu Pust goworjat (dt. „Lasst sie reden“) ein – einer apolitischen Show, die sich sämtlichen Boulevardthemen widmet. Das klingt unheilvoll, denn weder aktive Oligarchen und erst recht keine amtierenden Vize-Premiers nehmen an solchen Sendungen teil.

    Um sie dahin zu bringen, müsste man sie ihrer derzeitigen Macht und ihres derzeitigen Status entledigen. Eine derartige Einladung klingt wie eine Drohung für die beiden, aber wer droht ihnen da? Das Mädchen wohl kaum und auch nicht Nawalny. Wieder diese verfluchte Unsicherheit.

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