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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Wer hat Angst vor Greta Thunberg?

    Wer hat Angst vor Greta Thunberg?

    Umweltstreiks sind in Russland eher eine Privatangelegenheit. Das liegt auch an den Gesetzen. So verboten die Moskauer Behörden einen Massenprotest fürs Klima, zu dem die Umweltbewegung Fridays for Future am 20. September weltweit aufgerufen hatte. Während beispielsweise in Berlin laut Polizeiangaben rund 100.000 Menschen fürs Klima auf die Straße gingen, konnte der Protest in Moskau höchstens in Form von Einzel-Pikets stattfinden.

    Und während sich die Debattenbeiträge in westlichen Blättern häuften, war Greta vor allem in sozialen Netzwerken, kaum aber in russischen Medien Thema. Bis Wladimir Putin sich Anfang Oktober auf einem Energieforum in Moskau zu der prominenten Klimaaktivistin äußerte und sagte, es sei bedauerlich, wenn jemand „Kinder und Jugendliche in seinem Interesse nutzt“.

    Große Klimaproteste gibt es in Russland nicht, die Umweltbewegung insgesamt ist eher marginal. Wohl aber gibt es lokale Umweltproteste, etwa gegen die Abholzung eines Waldes oder eine Mülldeponie vor Ort
    Auf Republic kommentiert der Politologe Sergej Medwedew das russische Verhältnis zu Natur und Umwelt sowie den Argwohn, ja Hass, den Greta Thunberg in Russland auf sich zieht – und sieht eine russische Spezifik. 

    Greta Thunberg sorgt für einen seltenen Konsens in der russischen Gesellschaft / Foto © Andreas Hellberg/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0
    Greta Thunberg sorgt für einen seltenen Konsens in der russischen Gesellschaft / Foto © Andreas Hellberg/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0

    Russische Verschwörungstheoretiker sind enttäuscht: Greta Thunberg hat den Friedensnobelpreis nicht bekommen. Dabei hätte er sich perfekt in die bei ihnen beliebte Theorie einer Verschwörung der Klimaforscher und Umweltaktivisten eingefügt, die alles daransetzen, die Welt zu destabilisieren, Jugendliche zu politisieren und nach der Orangenen nun eine Grüne Revolution anzuzetteln. Aber Greta Thunberg ist auch ohne Nobelpreis zu einer neuen geistigen Klammer für Russland geworden, indem sie nahezu jeden gegen sich aufgebracht und einen seltenen Konsens in der russischen Öffentlichkeit herbeigeführt hat. 

    In der Kritik an ihrer Rede beim UN-Weltklimagipfel vereinen sich die unterschiedlichsten Kräfte, angefangen bei Wladimir Putin, der erklärt, es sei „falsch, Kinder im eigenen Interesse zu nutzen“, und sei es auch für einen guten Zweck, bis hin zu aufgeklärten Liberalen, die schreiben, man solle sich erst um das eigene Land und dann um die Erderwärmung kümmern. 

    Was hat dieses Kind gesagt, dass sich das ganze Land seit Wochen nicht mehr einkriegt?

    Russland ist nicht das einzige Land, in dem sich die Gemüter über Gretas apokalyptische Predigt erhitzen, weltweit strotzen die sozialen Netzwerke vor Sarkasmus und Hasskommentaren. Doch nur bei uns scheint Greta wirklich alle Gesellschaftsschichten und politischen Strömungen gegen sich aufgebracht zu haben. Was hat dieses Kind also gesagt, dass sich ganz Russland seit Wochen nicht mehr einkriegt?

    Aber die Frage ist gar nicht, was gesagt wurde, sondern, wer etwas gesagt hat. Wie Ayman Eckford in ihrer Kolumne festgestellt hat, besteht das Problem darin, dass es sich um ein Mädchen, eine Schülerin und eine Autistin handelt. Dadurch gerät Greta ins Kreuzfeuer der vollen Bandbreite von Diskriminierungen, die für Russland typisch sind: Sexismus, Altersdiskriminierung, Ableismus (Diskriminierung von Menschen mit Behinderung) und Mentalismus (Diskriminierung von Menschen mit einer psychischen Störung). Aus diesem bunten Strauß an Triggern sticht insbesondere ihr Alter hervor – in Russlands traditionellem paternalistischen Diskurs ist ein Kind kein vollwertiges Subjekt und hat weder ein Mitsprache- noch ein Stimmrecht. 

    Politischer Generationenkonflikt

    In den Reaktionen auf Greta manifestieren sich also der politische Generationenkonflikt und die wachsende Forderung junger Menschen nach politischer Repräsentation – insbesondere bei Fragen, die sie stärker betreffen werden als die Menschen, die im vergangenen Jahrhundert geboren wurden. Denn einen Generationenkonflikt gibt es nicht nur, was Technologie, Soziologie und Anthropologie betrifft, sondern auch hinsichtlich des Wertesystems: Junge Menschen vertreten zunehmend postmaterielle Werte, Umweltschutz ist ein wesentlicher davon. In Russland ist der Generationenkonflikt zwar nicht so offenkundig wie im Westen, dennoch spüren junge Menschen immer deutlicher, dass sie von der Politik ausgeschlossen sind – daher auch das überraschende Auftauchen von „Schülerpack“ bei Nawalnys Demonstrationen im Frühling und Sommer 2017, die Protestaktionen im Sommer 2019 und die Politisierung der Moskauer Universitäten. 

    Unterminierung der Kontrollinstanzen

    Aus diesem Grund fällt auch die Reaktion der älteren Generation so scharf aus und wird oft begleitet vom Ausruf: „Warum ist die eigentlich nicht in der Schule?!“ Kurz gesagt, mit ihrem Aktivismus unterminiert Greta gleich mehrere Kontrollinstanzen der heutigen Gesellschaft: die Schule, die Universität, die Autorität von Eltern, den Expertenkult und die psychische „Norm“.

    Aber es geht natürlich nicht nur um Greta als Mensch, sondern auch um ihre umweltpolitische Botschaft. Genauer gesagt, um den globalisierungs- und kapitalismuskritischen Diskurs, der im Westen immer breitere Schichten der Gesellschaft erfasst, während er in Russland nur ein ironisches Schmunzeln hervorruft und Anlass zu provinziellen Verschwörungstheorien bietet. „Wem nutzt das?“, fragen hausbackene Analytiker, die Augen listig zusammengekniffen wie Lenin. 

    Obwohl der Klimawandel im vergangenen Jahr nach allen wissenschaftlichen Standards bewiesen wurde und keine Hypothese mehr, sondern ein wissenschaftlicher Fakt ist, halten ihn viele Russen nach wie vor für eine Verschwörung von Klimaforschern und Umweltaktivisten. 
    Überhaupt hat die Wissenschaft an Autorität eingebüßt in Russland, einem Land, wo mehr Kirchen gebaut werden als Schulen, wo in den Nachrichten das Horoskop auf einer Stufe mit dem Wetterbericht und dem Währungskurs durchgegeben wird und wo Verschwörungstheorien und der Glaube an verborgene Kräfte, die das Weltgeschehen lenken, zu einem universellen Erklärungsmodell avanciert sind. 
    Für das Massenbewusstsein steht außer Frage, dass die Welt von einem (unweigerlich bösen) Willen gesteuert wird und dass alles, was passiert, von der Erderwärmung bis hin zur Orangenen Revolution, auf einen Strippenzieher à la Soros zurückgeht. Es überrascht daher nicht, dass auch Greta zu einer „PR-Puppe von Soros“ erklärt wurde, obwohl das Bild eines Philanthropen, der sich seit 30 Jahren aktiv für die Entwicklung des Liberalismus und die Öffnung der Märkte einsetzt, nicht gerade mit Gretas kapitalismus- und globalisierungskritischer Botschaft zusammenpasst.

    In einem paranoiden Diskurs ist natürlich auch die Theorie der Erderwärmung antirussisch

    Hinzu kommt, dass alle Weltverschwörungstheorien bei uns unweigerlich eine antirussische Note haben: Russland gilt als Sand im Getriebe einer „neuen Weltordnung“ – was dieser Begriff auch immer bedeuten mag. In so einem paranoiden Diskurs ist natürlich auch die Theorie der Erderwärmung antirussisch: Weil sie den CO2-Ausstoß als Ursache benennt und auf alternative, erneuerbare Energien setzt und damit Russland seiner wesentlichen Exportgüter – Öl und Gas – beraubt und das Land vom Weltmarkt drängt. Während Greta persönlich, so die regierungsnahe Rossijskaja Gazeta, versucht die russische Jugend auf die Straßen zu bringen und zum Sturz der bestehenden Ordnung aufruft – im Grunde bereitet also auch sie den schrecklichen Maidan vor, gegen den Russland in den letzten 15 Jahren ankämpft.

    Russland ist grundsätzlich kein umweltfreundliches Land. Das liegt an der allgemeinen Unordnung und der enormen Fläche

    Allerdings geht das Problem über die Verschwörungstheorien hinaus: Russland ist grundsätzlich kein umweltbewusstes, geschweige denn ein umweltfreundliches Land. Das liegt an der allgemeinen Unordnung und der enormen Fläche – der Russe betrachtet seine Umwelt nicht als etwas, das ihm gehört, er fühlt sich nicht verantwortlich, sondern sieht sich als vorübergehenden Nutzer, während der wahre Eigentümer der Staat ist. 

    Daraus entspringen auch die Gleichgültigkeit und der Zorn im Umgang mit der Umwelt: der Vandalismus im Wald und die Brandrodungen, die zerstörerischen Ausflüge in die Natur mit Motocross-Bikes, Lagerfeuern, abgebrochenen Ästen und hinterlassenen Müllhaufen. 
    Die Umwelt gilt als etwas Äußeres, etwas Fremdes, deswegen transferiert der Russe auch alles Mögliche in die Natur: Die Couch schleppt er in den Wald, alte Reifen wirft er den Abhang herunter, Kippen schnippt er aus dem Autofenster oder leert ganze Aschenbecher an einer roten Ampel mitten auf die Straße. 
    Schon Nikolaj Berdjajew und Iwan Iljin schrieben, in Russland gebe es zu viel Raum, somit betrachte man ihn als eine grenzenlose Ressource, die „alles verkraftet“. Genauso wird übrigens auch die erneuerbare Bio-Ressource namens Bevölkerung behandelt, die man getrost für höhere Staatsziele opfert, frei nach dem Motto: „Die Weiber werden schon neue gebären“.

    Eine Marotte des reichen Westens

    Bei seinem Privateigentum (Wohnung, Datscha, Auto) legt der Mensch ein anderes Verhalten an den Tag, doch die Umwelt gilt als etwas Fremdes, das niemandem gehört: Daher kommt auch die Scheißegalhaltung sowohl zur heimischen Natur als auch zu globalen Umweltproblemen, die von unserer provinziellen Warte aus als eine Marotte des reichen Westens erscheinen. 

    Deswegen nervt Greta Thunberg auch so – die Tochter reicher Eltern, die ihr einen Törn mit der Segelyacht nach New York finanzieren. Die russische Öffentlichkeit wurmt vor allem diese unerreichbare „Yacht“. Und die Rettung des Planeten wirkt dann auch wie die Yacht und Eskapade eines verzogenen Kindes in einer überfressenen Gesellschaft in den oberen Etagen der Maslowschen Bedürfnishierarchie

    „Welcher Klimawandel?“, fragt der Durchschnittsrusse, „ich hätte lieber mal eine Gehaltserhöhung, keinen Kredit im Nacken, eine anständige Straße in die nächste Kreisstadt, effektive Terrorismusbekämpfung, keine Politgefangenen, keine Korruption und Beamtenwillkür (Zutreffendes bitte ankreuzen) – und dann können wir über die Rettung von Amur-Tigern und Eisbären reden.“ 

    Frust gegen die Welt da draußen

    In den letzten Jahren tut sich etwas, die Bürger erkennen ihr Recht auf den eigenen Lebensraum und eine saubere Umwelt: Man kämpft für Parks und Grünanlagen, gegen Mülldeponien. Aber diese Proteste sind immer nur lokal, und ich scheue mich nicht, es zu sagen: egoistisch (was sie nicht weniger wichtig macht). Die Menschen gehen nicht auf die Straße, solange niemand vor ihren Fenstern Jahrhunderte alte Bäume fällt oder eine neue Müllhalde errichtet. Diese lokalen Proteste stehen nicht im globalen Kontext, den man nur als Störfaktor sieht, als einen Medienrummel, der von „unserem“ richtigen Kampf ablenkt. 

    Alles in allem handelt es sich um ein typisches Ressentiment, einen Frust gegen die Welt da draußen und um eine Übertragung der inneren Probleme nach außen. Um die Unfähigkeit, sich in eine neue Ordnung einzufügen, in der Fliegen als unethisch gilt und Kinder, anstatt die Schulbank zu drücken, Erwachsenen die Leviten lesen. Ich sage nochmals: Das betrifft nicht nur Russland, Greta hat weltweit Millionen Menschen aufgebracht (um nicht zu sagen zu Trollen gemacht), hat die patriarchalen Stereotype auf den Kopf gestellt. Doch gerade in Russland verbindet sich das mit einem umfassenden Frust gegen die Welt, mit der postsowjetischen Identitätskrise und unserem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber Umweltthemen. 
    Globalisierung und Globalisierungskritik, Autismus und Toleranz, Feminismus und Kinderrechte – die ganze bei uns so verhasste Losung des Liberalismus und der politischen Korrektheit verdichtet sich in einem schwedischen Mädchen mit Autismus, das zur Zielscheibe und zum Blitzableiter für das russische Ressentiment wurde. Und nun übt sich dieses Ressentiment in Ironie und Hass, ohne zu begreifen, dass es keine skandinavische Zügellosigkeit und keine Klimaverschwörung, sondern nur sich selbst entlarvt.

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  • Pakt mit dem Teufel

    Pakt mit dem Teufel

    Am 23. August 1939 stieg der Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop ins Flugzeug nach Moskau, um dort einen folgenreichen Vertrag zu unterzeichnen. Im sogenannten Hitler-Stalin-Pakt einigten sich Deutschland und die Sowjetunion auf die Teilung Polens und Osteuropas, inklusive Finnlands. Außerdem unterschrieben Ribbentrop und Stalins Außenkommissar Wjatscheslaw Molotow den deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag. Damit ebneten sie, so die eine Lesart, den Weg zum Zweiten Weltkrieg.

    Den Grundstein für eine andere Lesart legte Molotow schon im August 1939: „Der Abschluss des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrags bezeugt, dass sich die historische Voraussicht des Genossen Stalin glänzend erfüllt hat.“ Die Erzählung über die „historische Voraussicht“ beherrschte auch die Auslegung des Pakts in den Nachkriegsjahren: Stalin, so hieß es, habe damit den Kriegsbeginn hinausgezögert und so Menschenleben gerettet. 

    80 Jahre nach der Unterzeichnung des Pakts kommt die russische Politik zu demselben Schluss. Auch mit anderen Argumenten revidiert sie erstmals die seit der Perestroika geltende Verurteilung des Pakts, den auch Putin 2009 als amoralisch bezeichnete. 

    Will Moskau mit dieser geschichtspolitischen Offensive zeigen, dass es auch heute solche Instrumente der Außenpolitik einsetzen will? Was würde das für die völkerrechtlichen Beziehungen bedeuten? Und wer ist hier eigentlich der Adressat? Diese Fragen stellt der Politologe und Außenexperte Wladimir Frolow auf Republic.  

    Moskau hat den 80. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes mit einer mächtigen Informationskampagne begangen. Diese hat einerseits die Verteidigung des Vertrags zum Ziel, andererseits die Rechtfertigung der Motive und Ziele der stalinschen Sowjetunion: sowohl beim Abschluss des Paktes als auch bei der territorialen Aufteilung Osteuropas auf Grundlage des geheimen Zusatzprotokolls. An der Kampagne waren höchstrangige Persönlichkeiten beteiligt, die für Gestaltung des außenpolitischen Kurses Russlands verantwortlich sind.

    „Diplomatischer Triumph der UdSSR“

    Außenminister Sergej Lawrow erklärte, dass „die UdSSR genötigt gewesen“ sei, den Nichtangriffspakt mit Deutschland zu unterzeichnen, weil England und Frankreich nicht zu einem Militärbündnis mit Moskau bereit gewesen seien. Wladimir Medinski, Kulturminister und Vorsitzender der Russischen Militärhistorischen Gesellschaft, bezeichnete den Pakt als einen „diplomatischen Triumph der UdSSR“.

    Den Schlussakkord der Kampagne bildete ein Post des Außenministeriums in den sozialen Netzwerken, in dem behauptet wurde, dass „durch den deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag der Krieg an für die UdSSR strategisch günstigeren Grenzen begann und die Bevölkerung dieser Gebiete erst zwei Jahre später dem Naziterror ausgesetzt wurde. Dadurch wurden hunderttausende Menschenleben gerettet.“

    Vollständiger Wechsel des historischen Narrativs

    Die Dimension der Kampagne und der hohe Status der Beteiligten übersteigen den Rahmen der üblichen propagandistischen Reaktionen auf „diffamierende Ränke“ der westlichen Partner.

    Es geht um einen vollständigen Wechsel des historischen Narrativs. Diesem hatte seit dem 24. Dezember 1989 und dem Beschluss des Volksdeputiertenkongresses der UdSSR zum Hitler-Stalin-Pakt folgende Einschätzung zugrunde gelegen: dass es sich um einen verfehlten „Akt persönlicher Macht“ (Stalins) gehandelt habe und dass der Pakt in keiner Weise „den Willen des sowjetischen Volkes widerspiegelte, das keine Verantwortung für dieses Komplott trägt“.

    2009 hatte Premierminister Wladimir Putin diese Bewertung des sowjetischen Parlaments erneut bekräftigt, als er den Hitler-Stalin-Pakt als „amoralisch“ bezeichnete. Das Außenministerium der Russischen Föderation erklärte im selben Jahr, dass „der politische und moralische Schaden für die UdSSR durch den Abschluss eines Vertrages mit Nazi-Deutschland offensichtlich war“.

    Vision des Kreml von einer neuen Weltordnung

    Heute wird womöglich der Versuch unternommen, das Narrativ über den Beginn des Zweiten Weltkrieges unter Kontrolle zu bringen, womöglich aus bestimmten, weitreichenden, außenpolitischen Zielen heraus – etwa zur Stützung der Vision des Kreml von einer neuen Weltordnung und einem zukünftigen Sicherheitssystem in Europa. Welche Folgen kann diese intensive Apologetik haben, die etwas rechtfertigt, das vor 30 Jahren zurecht als amoralischer und nicht zielführender (was die Abwendung der Kriegsgefahr von der UdSSR betrifft) Akt persönlicher Macht erklärt worden war, der für die UdSSR „die Folgen der hinterhältigen nazistischen Aggression“ verschärfte?

    Für die aktuelle außenpolitische Agenda Russlands ist die Kampagne kontraproduktiv

    Die pathetische Apologetik des Hitler-Stalin-Paktes ist für die aktuelle außenpolitische Agenda Russlands kontraproduktiv. Moskau hat sich in den vergangenen Monaten einem Punkt genähert, an dem es in den Beziehungen zum Westen endlich „das Thema Ukraine und Krim abschließen“ könnte. Hoffnung sollte für Moskau in dem neuen Gaullismus von Emmanuel Macron bestehen. Der ruft dazu auf, Russland zurückzuholen und zusammen mit ihm eine „neue europäische Sicherheits- und Vertrauensarchitektur“ aufzubauen. Außerdem könnte die Hoffnung in dem geerdeten Pragmatismus von Donald Trump bestehen, der dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky väterlich rät, sein „Problem [mit Wladimir Putin] zu lösen“.

    Sensible Einstimmung statt propagandistischer Salven

    Ein solches Gespräch erfordert allerdings eine sorgsame Vorbereitung und eine Atmosphäre neuer Perspektiven. Hier ist eine sensible Einstimmung des medialen Hintergrunds vonnöten und nicht propagandistische Salven zu militärhistorischen Themen.

    In einer derart sensiblen Situation sollte man es zumindest unterlassen, Salz in die Wunden seiner Verhandlungspartner zu streuen, deren politische Position zu schwächen oder das Misstrauen in die eigenen Ziele und Absichten zu verstärken. Eine Propagierung des Hitler-Stalin-Pakts bedeutet, ein außenpolitisches Instrumentarium und ein Konzept von Völkerrecht gutzuheißen, die der heutigen UNO-Charta widersprechen. Die Charta war 1945 verabschiedet worden, damit „sich derartiges nicht wiederholt“.

    Wofür steht der Hitler-Stalin-Pakt? 

    Der Bruch bestehender bilateraler Vertragsverpflichtungen, die Unterminierung der Souveränität von Nachbarstaaten, Einmischung in deren innere Angelegenheiten, Diktate unter Androhung von Gewalt, militärische Aggression, Neuziehung von Grenzen, die Annektierung von Teilgebieten (Polen, Rumänien, Finnland) oder ganzer Staaten (Litauen, Lettland, Estland) – für das alles stehen der Hitler-Stalin-Pakt und das Vorgehen der UdSSR bei dessen Umsetzung.

    Bedeutet nun, 80 Jahre später, die Verherrlichung des Paktes, dass Moskau auch heute solche Instrumente der Außenpolitik gutheißt und rundum entschlossen ist, sie zukünftig einzusetzen, wenn es dies für nützlich und den Augenblick für geeignet hält? Schließlich waren 2014/15 bei den Ereignissen in der Ukraine ähnliche Instrumente zum Einsatz gekommen. Zudem enthielt das zur Begründung dienende propagandistische Narrativ sogar direkte Parallelen (siehe den „Minderstaat Polen“ und den „Staatsstreich in der Ukraine“), die die vertraglichen Verpflichtungen Moskaus wegwischen sollten. Und auch in den Minsker Abkommen sind die bekannten Züge einer „künftigen politischen Neugestaltung“ zu erkennen.

    Es wäre jetzt, so scheint es, angebracht zu zeigen, dass die „Exzesse“ von 1939 und 2014 einmaliger Natur waren und derartiges von Russland nicht mehr zu erwarten ist. Die Tweets des russischen Außenministeriums behaupten jedoch das Gegenteil. Das Propagandasignal löscht wesentliche Interessen, nullt sie aus. Bei einer normalen außenpolitischen Planung wäre eine solche Diskrepanz zwischen propagandistischem Diskurs und prioritärer Agenda unmöglich. Bei uns scheint das jedoch anders zu sein.

    Das Propagandasignal löscht wesentliche Interessen

    Lawrows Wortklauberei soll den Unwillen Moskaus maskieren, eines der zentralen Prinzipien des Völkerrechts anzuerkennen, nämlich die Gleichheit souveräner Staaten. Dieses Prinzip legt fest, dass alle Subjekte völkerrechtlicher Beziehungen – Großmächte wie Kleinstaaten – über gleiche Rechte verfügen und ihre Souveränität in keiner Weise durch dritte Staaten eingeschränkt werden kann. Moskau hingegen vertritt fast schon offiziell ein Konzept von „Einflusssphären“ und einer „multipolaren Welt“, demzufolge nur einige „Großmächte“ über volle und uneingeschränkte Souveränität verfügen und auf der Basis eines auszuhandelnden „Gleichgewichts der Interessen“ Entscheidungen treffen und jene Spielregeln festlegen, die dann für die kleineren Staaten in den jeweiligen Zonen „privilegierter Interessen“ verbindlich sind. Das wird dann als Beispiel für „Realismus in der Weltpolitik“ dargestellt.

    Der Pakt ist ein Beispiel für die „Schaffung einer pseudorechtlichen Realität“ und den Aufbau „einer Welt, die auf Regeln basiert“, die nur einem engen Kreis von Staaten nützen, nicht aber der Stärkung eines universalistischen Ansatzes dienen, bei dem objektiv geltende Rechtsnormen für alle Subjekte völkerrechtlicher Prozesse verbindlich sind.

    Moskau gegen die Stärkung eines universalistischen Ansatzes

    Moskau lehnt einen universalistischen Ansatz ab. Es behauptet, wenn die USA die Normen des Völkerrechts nicht immer befolgen und zuweilen mit dem Recht des Stärkeren vorgehen, dann habe Russland genau das gleiche Recht, die Regeln zugunsten seiner Interessen zu verletzen. Regeln und Recht sind für Moskau heute das Produkt von Laissez-faire der beteiligten Seiten und konkreter Abmachungen. Und Russland müsse, wenn es darum geht, diese Regeln auf Moskau und seine Verbündeten anzuwenden, über ein Vetorecht verfügen (im UN-Sicherheitsrat). Daher rühren zum Beispiel auch die Versuche, im Rahmen des Sekretariats der OPCW einen unabhängigen Mechanismus zur Untersuchung und Schuldfindung beim Einsatz von Chemiewaffen zu blockieren. Gleiches gilt für die Nichtanerkennung der Zuständigkeit des Internationalen Seegerichtshofes bei den Vorfällen in der Straße von Kertsch. Die Glorifizierung des Hitler-Stalin-Paktes deckt diese versteckte Agenda auf, die durch Lawrows Erklärungen maskiert wird.

    Schließlich wäre da noch die Frage des Zielpublikums. Wen wollen wir eigentlich davon überzeugen, dass der Hitler-Stalin-Pakt die Krönung der Kunst der Diplomatie ist? 

    Für eine Wirkung auf die westlichen Eliten ist die derzeitige Apologetik des Paktes vollkommen kontraproduktiv. In den europäischen Eliten ist niemand bereit, unserer Logik zur Rechtfertigung des Paktes zu folgen. Wem gilt also die Botschaft vom „diplomatischen Triumph“? Bleibt allein die russische Gesellschaft. Es wäre also ein Instrument, mit dem eine Delegitimierung des Stalin-Regimes verhindert werden soll. Warum aber muss das alles dann auf höchster diplomatischer Ebene präsentiert werden?

    Die wichtigste historische Lehre aus dem Abkommen lautet: Ein Pakt mit dem Teufel, mit dem absoluten Bösen lässt sich durch keinerlei rationale Argumente oder Verweise auf das amoralische Vorgehen anderer Mächte rechtfertigen. Bei einem langfristigen „Investitionshorizont“ bringt moralische Relativierung niemals Gewinn.

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  • Wie Raketen den Protest antreiben können

    Wie Raketen den Protest antreiben können

    Regen und Einlasskontrollen hielten sie nicht auf: Zehntausende haben am Samstag an der genehmigten Demonstration im Moskauer Stadtzentrum teilgenommen. Die Polizei spricht von 20.000 Teilnehmern, die NGO OWD-Info berichtet von 60.000 Demonstranten, 256 seien allein in Moskau festgenommen worden. In Moskau traten auch bekannte russische Musiker wie IC3PEAK und Face auf, die Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja trug ein Gedicht vor. Die Menschen in der Hauptstadt protestieren seit Mitte Juli: Auslöser war, dass oppositionelle Kandidaten unter fadenscheinigen Begründungen nicht zur Regionalwahl zugelassen worden waren.

    Gleichzeitig drangen am Wochenende immer mehr Einzelheiten über einen atomaren Unfall auf einem Militärstützpunkt am Weißen Meer ans Licht der Öffentlichkeit. Dieser hatte sich am Donnerstag ereignet. Die Behörden informierten die Bevölkerung jedoch nur spärlich darüber, viele Fragen sind immer noch offen.

    In seinem Meinungsstück auf Republic macht Andrej Sinizyn eine Art Tschernobyl-Effekt aus und beschreibt, wie das Verschweigen und Belügen Proteste nur anheizt.

    Am 1. März 2018 hat Wladimir Putin in seiner Botschaft an die Föderationsversammlung 45 Minuten lang über die Erfolge Russlands in der Entwicklung neuer Waffen berichtet (darunter auch Atomwaffen), begleitet wurde das alles mit durchaus aggressiven Animationsfilmen. Experten äußerten umgehend Zweifel an der Echtheit (und dem Sinn) der höchst fantastisch anmutenden Projekte, wie zum Beispiel nuklear betriebener Raketen oder einer Unterwasser-Atom-Drohne. Die Propaganda-Funktion der Präsentation indes war klar: Es galt, das westliche Publikum zu erschrecken und – ebenso – die eigene Bevölkerung.

    Nun sind fast anderthalb Jahre vergangen und wir werden Zeugen, dass die Trickfilme floppen. Die Atomstolz-Propaganda funktioniert nicht.

    Am 1. Juli 2019 hat es in der Barentssee während Testläufen mit einem geheimen Unterwasser-Gerät (inoffizieller Name: Loscharik) einen Unfall gegeben, bei dem 14 U-Boot-Offiziere, darunter sieben Kapitäne 1. Ranges und zwei Helden Russlands, ums Leben kamen. Beerdigt wurden sie unter strengster Geheimhaltung in Sankt Petersburg.

    Die Atomstolz-Propaganda funktioniert nicht

    Am 8. August kam es auf dem Raketen-Testgelände Njonoksa in der Nähe von Sewerodwinsk аm Weißen Meer zu einer Explosion, anschließend erschien (und verschwand nach 24 Stunden) auf der Website der Stadtverwaltung eine Mitteilung über einen kurzzeitigen,  sprunghaften Anstieg radioaktiver Strahlung. Der Telegram-Kanal Baza berichtete von sechs Verletzten eines Strahlungsunfalls. Das Verteidigungsministerium teilte mit, dass es auf dem Militärgelände während Versuchen mit einem Flüssigkeitsraketentriebwerk zu einer Explosion gekommen sei, bei dem zwei Menschen ums Leben gekommen und sechs weitere verletzt worden seien. Knapp 48 Stunden später veröffentlichte die Atombehörde Rosatom eine Pressemitteilung, wonach fünf Mitarbeiter ums Leben gekommen seien und drei weitere Verletzungen erlitten hätten: „Die Tragödie ereignete sich während der Arbeiten und steht in Zusammenhang mit ingenieurtechnischen Wartungen von Isotopenquellen am Flüssigkeitsantrieb.“

    Wiederum verläuft alles streng geheim, die Bewohner von Sewerodwinsk kaufen für alle Fälle die Jod-Vorräte in den Apotheken auf. Es gibt die Vermutung, dass der nuklearbetriebene Marschflugkörper namens Burewestnik (eine der von Putin präsentierten Wunderwaffen) explodiert sei. Doch mit Sicherheit kann bislang nur gesagt werden, dass es mit den neuen Waffen Probleme gibt und dass diese Probleme sogar das Leben und die Gesundheit friedlicher Menschen bedrohen.

    Natürlich passieren Unfälle immer und überall. Und selbstverständlich fallen militärische Tests unter Geheimhaltung. Die Einwohner von Sewerodwinsk fühlen sich aber nicht ohne Grund an Tschernobyl erinnert: Die Angewohnheit der Machthaber sogar dann zu schweigen oder zu lügen, wenn Gefahr für die Bürger besteht, gibt es nach wie vor (Sewerodwinsk war zu sowjetischen Zeiten eine geschlossene militärische Stadt; die Menschen dort wissen gut Bescheid über solche Verhaltensweisen der Machthaber). 

    Loyalität ist wichtiger als Kompetenz

    Geheimhaltung und Sicherheitsstrukturen gehen bekanntermaßen miteinander einher. Der Einfluss dieser Institutionen in Russland wächst, er ist nur durch interne Konkurrenz begrenzt. Die Gesellschaft kann hier praktisch nichts kontrollieren. Diese fehlende Kontrolle verstärkt die negative Selektion, die sowieso jeder Kaderpolitik eines jeden autoritären Staates eigen ist: Loyalität ist wichtiger als Kompetenz. Im Endeffekt werden wir von amoralischen Nichtsnutzen regiert, die zwar Studenten auf den Straßen niederzwingen können, aber nicht wissen, wie man einen funktionierenden Weltraumbahnhof oder eine Rakete baut.

    Deshalb sind die Vertrauenswerte für die  Machthaber niedrig und fallen weiter. Und die Machthaber selbst tun alles dafür, dass das so weitergeht. Die Wirtschaftskrise, das sinkende Realeinkommen, die Erhöhung des Rentenalters, die Steuererhöhung, eine Müllreform, fehlende politische Repräsentation und politische Repressionen – das sind die Themen, die die Menschen in Russland heute beschäftigen. Sie haben die Trickfilme mit den Wunderwaffen sowieso nicht ganz so ernst genommen (obwohl die anfangs ja doch ganz ansprechend wirkten, das kann man nicht leugnen). Und nun stellt sich heraus, dass die Wunderwaffe nicht geeignet ist, den Feind zu schlagen, dafür aber, um in der Nähe zu explodieren und die eigenen Leute zu töten und dabei  auch noch das heimische Territorium zu verseuchen.

    Wladimir Putin muss enttäuscht sein. Russland und die USA treten aus Abrüstungsverträgen aus, ein neues Wettrüsten hat begonnen – und bei uns gibt es einen Unfall nach dem anderen. Das Wichtigste daran ist – der Propagandaeffekt schwindet dahin. Die Bürger beginnen zu protestieren, in unterschiedlichen Regionen aus unterschiedlichen Gründen. Einige versuchen sogar, einen Regimewechsel zu erreichen.

    Was soll’s, es bleibt also nur, Urlaub auf der Krim zu machen und die anderen Silowiki zu beauftragen, auf den Straßen von Moskau die Bürger verprügeln. Wenn schon die eingangs erwähnten Silowiki [beim Militär] es nicht hinkriegen, die Wunderwaffe zu bauen.   

    PS
    Der Direktor sowie der wissenschaftliche Leiter des Russischen Föderalen Nuklearzentrums –  das Allrussische wissenschaftliche Forschungsinstitut für experimentelle Physik – haben berichtet, dass in der Nähe von Sewerodwinsk ein kleinformatiger Atomreaktor explodiert sei, der ein Teil des Motors eines Rüstungsguts ist. Mitarbeiter des Zentrums seien bei den laufenden Tests ums Leben gekommen. Die Forschung und Entwicklung im Auftrag des Verteidigungsministeriums läuft im Rahmen des wissenschaftlichen Programms des Zentrums.  

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  • Chernobyl-Serie: Der fremde Spiegel

    Chernobyl-Serie: Der fremde Spiegel

    Chernobyl ist eine neue Fernsehserie, auf der Internet Movie Database ist sie die bislang am besten bewertete Serie ever. Es ist eine US-amerikanisch-britische und keine russische Produktion. In Russland sei eine solch kritische und ernste Auseinandersetzung mit der Reaktorkatastrophe derzeit einfach nicht möglich, meint Andrej Archangelski auf Republic. Ein Hohelied auf das therapeutische und das versöhnende Potential des Serien-Genres plus eine Abrechnung mit dem aktuellen russischen Fernsehen.

    Die Serie Chernobyl – eine Produktion von HBO und dem britischen Sky TV – steht im Ranking der Internet Movie Database (IMDb) auf Platz 1. In Russland wird sie, wie nicht anders zu erwarten, von regierungstreuen Medien kritisiert. Das ist eine Art sowjetischer Instinkt – man muss, und sei es im Nachhinein, die Sache grundlegend bewerten. 
    Worin genau die ideologische Sabotage der Serie besteht, ist zwar schwer zu sagen, aber der parteihörige Spürsinn (auch so ein Wort aus dem sowjetischen Lexikon) souffliert fehlerfrei: Irgendwas Aufrührerisches verbirgt sich in Chernobyl, unsichtbar, aber nicht ungefährlich. Man geht dabei allerdings nicht wirklich in die Tiefe und bezeichnet den Film als „einwandfreie Propaganda“ und Teil einer Verschwörung gegen die Atomenergiebehörde Rosatom.   
    Diesmal, so bizarr das auch sein mag, irrt der Spürsinn der Medien nicht – für die russische Ideologie, die sich weitgehend auf Fernsehen und Filme stützt, ist dieser Film tatsächlich gefährlich.

    Für die russische Ideologie ist dieser Film gefährlich 

    Mit regierungsfreundlichen Filmen und ebensolchem Fernsehen ist es in den letzten zehn Jahren gelungen, das Land in einen hermetischen Kokon zu wickeln und das Bewusstsein des Großteils seiner Bewohner zu verändern. Mit Serien und Filmen über die Vergangenheit wurde auf dem Bildschirm das Idyll einer himmlischen Sowjetunion geschaffen – in der es keine Probleme mit Lebensmitteln, Kleidung und Freiheit gab. Und in der der geheimnisvolle Tod von Skiwanderern am Djatlow-Pass ein Riesenereignis darstellte. 

    Das Idyll der himmlischen Sowjetunion

    Eine solche Sowjetunion hat es in Wirklichkeit nie gegeben, und die Fernsehzuschauer wissen das genau, aber trotzdem gucken sie es. Psychologisch ist das leicht zu erklären. All diese Serien sagen dem ehemaligen Sowjetmenschen quasi: Mit der Vergangenheit ist alles in Ordnung, es gibt keinen Grund sich aufzuregen, man hat sich auch nichts vorzuwerfen. So ist es mit Hilfe des Fernsehens gelungen, das kollektive Gedächtnis mehrerer Generationen zu beeinflussen. 

    Die Formel „es gab Repressionen, aber es gab auch Gutes“ ist nicht aus der Luft gegriffen, sie ist das Ergebnis genau dieser Serienpropaganda. Anstatt das sowjetische Trauma zu behandeln, macht man Unterhaltung daraus. Dieser Sieg über die Vernunft schien eine Universalwaffe zu sein. Doch auf einmal zeigt sich, dass ein anderer Blick auf unsere Geschichte diesen Kokon binnen Augenblicken kaputtmachen kann.  

    Spricht man über das Sowjetische, ist es vorrangig ein Gespräch über die Lüge

    Die Serie Chernobyl beginnt mit den Worten „Was ist der Preis der Lüge?“. Wenn man über das Sowjetische spricht, ist es vorrangig ein Gespräch über die Lüge, die vom Mechanismus zu einem Wert wurde, der über allem steht. „Die ganze Welt weiß es“, sagt der sowjetische Politiker Boris Schtscherbina entsetzt, als Meldungen über den Super-GAU im Atomkraftwerk Tschernobyl in der westlichen Presse auftauchen. Das erscheint noch schlimmer als die Bedrohung durch radioaktive Strahlung, als der drohende Tod von hunderttausenden Menschen. Die Welt weiß die Wahrheit – das ist das Allerschlimmste. Die Strahlung durchdringt alles, aber noch mächtiger ist die staatliche Lüge: Sie hat alles um sich herum verseucht. Für die Lüge sind Menschen bereit, sich selbst zu opfern. Und natürlich auch andere.   

    Der russische Film macht jede Tragödie zur Banalität

    Es kommt einem nur so vor, dass in unserem Fernsehen „lauter Sowjetunion“ läuft. Wenn man Chernobyl sieht, wird einem klar, dass es unsere historischen Serien in zehn bis fünfzehn Jahren fertiggebracht haben, fast nichts auszusagen. Lässt man sich auf Chernobyl ein, dann sieht man, dass der russische Film sich nur die leichten, ungefährlichen Themen auswählt; dass er fähig ist, jede Tragödie zur Banalität werden zu lassen, zum Kostümdrama, großzügig aufgepeppt mit Liebesgeschichten. Abgesehen davon erzählt unsere Fernsehmaschine niemals von der Wirklichkeit. Sie packt lieber selbstgemachten Irrsinn auf die Wirklichkeit obendrauf und vermeidet dabei jede Thematisierung tatsächlicher Schlüsselereignisse der Sowjetzeit, zu denen auch der Unfall in Tschernobyl zählt.    

    Gorbatschow im Kino darzustellen ist in Russland ein Tabu

    Der globale Markt, hier vertreten durch den Fernsehsender HBO, hat dieses Defizit rechtzeitig bemerkt; aber wie viele solche Themen gibt es noch, die für das russische Fernsehen tabu sind? Die Revolution von 1917, das Jahr 1937, die Jahre 1941 und 1942, Stalins Tod, die Perestroika, die 1990er … 

    Das Erfolgsgeheimnis der Serie ist nicht, dass ihre Macher mehr Geld haben, sondern dass es keine Zensur gibt. Die Autoren müssen sich nicht überlegen, was man sagen kann und was nicht, um es dem obersten Chef rechtzumachen. Die Autoren von Chernobyl schrecken nicht davor zurück, Gorbatschow darzustellen – bei uns war er jahrzehntelang (!) kein einziges Mal im Kino zu sehen, es ist ein Tabu.

    Die Macher trauen sich, mit den Zuschauern wie mit Erwachsenen zu sprechen – über den Tod. Sie betrachten die Sowjetzeit nicht als Museum oder staatliche Schatzkammer, sondern als universelle Geschichte der Opposition von Individuum und Staat, als Geschichte menschlichen Widerstands gegen äußere Verhältnisse – und stoßen plötzlich auf abgründigen, existenziellen Stoff. In diesem Sinne kann die sowjetische Geschichte als eine Art Game of Thrones verstanden werden, das ist gar nicht so unpassend. 

    Die Macher trauen sich, mit den Zuschauern über den Tod zu sprechen  

    Außerdem wurzelt das Interesse der Welt an der Sowjetunion nicht in Nostalgie, sondern in dem Versuch zu verstehen, was denn heute nicht stimmt mit uns, woher dieser kollektive Todestrieb kommt. Chernobyl erzählt natürlich vor allem eine Geschichte über uns, wie wir heute sind, auf welcher Stufe der Reflexion und Moral unsere Gesellschaft heute steht. 

    Das erste und stärkste Gefühl, das Chernobyl auslöst, ist Mitleid mit den Opfern der Tragödie. Die Szene im Krankenhaus, in der sich die Frau eines Feuerwehrmanns von diesem verabschiedet, ist unendlich schwer. Gleichzeitig wird einem klar, dass in unseren Serien nie etwas Vergleichbares zu erleben war. Ein Meer von Blut, Tod, Mord, aber sie erzeugen kein Mitgefühl. Der Tod ist in russischen Serien nur ein Handlungsmotor – unser Kino weicht jeder ernsthaften Beschäftigung mit dem Menschsein ängstlich aus, wagt keine geistige Herausforderung, keinen Diskurs über wichtige Angelegenheiten.  

    Der Tod ist in russischen Serien nur ein Handlungsmotor

    So hat unser Fernsehen mit seinem unerträglichen Pathos den Menschen das abtrainiert, was man seelische Arbeit nennt. Hat ihnen im Grunde normale menschliche Gefühle abtrainiert. Hat jede Tragödie zur Unterhaltung gemacht, bei deren Konsum man dasselbe perverse Vergnügen empfindet wie bei Propagandashows. Tragödien sind für uns nur dazu da, um uns nach der Arbeit auf der Fernsehcouch berieseln zu lassen. 
    Das Genre der Serien leistet heute enorme therapeutische Arbeit, dient als Bildungsprogramm für die Menschen, führt ihnen die Komplexität des Lebens vor Augen. Unsere Serien gewöhnen den Menschen das Fühlen ab. Bringen ihnen bei, mit halber Kraft, mit halbem Hirn, wie Kleinkinder zu leben. 

    Dabei schafft es diese Serie, vom Heldentum des Sowjetmenschen zu erzählen. In russischen Filmen ist der Mensch allzeit bereit für große Taten und vollbringt sie, ohne mit der Wimper zu zucken, im Namen des Staates. Glaubwürdig ist das natürlich keineswegs. 

    In Chernobyl vollbringt der Mensch seine Großtaten trotz des Systems, als würde er dessen Unmenschlichkeit kompensieren. Doch genau an diesem Punkt wächst er über sich selbst hinaus, setzt sich über die Ideologie hinweg. Der Sowjetmensch wird einfach zum Menschen. Die Serie versucht, universelle Motive im Verhalten der sowjetischen Menschen aufzuspüren und uns davon zu überzeugen, dass auch in einem totalitären System alles von der Persönlichkeit abhängt. Entgegen ihrem Selbsterhaltungstrieb hören zwei sowjetische Physiker auf ihr Gewissen und erzählen die Wahrheit über Tschernobyl – um das Land und die Welt vor neuerlichen Katastrophen zu bewahren. 

    Im sowjetischen Heroismus hat der Mensch keine Wahl

    Die Besonderheit des sowjetischen Heroismus besteht darin, dass der Mensch in der Regel keine Wahl hat. Soldaten, Feuerwehrleute, Ärzte gehen hier dem fast sicheren Tod entgegen; das vermindert ihre Leistung nicht, sondern verleiht ihr zusätzlich eine tragische Dimension. Genau wegen dieser verdoppelten Tragik erreichen die Autoren der Serie einen Effekt, den auch das russische Kino erreichen will, aber nicht kann: eine Versöhnung mit der Vergangenheit. Nicht durch Gleichmacherei, Vertuschung, Banalisierung oder Karnevalisierung, sondern durch eine Tragödisierung des sowjetischen Alltags, in dem jeder ein potenzielles Opfer ist und allein schon dadurch Mitgefühl verdient. 

    Viele sind jetzt damit beschäftigt, die Patzer in der Serie aufzuzählen – aber man kann nur staunen, wie psychologisch präzise hier viele Details sind. Wie das alte Parteimitglied im Namen der sowjetischen Ideale empfiehlt, „alles zu verheimlichen“ – ein absolut Pelewinsches Bild, aus Omon hinterm Mond. „Die guten Messgeräte sind im Safe“ ist ein Satz, den nur Sowjetmenschen verstehen (alles, was funktioniert, wird für alle Fälle sicher verwahrt und versteckt). Die routinierte Geste, mit der die kleine Aufmerksamkeit in Form eines Zehnrubelscheins in der Kitteltasche der Krankenschwester verschwindet. Die Geheimsprache, in der sich die Mitarbeiterinnen der Physikinstitute in Moskau und Minsk austauschen. Und die sie perfekt beherrschen, wie jeder Sowjetbürger, weil sie wissen, dass die Telefone abgehört werden können.  

    Und natürlich die Symbolik. Alles, was jahrzehntelang vorbereitet und angehäuft wurde, um den Westen, Amerika zu besiegen, ihm Paroli zu bieten, es einzuholen und zu überholen; Heerscharen von Autos und Panzern, sogar Mondautos, müssen im Endeffekt herhalten, den eigenen Brand zu löschen. Chernobyl erzählt davon, wie die Sowjetunion konstruiert war – und warum sie zerfallen ist. 

    Die Antwort auf die wichtigste Frage zur Serie (warum wurde sie nicht bei uns gedreht?) ist leider sehr einfach: Angesichts des aktuell verfügbaren Maßes an Wahrheit und künstlerischer Freiheit ist das Erscheinen eines derart kritischen und ernsthaften Werks in Russland einfach nicht möglich. Daher bleibt uns nichts anderes übrig, als in einen fremden Spiegel zu schauen.

     

    Die Serie „Chernobyl“ läuft derzeit auch auf Deutsch auf Sky HD

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  • Golunow ist frei – und jetzt?!

    Golunow ist frei – und jetzt?!

    99,64 Prozent – so hoch war 2017 laut Oberstem Gericht Russlands die Wahrscheinlichkeit, dass ein russisches Gericht den Schuldspruch fällt. Dass der Investigativreporter Iwan Golunow nun freigesprochen wurde, ist damit eine große Ausnahme. Für die Behörden steht fest, dass dem Journalisten Drogen untergejubelt wurden, um ihn nach Paragraph 228 wegen Drogenhandels zu verurteilen. Rund ein Drittel aller derzeitigen Gefängnisinsassen in Russland wurde nach Paragraph 228 des Russischen Strafgesetzbuchs verurteilt. Viele von ihnen sind unschuldig, meinen Beobachter – ihnen seien Drogen untergejubelt worden, um sie aus dem Weg zu räumen.

    Nun wurden zwei hochrangige Moskauer Polizeichefs entlassen. Die Duma kündigte außerdem neue Drogengesetze an. Gleichzeitig wurden bei der nichtgenehmigten Protestaktion im Moskauer Stadtzentrum am gestrigen Mittwoch nach Angaben von OWD-Info 549 Personen zumindest kurzzeitig festgenommen. 

    Was kommt nach dem Fall Golunow? Änderungen im System? Ein breiter Protest für eine unabhängige Rechtsprechung? Oder doch nur business as usual? Michail Schewtschuk kommentiert auf Republic

    Die Strafsache gegen den Journalisten von Meduza Iwan Golunow ist beendet, kaum dass sie begonnen hat. Sie endete völlig überraschend mit seiner Freilassung, die der Innenminister Wladimir Kolokolzew persönlich verkündete. Ein solcher Ausgang ist völlig untypisch für Russland und doppelt untypisch, wenn es um Drogen geht. 

    Nach der Nachricht über die Freilassung kam als erstes die Frage nach der Verantwortung der zuständigen Mitarbeiter, die Golunow Mephedron in den Rucksack und Kokain in die Wohnung untergeschoben haben. Die Antwort auf diese Frage ist jedoch im Grunde offensichtlich: Wir sehen ja, dass Innenminister Kolokolzew sehr entschieden ist, wahrscheinlich wird er uns schon bald die Halunken zeigen, die die Offiziersehre befleckt haben. Womöglich wird ihnen dieses Mal ausnahmsweise nicht schon im Vorfeld [der Tat – dek] gekündigt worden sein, wie das schon öfter der Fall war.  

    Die Gerechtigkeit hat triumphiert, die Medien und sozialen Netzwerke sind von Euphorie gepackt und begeistert voneinander. Die Oppositionellen – eh klar, aber ab einem bestimmten Moment traten auch Propagandamacher aus dem Fernsehen für Golunow ein, und sogar eine Maria Sacharowa war zu Tränen gerührt – geradezu ein Krim-Konsens der Intelligenzija zeichnet sich ab. 

    Einen Anlass gibt es zweifelsohne – und wir sind sogar bereit nicht zu bemerken, dass die Entscheidung, Golunow freizulassen, offensichtlich eine politische ist. Das heißt, sie wurde nicht getroffen, weil es den Anwälten gelang, etwas zu beweisen, sondern weil der Kreml aus dem einen oder anderen Grund den Skandal beenden wollte. 

    Wir sind sogar bereit, nicht zu bemerken, dass die Entscheidung, Golunow freizulassen, offensichtlich eine politische ist

    Bei all seiner Unschuld hatte Iwan Golunow alle Chancen in einen langen und ermüdenden Prozess zu geraten. Selbst wenn dieser ebenfalls mit einer Aufhebung des Verfahrens geendet hätte, so hätte es doch Monate oder gar Jahre gedauert, und die ganze Zeit hätte Golunow in Untersuchungshaft verbracht.

    Nein, dieser Umstand schmälert den Sieg nicht – früher hätte der Kreml so etwas niemals gewollt und vielen schien jetzt sogar, dass die Zivilgesellschaft dem Staat letztendlich einen neuen Gesellschaftsvertrag mit verbesserten Bedingungen abgerungen habe. Einigen wurde womöglich sogar warm ums Herz, angesichts des verwandelten Ministers Kolokolzew.

    Die Illusion zerbrach jedoch umgehend. Die öffentliche Demütigung ärgert den Staat: Unmittelbar nach der Nachricht über die Freilassung weigerte er sich, den für den 12. Juni angesetzten friedlichen Demonstrationszug zur Unterstützung Golunows zu genehmigen, und erklärte, dieser stelle eine Sicherheitsbedrohung dar. Zähneknirschend genehmigte die Verwaltung „angesichts der großen öffentlichen Resonanz“ eine halboffizielle, vom Journalistenverband organisierte Demo am 16. Juni auf dem Sacharow-Prospekt. 

    Die Illusion zerbrach umgehend

    Die Organisatoren der Versammlung am 12. Juni stahlen sich aus der Verantwortung, auch die Meduza-Redaktion nahm Abstand von der Aktion, und sogar Iwan Golunow bat nach seiner Freilassung, von Protestaktionen abzusehen (war das eine Bedingung für die Freilassung? Wohl kaum, versteht sich).

    Die Aktivisten, die nicht so schnell auf die Bremse treten konnten, gingen am 12. Juni auf die Straße, wo sie auf vertraute Gefangenentransporter, OMON-Ketten und Festnahmen stießen. Nach Angaben von OWD-Info landeten schließlich rund 500 Personen auf Polizeirevieren [die aktuelle Zahl liegt bei 549 – dek], darunter viele Journalisten, die auf der Versammlung ihrer Arbeit nachgegangen waren. Ebenfalls festgenommen wurde der Oppositionelle Alexej Nawalny. Die OMON-Polizisten gingen recht brutal vor, es kam zu Schlägen und Gewaltanwendungen, Anwälte wurden beim Versuch, in die Polizeireviere zu gelangen, behindert. 
    Der Staat hat den Protestierenden zugezwinkert – um kurz darauf zu zeigen, dass die Freilassung von Iwan Golunow eine einmalige Aktion war, eine situative Entscheidung. Mit mehr ist nicht zu rechnen, abgesehen von Kreml-Anweisungen ändern sich die Regeln nicht. Da helfen auch keine Freudentränen von Maria Sacharowa, die ohnehin schon getrocknet sind.

    Der Moral-Code in uns 

    In der Debatte um den Fall Golunow schwappten nicht wenige ähnliche, vergleichbare Fälle in die Öffentlichkeit: Was soll nun mit ihnen passieren? Vergessen im Freudentaumel? 

    Die Geschichte – natürlich ist sie noch nicht vorbei – hat zu viel Aufmerksamkeit erregt, als dass man aus ihr keine Schlüsse ziehen könnte. Welche Schlüsse der Staat ziehen wird, wissen wir noch nicht. Womöglich wird man beschließen, sich künftig besser vorzubereiten: lieber einen guten alten Extremismus-Fall stricken wie bei Pjotr Milosserdow, ohne diese idiotischen Drogenlabors (wer denkt sich sowas aus?), und Festnahmen sollten vielleicht nicht während des Petersburger Wirtschaftsforums durchgeführt werden. Wenn dann beim nächsten Mal ein Investigativjournalist oder ein Menschenrechtler festgenommen wird, wird es mit der Empörung schon deutlich schwerer.

    Die Opposition hat den Staat auf Robustheit getestet. Doch auch der Staat testet die Opposition auf Kompromissbereitschaft und prüft die Grenze möglicher Zugeständnisse.

    Eine andere Frage ist, welche Schlüsse die Gesellschaft nun ziehen muss, wie man auf das Rechtssystem schauen soll.

    Eigentlich müsste sich ja jeder einfache Polizist darüber klar sein, dass das Unterschieben von Drogen illegal ist. Aber hier handelt er in der Logik des Moral-Codes von Gleb Sheglow: „Ein Dieb muss im Gefängnis sitzen – doch wie ich ihn einbuchte, interessiert die Leute nicht.“ 
    Dass etwa Iwan Golunow kein Verbrecher ist, das ist zwar für Journalisten offensichtlich, doch für einen Fahndungsbeamten ist das keineswegs ein Fakt – ihm ist es einerlei, ob das nun Golunow, Michael Calvey, Gouverneur Choroschawin oder Minister Uljukajew ist. 

    Doch dieser Moral-Code gilt nicht nur im Innenministerium und bei anderen Organen der Silowiki – in Russland findet er sich in breiten Teilen der Bevölkerung. 

    Der Fall Golunow konnte – und kann derzeit immer noch – Anlass werden, um eine konsequente Reform der Rechtsschutzorgane zu fordern und eine endgültige Diskreditierung der Sheglowschen Maxime zu erreichen. Gerade jetzt, auf der Welle der kurzfristigen Solidarität, könnten auch ganz offizielle, kreml-loyale Strukturen hierzu aufrufen. 

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  • Kirche versus Grünanlage – wer gewinnt?

    Kirche versus Grünanlage – wer gewinnt?

    „Sind das Gottlose?“, unterbrach Wladimir Putin letzte Woche einen Teilnehmer des Medienforums in Sotschi. Der hatte den Präsidenten eigentlich um einen Kommentar zu den Protesten in Jekaterinburg bitten wollen. Nein, entgegnete er und wurde wieder von Putin unterbrochen. Zuvor hatte der junge Mann die Geschehnisse in der Stadt geschildert: Seit Anfang vergangener Woche protestieren dort hunderte Menschen gegen die Bebauung eines Parks. Da dieser laut Plan der Behörden einer Kirche weichen muss, ist das Vorhaben brisant. 

    Eine polarisierende Debatte ist deshalb in Russland entbrannt: Еinerseits stellten sich viele russische Prominente demonstrativ auf die Seite der Protestierenden, andererseits gingen einige andere Prominente mitsamt achttausend Menschen zu einer Prozession für den Kirchenbau, wie die Jekaterinburger Eparchie berichtet.

    Das ganze Land debattiert, während sich die Jekaterinburger weiter gegen die Bebauung der Grünfläche stemmen. Einige von ihnen haben letzte Woche den Bauzaun eingerissen; es gab Zusammenstöße mit Gegendemonstranten und OMON-Kräften. Diese verhafteten über 40 Protestierende, manche wurden mit administrativer Haft von bis zehn Tagen bestraft.

    Wladimir Putin jedenfalls schlug auf dem Medienforum vor, eine Umfrage in Jekaterinburg durchzuführen. Diese soll in den nächsten Tagen stattfinden. Für den Vorschlag erntete der Präsident Kritik, unter anderem vom Soziologen Grigori Judin. Dieser vergleicht die Umfrage mit dem Krim-Referendum, das Ergebnis steht für den Meinungsforscher fest: Die Befragten, so Judin, werden laut offiziellen Angaben für den Kirchenbau votieren.

    Auf Republic argumentiert der Journalist Michail Schewtschuk, dass der Protest in Jekaterinburg nicht einfach ein lokaler, sondern ein systemischer Konflikt ist. Und der richtet sich nicht nur gegen die Russisch-Orthodoxe Kirche.

    Zum 300-jährigen Stadtjubiläum soll im Zentrum von Jekaterinburg eine große Kirche errichtet werden: die Kathedrale der Heiligen Jekaterina. Doch Aktivisten wollen den Plan vereiteln und protestieren gegen den Bau. 

    Zwei ähnliche Fälle gab es vor nicht allzu langer Zeit auch in Sankt Petersburg: den in den Medien viel diskutierten Streit um die Übergabe der Isaakskathedrale an die Russisch-Orthodoxe Kirche und den jenseits der Stadtgrenzen weniger bekannten Versuch, eine Kirche im Malinowka-Park zu bauen. Die Argumente im zweiten Fall sind in etwa dieselben wie die der Baugegner in Jekaterinburg: Für die Stadtbewohner ist eine Grünanlage wichtiger als eine Kathedrale. Für die Regionen sind diese Situationen mittlerweile durchaus normal – sie alle passen in dasselbe Muster: Derzeit wehren sich gegen den geplanten Bau von Kirchen in Grünanlagen Einwohner von Nishni Nowgorod, Krasnojarsk, Tscheljabinsk und vielen weiteren Städten. 

    Für Stadtbewohner ist eine Grünanlage wichtiger als eine Kathedrale

    Die Konflikte gehen unterschiedlich aus. So ist in Wolgograd, allen Protesten und Petitionen zum Trotz, der Bau der Alexander-Newski-Kathedrale bereits im Gang, während sich die Stadtregierung in Rostow am Don nach Protesten der Anwohner dafür entschieden hat, die Baugenehmigung für eine Kirche im Park Elektroapparat zurückzuziehen. Seit sich die Museumsschützer der Isaakskathedrale in Petersburg durchgesetzt haben, häufen sich die Fälle, in denen Baugenehmigungen zurückgezogen oder zumindest Lösungen qua Dialog befördert werden. Der Ablauf der Konflikte hat sich aber kaum verändert: Auf die erste Empörungswelle folgt eine kategorische Ablehnung der Kirche und/oder der Regierung, die die Wut der Bürger erst richtig entfacht. 

    Unpolitische Bürger treten in offenen Konflikt 

    Vor den Massenprotesten gegen die Mülldeponien – zunächst in der Oblast Moskau und nun auch in der Oblast Archangelsk – war ausgerechnet der Widerstand gegen die Russisch-Orthodoxe Kirche, mit sehr wenigen Ausnahmen, das einzige Thema, bei dem man sich sicher sein konnte, dass es zu einer heftigen Reaktion kommt. Unpolitische Bürger treten hier in einen offenen Konflikt mit der Regierung, bis hin zu Rangeleien mit der Polizei.

    Solche Reaktionen sind erstaunlich. Denn die Regierung gibt eigentlich klar zu verstehen, auf wessen Seite sie steht, wenn sie Gesetze gegen die Verletzung religiöser Gefühle verabschiedet und die Abspaltung der ukrainischen Kirche verurteilt. Dennoch sorgen die antiklerikalen Proteste bei der föderalen oder der regionalen Regierung nur in den äußersten Fällen für Unmut. Womöglich weil die Demonstranten selbst auf die Grenzen ihrer Aktion verweisen und keinen Anspruch auf eine direkte politische Einflussnahme erheben. Es mag aber auch daran liegen, dass die Abgeordneten die Ansprüche der Kirche insgeheim als ungerecht anerkennen.

    Die Kirchenbau-Kontroversen werden besonders hart ausgefochten, doch geht es bei dem Konflikt nicht nur um materielle Baufragen. Bei der Isaakskathedrale ging es weder um Bau noch um Abriss. Die Menschen, die sich so vehement dagegen wehrten, dass die Kirche mit ihrer Ideologie in einen „weltlichen“ Bereich eindringt, haben oft nichts daran auszusetzen, wenn die weltliche Regierung Ähnliches tut. 

    Pflichtfach Orthodoxe Kultur versus militärisch-patriotische Erziehung

    So stieß der Versuch, „die Grundlagen der orthodoxen Kultur“ als ein Pflichtfach an Schulen einzuführen, seinerzeit auf enormen Widerstand. Bei Elternabenden wurde hitzig debattiert, die Menschen gingen auf die Straße. Schließlich musste das Bildungsministerium zurückrudern und es zu einem Wahlfach erklären (was dann von den wenigsten Eltern gewählt wurde). Wohingegen eine Ausweitung der militärisch-patriotischen Erziehung in der Regel ohne bemerkenswerte Gegenwehr passiert, obwohl sie ebenso gut als eine ideologische Expansion betrachtet werden könnte.

    Gleichzeitig unterstützen selbst die radikalsten Oppositionellen keine Aktionen gegen die Kirche. Über die langen Schlangen vor Reliquien fällt zwar mal ein ironischer Kommentar, aber es wird sich niemand finden, der eine Entweihung der Reliquien öffentlich guthieße. Auch während des Skandals um Pussy Riot entrüsteten sich zwar einige Menschen über die unverhältnismäßig harte Strafe, aber kaum einer hätte sich getraut, die Aktion öffentlich zu befürworten. Und selbst bei der Gründung der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche teilen die meisten Russen die Position des Kreml und des Patriarchen. 

    Die Bevölkerung sieht die weltliche Machtvertikale (mit den bekannten Einschränkungen) als durchaus legitim an. Wohingegen sie der Kirche, die der Regierung neuerdings immer nähersteht, diese Legitimität verweigert wie nie zuvor. Der Kreml erweist sich für die Russisch-Orthodoxe Kirche als ein toxischer Verbündeter. Trotz der scheinbar uneingeschränkten Unterstützung zieht er sich sofort zurück, wenn ihm Gefahr droht, und wälzt jeglichen Unmut auf die Kirche ab, wie im Fall der Isaakskathedrale. 

    Der Kreml: toxischer Verbündeter der Russisch-Orthodoxen Kirche 

    Im Endeffekt betrachten die Menschen die Kirche genauso wie schon zur Jahrhundertwende: als einen aufdringlichen ideologischen Vertreter des Regimes. Sie wird geduldet, wenn sie sich an die vorgegebenen Grenzen hält, bekommt aber keine Machtbefugnisse wie der Staat, geschweige denn Unterstützung. Obendrein tritt die Kirche in Jekaterinburg als ein Vertreter des großen Kapitals auf, zu dem der Großteil der Bevölkerung ein, milde gesagt, ambivalentes Verhältnis hat. 

    Die Ursachen dafür liegen wahrscheinlich im historischen Gedächtnis begründet. Erstens war die Kirche bis 1917 der weltlichen Macht unterstellt, verwaltet wurde sie von Beauftragten der Synode; so gesehen lässt sich der Protest loyaler Bürger gegen die Russisch-Orthodoxe Kirche auch als ein unbewusster Versuch verstehen, der zentralen Regierung dabei zu helfen, die Eigenmächtigkeit ihrer Untertanen im Zaum zu halten. Zweitens definiert sich das Regime als Nachfolgestaat der Sowjetunion, und zur Grundausstattung der konservativen postsowjetischen Werte gehört neben der Ablehnung des Westens, dem Paternalismus, dem Militärkult und ein paar weiteren regierungsstützenden Eigenschaften, auch die anerzogene Abneigung gegen die Kirche und das Großkapital. 

    Greifen diese beiden seine Rechte an, empfindet der Durchschnittsrusse das als eine Aufkündigung des Gesellschaftsvertrags, welche umso schwerer wiegt, da er das Recht auf solche Angriffe nur dem Staat zuerkennt. Mit dem Ausmaß, das von der Regierung als zulässig eingestuft wurde, hat sich die Gesellschaft längst abgefunden. Aber ein weiterer Ausbau der Position der Kirche und des Kapitals geht den Russen bislang noch zu weit. 
     

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  • Sprache in Zeiten des Krieges

    Sprache in Zeiten des Krieges

    Ende April hat die ukrainische Rada ein neues Sprachgesetz beschlossen. Es soll das Ukrainische stärken und sieht es unter anderem als einzige Sprache in öffentlichen Einrichtungen vor. Außerdem ist etwa auch eine höhere Quote für Ukrainisch in Filmen und TV- und Radiosendungen vorgesehen (bei landesweiten Medien soll sie von 75 auf 90 Prozent steigen, bei Regionalsendern von 60 auf 80 Prozent). Landesweit soll das Erlernen der ukrainischen Sprache gefördert werden. Gleichzeitig sieht das Gesetz Geldstrafen vor, wenn die neuen Regelungen nicht eingehalten werden.

    Seit der Unabhängigkeit 1991 ist das Ukrainische alleinige Amtssprache, mit dem Krieg in der Ostukraine und nach Angliederung der Krim 2014 wurde die russische Sprache zunehmend zum Politikum. So wurde das neue Sprachengesetz verabschiedet unmittelbar nachdem Russlands Präsident Putin einen Erlass unterzeichnet hatte, der es den Bewohnern der besetzten Gebiete erleichtern soll, die russische Staatsbürgerschaft zu erhalten.

    Bereits im Vorfeld hatte es heftige Debatten um das neue Gesetz gegeben. Tatsächlich ist die Ukraine ein zweisprachiges Land, wobei Ukrainisch vorwiegend im Westen, Russisch vorwiegend im Osten und Süden gesprochen wird. Viele Ukrainer sind bilingual: So sprechen einer aktuellen Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS) zufolge 46 Prozent der Befragten hauptsächlich oder ausschließlich Ukrainisch mit ihrer Familie, 28,1 Prozent Russisch und 24,9 Prozent Ukrainisch und Russisch (die umkämpften Gebiete im Donbass und die Krim sind von solchen Umfragen ausgenommen).
    Der neu gewählte ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky, der vorwiegend Russisch spricht, kündigte schließlich auch an, das Gesetz nach seinem Amtsantritt prüfen zu wollen.

    Auf Republic kommentiert Wladimir Pastuchow, Politologe am Londoner University College, das neue Sprachengesetz und befindet, es sei „das beste Geschenk, das man Putin in fünf Jahren Krieg machen konnte“. 

    Irgendwie bekommt man den Eindruck, als hätte man weder in Moskau noch in Kiew verstanden, was bei dieser Wahl eigentlich passiert ist – und ob überhaupt was passiert ist. Bis jetzt tun alle so, als wäre Selensky ein Stein im Schuh des „großen Spiels“, das die „ernsthaften Männer“ miteinander spielen. Und die sind entschlossen, in der Zeit bis zur Amtseinführung eine so vielversprechende Agenda vorzulegen, dass dem neuen Präsidenten das Lachen vergeht. Poroschenko wirkt bei diesem Unterfangen nicht weniger einfallsreich als Putin. Blitzartig beförderte er die Sprachenfrage, die lange irgendwo in der Mitte der To-do-Liste vor sich hin geschmort hatte, ganz nach oben. So wird Selensky sich zum Auftakt wohl nicht mit prosaischen Dingen wie Korruption abgeben dürfen, sondern gleich eine Grundsatzdiskussion führen. Diese wird nicht leicht und allem Anschein nach langwierig.

    Die Kompassnadel spielt verrückt

    Was die europäische Integration angeht, spielt die Kompassnadel offenbar völlig verrückt und zeigt in eine ganz andere Richtung – in der man mit europäischen Werten kreativer umgeht als in der EU selbst. Ein kurzer Blick auf die europäische Praxis zeigt, dass die Ukraine hier alles andere als im Trend liegt.

    In Finnland, wo die schwedischsprachigen Finnen etwa fünf Prozent der Bevölkerung ausmachen, sind die Amtssprachen Finnisch und Schwedisch; jede Schule muss das Recht auf schwedischsprachigen Unterricht für schwedische Muttersprachler gewährleisten. Auf den Åland-Inseln ist Schwedisch die einzige Amtssprache. Darüber, dass die Straßennamen dort allesamt zweisprachig sind, hat schon jeder geschrieben, der sich nicht zu schade war. Und selbstverständlich senden die Medien für jedes Publikum in der jeweiligen Sprache.

    In Belgien verteilen sich die beiden großen Sprachgruppen – Französisch und Niederländisch – auf etwa 40 zu 60 Prozent. Es erstaunt nicht weiter, dass beides Amtssprachen sind. Erstaunlich ist allerdings, dass wegen eines winzigen deutschsprachigen Bevölkerungsanteils Deutsch die dritte Amtssprache ist.

    Mindestens seltsam

    Vor diesem Hintergrund sieht die Ukraine, die das Russische nicht als Amtssprache anerkennen will, mindestens seltsam aus – nach vorsichtigsten Schätzungen beträgt hier der Anteil der russischen Muttersprachler 30 Prozent. Natürlich können Verweise auf fremde Erfahrungen nichts beweisen – auf der Welt gibt es alle möglichen Erfahrungen.

    Und die Einwände liegen auf der Hand. Die Schweden versuchen nicht, Finnland zu besetzen, und die Deutschen marschieren nicht durch Antwerpen. Das ist richtig, auch wenn die Schweden Finnland einst besetzt hatten und die Deutschen durch Antwerpen marschiert sind. Aber das ist lange her, und es ist Gras drüber gewachsen, wohingegen die hybride russische Intervention sich im Netz weiterentwickelt. Deshalb muss das Sprachengesetz als eine Art Notgesetz in Kriegszeiten betrachtet werden, das die nationale Sicherheit der Ukraine gewährleisten soll. Und so wird es heute im Grunde auch begründet.

    Sprache in Zeiten des Krieges

    Ich will das nicht grundsätzlich bestreiten. Ich will nur sagen, dass Russland wirklich alles dafür getan hat, damit so ein Gesetz in der Ukraine entstehen konnte, und dass es die volle Verantwortung dafür trägt, dass der Status der russischen Sprache in einem Land mit einer der weltweit größten russischsprachigen Gemeinden geschwächt wird, ja unter Umständen zu Trash verkommt. Es bringt nichts, auf Poroschenko zu schimpfen, wenn an den eigenen Händen Blut klebt. Nachdem ich das gesagt habe, erlaube ich mir allerdings, den Nutzen dieses Gesetzes für die Ukraine zu bezweifeln, und zwar innerhalb genau der Logik, mit deren Hilfe es vorangetrieben wird: der Logik eines Staates im Krieg.

    Wie ein ukrainischer Kommentator auf meinem Blog bei Echo Moskwy treffend bemerkte, besteht das Problem der russischen Sprache in der Ukraine darin, dass dort, wo sie sich konzentriert, schnell auch der russki mir mit der Kalaschnikow auf den Plan tritt. Dieses Problem ist absolut real. Angesichts der anhaltenden russischen Aggression im Osten der Ukraine werde ich nicht darüber streiten, wie moralisch es ist, das Problem lösen zu wollen, indem man den Gebrauch der Sprache einschränkt, die für ein knappes Drittel der eigenen Bevölkerung grundlegend ist. Ich will nur anmerken, dass mir das gesetzte Ziel völlig utopisch erscheint, und aller Voraussicht nach wird genau das Gegenteil erreicht: Die nationale Sicherheit des jungen ukrainischen Staates wird nicht gestärkt, sondern gefährdet.

    Die breite Masse wird vergrämt

    Auf dem Papier lässt sich alles Mögliche verordnen, auch die russische Sprache über Nacht aus dem Verkehr ziehen. Aber im Leben ist das unmöglich. Mit welchen Konsequenzen muss man rechnen? 15 Prozent der russischsprachigen Bevölkerung werden sich vielleicht wirklich bemühen, schnellstens auf Ukrainisch umzusteigen und zu vollwertigen Staatsbürgern zu werden. Nochmal so viele werden versuchen, nach Russland auszureisen, deutlich mehr jedoch in die EU (danke, Visafreiheit – die sagt nichts zum Thema Sprache). Doch die breite Masse wird vergrämt und gedemütigt zurückbleiben und sich mit den Gegebenheiten arrangieren, wobei sie ihre Minderwertigkeit im Rahmen der Neuerungen auf Schritt und Tritt zu spüren bekommen wird: Ihre Kinder werden in der Schule nicht in ihrer Muttersprache lernen können, sie werden weder Filme noch Theaterstücke in ihrer Muttersprache sehen, bei keinem Amt in ihrer Muttersprache vorsprechen können und so weiter.

    Im Großen und Ganzen ist dieses Gesetz das beste Geschenk, das man Putin in den ganzen fünf Jahren Krieg machen konnte

    Und wie wird sich das auf die nationale Sicherheit der Ukraine auswirken? Im Großen und Ganzen ist dieses Gesetz das beste Geschenk, das man Putin in den ganzen fünf Jahren Krieg machen konnte. Die Rolle, die dieses Gesetz bei der Bildung der russischen Fünften Kolonne in der Ukraine spielt, ist womöglich so bedeutend, dass man schon jetzt allen Mitwirkenden per Geheimdekret den Titel „Held der Russischen Föderation“ verleihen könnte. 
    Wenn diese Fünfte Kolonne bislang als Frucht entzündeter Phantasie des radikal eingestellten Flügels der ukrainischen Intelligenz existiert hatte, allenfalls als Potenzial, dann materialisiert sie sich jetzt buchstäblich aus dem Nichts, und allein beim Donbass wird es nicht bleiben. Von Odessa bis zum Dnepr wird die Situation wieder genau so verworren sein wie ganz zu Beginn des „russischen Frühlings“.

    Die überstürzte Verabschiedung des Sprachengesetzes kann genauso wenig mit der Sorge um nationale Sicherheit begründet werden wie mit dem Prozess der Eingliederung in die EU. Objektiv betrachtet rückt das Gesetz die Ukraine weiter weg von europäischen Standards und gefährdet die nationale Sicherheit noch stärker, weil es in einer Grundsatzfrage zu einer beunruhigenden neuen Spaltung der Gesellschaft führt. Nach den Gründen und Ursprüngen der Eile muss man also woanders suchen …

    Genau zu diesem Zeitpunkt sollte man sich erinnern, dass die Ideen, die dem just verabschiedeten Gesetz zu Grunde liegen, schon lange vor dem Ausbruch des Krieges mit Russland existierten, ja noch bevor die Ukraine den EU-Integrationskurs eingeschlagen hatte, und sich bei Teilen der ukrainischen Intelligenz großer Beliebtheit erfreut hatten. Sie waren ein Teil dessen, was man als den „ukrainischen Traum” bezeichnen könnte – dem Streben weg von Russland hin zu einem unabhängigen ukrainischen Staat. Der Schlüsselbegriff ist hier „weg von Russland“.

    Flucht aus der russischen Sprachzone

    Ein wesentlicher Teil dieser Unabhängigkeit bestand für viele Ideologen eines ukrainischen Nationalstaates in der kulturellen Unabhängigkeit, der Befreiung vom Kleiner-Bruder-Komplex. Viele sahen das Erlangen der kulturellen Eigenständigkeit schon vor einem halben Jahrhundert in der Flucht aus der russischen Sprachzone.

    Der Krieg mit Russland war also nie der Grund, warum die Partei, die für die Verdrängung der russischen Sprache eintritt, gewonnen hat. Ohne diesen Krieg hätte diese Partei aber kaum je eine echte Chance gehabt, ihr radikales Projekt umzusetzen. Putin kann daher als Koautor des Projekts gelten. Mit seiner Ukraine-Politik hat er geholfen, den Traum des radikalsten Flügels der ukrainischen Intelligenz zu verwirklichen. Zumindest vorerst.

    An sich ist der Wunsch, die Ukraine zu ukrainisieren, historisch wie politisch gerechtfertigt. Fraglich ist die Wahl der Mittel und des Tempos. Kein Staat der Welt kann ohne einen einheitlichen Sprachraum existieren. Der Wunsch, einen solchen Raum zu schaffen und zu schützen, ist daher vollkommen adäquat.

    Ferner besteht kein Zweifel, dass sich in der Ukraine – genau wie in einer ganzen Reihe anderer ehemaliger russischer Kolonien – eine Schieflage ergeben hat, als sich dieser universelle Sprachraum nicht auf der Basis der Sprache der Titularnation herauszubilden begann, sondern auf der einer großen ethnischen Minderheit (wobei ein nicht unwesentlicher Teil der ethnischen Ukrainer Russisch als Muttersprache empfindet). Sprich: Auch ein Vierteljahrhundert nach dem Zerfall der UdSSR ist Russisch in der Ukraine immer noch die Sprache der innerukrainischen Verständigung.

    Die Wahl der Mittel

    Es ist völlig klar, dass keine normale Entwicklung des ukrainischen Nationalstaates möglich ist, solange die Situation sich nicht umkehrt und Ukrainisch zu jener universellen Sprache wird, welche die kulturelle, wirtschaftliche und politische Integrität festigt. Bis zu diesem Punkt verstehe und unterstütze ich die Beschützer der ukrainischen Sprache. Doch dann kommen wir zur Wahl der Mittel. Entweder man erschafft den Sprachraum, indem man die Verbreitung des Ukrainischen fördert oder indem man die Verbreitung des Russischen zurückdrängt. Das heißt, man hat die Wahl zwischen einem diskriminierenden und einem nicht-diskriminierenden Modell.

    Das Sprachengesetz wurde eilig unter dem Druck der Radikalen Maidan Partei beschlossen, die um ihre letzte Chance fürchtete, ihr Ideal in die Tat umzusetzen. Das Gesetz ist mehrdeutig und enthält eine Reihe von Bestimmungen, die als gegeben gelten können und sollten.

    Unumstritten ist der Status des Ukrainischen als Amtssprache, vernünftig erscheint die Forderung, dass sie obligatorisch auf allen Bildungsstufen gelehrt werden soll, gerechtfertigt ist die Forderung, dass jeder Staatsbürger sie in der einen oder anderen Form beherrschen soll, wobei im öffentlichen Dienst das fließende Beherrschen verpflichtend ist. Selbst in der Forderung, dass fremdsprachige Filme und Theateraufführungen mit ukrainischen Unter- beziehungsweise Übertiteln versehen gehören, liegt eine gewisse Logik. Man darf in dieser Frage nicht die Auffassung vieler Anhänger des russki mir übernehmen, die meinen, es würde irgendwie ihre Rechte und ihre Würde verletzen, wenn man von ihnen fordert, die Landessprache des Landes zu lernen, in dem sie leben und deren Staatsbürger sie darüber hinaus sind.

    Die Situation sieht jedoch anders aus, wenn es um diskriminierenden und äußerst selektiven Maßnahmen in Bezug auf russische Muttersprachler geht. Hier nur die wichtigsten: Unmöglich ist die freie Entfaltung der kulturellen Identität durch die Einschränkung von muttersprachlicher Lehre auf allen Bildungsebenen, durch begrenzten Zugang zu Informationen und kulturellen Gütern in der jeweiligen Muttersprache, durch eingeschränkten Zugang zum Rechtssystem aufgrund von sprachlicher Angreifbarkeit und durch weitere Auswüchse der Diskriminierung aufgrund der Sprache. Solche Maßnahmen machen nicht so sehr das Ukrainische zum universellen Mittel der Kommunikation, sondern vielmehr das Russische zur Sprache der Spaltung. Das eigentliche, ausdrückliche Ziel wird nicht erreicht – es wird kein gemeinsamer Sprachraum geschaffen.

    Die tieferen Ursachen für die Popularität des diskriminierenden Ansatzes bei einem großen Teil der ukrainischen Intelligenz liegen auf der Hand, und sie stehen in keinem Zusammenhang mit dem Krieg und der daraus resultierenden psychologischen Sprengkraft der Diskussion. Der Grund ist die Ungeduld, der Unwillen und die Unfähigkeit zu warten. Die heutige Sprachsituation in der Ukraine ist über Jahrhunderte gewachsen, und es braucht mitunter viel Zeit, um die Stellung der beiden Sprachen umzukehren. Ein nicht-diskriminierender, motivationsbasierter Weg würde Jahrzehnte mühevoller Arbeit bedeuten. Aber das Ergebnis soll ja noch zu Lebzeiten sichtbar werden, am besten sofort. Das führt zu einem Sprach-Bolschewismus mit seiner Philosophie des großen Sprungs. Wenn man schon nicht das Ukrainische schnell verbreiten kann, dann kann man doch wenigstens das Russische schnell verdrängen. Wie jeder andere große Sprung ist das eine Utopie.

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  • Wann endet der Sieges-Wahn?

    Wann endet der Sieges-Wahn?

    Der 9. Mai, der Tag des Sieges über NS-Deutschland, ist der wichtigste Nationalfeiertag in Russland. Obwohl in der Roten Armee etwa auch ukrainische, belarussische oder kasachische Soldaten kämpften, wird der Tag des Sieges heute vor allem als Schlüsselereignis der russischen Geschichte thematisiert. Schon zu Sowjetzeiten diente der 9. Mai zur Selbstdarstellung auf internationaler Bühne – heute finden in jeder größeren russischen Stadt Militärparaden statt, die größte auf dem Roten Platz in Moskau. Im vergangenen Jahr waren der serbische Präsident Vucic und Israels Premier Netanjahu zu Gast. 

    Für den einzelnen Bürger allerdings bedeutet der 9. Mai nicht nur Paraden, sondern auch Gedenken an die eigenen Vorfahren, der Tag des Sieges ist auch ein Familienfest. 

    Auf Republic beschreibt Andrej Sinizyn, wie der offizielle 9. Mai mehr und mehr zum Propagandainstrument wird – und konstatiert, dass politisches und individuelles Gedenken immer weiter auseinanderdriften.

    Im Jahr 2000 oder 2001 gab es in Petersburg den schönsten Tag des Sieges, an den ich mich erinnern kann. Damals gab es, soweit ich weiß, noch nicht wieder die Morgenparade (oder zumindest ohne Waffenschau?), und am Abend fand ein Umzug der Veteranen über den Newski-Prospekt statt. Es waren auch noch deutlich mehr Veteranen als heute, und in ihrer Kolonne waren ganz unterschiedliche Militärorchester unterwegs (größtenteils russische, aber es gab auch Schotten mit Dudelsack). Man konnte sich einfach so der Kolonne anschließen und mit den Veteranen und den Orchestern zum Dworzowaja Ploschtschad vor der Eremitage ziehen.

    Auf dem Platz fand, so seltsam das heute klingen mag, keine offizielle Feier statt mit Tribünen, Festansprachen von Beamten oder Auftritten heimischer Popstars. Die Orchester verteilten sich auf dem Platz und spielten Märsche, Walzer aus der Sowjetzeit oder Wünsche aus dem Publikum. Und die Zuhörer, ob Veteranen oder nicht, tanzten um sie herum. Es gab auch kleinere Grüppchen mit Akkordeons in der Mitte, die die Veteranen selbst mitgebracht hatten. Und so ging es bis tief in die Nacht, weil niemand heimgehen wollte. Später habe ich mehrmals versucht, dieses Gefühl wiederzufinden – es ist mir nicht gelungen. Auf dem Dworzowaja Ploschtschad gab es nur noch kontrolliert-ausgewählte Konzerte und beim Umzug immer weniger Veteranen, dafür aber immer mehr seltsame Kolonnen irgendwelcher politischer Kräfte oder der Petersburger Bezirke. Und ab Mitte der 2000er nahm auch die bürokratisch-patriotische Begeisterung rapide zu. 

    Der Wahn um den Sieg

    Über den Sieges-Wahn ist schon viel gesprochen und geschrieben worden, verschwunden ist er trotzdem nicht. Beispielsweise hat dieses Jahr in Sewastopol eine Abteilung des Unsterblichen Regiments einer anderen 500 Veteranenportraits gestohlen. Was will man machen, die Region ist neu in der Russischen Föderation, es gibt genug patriotischen Enthusiasmus und entsprechendes Chaos, die Bürokratie hat sich noch nicht etabliert. 

    Aber es kann sich ja alles ändern. Drei, vier Jahre und der Krim-Rausch hat sich nahezu verflüchtigt. Natürlich heißen die Bürger die Angliederung nach wie vor gut, wollen diese aber nicht mehr mit schlechten Lebensbedingungen bezahlen und sehen immer weniger Grund, sie zu feiern.

    Oder nehmen wir den 1. Mai, diesen seltsamen Feiertag. Er hatte schon während der offiziellen Paraden zu Sowjetzeiten seinen Sinn eingebüßt. Je länger das offizielle Programm der  Feierlichkeiten wurde, desto leichter fiel es den Menschen, auf ihre Datscha zu fliehen oder einfach ein Picknick zu machen. Später privatisierten die Bürger den Feiertag vollends für ihre Frühlingsarbeiten auf der Datscha und die Politiker der 1990er verlängerten die Feiertage sogar, um die eigenen Beliebtheitswerte zu steigern.

    Den Arbeitnehmern lag nicht viel daran, für ihre Rechte zu kämpfen, aber ein zusätzlicher freier Tag ist immer gut. 

    Die Bedeutung des Maifeiertags ändert sich

    Heute ändert sich die Bedeutung des Feiertags wieder: Zum einen wurden die Arbeitnehmer vom Staat in letzter Zeit ziemlich gegängelt, zum anderen ist angesichts der eingeschränkten Versammlungsfreiheit der offizielle Tag des Frühlings und der Arbeit zu einer Möglichkeit des Protests geworden. Nach Angaben von OWD-Info wächst die Zahl der Verhaftungen jährlich: 2016 wurden in Moskau und Petersburg 27 Menschen festgenommen, 2017 waren es 37, 2018 bereits 53, 2019 dann 65 allein in Petersburg und 131 im ganzen Land. 

    Die diesjährigen Exzesse zeugen natürlich auch von der zunehmenden Gewalt der Polizei und der Nationalgarde. Es ist offenkundig, dass diese Organe die kleinste Regung von nicht-kontrollierten Aktionen verhindern sollen (vgl. die brutale Auflösung des Rap-Festivals im Olympiastadion Lushniki am selben Tag). Die Regierung jagt Demonstranten der neuen Art, um sie zusammenzuschlagen. Fragt sich, ob sie sie aufhalten wird. Vielleicht entwickeln sich die Feierlichkeiten am 1. Mai zu tatsächlichem Protest.

    Wird sich womöglich auch der 9. Mai verändern? Der Tag des Sieges war ja nicht immer ein offizieller staatlicher Feiertag, das private Begehen („Feier“ ist hier das falsche Wort) hatte für die Menschen der Nachkriegszeit, aber auch noch in den 1970ern, einen deutlich höheren Stellenwert.

    Fanfaren-Müdigkeit

    Neueste Umfragewerte des Lewada-Zentrums lassen den Schluss zu, dass es eine Entwicklungstendenz zu Individualisierung und zu menschlichem Mitgefühl gibt. Auf die Frage, wie man den Feiertag am besten verbringen sollte, antworteten 52 Prozent: „Indem man sich um die Kriegsveteranen kümmert“ (2015 waren es 49 Prozent , 2018  42 Prozent); 23 Prozent sagten: „mit Paraden, Umzügen, Feuerwerk und offiziellen Veranstaltungen“ (2015 waren es 29 Prozent, 2018 35 Prozent). 2015 war die Freude über den Sieg noch wesentlich größer und die Trauer um die Millionen Gefallener wesentlich kleiner als 2019. Vielleicht beobachten wir eine gewisse Fanfaren-Müdigkeit der Bürger in Anbetracht ständig sinkender Löhne

    Selbstverständlich hängt vieles davon ab, wie aufmerksam der Staat ist. Sobald das nachlässt, werden Veranstaltungen ungezwungener und volksnäher. Aber der Staat hat nicht vor, auf die strenge Kontrolle über den Tag des Sieges zu verzichten. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Es ist der einzige Feiertag, der alle Menschen eint, eine unhinterfragte historische Errungenschaft, die man sich unter den Nagel reißen muss, um die eigene Legitimität zu festigen und eine Quasiideologie darauf aufzubauen. 

    Doch Kontrolle schafft auch einen bürokratischen Überbau. Diese Bürokratisierung des Feiertages verdrängt allmählich seinen wahren Inhalt und die Möglichkeit, irgendetwas zu empfinden. Denn überbordende Euphorie ist als Dauerzustand nicht möglich.

    Mit dem Sieg von 1945 soll die Aggressionspolitik nach 2014 gerechtfertigt werden

    Bemerkenswert ist auch, dass die Regierung seit 2014 mit allen Mitteln versucht, im Massenbewusstsein den Großen Vaterländischen Krieg mit dem Krieg in der Ukraine und in Syrien gleichzusetzen. Der Militarismus, der Waffenkult und das Versprechen, es zu „wiederholen“ (und ins Paradies zu kommen) zielen darauf ab, diese Kriege in Synonyme zu verwandeln. Mit dem Sieg von 1945 soll die Aggressionspolitik nach 2014 gerechtfertigt werden. Gerade droht diese Strategie aber nach hinten loszugehen: Wenn die Menschen des heutigen Krieges müde werden, interessiert sie der historische Sieg nicht mehr besonders.

    Das Neueste im Rahmen der Krim-Propaganda – zumindest für die Massen, im Kleinen hatten Beamte schon früher Anstrengungen in dieser Richtung unternommen – ist die „Verteidigung unserer Geschichte“ vor den heimtückischen Plänen des Westens sie „umzuschreiben“.  

    Wir wissen allerdings, dass sich das Verhältnis zum Westen auch grundlegend ändern kann – alles hängt von der Politik des Kreml ab. Die „heimtückischen Pläne des Westens“ könnten verschwinden, wenn sich die russische Politik ändert oder die Personen, die sie definieren, ersetzt werden. Verschwinden könnten auch der Militarismus und die überschwängliche Feier des Sieges mit vollkommener Ignoranz für die Tragödie.

    Natürlich gibt es wenig Hoffnung, dass sich die russische Politik ändert. Deswegen wird sich der Tag des Sieges bei den heutigen Tendenzen wohl allmählich aufspalten: in einen immer wahnsinnigeren offiziellen und einen immer persönlicheren – oder protestlerischen? – im Untergrund. Dem Urgroßvater mit einem Gläschen auf der Datscha im Kreis der Familie zu gedenken wird zum Mainstream. Doch die offiziellen Veranstaltungen sucht man nur noch auf, wenn es unbedingt sein muss.

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  • Absage an die Moderne

    Absage an die Moderne

    „Archaisierung“ – so nennen viele russische Liberale die Epoche Putins, vor allem die Zeit nach der Krim-Angliederung. Der Begriff geht auf den russischen Philosophen Alexander Achijeser zurück – einer der Begründer der Kulturwissenschaft in Russland, der 2007 ruhmlos und weitgehend vergessen verstarb. In den 1970er Jahren verfasste er sein (erst in den 1990er Jahren erschienenes) Hauptwerk: Russland: Kritik der historischen Erfahrung. Darin sagte er sowohl die Perestroika voraus als auch deren Scheitern. Dieses Scheitern, so Achijeser, würde auch eine „Archaisierung“ nach sich ziehen – eine Abkehr von den Werten der Moderne.
    Heute begründet die russische Propaganda diese Abkehr auch mit einem Scheitern der Moderne überhaupt. So sieht Wladislaw Surkow, angeblicher Chefideologe des Kreml, das liberal-demokratische Modell quasi am Ende. Dabei erklärt er das mutmaßliche Interesse am „russischen politischen Algorithmus“ damit, dass es im Westen keine „Propheten“ gebe.
    Warum geben sich Millionen von Menschen im Russland des 21. Jahrhunderts freiwillig mit einem einseitigen und aufgezwungenen Weltbild zufrieden, fragt Andrej Archangelski auf Republic. Und versucht eine Antwort.

    Die russische Propaganda, wie wir sie kennen, hat vor fünf Jahren begonnen und sie verfolgte ein praktisches Ziel: dem Einfluss des ukrainischen Maidan etwas entgegenzusetzen. Die Rhetorik bediente sich zunächst propagandistischer Elemente aus den Zeiten des Zweiten Weltkriegs (karateli und so weiter) und ging dann zur Sprache des Kalten Krieges über (die Trennung in „wir“ und „sie“, der „Westen“ als pauschalisierte Gefahr). 

    Zwei Dinge verblüffen dabei immer noch: 
    Erstens, dass dieses Schema akzeptiert wurde von einem Großteil der russischen Gesellschaft (der die Propaganda in ihrer sowjetischen Variante vor nicht allzu langer Zeit noch abzulehnen schien). 
    Und zweitens: die Ausführenden. Wir können annehmen, dass ein Teil der Propagandisten „einfach seine Arbeit tut“, dass er „Familien ernähren und Kredite abstottern“ muss. Aber wir müssen auch berücksichtigen, dass die Hauptakteure – Experten, Politologen, Fernsehmoderatoren – im vorgegebenen ideologischen Rahmen etwas finden, das ihnen nahe ist und sie inspiriert, etwas, worin sie sogar eine eigentümliche „Freiheit“ sehen.

    Propaganda – das ist in erster Linie eine Vereinfachung des Weltbildes

    Propaganda – das ist in erster Linie eine Vereinfachung des Weltbildes, sie nimmt den Menschen die Last einer existenziellen Verantwortung ab. 
    Das Wort Geopolitik bedeutet, den Menschen von der Pflicht zu befreien, eigene Entscheidungen, eine ethische Wahl zu treffen. Die Geopolitik sagt dem Menschen, dass alle grundlegenden Entscheidungen bereits für ihn gefällt wurden – automatisch und ein für allemal – und zwar von der Geschichte, der Geographie und dem Schicksal.

    Aber auch das liefert noch keine Antwort auf die Frage, warum sich Millionen von Menschen im Russland des 21. Jahrhunderts freiwillig mit einem einseitigen und aufgezwungenen Weltbild zufriedengeben („wir sind die Guten, alle anderen die Bösen“). Vielleicht besteht die Wirkmacht der Propaganda ja darin, dass sie eine viel fundamentalere, nicht ausgesprochene, aber implizite „tiefere“ Idee enthält, die obendrein mit globalen Prozessen zusammenfällt.

    Diese Idee lässt sich kurz als eine Absage an die Moderne, den Fortschritt, an die moderne Gesellschaft an sich beschreiben.

    Magische Praktiken

    Während man den endlosen propagandistischen Gesprächen lauscht, fragt man sich unwillkürlich: Welchem mündlichen Genre kommen sie am nächsten? Sie erinnern an magische Praktiken: Beschwörungen, Zauberformeln, Versuche, das Gewünschte mithilfe von Worten Wirklichkeit werden zu lassen. 
    Dutzende von Menschen wiederholen tagein tagaus, Jahr für Jahr ein und dieselben Verwünschungen, in der Hoffnung, dass sie wahr werden mögen. In erster Linie betreffen sie nach wie vor die Ukraine: „Kiewer Sackgasse“, gescheiterter Staat, die Parodie eines Landes und so weiter.

    Wladimir Paperny beschreibt in seinem bekannten Buch [Kultura Dwa (Kultur-2), dek] ein wichtiges Merkmal dieser „Kultur-2“, indem er sie als mythologisches Denken bezeichnet: als „das Zusammenfallen von Bezeichnung und Bezeichnetem, von Bild und Abgebildetem, von Wort und Bedeutung. Kultur-2 glaubt gleichsam, dass etwas, wenn man es laut ausspricht, wahr wird“.

    Ablehnung des Fortschritts

    Heute sind im Propaganda-Äther alle Verschwörungen und Phobien der Welt vereint; alles unter der Erde, in den Katakomben, in Dostojewski’schen Kellerlöchern der Menschheit scheint sich an einem Ort versammelt zu haben und krakeelt jetzt um die Wette. All das trifft sich nur in einem Punkt – in der Ablehnung der Idee der Moderne, des menschlichen Fortschritts. Sogar die Verherrlichung der sowjetischen Vergangenheit ist in Wirklichkeit ihre verkappte Bekämpfung. 

    Natürlich war die sowjetische Gesellschaft totalitär, doch formal war sie modernistisch. Sie bestand auf dem universellen und globalen Charakter ihrer Ideologie, und sie war in die Zukunft gerichtet („unser Ziel ist der Kommunismus“). Die Grundzüge der sowjetischen Ethik überschnitten sich mit universalistischen Werten. Heute betreibt die Propaganda einen konsequenten Exorzismus gegen jene modernistischen Pfeiler der sowjetischen Ideologie: Wörter wie „Internationalismus“, „Humanismus“, „Kampf für den Frieden“ oder „Völkerfreundschaft“  werden sie heute von keinem Sowjet-Liebhaber mehr hören – derlei Postulate werden als Schwäche der Sowjetmacht verlacht. Selbst der Feminismus bleibt nicht verschont (auch wenn vorher definitiv der Zusatz kommt, dass die UdSSR seine Heimat gewesen sei).

    Ein gewaltiges, allumfassendes Kippen der Gesellschaft zurück in archaische Zeiten – genau das ist die generelle Stoßrichtung der heutigen Propaganda.

    Lustpunkt getroffen

    Anfangs gab es für dieses „Einfrieren“ übrigens rein praktische Beweggründe. Wie wir uns alle erinnern, hießen die Reformen unter Medwedew Modernisierung und endeten 2012 mit Massenprotesten, die die Mächtigen in Angst und Schrecken versetzten. Ihr wichtigstes Symbol war weniger die Masse oder die Aktivität der Menschen, als vielmehr die „Sprache der Bolotnaja“, die Sprache auf jenen funkensprühenden und unzähligen selbstgebastelten Plakaten. In der Sprache dieser Plakate begann die gerade geborene russische Gesellschaft der Moderne zu sprechen. Genau darin erkannten die Machthaber die Hauptgefahr: Die neue Sprache bedeutete die Entstehung eines neuen Bewusstseins – eines säkularen, universellen – die Renaissance von sozialer Verantwortung und Teilnahme. 
    Als Gegengewicht zur Sprache der Bolotnaja war bald die Sprache der Antimoderne à la UralWagonSawod gefunden, bei der es sich natürlich großenteils um ein künstliches Konstrukt handelt. Doch die Erfindung funktionierte. Die Sprache der Propaganda erwuchs im Grunde aus dieser Verdichtung, nur der Stil wurde 2014 perfektioniert.

    Sprache der symbolischen Gewalt

    Das zentrale Moment der Propaganda ist bis heute die Sprache der symbolischen Gewalt – das Phänomen der schmutzigen Hasssprache. Ein weiteres wichtiges Element der Propaganda ist das höhnische Lachen, das Lachen von Dostojewskis Menschen aus dem Kellerloch.

    Dabei wird der Gegner, meist ein westlicher Politiker, auf jede erdenkliche Art erniedrigt. „Blogger verhöhnen“ Poroschenko, Merkel, Macron: Innerhalb von fünf Jahren ist in Russland ein völlig neues Genre entstanden. Aber sowohl die Sprache der Gewalt als auch die des Hohns haben etwas noch viel Größeres hervorgebracht: ein Weltbild, eine Kommunikationsweise, ja sogar eine Art Philosophie der Abkehr von der Welt.

    Das Geheimnis der Propaganda ist, dass sie einen Lustpunkt getroffen hat: Es verschafft dem Menschen Erleichterung, sich von den hemmenden Mechanismen der Kultur zu befreien, das steht schon bei Freud. Darum wiederholen Propagandisten auch so gern immer wieder ein und dasselbe, stunden-, tage-, jahrelang. Übrigens spricht die Propaganda das Wichtigste nicht direkt aus, sondern nur in Andeutungen. 

    Das Ende der Welt

    Das Konzept vom „Scheitern der westlichen Welt“ – noch so ein Imperativ der Propaganda – ist etwas komplizierter: Es ist eine bemerkenswerte Verschmelzung von Marxismus und Eschatologie. Die sowjetische Ideologie postulierte, unter Berufung auf die „eisernen Gesetze der historischen Entwicklung“, das unweigerliche Scheitern des Kapitalismus. Doch stattdessen scheiterte das sowjetische Projekt. Das von der heutigen Propaganda versprochene „Scheitern des Westens“  erinnert formal an sowjetische Dogmen, die nun eschatologisch untermauert werden (den „Gesetzen der Geschichte“ zufolge werden Zivilisationen, die vorangeprescht sind, „bestraft“ und bei der Gelegenheit wird auch gleich der „Zerfall der UdSSR“ gerächt). 
    Ab einem gewissen Punkt dominierten die archaischen Motive der Propaganda. Sie sind anscheinend außer Kontrolle geraten und haben eine Eigendynamik entwickelt. Die Absage an die Moderne zog auch in allen anderen Bereichen eine Archaisierung nach sich. So klingt die These vom „Scheitern der Aufklärung“ gar nicht mehr so abwegig und ist immer öfter in den Reden der Ideologen zu hören. 
    Die Propaganda ist zu einer globalen Predigt über den verlorenen Glauben an den Menschen und die Enttäuschung über die Menschheit geworden, sie wurde zu einem Geschäker mit den niederen Instinkten des Menschen. 
    „Die Menschen leben kein echtes Leben mehr“, behaupten diejenigen, die Tag für Tag ein falsches Leben auf Bildschirmen kreieren. Als Beispiele für echtes Sein werden dann Kriege oder anderes menschliches Leid angeführt. 

    Der Masochismus der Propaganda offenbart sich auch in ihrem penetranten Streben nach Selbstauslöschung – jedes Mal redet sie davon, wenn sie auf die „radioaktive Asche“ zu sprechen kommt.
    Schnell hat die Absage an die Zivilisation auch im Alltag Einzug gehalten. Es ist keine Seltenheit, dass ein propagandistischer Radiosender verkündet, technischer Fortschritt sei nicht notwendig und gar schädlich (die größte Sorge wecken dabei Gadgets aller Art: sie „stehlen“ unsere Lebenszeit). 
    Die panische Angst vor dem Internet, das den „Menschen verdorben hat“, und das Verlachen wissenschaftlicher Erkenntnisse (die berühmten „britischen Forscher“) münden in eine Verhöhnung der Wissenschaft an sich. 

    Natürlich hat die Propaganda auch den wirtschaftlichen Geschmack der Massen geprägt: Unter „Realwirtschaft“ versteht man bei uns „Werke und Fabriken“ und nicht die „virtuelle Ökonomie“ des Westens.  

    Die letztgültige Wahrheit

    Es fällt auf, dass all diese Postulate gleichzeitig mit einem weltweiten Trend zum Konservativismus aufkommen. Allerdings gilt dieser im Westen als eine von vielen Möglichkeiten, keineswegs als „unausweichlich“. Selbst wenn wir annehmen, Russland hätte das Zeug zum Anführer der konservativen Wende, macht der Stil der Propaganda das unmöglich: jenes schroffe und alternativlose Aufdrängen der eigenen „letztgültigen“ Wahrheit. Deswegen betrachtet man Propaganda im Westen heute nicht nur als einen Angriff auf liberale Ideen, sondern auf die universale Ethik. Ihr Hauptziel ist es, „die Grenzen zwischen Gut und Böse zu verwischen“. Damit wären wir beim erstaunlichsten Widerspruch der Propaganda: Sie erklärt sich selbst für das absolut Gute und beharrt gleichzeitig auf der Relativität der Begriffe von Gut und Böse (post-truth). Wie sich das dialektisch vereinbaren lässt, ist ein Rätsel. Mit Paperny gesprochen vielleicht so: In der Welt des absolut Guten, wo die Kultur-2 herrscht, existiert kein Böses. Es wurde ausgelagert in eine eigene, andere Welt, die sich „der Westen“ nennt – dort, im Revier des Bösen, ist „alles erlaubt“, denn dort ist sowieso von vornherein alles falsch (und sündig). 


    Die Propaganda gab der Welt einen Anstoß zur Diskussion ethischer Fragen

    Der Versuch, die Grenzen zwischen Gut und Böse zu verwischen, hatte allerdings paradoxe Konsequenzen: Er brachte Europa und Amerika dazu, sich an die Ethik zu erinnern und sie wieder ins Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit zu rücken. Jeder zweite Hollywoodfilm – egal ob Thriller oder Komödie – verhandelt heute eine ethische Frage. #MeToo ist eine eindeutige Debatte über Ethik. Die Wertedebatte wurde zum wesentlichen Bestandteil des westlichen Diskurses. Hier zeigt sich eine verblüffende Parallele: So wie das sowjetische Projekt den Arbeitnehmerschutz im Westen befeuert hatte, gab die Propaganda der Welt einen Anstoß zur Diskussion ethischer Fragen. Heutzutage wird die Propaganda vor allem als eine ethische Herausforderung erforscht, womit sie letztlich die Suche nach einer neuen Ethik initiiert. Diese wird natürlich komplexer sein, aber es lässt sich erahnen, dass Gut und Böse darin ihren Platz haben werden. 

    Die Propaganda, die nach außen gerichtet war, traf vor allem Russland selbst. Indem sie dem Schlechteren nacheiferte, hat sie eine Millionen-Gesellschaft in eine vormoderne, archaische Welt zurückgeworfen und damit abermals ein „tiefes“ Volk konstruiert. Letzten Endes bedeutet das: Wir treten auf der Stelle und erteilen der Moderne, dem Fortschritt, der Welt eine Absage – wohlbemerkt nicht zum ersten Mal. Für Jahre, oder gar Jahrzehnte? So oder so wird es tiefgreifende und traurige Konsequenzen haben, die eine Gesellschaft nicht so schnell überwindet. 

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  • Völlig losgelöst von der Wirtschaft

    Völlig losgelöst von der Wirtschaft

    Die Statistikbehörde Rosstat hat im Februar die BIP-Zahlen für 2018 bekanntgegeben: Demnach lag das Wirtschaftswachstum 2018 bei satten 2,3 Prozent. Ein Rekord, das höchste Wachstum seit 2012. 
    Schnell wurden Zweifel laut: Schließlich war Rosstat zuvor von niedrigeren Werten ausgegangen. Wirtschaftsexperten halten ein Wachstum von 1 bis 1,8 Prozent für realistischer. 
    Wie echt sind die offiziellen Zahlen? Andrej Sinizyn kommentiert das russische Wirtschaftswunder auf Republic.

    Das Wirtschaftswachstum von 2,3 Prozent ist der Rekord der vergangenen sechs Jahre. Es spricht für einen ernsten Erfolg der digitalen Wirtschaft. Damit meine ich nicht die IT-Wirtschaft, die die russische Autarkie vorantreiben soll, sondern die virtuellen Zahlen, die als einzige bedeutsam für die russische Politik sind und sich immer weiter von der realen Wirtschaft entfernen.

    Wirtschaftswunder

    Nachdem Rosstat die Zahlen aus unerfindlichen Gründen neu berechnet hatte, betrug das Wirtschaftswachstum plötzlich 2,3 Prozent. Das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung war in sehr optimistischen Prognosen von 2 Prozent ausgegangen, Experten hatten von 1 bis 1,8 Prozent gesprochen.

    Natürlich sehen viele hinter der Revision die Machenschaften des Ministeriums, dem die Statistikbehörde Rosstat seit geraumer Zeit untersteht. Just am Tag vor der Ankündigung des Superwachstums wurde der Chef der Behörde ausgetauscht. In einem Klima, wo das Vertrauen in den Staat völlig fehlt, und die Rechnungslegung undurchsichtig ist, gedeihen Verschwörungstheorien – und mit derartigen Aktionen nährt Rosstat das Misstrauen.

    Gewiss muss das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung das Wirtschaftswachstum vor dem Präsidenten und nicht vor dem Volk verantworten. Dem Auftrag des Präsidenten, ein bestimmtes Wachstum zu erreichen (wir müssen ein jährliches BIP-Wachstum von 3,0 bis 3,5 Prozent sicherstellen), muss entsprochen werden. Das heißt, zum ordentlichen Termin müssen Zahlen genannt werden, die zumindest eine positive Dynamik zeigen.

    Der Alltag bleibt der gleiche

    Die Zahlen, die der Präsident in seinen Ansprachen und Begegnungen mit dem Volk und mit Journalisten nennt, entfernen sich immer weiter von der Realität. Den Bürgern wird bei diesen Zahlen weder heiß noch kalt, drückt sich ihre wirtschaftliche Lage doch objektiv in sinkenden Einkünften aus. Welchen Unterschied macht es also, was der Präsident sagt? Spricht er von einem Wirtschaftswachstum von zehn Prozent, ändert sich im Alltag letztlich nichts. Die Bürger tippen sich an die Stirn und sind wieder bei ihren Alltagssorgen.

    Das Auseinanderdriften der offiziellen und realen Wirtschaft hat tiefere Gründe. Nach Meinung einer Mehrheit von Experten ist das Wirtschaftswachstum im Jahr 2018 im Wesentlichen auf die Exporte zurückzuführen. Die steigenden Erdölpreise und die Abwertung des Rubel haben zu diesem Erfolg beigetragen. 
    Im Gegensatz zu den 2000er Jahren sickern die Exportüberschüsse heute jedoch praktisch nicht in die übrige Wirtschaft durch, wie Kirill Tremassow, Direktor für Analysen bei Locko-Invest, feststellt. Die Haushaltsdisziplin ist viel strenger geworden, die Regierung macht in Erwartung lang andauernder Sanktionen große Sparanstrengungen. Und die Exporteure ihrerseits investieren viel weniger im Inland und schütten rekordhohe Dividenden aus.

    Abhängig von der Elite

    In ihrem  Buch Warum Nationen scheitern unterscheiden die Ökonomen Daron Acemoğlu und James Robinson zwischen extraktiven und inklusiven Staaten. In ersteren existieren die militärische Elite und die arbeitende Bevölkerung separat, jedoch voneinander abhängig. Die Elite beschützt das Volk und nimmt dafür Geld von ihm. In den letzteren, den inklusiven Staaten, gibt es keine ständischen Grenzen, die Elite formiert sich nach dem meritokratischen Prinzip, was das Wirtschaftswachstum günstig beeinflusst. 
    Der Historiker Alexander Etkind verwendet einen dritten Begriff und spricht bei Staaten mit großer Rohstoffabhängigkeit von superextraktiven Staaten. Dort beutet die Elite die Ressourcen praktisch ohne Beteiligung des Volkes aus und nimmt die politische Rente ein. Bei einem derartigen Modell wird die Bevölkerung überflüssig und ist nicht von ihren eigenen Anstrengungen abhängig, sondern von der Wohltätigkeit der Eliten.

    Das schrieb Etkind im Jahr 2013 und seine Theorie ließ sich schon damals auf die russische Situation anwenden. Heute beobachten wir eine Weiterentwicklung der Lage, sie wird augenfälliger: Für Wohltätigkeit hat die Elite kein Geld mehr und die Bevölkerung wird immer nutzloser. 
    Übrigens, so schreibt die Zeitung Kommersant, hat auch der Anstieg der Verbraucherkredite einen nicht unbedeutenden Anteil am Wirtschaftswachstum, obwohl die Nachfrage selbst stagniert. Das Wachstum des privaten Konsums hat sich verlangsamt, von 3 Prozent im Jahr 2017 auf 1,9 Prozent im Jahr 2018. Und der Anteil der privaten Konsumausgaben am BIP ist binnen eines Jahres um drei Prozentpunkte gesunken. Die Bürger geraten schleichend in Schuldknechtschaft, was sich positiv in der BIP-Statistik niederschlägt, jedoch die Finanzstabilität bedroht, so die Meinung der Zentralbank.

    Der sonderbar anmutende Optimismus mag mit Folgendem zu tun haben: Dass Rosstat die Daten unerwartet nachgerechnet hat, lässt sich neben Verschwörungstheorien auch mit der äußerst schlechten Qualität der Statistik erklären. Es ist längst bekannt, dass föderale und regionale Statistiken nicht übereinstimmen, dass das Zählsystem zuweilen sehr seltsame Formen annimmt und der Staat in letzter Zeit vermehrt die „richtige“ Statistik anfordert. 

    Das alles führt zu der Prämisse, dass die Modelle von Rosstat gewissermaßen eine andere Wirtschaft abbilden, die mit der realen nichts zu tun hat. Davon spricht Simon Kordonski, Professor an der Higher School of Economics und wissenschaftlicher Leiter der Chamowniki-Stiftung, oft in seinen Vorträgen: Wir wissen gar nicht, was in Russland vor sich geht, wie die Menschen leben, was sie arbeiten und wie viele es eigentlich sind.

    Könnte es sein, dass wir dermaßen wenig über Russland wissen, dass es überlebt und immer weiter überleben wird, ungeachtet der entschlossenen Versuche von oben, es unter die Erde zu bringen?

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