дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Neues belarussisches Wörterbuch

    Neues belarussisches Wörterbuch

    Sorge um Maria Kolesnikowa: Eine Augenzeugin hatte am Montagmorgen im Zentrum von Minsk beobachtet, wie die letzte im Land verbliebene Mitstreiterin aus dem Frauentrio um Swetlana Tichanowskaja von maskierten Männern in Zivil in einen dunklen Kleinbus gezerrt wurde. Im Lauf des Tages waren auch zwei weitere Mitglieder des Koordinationsrates – Anton Rodnenkow und Iwan Krawzow – nicht mehr erreichbar und galten als vermisst. Von letzteren beiden gibt es nun ein Lebenszeichen aus der Ukraine – sie wurden aller Wahrscheinlichkeit nach gegen ihren Willen außer Landes gebracht. 
    Der Staatssender Belarus 1 hatte berichtet, die beiden Männer seien ins Ausland geflohen. Kolesnikowa sei verhaftet worden – beim illegalen Versuch, die Grenze zu überqueren.
    Dem widersprechen nicht nur frühere Aussagen Kolesnikowas, sondern auch eine Meldung von Interfax-Ukraine: Demnach hat Kolesnikowa an der Grenze ihren Pass zerrissen, um nicht gegen eigenen Willen außer Landes gebracht zu werden.
    Über ihren Verbleib herrscht derzeit Unklarheit. Das unabhängige belarussische Medium tut.by veröffentlichte ein Interview mit einem belarussischen Grenzbeamten, der darin aussagt, Kolesnikowa sei an der belarussisch-ukrainischen Grenze festgenommen worden. 
    Alexander Lukaschenko hatte in den 1990er Jahren mehrfach politische Gegner gewaltsam verschwinden und höchstwahrscheinlich ermorden lassen. Der freie Osteuropa-Korrespondent Stefan Schocher weist auf seinem Facebook-Account darauf hin, dass die Taten damals „wenn es denn Zeugen gab, von Personen in Zivil“ ausgeführt wurden. 
    Es waren häufig auch Männer in Zivilkleidung und mit Masken, die in den vergangenen Tagen gewaltsam gegen Demonstrierende vorgegangen sind.

    Die Gewalt der letzten Tage und Wochen, aber auch die Hoffnung der Demonstrierenden – all das hat Eingang in die belarussische Sprache gefunden. Mikita Ilintschik hat ein Wörterbuch zu Belarus im Wandel auf Republic zusammengestellt.

    Lukaschenko, ab in den Awtosak!“ (russ. Lukaschenko w awtosak!) In Belarus, genau wie in Russland, ist der Awtosak (der Gefangenentransporter) eines der Symbole staatlicher Gewalt. Er dient als Angstmacher und ist häufig anzutreffen: Oft stehen mehrere davon im Stadtzentrum oder fahren durch die Straßen von Minsk. Andererseits finden sie auch Anwendung im Marketing, auf Magneten und T-Shirts, und in der modernen Kunst. Die obige Losung des Sommers 2020 fordert unmissverständlich, dass das Objekt seinem Zweck gemäß zum Einsatz kommt: Verbrecher gehören in den Awtosak, nicht Bürger, die friedlich ihre Meinung kundtun oder einfach zufällig vorbeikommen.

    Chapun (böser Geist der slawischen Mythologie, der vornehmlich Juden und Kinder entführt): bezeichnet eine Taktik der belarussischen Slabowiki (siehe unten), die sich durch einen überraschenden und aggressiven Verhaftungsstil auszeichnet. Chapun ist eine Massenerscheinung und geschieht unerwartet. Das Prinzip ist folgendes: Ein Awtosak (siehe oben) kommt aus dem Nichts, aus dem Nichts stürmen die OMON-Kräfte auf die Straße und nehmen die Menschen mit ins Nirgendwo. Die Sicherheitskräfte nennen keinen Grund für die Verhaftung und tragen keine Erkennungsmarken. Die Bürger werden in Autos ohne Nummernschilder oder in den Awtosak gesteckt. 

    „Es lebe Belarus!“ (belaruss. Shiwe Belarus!) ist die mittlerweile weltweit bekannte Losung der belarussischen Opposition von 2020. Genau so hieß übrigens auch die offizielle Hymne des unabhängigen Belarus bis 1995. 1995 hielt Lukaschenko ein Referendum zur Wiedereinführung sowjetischer Staatssymbole ab. Flagge, Wappen und Hymne wurden mit geringen Änderungen wiedereingeführt. Auch deswegen ruft Shiwe Belarus! Assoziationen an ein Belarus ohne Lukaschenko wach, an die Geburt eines belarussischen Staates – sowohl 1918 als auch 1991

    Lustig ist, dass die Losung zwei gegensätzliche Bedeutungen gleichzeitig hat: Einerseits gibt es sie im offiziellen Sprachgebrauch (zum Beispiel erscheint das Organ des Belarussischen Parlaments, die Narodnaja Gazeta, mit dem Slogan Shiwe Belarus! im Logotyp). Andererseits wurde sie zur Losung der Opposition. Die Situation geriet zur Farce, als der Slogan de facto verboten wurde: Es kam zu Verhaftungen, Verurteilungen und Gefängnisstrafen, in den Protokollen hieß es: „Die Person hat die staatsfeindliche Losung Shiwe Belarus! gerufen.“ 

    Genügsamkeit (belaruss. pamjarkoŭnasz). Psychophysischer Massenzustand der Bürgerinnen und Bürger der Republik Belarus von 1994 bis 2020. Umfasst Gedanken über Demokratie und Freiheit genauso wie chronische Depressionen, Lustlosigkeit oder Unfähigkeit zu entschiedenen Handlungen, Angst vor Veränderungen, Wandel ist unmöglich, mein Name ist Hase, ich weiß von nichts. Kurz, das Wort beschreibt den Geisteszustand der Nation, der durch die Politik Lukaschenkos die letzten 26 Jahre geschaffen wurde. 

    „Glauben! Können! Siegen!“ (belaruss. Werym! Mosham! Peramosham!) ist eine der wichtigsten Losungen des belаrussischen Protests im Jahr 2020. Woher sie stammt, ist unbekannt. Es gibt auch schon eine neue Version: „Glauben! Lieben! Siegen!“ [sic. Geläufiger ist allerdings Ljubim! Mosham! Peramosham!, „Lieben! Können! Siegen!“ – dek]. Hier steht der friedliche Charakter der Proteste im Mittelpunkt.

    Henkersknechte (russ. karateli) sind Angehörige bewaffneter Einheiten (gewöhnlich von Besatzern), die für die Repressionen gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen des besetzten oder unterworfenen Gebiets zuständig sind. In der Nacht vom 9. auf den 10. August 2020, gleich nach dem Ende der Wahl, haben die belarussischen OMON-Kräfte Grausamkeit walten lassen, nicht nur bei Festnahmen, sondern auch bei Verhören. Ungeheuerlich waren auch die Haftbedingungen der Festgenommenen. Für viele kam diese Grausamkeit völlig unerwartet. So hielt karateli, ein seit dem Großen Vaterländischen Krieg vergessener Begriff, wieder Einzug in das belarussische Wörterbuch. Und sollte das Wort „Faschisten“ es geschafft haben, in der ehemaligen Sowjetunion zu einem Sprachklischee zu werden, das sowohl Demonstranten nutzen als auch die offizielle Propaganda, so klingt das Wort „Henkersknecht“ im Jahr 2020 einfach nur hart und grausam.
    Ganz zu schweigen von all dem, was bewiesen ist: Das Internet ist voll von Dokumenten und Belegen der Gräueltaten des Lukaschenko-Regimes. Festgenommenen Männern wurden die Hoden abgequetscht, Rippen gebrochen, Frauen Haare ausgerissen. Sowohl Männer als auch Frauen waren sexueller Gewalt und brutalen Schlägen ausgesetzt. Gegen friedliche Demonstranten kamen Gummigeschosse und Wasserwerfer zum Einsatz. Verhaftete bekamen Elektroschocks, wurden entkleidet, mit Wasser übergossen, 50 Leute wurden in eine kleine Zelle gepfercht, mit Spraydosen farblich markiert: Die unterschiedlichen Farben standen für die unterschiedlichen Grausamkeitsstufen, denen die Festgenommenen ausgesetzt wurden. Die Assoziation zu den faschistischen Besatzern kam ganz von selbst auf, und damit auch das Wort. Ich möchte daran erinnern, dass Karateli (dt.: Henkersknechte) ein Werk des berühmten belarussischen Schriftstellers Ales Adamowitsch ist.

    Okrestina. Dorthin werden die Aufständischen im Awtosak (siehe oben) kutschiert. Okrestina ist das Zentrum zur Isolierung von Gesetzesbrechern (ZIP), eine Einrichtung der Hauptverwaltung des Inneren von Minsk. Adresse: Perwy Pereulok Okrestina 36. Während der Massenverhaftungen, in der Nacht auf den 10. August, wurden die Menschen im Awtosak ins ZIP gebracht. In Sechser-Zellen fanden sich mehrere Dutzend zusammengeschlagener Leute – bis zu 60 Festgenommene saßen in einer Zelle. Entsprechend wurde die Okrestina ein Synonym für „Folterkammer“. 
    Schrecklich ist auch das Schicksal des Namensgebers: Boris Okrestin, nach dem die Straße, in der sich das Gefängnis befindet, benannt ist, war ein sowjetischer Pilot, der in der Nähe von Minsk umkam, als er sein brennendes Flugzeug in Flieger der Faschisten hineinsteuerte.

    Sascha 3 %. Im Mai 2020 wurden auf vielen Internetplattformen Wahlumfragen durchgeführt, bei denen die Nutzer für unterschiedliche belarussische Präsidentschaftskandidaten abstimmen konnten. Alexander Lukaschenko bekam in der Regel um die 3 Prozent. Daraufhin verbot der Staat derartige Internet-Umfragen. Nachwahlbefragungen an Wahllokalen im Ausland kamen zu denselben Ergebnissen, um die 3 Prozent. An keinem Wahlbüro in Ländern, in denen Nachwahlbefragungen erlaubt sind, erzielte Lukaschenko mehr als 10 Prozent. Insofern etablierte sich das Meme Sascha 3 % als wichtigster Indikator der tatsächlichen Popularität von Lukaschenko.

    Schmarotzer (belaruss. darmajed abgeleitet von darma, einfach so, und jest, essen). Im sowjetischen Gesetz war „Parasitentum“ von 1961 bis 1991 ein Verbrechen, das darin bestand, dass „eine volljährige, arbeitsfähige Person langfristig keine gesellschaftlich sinnvolle Arbeit erfüllt und von anderweitig erworbenen Einkünften lebt“. Lukaschenko hat als Fan des sowjetischen Systems 2015 eine Steuer auf Parasitentum eingeführt: Sie muss von Bürgerinnen und Bürgern der Republik Belarus gezahlt werden, die offiziell nicht in der belarussischen Wirtschaft beschäftigt sind. Außerdem wurden für diese Menschen höhere Tarife für kommunale Dienstleistungen eingeführt.
    Einerseits hat man so die Arbeitslosigkeit bekämpft, andererseits bedeutete es eine erzwungene Anwerbung von Bürgern zur Arbeit in den unprofitablen Staatsbetrieben – und außerdem ein weiteres Steuermanöver, von dem der Staat profitierte.
    Auch aktuell geht die Welle von Unruhen laut Lukaschenko von „Junkies, Prostituierten und Schmarotzern“ aus. Deswegen hört man von den Protestierenden regelmäßig ironische Verdrehungen: „Schmarotzer?“ „Hier.“ „Junkies?“ „Hier.“ „Prostituierte?“ „Hier.“

    Slabowiki (von russ. slabo, schwach) ist ein von dem sehr beliebten Telegram-Kanal Nexta eingeführter und auch sonst schon seit langem immer häufiger verwendeter Terminus. Die bis an die Zähne bewaffneten und ausgerüsteten Diener des Regimes, die friedliche Bürger schlagen, kann man nicht als Silo-wiki bezeichnen (von russ. sila Kraft, Gewalt), das wäre zu ehrenvoll. Der neue Terminus zeigt den Lakaien ihren Platz.

    Strafgerichtshof/Tribunal (von lat. tribunal, Richterstuhl, Gerichtshof) ist ein außerordentliches Gericht, häufig (aber nicht unbedingt) ein Kriegsgericht und auf jeden Fall abgesetzt vom ordentlichen Gericht der allgemeinen Jurisprudenz. Nach dem Muster des Internationalen Kriegstribunals in Nürnberg, das über die Verbrechen des Hitlerregimes urteilte, wurden auch der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien und der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda so genannt. Belarus ist heute wahrscheinlich weltweit führend, was die Menge an Gesetzesbrüchen in den unterschiedlichsten Bereichen betrifft: Von Wahlfälschungen über unbegründete barbarische Gesetze bis hin zur Gewaltanwendung gegenüber Menschen. Wenn die Zentrale Wahlkommission ZIK ganz offensichtlich lügt, die Gerichte lügen, der Präsident lügt (und unterstützt das Lügen gewaltsam), dann bleibt den Bürgern nur, eine höhere Instanz der Gerechtigkeit zu fordern: Einen Strafgerichtshof. 

    Tichari (von russ. ticho, still, leise) sind Miliz-Angehörige in Zivil (ja, in Belarus gibt es immer noch die Miliz). Es gibt eine ganze Armee von Tichari, ihre genaue Funktion ist jedoch nicht bekannt. Am häufigsten beobachten sie Demonstranten. Einen Tichar zeichnet sein unauffälliges Erscheinungsbild aus. Unerlässlich ist die Herrenhandtasche, die über der Schulter hängt, klassisches Schuhwerk und Trainingshose. Die stillen Genossen schleichen nicht nur im Zentrum herum, sondern auch in Wohngebieten. Manche Tichari haben Kameras, mit denen sie die Proteste aufzeichnen. Tichari können Menschen verhaften und sie in Awtosaks stecken. Sie sind wortkarg. Außerdem kann man sie an ihrer Maske erkennen: Obwohl es in Belarus keine Corona-Maßnahmen gab, halten sich dieTichari an die Hygienestandards.

    Weitere Themen

    „Nur nicht Lukaschenko!“

    „Rundherum lagen Menschen in Blutlachen“

    Belarus: Kampf um die Zukunft

    Viktor Zoi

    „Hier gibt es keine Viren“

    Corona-Wörterbuch

  • Putins Offshore-Macht

    Putins Offshore-Macht

    Am 1. Juli stimmen alle Wahlberechtigten Russlands über die geplanten Verfassungsänderungen ab. Unter anderem sieht die Reform auch vor, die bisherigen Amtszeiten Putins auf Null zu setzen – somit könnte er bis 2036 im Amt bleiben. Das Vorhaben hatte unverzüglich heftige Kritik ausgelöst. Die Abstimmung, die ursprünglich im April stattfinden sollte und nun am 1. Juli durchgeführt wird, bezeichnen liberale und oppositionelle Beobachter als Farce, auch weil sich formal nicht mal die Hälfte aller Wahlberechtigten daran beteiligen muss.
    Die offizielle Webseite zur Abstimmung listete nun die geplanten Änderungen auf – doch ausgerechnet der umstrittenste Punkt, die Nullsetzung der Amtszeiten Putins, fehlte zunächst. Wie kam es überhaupt zu diesem Vorstoß, fragt Michail Schewtschuk auf Republic. Er versucht, die Spuren so weit wie möglich nachzuzeichnen – und landet im „politischen Offshore“.

    Zweifellos eine seltsame Entscheidung: Ausgerechnet die Reform, Wladimir Putins Amtszeiten auf Null zu setzen, fehlte in der Liste der Verfassungsänderungen auf der speziell dafür eingerichteten Webseite – dabei war es abzusehen, dass das Internetpublikum, das belesener und sensibler für politische Fragen ist, diesen Punkt als allererstes überprüfen würde. 

    Später, als die Aufregung schon groß war, wurde die Reform an entsprechender Stelle ergänzt, aber das Image war bereits ruiniert. Die wichtigste Neuerung, zu deren Kaschierung all die vielen anderen Punkte erdacht worden waren, versuchte man auf diese Weise de facto zu verstecken. Unklar warum, denn die Nullsetzung der Amtsjahre war ja weitreichend bekannt und keine Überraschung.

    Die wichtigste Änderung verschwiegen

    Formal wird die Reform nicht verheimlicht. Sie steht genauso im Gesetzentwurf wie die anderen Änderungen, und der ist jedem frei zugänglich. Hier gibt es also nichts zu beanstanden. Doch offensichtlich wurde in dem Aufruf zur Teilnahme an der landesweiten Abstimmung am 1. Juli ein Teil ausgelassen – jener Teil über das Recht des amtierenden Präsidenten nach seiner vierten Amtszeit nochmals zu kandidieren. Der fiel irgendwie raus. Die Organisatoren der Abstimmung versuchen die Menschen davon zu überzeugen, dass die Verfassungsänderung notwendig sei, um die russische Sprache zu bewahren und zu verhindern, dass homosexuelle Paare Kinder adoptieren, aber die wichtigste Änderung – nämlich der Machterhalt Wladimir Putins – wird verschwiegen.

    Der Grund für diese Zurückhaltung leuchtet nicht gleich ein. Der Skeptiker wird sagen, das sei ganz einfach: Der Präsident wolle das Volk nicht verärgern, weil seine Umfragewerte fallen und die negative Stimmung durch die Quarantäne-Maßnahmen steigt; die Russen seien enttäuscht von Putin und könnten ihm die Zustimmung verweigern, Staatsoberhaupt zu bleiben. 

    Nimmt man allerdings die Position eines loyalen Bürgers ein, ist man ratlos.

    Wer, wenn nicht Putin?

    Die bedingungslose Unterstützung der Massen für den Präsidenten  und seine faktische Alternativlosigkeit sind ja nach wie vor die Kernthesen der offiziellen Propaganda. Gerade erst haben die Regierung und regierungsnahe Strukturen gegen Bloomberg gehetzt, einfach nur, weil die Agentur erwähnte, dass das Vertrauen in Putin laut Umfragen sinkt. Wir in Russland haben bekanntlich unsere eigenen Umfragen und denen zufolge ist die Haltung zum Staatsoberhaupt so unerschütterlich wie eh und je. 

    Die Opposition ist es schon gewohnt, dass man sie belügt, doch jetzt werden scheinbar auch  die Anhänger belogen. 

    Wer, wenn nicht Putin? Der Versuch, die Nullsetzung der Amtsjahre zu verschweigen, widerspricht der grundlegenden Maxime: „Russland nur mit Putin, ohne Putin kein Russland.“ Und wer könnte schon dagegen sein, dass Russland viele Jahre fortbesteht? Könnte der Vorschlag einer ewigen Regierung Putins denn überhaupt missfallen? Und  zwar dermaßen missfallen, dass das Volk auf all die wunderbaren Sozialreformen gleich mit verzichten würde?

    Wir alle wissen noch, wie die Debatte um die Verfassungsänderungen begann. Noch letztes Jahr, als Putin erstmals von Reformen sprach und erwähnte, man könne das Wörtchen „in Folge“ bezüglich der Präsidentschaft aus der Verfassung streichen, ging gleich die Diskussion los, wie man Putin im Amt behalten könne. Es begann mit anonymen Vorschlägen, in Russland den Titel des „Obersten Herrschers“ einzuführen, und ging in bester Propaganda-Tradition mit Auftritten von Veteranen und Näherinnen aus Iwanowo weiter – der Präsident musste sogar selbst öffentlich klarstellen, nein, er habe keinerlei Verlängerung seiner Befugnisse im Sinn.

    Filmreife Inszenierung

    Dieser Punkt der Verfassungsänderung wurde erst  im allerletzten Augenblick hinzugefügt: Während der Debatte in der Duma, wo eigens dafür eine filmreife Aufführung mit Valentina Tereschkowa in der Hauptrolle gegeben wurde. Tereschkowa verwies auf gewisse Briefe, mit denen sie die Wähler überhäuft hätten.

    Die Verschleierung der Nullsetzung begann lange vor der Corona-Epidemie. Bei jedem der ersten Schritte hätte der Kreml problemlos die Gesuche des Volkes öffentlich annehmen können. Es hätten tausende persönliche wie kollektive Briefe und Appelle publiziert, wenn nötig auch eine politische Bewegung initiiert werden können. 

    Der Kreml hat bereits mit der Erschaffung der Gesamtrussischen Volksfront bewiesen, dass er im Handumdrehen eine Massenbegeisterung herstellen kann, woran auch die schlimmste sozioökonomische Lage nichts geändert hätte. So wie Putins Wiedereinzug in den Kreml 2012 von unzähligen Reflexionen über einen „Putin 2.0“ begleitet worden war, hätte auch jetzt ein noch viel besserer „Putin 3.0“ auftauchen können. Aber das alles blieb aus.

    Russlands Drehbuch ist wie immer einmalig. Der Präsident wollte, dass die Initiative weder von der Regierung noch vom Volk ausgeht, stattdessen erschuf er einen Ausgangspunkt dazwischen. Die offen verlautbarten Einladungen an Putin, im Amt zu bleiben, wurden öffentlich ignoriert – dafür wurden die anonymen und zweifelhaften „Briefe Tereschkowas“ mit Aufmerksamkeit belohnt. So geht die Initiative scheinbar vom Volk aus, allerdings von einem gesichtslosen, verborgenen, „tiefen“ Volk, das sich weder auffinden noch befragen lässt. 

    ,Politisches Offshore’ – ein geheimnisumwobener Ort, an dem sich alle Spuren verlieren

    2012 hatte Putin die Macht aus den Händen von Dimitri Medwedew übernommen und später womöglich bereut, dass er Medwedew aus Pflicht in seinem nächsten Umfeld halten musste. Nun verbirgt der Präsident den Ursprung der Forderung nach seinem Machterhalt, vermutlich aus demselben Grund, aus dem Großunternehmen es vorziehen, ihre Firmen in Offshores zu registrieren. „Tereschkowas Briefe“ sind eine Art „politisches Offshore“ – ein geheimnisumwobener Ort, an dem sich alle Spuren verlieren. Diese Auslagerung der Macht in ein Offshore gilt es derzeit durch beharrliches Schweigen zu kaschieren.

    Womöglich ist das bloß die Angewohnheit eines alten Spions, alles so einzufädeln, dass sich die Entscheidungskette nicht mehr nachverfolgen lässt und sich bloß ihr letztes Glied schonungslos offenbart. Der Präsident möchte weder den Eliten noch dem Volk etwas schuldig sein – und Verpflichtungen entstünden jedoch unweigerlich aus einer öffentlichen Reaktion auf konkrete Gesuche. 

    2024, wenn Wladimir Putin erneut kandidieren wird, werden sich so einige Leute wundern, vielleicht auch jene, die für bare Münze nahmen, wie für die Verfassungsreform agitiert wurde, ohne sich in die Details zu vertiefen. Eine Antwort auf die Frage „Wie konnte es dazu kommen?“ wird es dann nicht geben. Es wird nicht einmal jemanden geben, der diese Frage stellt. Putin wird sich abermals wie von selbst im Präsidentensessel materialisieren und wieder einmal die geheimnisvolle, ja magische Natur der russischen Macht demonstrieren. Der Ursprung dieser Macht wird dann irgendwo jenseits der Eliten, jenseits des Volks, ja sogar jenseits von Putin liegen – sorgfältig verborgen in einem Offshore.

    Weitere Themen

    Bystro #7: Putin Forever? Wie stabil ist das System?

    Bystro #12: Was plant Putin?

    Verfassungsstreich im Eiltempo

    Debattenschau № 80: Putin forever?

    Die Worte des Präsidenten

    Tiefer Riss in Zahlen

  • Corona-Wörterbuch

    Corona-Wörterbuch

    Sprache schafft Welt. Sie reagiert aber auch auf das, was in der Welt passiert, gewöhnliche Wörter ändern ihre Bedeutung, neue Wörter entstehen.
    Oder: Über das Lustige im Schlimmen. Ein Corona-Wörterbuch von Republic (in Auszügen).

    „Die Sprache ist das Haus des Seins“, sagte einmal ein deutscher Denker mit nicht lupenreinem Lebenslauf. Und ungeachtet dieses nicht lupenreinen Lebenslaufs hatte er damit ganz sicher recht. Unsere Welt lebt in Sprache – wir sehen nicht die Welt, wir sehen die Welt, wie sie sich in Sprache widerspiegelt. Die Sprache ist lebendig, sie reagiert auf das, was in der Welt passiert, gewöhnliche Wörter ändern ihre Bedeutung, neue Wörter entstehen. 

    Das Lustige im Schlimmen

    Beobachtet man das, versteht man erstens ein bisschen mehr von dem, was um einen herum passiert. Zumindest gibt es diese Illusion – und die Illusion von Kontrolle ist an Wichtigkeit nicht zu unterschätzen: Sie kann zerrüttete Nerven beruhigen.
    Und zweitens ist es durchaus unterhaltsam. Klar, es ist nicht zum Lachen, was hier gerade mit uns passiert. Das vergessen wir auch nicht, aber ein bisschen zu lachen ist doch keine Sünde. Es ist sogar gesund, im Schlimmen das Lustige zu sehen.

    Die Sprache schafft neue Mythen, die Mythen verstecken sich hinter den Wörtern, von denen einige wichtig sind für den Staat (offiziell, kurz: offiz.), andere entstehen ohne staatliche Beteiligung (Volksmund, kurz: volksm.). Wir werden das jeweils kennzeichnen.


    Abstimmung über die Verfassungs­änderungen (offiz.): Ist das Wichtigste, was für jeden ehrlichen russischen Bürger direkt nach dem Sieg über die Pandemie ansteht. In vielerlei Hinsicht ist die heutige Not der Russen gerade damit verbunden, dass die Russen es nicht rechtzeitig geschafft haben, über die Verfassungs­änderungen abzustimmen. Die Abstimmung wird das Land in Zukunft vor allen erdenklichen Viren schützen, den Feind daran hindern, unsere Geschichte umzuschreiben, die russische Sprache retten, die traditionelle Ehe, das historische Gedächtnis und die schlimmste unerträglichste Katastrophe verhindern: Nach der Abstimmung wird der beste Freund aller Sportler, der Schrecken aller polnischen Revisionisten, der Verfolger amerikanischer Hardliner, der große Historiker, Denker, Stratege und kurz vor der Ziellinie stehende Sieger über den Coronavirus Putin, Wladimir Russland nicht einfach seinem Schicksal und der Willkür überlassen können, selbst wenn er wollte. Und er will das ja gar nicht.

    Arbeitsfreie Wochen (offiz.): Glückliche Zeit, in der die Russen (s. Schaschlitsch­niki) nichts machen und die unverdiente Erholung genießen, Putins Fernseh­ansprache an die Nation anschauen, sich an seinem Heroismus und seiner Weisheit erfreuen und sich auch auf die Abstimmung über die Verfassungs­änderungen vorbereiten (s. Putin, Wladimir; Abstimmung über die Verfassungs­änderungen).

    Buchweizen (volksm.): Universeller Marker, anhand dessen abzulesen ist, dass das Land in Not ist, da die Russen (s. Schaschlitschniki) beim Herannahen schwerer Zeiten als erstes anfangen, in riesigen Mengen Buchweizen zu kaufen, auch wenn sie dieses Getreide bislang nicht konsumiert haben. 

    Bunker (volksm.): Gebräuchliche Bezeichnung für den Aufenthaltsort des moralischen Leaders der Nation (s. Putin, Wladimir).

    Gates, Bill (volksm.): Ein heimtückischer Amerikaner, der sich eine weltum­spannende Mikrochip­implantation ausgedacht hat, unter dem Deckmäntelchen einer Impfung gegen den neuen Virus. Seine Ziele sind unklar, aber widerwärtig (s. Gref, German).

    Geld (offiz.): Bedingungsloses Staatseigentum. Darf nicht an die Bevölkerung (s. Schaschlitschniki) verteilt werden – in welcher Form auch immer. Das Verteilen von Geld kann Menschen, die arbeitsfreie Wochen genießen, pervertieren (s. arbeitsfreie Wochen). „Die verfressen das Geld einfach“, wie Xenia Sobtschak richtig feststellte.

    Gref, German: Helfershelfer von Bill Gates in Russland (s. Gates, Bill).

    Hilfspaket (offiz.): Ephemere Substanz, von der den ignoranten Russen (s. Schaschlitschniki) erzählt wird, um direkte Finanzhilfen zu ersetzen (s. Geld).

    Hund (volksm.): Mittel zur legalen Fortbewegung in der Stadt während der Selbstisolation (s. Selbstisolation); kann unter glücklichen Umständen den Sobjauswais (s. Sobjauswais) ersetzen; bellt lustig, macht Dummheiten, versüßt das Leben ein wenig. 

    Impfung
    1. (offiz.): Erinnert an den Ausdruck „Wladimir Putin verpflichtet Schulen, den Schülern Patriotismus einzuimpfen“ (s. Putin, Wladimir; Bunker).
    2. (volksm.): Ein Mittel, durch das Agenten der Weltregierung der Bevölkerung Mikrochips implantieren. Deren Absichten sind unklar, jedoch abscheulich (s. Gates, Bill; Gref, German).

    Ingwer (volksm.): Gerüchten aus den ersten arbeitsfreien Wochen zufolge ein Lebensmittel mit Wundereigenschaften. Schützt demnach vor Coronavirus und Chip-Impfungen. War einige Zeit lang ein größeres Defizit als Buchweizen, verlor jedoch später an Wert (s. arbeitsfreie Wochen; Buchweizen). 

    Lukaschenko, Alexander (offiz.): Mutiger Präsident eines Nachbarstaates, spuckt dem Coronavirus ins Gesicht, ungeachtet dessen, dass der Coronavirus gar kein Gesicht hat. Außerdem Autor feuriger Reden und unwiderstehlicher Aphorismen. Virologe ersten Ranges (s. Virologe), der neue Therapien gegen Covid-19 entwickelt hat, darunter Wodka, Banja, Feldarbeit und Fahrradfahren. Hat eine Parade abgehalten (s. Parade).

    Maske (offiz.): Wichtigstes Modeaccessoir. Schützt vor Strafe (s. Strafe), aber nicht immer. Bei Masken- und Handschuhpflicht ohne Handschuhe nutzlos.

    Moskauer (volksm.): Infektionsquelle. Moskauer – ab mit euch in die Quarantäne (s. Quarantäne)!

    Parade (volksm., hurra-patriot.): Größte Leistung von Alexander Lukaschenko (s. Lukaschenko, Alexander) im Kampf gegen den Coronavirus. Nach Aussage Lukaschenkos sind Lungenerkrankungen in der Republik Belarus nach Durchführung der Parade deutlich zurückgegangen.

    Peskow, Dimitri (offiz.): Hervorragender Staatsmann, Pressesprecher des moralischen Leaders der Nation (s. Putin, Wladimir; Bunker). Trug als erster öffentlich ein Amulett zur Abschreckung des Coronavirus. Wurde Opfer einer Hetzkampagne liberaler Journalisten, woraufhin er das Amulett ablegte und erkrankte. Gute Besserung, Dimitri Peskow!

    (Für alle Fälle – und hierin liegt keinerlei Ironie! Mögen alle Erkrankten schnell genesen, ganz gleich, was wir derzeit über ihre vielfältigen Verdienste denken.)

    Putin, Wladimir
    1. (offiz.): Moralischer Leader der Nation. Er hat den Kampf gegen die Pandemie bereits vor ihrem Ausbruch unter Kontrolle gebracht; ist der beste Freund aller Sportler, der Schrecken aller polnischen Revisionisten, der Verfolger amerikanischer Hardliner, das Grauen der tschechischen Revanchisten, der große Historiker, Denker, Stratege. Autor und Interpret herzbewegender Reden, die den Russen halfen, durch Schwermut und Verzagtheit während der arbeitsfreien Wochen zu kommen und sich auf die Abstimmung über die Verfassungs­änderungen vorzubereiten (s. arbeitsfreie Wochen; Abstimmung über die Verfassungs­änderungen). Sieger über den Coronavirus kurz vor der Ziellinie.
    2. (volksm.): Älterer Herr aus der Risikogruppe, der sich im Bunker versteckt. Hat die Videotelefonie für sich entdeckt, woraufhin er ermüdende Erzählungen über die eigenen Errungenschaften verbreitete; irrlichtert in seinen Aussagen, erinnert sich, wie er die Petschenegen, Polowzer und Spartaner besiegt hat; will kein Geld geben (s. Geld).

    Quarantäne (offiz.): Quarantäne gibt es in Russland nicht! Arbeitsfreie Wochen gibt es (s. arbeitsfreie Wochen).

    Selbstisolation (offiz.): Völlig freiwilliges Zuhausebleiben während der arbeitsfreien Wochen (s. arbeitsfreie Wochen). Verstöße gegen die völlig freiwillige Selbstisolation werden mit Strafen geahndet (s. Strafe; Quarantäne).

    Schaschlik (offiz.): Objekt religiöser Verehrung der Schaschlitsch­niki (s. Schaschlitschniki). Beobachtungen von Beamten aus der Moskauer Stadtverwaltung zufolge grillen die Schaschlitschniki besonders aktiv, wenn es draußen kalt ist, Regen oder Schneeregen herrscht.

    Schaschlitschniki (offiz.): Ignorante Russen, die ihre arbeitsfreien Wochen nicht genießen können (s. arbeitsfreie Wochen), den Sinn der weisen Reden des moralischen Leaders der Nation (s. Putin, Wladimir) nicht verstehen und die Gebote der Selbstisolation (s. Selbstisolation) missachten. Breiter gefasst: die gesamte Bevölkerung der Russischen Föderation, denn gerade die Bevölkerung stört durch ihre bloße Existenz die Staatsmacht beim Besiegen der Pandemie (s. Schaschlik).

    Sobjanin, Sergej
    1. (offiz.): Hervorragender Staatsmann, Bürgermeister von Moskau, Berater Putins (s. Putin, Wladimir) im Kampf gegen die Corona-Pandemie. Verfasser weiser Beschränkungen, welche die Sorge der Staatsmacht für ihr Volk (s. Schaschlitschnniki) demonstrieren.
    2. (volksm.): Erbauer eines digitalen KZs in Moskau; Urheber unerklärlicher Verbote, Schirmherr des Polizeistaates; Erfinder des Sobjauswaises (s. Sobjauswais); Mensch, der Putin auf den zweiten Platz gerückt hat (s. Putin, Wladimir).

    Sobjauswais (volksm.): Erlaubnis, die Moskauer von Sobjanin erhalten müssen, um öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen oder zur Arbeit zu fahren; Symbol uneingeschränkter Macht über den Moskauer (s. Moskauer; Sobjanin, Sergej; Hund).

    Strafe (offiz.): Hauptsäule der neuen russischen Wirtschaft; Tätigkeit, die ein Abpressen von Geld aus der Bevölkerung (s. Schaschlitschniki) ermöglicht – während der Ölpreis signifikant sinkt.

    Statistik (offiz.): Zahlen, die beweisen, dass sich in Russland selbst das Coronavirus dem moralischen Leader der Nation unterordnet und versteht, wie wichtig die Abstimmung über die Verfassungs­änderungen ist (s. Putin, Wladimir; Bunker; Abstimmung über die Verfassungs­änderungen).

    Virologe (volksm.): Der häufigste Beruf unter den Nutzern Sozialer Netzwerke. Eine spezielle Ausbildung ist nicht vonnöten. Kenntnisse in russischer Rechtschreibung und Grammatik sind nicht vonnöten. Der Beruf als Virologe ermöglicht kategorische Aussagen über die Gefährlichkeit des Virus, den Verlauf der Epidemie, die richtigen Methoden der Bekämpfung und die Zuverlässigkeit offizieller Statistiken. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es in Russland sogar mehr Virologen als Politikexperten und weitaus mehr Virologen als Menschen, die wissen, wie man die Nationalelf richtig trainiert.

    Wolken (offiz.): Erfüllen in Moskau die Rolle der Opposition. Da man in Moskau keine Opposition auseinandertreiben kann, da es sie nicht gibt, werden die Wolken auseinandergetrieben. Wolken auseinanderzutreiben ist einfacher und lohnt sich mehr.  

    Zoom (volksm.): Programm, mit dem Russen in der Selbstisolation (s. Schaschlitschniki; Selbstisolation) ihr Bildungslevel steigern und wichtige Zusammenkünfte abhalten. So zumindest stellt es sich in Legenden dar, die die Russen einander beim gemeinsamen Genuss alkoholischer Getränke per Zoom erzählen.

    Zweite Welle (offiz.): Ein neuer Angriff des Virus, vor dem der moralische Leader der Nation die Russen aufrichtig gewarnt hat. Doch selbst der Virus versteht die politische Dimension der Situation, darum wird zwischen der ersten und der zweiten Welle eine Pause gemacht, um die Abstimmung über die Verfassungs­änderungen abzuhalten (s. Abstimmung über die Verfassungs­änderungen; Putin, Wladimir; Bunker). 

     

    Weitere Themen

    [bánja]: Eine Reise in die Nebelwelten des russischen Schwitzbades

    Sergej Sobjanin

    Corona: „Die Rettung ist Sache der Ertrinkenden“

    Russland – coronaresistent?

    Wo ist Superman Putin?

    Corona-Kreuzzug in der Kirche

    Datenleaks: Hetzjagd auf Corona-Patienten

    Märtyrer der Wahrheit

  • Unbetreutes Gedenken

    Unbetreutes Gedenken

    Den 75. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland mussten die meisten Russen im Stillen begehen: Die große Parade in Moskau am 9. Mai war wegen der Corona-Ausgangssperren abgesagt, die landesweit gezündeten Feuerwerke konnten die meisten Menschen nur aus dem Fenster sehen.  

    Das stille Feiern im Privaten steht im krassen Kontrast zu den sorgsam orchestrierten Massenveranstaltungen der vergangenen Jahre, die den Tag des Sieges eigentlich begleiten. Dieser Tag ist der wichtigste Nationalfeiertag Russlands und gilt immer mehr als der zentrale Baustein der offiziellen Geschichtspolitik. 

    Auf Republic fragt Andrej Archangelski, was es für die Erinnerungskultur Russlands bedeutet und was man aus der Stille des 9. Mai 2020 heraushören kann.

    Sozialarbeiter gratulieren Weltkriegsveteran Alexander Primak auf seinem Balkon zum 75. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland / Foto ©  Alexandr Kryazhev/Sputnik
    Sozialarbeiter gratulieren Weltkriegsveteran Alexander Primak auf seinem Balkon zum 75. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland / Foto © Alexandr Kryazhev/Sputnik

    Entspricht die derzeitige Stille nicht auf merkwürdige Art dem Wichtigsten an diesem Tag des Sieges, der Erinnerungsarbeit?

    Was hörst du, wenn du den Kriegserinnerungen allein gegenüberstehst, wenn dir niemand vorsagt, was du zu tun hast? Im Grunde stehen wir schon lange in diesem Sinne allein da – seit dem Tod unserer Vorfahren. 

    Erinnerungen aus zweiter Hand

    Die Erinnerungen von uns, den Enkeln derer, die gekämpft haben, ist in vielem eine Erinnerung aus zweiter Hand, es sind Film- und Fernseherinnerungen. Der Philosoph Vitali Kurennoi nennt das, was uns heute umgibt, all diese Kopien von Helmen, Feldgeschirr und Zeltponchos, eine „Touristenkultur“.

    Anfangs war da ein gewisses „Sortiment a là Arbat” – mit Matrjoschkas und Wodkaflaschen in Form von Kalaschnikows, die in den 1980er und 1990er Jahren den Touristen zum Kauf vorbehalten waren. Erst in den 2000er Jahren wurden sie Teil unserer Kultur. 

    Das was wir anfangs anderen als unsere Identität verkauft haben, haben wir uns erst später zugelegt. Diese Touristenkultur strotzt vor Plattheit und Geschmacklosigkeit. Doch sie bedeutet, dass wir zu diesem Krieg kein eigenes Verhältnis mehr haben, sondern mit der Distanz von Touristen daraufschauen.

    Wir leben nicht mehr „im Krieg” wie unsere Vorfahren, sondern außerhalb. All dieser Siegeswahn bedeutet einzig Folgendes: Je frenetischer die Rufe über die Großväter, desto offensichtlicher verlassen und verdrängen unsere Zeitgenossen die wahren Kriegserlebnisse.

    Wer die Vergangenheit zensiert, schafft im Endeffekt ganze Keller von verdrängten Erinnerungen

    Andererseits ist unsere Vorstellung vom Krieg heute ungleich vollständiger als die der drei vorangegangenen Generationen zusammen. Wer will, kann heute selbstverständlich ein Bild vom Krieg „ohne Stalin“ sehen – also ohne Propagandahülsen, die die Menschen jahrzehntelang vor gefährlichen Fragen bewahrt haben. Es scheint, das widerspricht dem gesunden Menschenverstand: Je weiter der Krieg zurückliegt, je weniger Zeitzeugen es gibt, desto weniger Wissen. Aber nein. Hier ist das Paradox des totalitären Regimes: Wer die Vergangenheit zensiert (mit den Worten: „Es ist noch nicht an der Zeit“), der schafft im Endeffekt ganze Keller und Lagerstätten voll von verdrängten Erinnerungen – die heute unter dem eigenen Gewicht zusammenbrechen. Und sogar die teilweise Veröffentlichung von Unterlagen über den Krieg verändert unsere Vorstellung grundlegend. 

    Das fängt beim Einfachsten an – bei der Sprache, mit der über den Krieg gesprochen wird. Damals in den 1980er Jahren, als die Veteranen in die Schule kamen, war man erstaunt, wie sie über den Krieg sprachen: als hätte man ihnen fremde Worte in den Mund gelegt. Diese offizielle Kriegs-Sprache, der auch heute reproduzierte „Kanon“, gekünstelt und aufgeblasen, wurde in den frühen 1970er Jahren erfunden. Doch warum haben sich die Veteranen selbst damals mit dieser Verfälschung arrangiert, warum haben sie sich bereit erklärt, auf diese Weise darüber zu sprechen? 

    Wahrscheinlich waren die Erfahrungen aus dem Krieg in keiner Sprache ausdrückbar

    Der Soziologe Boris Dubin glaubte, dass in den 1970er Jahren eine Art stillschweigende Übereinkunft zwischen den Veteranen und dem Staat getroffen wurde: Die Veteranen gaben freiwillig die allzu persönlichen Erinnerungen auf – und bekamen im Gegenzug gesellschaftliche Anerkennung und staatliche Zuwendungen (gerade damals hat man nämlich angefangen, Veteranen auf staatlicher Ebene zu ehren). Wahrscheinlich jedoch waren die Erfahrungen, die sie im Krieg gemacht haben, in keiner der verfügbaren menschlichen Sprachen ausdrückbar: Es war viel bequemer für die Psyche, sich hinter den staatlich vorgegebenen Worthülsen zu verstecken.

    Persönliches, digitales Gedenken

    Es schien, uns könnte nichts die authentischen Erfahrungen und Überlieferungen zurückbringen – doch es geschah ein Wunder: Immer noch tauchen bislang unbekannte Memoiren auf. 

    So wird die Erinnerung an den Krieg ständig genauer, gleichsam von innen heraus. Die tragische Dimension des Sprechens über den Krieg kehrt trotz Zensur zurück. Und schließlich können wir dank elektronischer Ressourcen (OBD-Memorial und Podwig Naroda) Unglaubliches tun: Die Schicksale von fast allen nachvollziehen, die gekämpft haben, gestorben sind oder gefangen genommen wurden. Wie erstaunlich es doch ist: Nach 60 bis 70 Jahren war es gerade die seelenlose digitale Welt, die es schaffte, das Bild des Krieges minutiös wiederherzustellen – nicht im metaphorischen Sinne, sondern buchstäblich. So wird der Krieg des 20. Jahrhunderts dank der Erfindung des 21. allmählich zu einer privaten, persönlichen Angelegenheit eines jeden.

    Aber wie man den Tag des Sieges unter den neuen Umständen begehen soll, versteht nach wie vor niemand. Jeder Versuch von Graswurzel-Initiativen schafft neue Monster, in Form skurriler Slogans oder Fotos wie in den vergangenen Jahren oder in Form von „Georgs-Masken“ in diesem Jahr. Natürlich sind das Geschmacklosigkeiten, aber sie sind auch eine Folge der unterdrückten persönlichen Verantwortung der Bürger. Wenn der Staat den Menschen wenigstens bei den Feiertagen vertrauen und nicht nach Kontrolle der Emotionen streben würde, dann müsste niemand quälend nach einer Antwort suchen auf die Frage, wie man das Fest in Zeiten der Pandemie begehen soll.

    Im Grunde eine gute Idee – aber warum wirkt sie so erzwungen?

    Die Organisatoren des Unsterblichen Regiments haben in diesem Jahr vorgeschlagen, nach einer landesweiten Schweigeminute am 9. Mai um 19 Uhr mit Porträts der Veteranen auf die Balkone zu treten und Den Pobedy (dt. Tag des Sieges) anzustimmen. Im Grunde eine gute Idee – aber warum wirkt sie so erzwungen? Es ist eine Nachahmung der neuen europäischen Tradition des Balkonklatschens, um Ärzte und das Leben selbst zu loben. Doch dieses Ritual lebt von seiner Spontaneität, vom persönlichen Elan der Menschen. Und wenn selbst das Repertoire vorab vereinbart ist, wenn alle dasselbe singen müssen (wieder im Chor!), dann nimmt das jeder Aktion die Aufrichtigkeit und Natürlichkeit. 

    Wie nun können wir den Geist des Festes während der Pandemie wahren? Dafür muss man, so seltsam das klingen mag, Gemeinsamkeiten finden – zwischen dem Sieg von 1945 und der Erfahrung unserer Tage. Der Philosoph Alain Badiou schreibt von einer eigenartigen Doppelnatur der französischen Résistance: Es war ein Kampf gegen die Nazis, aber gleichzeitig auch ein Kampf darum, „man selbst, ein Mensch zu bleiben“. So klingt heute auch die Antwort auf die Frage, wofür unsere Soldaten gekämpft haben, zusammen mit den amerikanischen, britischen, französischen, polnischen, kanadischen, neuseeländischen und anderen Waffenbrüdern: Für eine Welt der Zukunft, eine Welt der Moderne – gegen die Finsternis, gegen die dunklen Geister.

    Mensch bleiben

    Das Wesen der heutigen Selbstisolation liegt komischerweise genau darin: Wir wollen nicht bloß das „Unheil überleben“, sondern Mensch bleiben, an die Zukunft glauben und nicht an Michalkows Märchen. Die Antwort auf die Frage, wie Fest und Pandemie zusammen gehen, ist einfach: Es soll ein Ehrentag der Menschlichkeit sein, des Sieges über die Umstände, der Bereitschaft „noch zwei Wochen durchzuhalten“ für das Allgemeinwohl (was für unsere Leute, wie sich zeigt, unerträglich ist). Doch für einen solchen gedanklichen Sprung braucht es vor allem freies Denken und nicht blinde Treue gegenüber dem Ritual. Man sollte meinen, die Pandemie hätte uns vieles lehren müssen, doch selbst sie ist anscheinend nicht imstande, uns zu verändern. 

    Weitere Themen

    Disneyland für Patrioten

    Sturm auf den Reichstag

    „Weißt du, da war Krieg“

    Geschichte als Rummelplatz

    Sprache und das Trauma der Befreiung

  • „Ostarbeitery“ – Warum wir uns erinnern müssen

    „Ostarbeitery“ – Warum wir uns erinnern müssen

    Das Schicksal der sogenannten „Ostarbeiter“ ist auch in Russland kaum bekannt. Rund drei Millionen sowjetische Zivilisten waren während des Zweiten Weltkriegs als sogenannte „Ostarbeiter“ zur Zwangsarbeit im Deutschen Reich eingesetzt. Darunter auch viele Frauen und Jugendliche. Nach dem Krieg stellte die Sowjetregierung sie unter pauschalen Verratsverdacht, einige kamen in Lager nach Sibirien. Ihr Schicksal blieb auch nach ihrer Rückkehr ein Stigma und Tabu. Trotz langsamer Aufarbeitung – vor allem durch die Menschenrechtsorganisation Memorial – wissen heute oft nicht mal die Enkel und Urenkel davon, schreibt Iwan Dawydow in seinem Text auf Republic. Dabei braucht Russland diese Erinnerung, meint Dawydow, um vom verlogenen Kitsch im offiziellen Kriegsgedenken wegzukommen. 

    Eine Minderheit ging freiwillig, die Mehrheit wurde zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt / Foto © Bundesarchiv, Bild 183-B25444 / CC-BY-SA 3.0
    Eine Minderheit ging freiwillig, die Mehrheit wurde zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt / Foto © Bundesarchiv, Bild 183-B25444 / CC-BY-SA 3.0

    Es ist, als hätte es sie nie gegeben. Dabei ist das, was ihnen geschehen ist, im Schuldspruch der Nürnberger Prozesse zusammen mit den anderen Nazi-Verbrechen genannt. Mehrere Millionen Menschen wurden aus der offiziellen Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges einfach gestrichen. In ihrer Heimat betrachtete man sie nicht als Opfer: Einige kamen nach der Befreiung in [sowjetische – dek] Lager, manche kamen dort um, anderen wurde verboten, in den Großstädten zu leben und die Möglichkeit geraubt, eine angemessene Arbeit auszuüben. Sie lebten mit einem Gefühl der Schuld vor dem sowjetischen Staat, verbrannten Briefe und Postkarten, erzählten nicht einmal Freunden und Familie von dem, was sie im Krieg erlebt hatten.

    Ein Gefühl der Schuld vor dem Staat

    Ende der 1980er erinnerte man sich kurz an sie, als in Deutschland Entschädigungszahlungen diskutiert wurden, dann hat man sie wieder vergessen. Auf das Abstellgleis der Geschichte gedrängt, um ihre letzten Jahre zu fristen – ohne Hilfen, mit einem unveränderten Schuldgefühl. Kein Enkel oder Urenkel geht mit ihren Portraits zum Marsch des Unsterblichen Regiments. Oft wissen die Enkel und Urenkel nicht einmal etwas von dem tragischen Schicksal ihrer Großeltern.

    Unter den unzähligen Büchern über den Krieg, die in der Sowjetunion erschienen sind, findet sich eins (eins!), das ihrem Schicksal gewidmet ist und wie durch ein Wunder durch die Zensur der ruhigen 1970er gekommen ist: Vitalij Sjomins Roman Zum Unterschied ein Zeichen

    Nicht einmal die Enkel wissen vom Schicksal ihrer Großeltern

    Einige (die Minderheit) waren freiwillig nach Deutschland gegangen: verwirrt, zermürbt, zunächst vom Kolchose-Paradies des Sowjetstaates, dann von der schnellen Zerschlagung der Roten Armee und der Besatzung [durch die Nazis – dek]. Sie hatten der Nazipropaganda geglaubt, auf ein besseres Leben gehofft. Andere (die überwältigende Mehrheit) waren einfach zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt worden, wie Sklaven, wie Vieh. 

    Sie passten weder in den sowjetischen noch in den derzeitigen russischen Kriegsmythos. Keine Siege, keine Heldentaten und obendrein Arbeit für den Feind.

    Das Erinnern begann mit einem Missverständnis

    2016 hat die Organisation Memorial den Sammelband Das Zeichen bleibt herausgegeben: Auszüge aus Erinnerungen, Interviews und Briefen der ehemaligen Ostarbeiter. Die Auflage betrug 1000 Exemplare – ein Sammlerstück. 1989 war nämlich einem Journalisten, als er über die Debatte in Deutschland um die Entschädigungszahlungen für ehemalige Ostarbeiter berichtete, eine ungenaue Formulierung unterlaufen. Und dadurch hatten die Überlebenden fälschlicherweise angenommen, Memorial sei jene Organisation, die für die Auszahlungen zuständig sein würde: Sie überhäuften das Moskauer Büro mit Berichten darüber, was sie erlebt hatten. 

    So begann die systematische Erforschung ihrer Geschichten, so gelang es auch, die lebendige Erinnerung an die Schicksale von Millionen Kriegsopfern zu bewahren, die keinen Platz im offiziellen Diskurs finden, an Menschen, derer am Tag des Sieges nicht gedacht wird und die man auch sonst zu vergessen versucht. Heute gibt es bekanntermaßen immer weniger Zeitzeugen, und es erscheinen immer weniger Bücher zu diesem Thema.

    Von 1942 und noch bis 1945 wurden massenhaft Menschen in Zügen nach Deutschland gebracht. Die meisten kamen in Zwangsarbeitslager, die an staatliche oder private Fabriken angegliedert waren. Das bedeutete zwölf Stunden Arbeit täglich, Hunger, brutale Strafen und die drohende Gefahr, beim nächsten Fehler vom Arbeitslager ins KZ zu kommen, sprich den sicheren Tod. Andere kamen als Halbsklaven auf Bauernhöfe oder als Bedienstete in die Häuser deutscher Bildungsbürger: Offiziere, Ingenieure oder gar Wissenschaftler.

    Zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt – auch zur Arbeit in den Haushalten deutscher Bildungsbürger / Foto © Bundesarchiv, Bild 183-2007-0618-500 / CC-BY-SA 3.0
    Zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt – auch zur Arbeit in den Haushalten deutscher Bildungsbürger / Foto © Bundesarchiv, Bild 183-2007-0618-500 / CC-BY-SA 3.0

    In den von Memorial veröffentlichten Erinnerungen gibt es auch seltene Beispiele eines menschlichen Umgangs zwischen den Ostarbeitern und ihren Herren, Geschichten von Freundschaft und sogar Liebe. Aber es überwiegen natürlich ganz andere Schicksale. 
    Die Begegnung mit Europa erschütterte unsere Landsleute: Sie sahen, dass das Leben auch anders sein konnte, dass die unmenschlichen Verhältnisse von Stalins Paradies alles andere als normal waren. Viele schickten ihren Verwandten Ansichtskarten von den Orten, in denen sie gelandet waren: hübsche einstöckige Reihenhäuser aus Backstein, ordentliche Kirchen. „Das hier, Schwesterchen, ist das Dorf, in dem ich jetzt wohne“, darin ist eine Verwunderung spürbar, aber auch ein naiver Stolz. Sie wunderten sich darüber, wie gut selbst die normalen Leute angezogen waren, wie viele verschiedene Lebensmittel es in den Geschäften gab.

    Am meisten wunderten sie sich darüber, dass diese gepflegten Leute aus den hübschen Häusern sie nicht als Menschen betrachteten

    Ja, ihnen war erlaubt, Briefe in die Heimat zu schreiben und sogar Päckchen zu erhalten. Ein paar Wohltaten sah die deutsche Ordnung auch für die Sklaven vor. 

    Aber noch mehr wunderten sie sich darüber, dass diese gepflegten Leute aus den hübschen Häusern sie nicht als Menschen betrachteten. Man suchte sie sich aus wie auf dem Sklavenmarkt und behandelte sie danach wie Nutzvieh. Das taten sogar die, die in ihren Bücherregalen russische Klassiker mit Goldeinband stehen hatten. Das nette, behagliche Europa konnte in den Russen, Ukrainern und Belarussen keine Brüder erkennen.

    Zerstörte Biographien, Jahrzehnte des Schweigens

    Sie fanden sich in dem neuen Alptraum zurecht, entwickelten Überlebensstrategien und überlebten. Dann kam die Befreiung. Filtrationslager, unendliche Loyalitäts- und Gesinnungs-Prüfungen, für viele folgten Deportation und Zwangsarbeit beim Wiederaufbau der Sowjetwirtschaft, für einige der Gulag. Feiste Prüfer von den Behörden, zerstörte Biografien, nicht zu tilgende Schuldgefühle, Jahrzehnte des Schweigens. Verbrannte Briefe und Ansichtskarten von hübschen deutschen Dörfchen.

    Die Heimat sah einen Feind in den eigenen Bürgern, die einige Jahre lang die Sklaven des Feindes gewesen waren.

    „Wissen Sie, es ist sehr schwer das aus seiner Psyche zu bekommen. Man hat mir eingebläut, ich wäre schuldig, und damit lebe ich bis heute. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich unschuldig bin, nein. An irgendetwas bin ich schuld. Also lebe ich mit dieser Schuld“, erzählte eine ehemalige Zwangsarbeiterin, die ein deutsches Lager überlebt hat, in einem Interview mit Memorial.

    In diesem Krieg sind alle Sieger auch Opfer

    Es ist sinnlos und peinlich darüber nachzudenken, ob das Leid der Ostarbeiter vergleichbar ist mit dem Leid der Soldaten im Krieg, der Menschen, die in den besetzten Gebieten geblieben sind oder sogar der Menschen, die im sowjetischen Hinterland gearbeitet und um ihr Überleben gekämpft haben. In diesem Krieg sind alle Sieger auch Opfer.

    Doch sogar heute, Jahrzehnte später, sind nicht alle Opfer gleich. Die einen werden für ihre Heldentaten geehrt (wobei die Heldentaten nicht selten erfunden und mit geschmacklosem Kitsch aus Propagandafilmen garniert werden, als gäbe es nicht genug echte Heldentaten), über die anderen schweigt man lieber.

    Dabei sind die Geschichten der Ostarbeiter ein ausgesprochen wichtiges Material, um eine richtige Vorstellung von jenem Krieg zu entwickeln. Der Krieg ist die Hölle, eine Wirklichkeit gewordene Hölle auf Erden, wo der Mensch oft nicht mehr über sich selbst bestimmt, wo Tod und Unfreiheit regieren. Die Lebensläufe der nach Deutschland verschleppten Menschen nach dem Krieg sind eine gute Möglichkeit zu verstehen, sich zu erinnern, den jungen und alten Sowjetnostalgikern einzuhämmern, was die Sowjetunion für ihre Bürger wirklich war. Es ist wichtig, sich an Menschen zu erinnern, die es verdienen, die die Not und das Elend des Kriegs überlebt haben – wenn auch an andere, als die offiziellen Mythenschreiber sie besingen, und anders als die Mythenschreiber es gern hätten. Sich an alle zu erinnern, ausnahmslos. Und endlich aufzuhören „die größte geopolitische Katastrophe“ zu beweinen. 

    Wir haben die Freiheit verteidigt. Zu schade, dass wir sie nicht für uns verteidigt haben

    Der Tag des Sieges gehört zu unseren positivsten Feiertagen, der Tag des Sieges ist wie Ostern. Nicht weil „wir“ es der Welt gezeigt hätten, weil „wir“ ganz Europa zerschmettert hätten – oder was steht da sonst noch auf dem Themenplan der Internet-Patrioten? Nein, weil wir damals gemeinsam mit dem Rest der Welt das größte Ungeheuer des 20. Jahrhunderts bezwungen haben, uns auf die Seite der Freiheit gestellt und diese Freiheit mit unvorstellbaren Opfern verteidigt haben. Zu schade nur, dass wir sie nicht für uns verteidigt haben, wie sich dann bald herausstellte. 

    Ein ehrliches Gespräch über den Krieg schmälert den Sieg nicht. Eben das tut der verlogene Kitsch, der das Grauen in ein Postkartenmotiv verwandelt und das Andenken an die Opfer beleidigt. Deswegen brauchen wir die Erinnerung an die Millionen Menschen, die nach Deutschland verschleppt wurden, die Erinnerung daran, was ihnen erst die intelligenten Europäer und später die gutherzigen Sowjetbeamten angetan haben. Wir brauchen sie heute. 

    Sie ist (um das Thema wieder aufzugreifen) eine gute Impfung gegen die Krankheit, die wir heute kennen als ein „Wir können das wiederholen“. 

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«
    (EVZ)

    Weitere Themen

    Erinnerungs-Entzündung

    „Weißt du, da war Krieg“

    Geschichte als Rummelplatz

    „Den Hass haben wir von den deutschen Soldaten gelernt“

    Frauen im Großen Vaterländischen Krieg

    Der Hitler-Stalin-Pakt

  • Tausche Freiheit gegen Gesundheit

    Tausche Freiheit gegen Gesundheit

    Wie stark darf der Staat im Fall einer Epidemie die Freiheitsrechte seiner Bürger einschränken? Diese Debatte wird derzeit auch in Deutschland geführt, allerdings unter anderen Vorzeichen als in Russland.
    Den Moskauern etwa ist es seit 30. März untersagt, das Haus zu verlassen – es sei denn, um zum Arzt, zur Apotheke, zur Müllentsorgung, zum nächstgelegenen Supermarkt oder mit ihren Hunden Gassi zu gehen (nicht weiter als 100 Meter). Um zu überprüfen, ob sich alle daran halten, wird auch Gesichtserkennung eingesetzt, die Bürger müssen vor jedem Gang nach draußen einen Antrag stellen: Sie erhalten daraufhin einen QR-Code, der bei Kontrollen vorzuzeigen ist. 

    Bislang scheint die rigide und sehr kurzfristig umgesetzte Ausgangssperre jedoch nicht die volle Wirkung zu entfalten: Moskau gilt als Epizentrum der Epidemie in Russland. Laut offiziellen Daten gibt es in Russland mehr als 47.000 bestätigte Corona-Fälle (Stand: 20.04.2020), mehr als die Hälfte (über 26.000 – Stand 20.04.2020) davon in Moskau. Gleichzeitig ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen, gerade auch in anderen Regionen des Landes.

    Wie stark also darf der Staat im Fall einer Epidemie die Freiheitsrechte seiner Bürger einschränken? Er muss sie einschränken, sagt Oleg Kaschin, und zerlegt die Frage dennoch gleichsam in viele Einzelteile: Was für ein Staat schränkt da gerade welche Rechte wie ein?
    In seinem Kommentar auf Republic warnt Kaschin davor, den russischen, den italienischen, den chinesischen und den amerikanischen Polizisten gleichzusetzen – auch, wenn sie vermeintlich alle das gleiche tun im Kampf gegen das Virus. 

    Corona hat Russland mit einem Schlag wieder zu einem Teil der Welt gemacht – und alle noch vor diesem Frühling existierenden Widersprüche sind, wenn auch nicht aufgelöst, so doch weit ins Abseits gerückt. Die abgedroschenen Parallelen zum Zweiten Weltkrieg sind passender denn je: So etwas gab es zuletzt 1941, als am 22. Juni unsere weltweit einzigartige Stalin-Diktatur sich binnen Stunden in einen von vielen europäischen Staaten verwandelte, die Hitlers Aggression zu spüren bekamen. 

    Der spezifische Irrsinn wird vom weltweiten Irrsinn verschlungen

    In Frankreich oder Polen hat es weder Kollektivierung noch den Gulag gegeben, doch der Krieg hat diesen Unterschied – wenn auch nur zeitweise – nivelliert. Der sowjetische Irrsinn wurde vom weltweiten Irrsinn verschlungen, und sogar die Männer mit den blauen Streifen an den Schirmmützen wurden, ohne sich dabei im Geringsten zu verändern, plötzlich Teil einer weltweiten Front im Kampf zwischen Gut und Böse. Die Hölle des Jahres 1937 wurde im Kontext der damaligen Welt beinahe erklärbar: Alle haben ja Frankreich oder Norwegen gesehen, wo man die potentiellen Verräter nicht rechtzeitig liquidiert hat, und was daraus wurde, als die Deutschen kamen. Das vaterländische Böse in Russland wurde auf einmal zum Teil des globalen Guten – und wen interessierte es da schon, dass es immer noch böse war?

    Plötzlich Teil einer weltweiten Front im Kampf zwischen Gut und Böse

    Man kann nicht einmal sagen, dass sich die Geschichte jetzt als Farce wiederholt: Sie wiederholt sich einfach. Russland ist wieder zurück in der Welt, die russische Quarantäne ist nichts weiter als ein Teil der globalen Quarantäne und der russische Polizeistaat nichts weiter als ein Teil der großen Polizei-Internationale. Jene Männer in Uniform, die Jesus Worobjow am Patriarchenteich jagen, haben sich im Vergleich zu ihrem Selbst von vorgestern überhaupt nicht verändert, und plötzlich hat die ganze Welt eine Vorstellung von ihnen, ohne dass es eine Übersetzung braucht. Der russische Polizist jagt einen Quarantäne-Sünder in Russland, in Amerika macht der amerikanische Cop genau dasselbe, in Italien der italienische, in Xinjiang der chinesische. Die Welt ist eins, obwohl man intuitiv ahnen könnte, dass zwischen dem chinesischen Aufseher und dem europäischen Polizeibeamten doch ein Unterschied besteht. Der Bürgermeister von London und sein Moskauer Kollege beschwören die Stadtbewohner mit den gleichen Worten, nicht mehr U-Bahn zu fahren – wie soll man denn da einen Unterschied zwischen den beiden Bürgermeistern bemerken?

    Weltweiter Tag des Opritschniks

    Alle exklusiven Merkmale des russischen Staates sind in den Schatten des globalen Quarantäne-Einerlei gerückt. Überall scheint der Tag des Opritschniks zu dräuen. Wie viel Angst hatten wir, dass Putin die Grenzen zumachen könnte – jetzt, wo sie zu sind, wirkt Russland im allgemeinen Vergleich ganz normal, und niemand vermag zu sagen, ob es die einstige Angst ist, die wahr geworden ist, oder nur Zufall. Auch auf den digitalen Gulag haben wir gewartet – die seltenen Berichte über die totalitäre Utopie in Xinjiang lasen sich wie eine Warnung vor einer möglichen russischen Zukunft und wie ein sich allmählich in die längst gewohnten Bilder von aufgelösten Demonstrationen und der Jagd auf Aktivisten hineindrängender Cyberpunk mit Überwachungskameras und Gesichtserkennungssystemen. Jetzt, wo die Cyberpolizei einen triumphalen Durchbruch erzielt, halten sie viel zu viele für ein witziges, interessantes Experiment. Haha, irgendein Witzbold hat’s geschafft einen QR-Code mit „shopa“ [dt. Arsch] als Adresse zu beantragen. 

    Digitaler Gulag

    Vielleicht begegnet uns auch bald wieder das „menschliche Ei“, das „einfach spazieren ging“, als die scharfsinnigen Aktivisten den schmalen Grat zwischen verbotenen Demonstrationen und erlaubten Spaziergängen ausloteten. Die etwas Älteren werden sich noch an die „Spaziergänge zum Bäcker“ und die „Dichter-Spaziergänge“ erinnern – und so dumm und trivial dieser karnevaleske Anfang der 2010er auch gewesen sein mag, sollte man sich eine entscheidende Tatsache bewusst machen: Im Gegensatz zu allen anderen geht die russische Tradition des Kampfs gegen Spaziergänge weit über die Coronavirus-Geschichte hinaus, und die Leute, die den Moskauern heute aus epidemiologischen Gründen verbieten, spazieren zu gehen, sind genau dieselben, die es ihnen gestern aus politischen Gründen verboten haben.

    Es wäre doch seltsam, würde man sich nicht klarmachen, dass dich gerade dieselben Leute einsperren, die auch ohne jedes Coronavirus liebend gerne alle einsperren würden

    Das soll natürlich nicht heißen, dass es jetzt der höchste Ausdruck von persönlicher Freiheit wäre, die Quarantäne-Vorschriften zu missachten und massenhaft auf die Straße zu gehen. Doch es wäre seltsam, würde man sich nicht klarmachen, dass dich gerade dieselben Leute einsperren, die auch ohne jedes Coronavirus liebend gerne alle einsperren würden. 
    Ein Teil der russischen Gesellschaft wartet seit gefühlt 20 Jahren auf einen Angriff des Regimes auf die bürgerlichen Freiheiten. Doch dass die größte Freiheitsberaubung seit den frühen Sowjetjahren so routiniert, so alltäglich ablaufen würde, nicht nur ohne auf Protest zu stoßen, sondern auch noch begleitet von Beifall, sogar vonseiten der Regimekritiker, das hätte kaum jemand gedacht. Auch nicht, dass das öffentliche Brandmarken der Sünder, seien es Grillbegeisterte oder Gläubige, zum ersten Mal seit Jahrzehnten buchstäblich zur Volkssache wird. Auch die Staatsentertainer sind am Werk, doch erstmals werden ihre Dienste gar nicht gebraucht – die Menschen werden liebend gerne selbst auf jeden mit dem Finger zeigen, der ohne Erlaubnis das Haus verlässt, das ist Konsens.

    Manchmal müssen auch Bösewichte gegen das Böse kämpfen, doch trotzdem bleiben sie Bösewichte

    Das Verhalten der Staatsmacht ist traditionell taktlos. Noch nie hat sie so offen und unverfroren über das Volk als lästigen Störfaktor geredet, doch das ist keine große Offenbarung – na, was denn, so kennen wir sie doch, die russische Stastsmacht. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten (fast ist man wieder versucht zu sagen: zum ersten Mal seit 1945) verfolgt die Staatsmacht ein unbestritten gutes Ziel. Doch für viel zu viele, wenn nicht sogar für alle, scheint die Fraglosigkeit des Ziels jegliche Zweifel an den Mitteln aufzuheben, dabei muss man die Dinge offen aussprechen: Manchmal müssen auch Bösewichte gegen das Böse kämpfen, doch trotzdem bleiben sie Bösewichte. 

    Ein Übel bleibt ein Übel, auch wenn es im Namen des Guten geschieht

    Die Einschränkung von Freiheiten ehrlicher Bürger ist ein Übel, das ein Übel bleibt, auch wenn es im Namen des Guten geschieht. Das Ausspionieren von Menschen ist ein Übel. Die Lüge ist ein Übel. Zensur ist ein Übel. Der sowjetische Hass auf den Bürger ist ein Übel. 
    Ein russischer Beamter, ein russischer Silowik, der heute Böses im Namen des Guten tut, hat nicht das Recht zu vergessen, dass er immer noch Böses tut. Und ein Bürger, dessen bürgerliche Pflicht und Verantwortung es in diesen schwierigen Tagen ist gehorsam zu sein, hat nicht das Recht zu vergessen, dass Gehorsam nicht der natürliche Zustand des Bürgers sein darf und dass das Leben, das gerade begonnen hat, abnormal und entwürdigend ist. Ja, niemand hat eine Alternative zum Deal „Freiheit gegen Gesundheit“ vorgeschlagen. Wahrscheinlich gibt es keine. Aber wenigstens darf man nicht die Augen davor verschließen, dass es sich um genau diesen Deal handelt. 

    Nicht nur der Arzt, der vor Erschöpfung umfällt, bringt ein beispielloses Opfer, sondern jeder Mensch, der zu Hause eingesperrt ist

    Und wenn es für die Staatsmacht nur eine Art Stresstest ist, so ist es für den Bürger eine beispiellose Verunglimpfung der Grundfesten seines Seins. Es wäre naiv, die Staatsmacht jetzt darum zu bitten, verantwortungsvoller, barmherziger und ehrlicher zu sein – nein, das wird sie natürlich nie werden; doch sollte sie ruhig darüber nachdenken, wie sich diese tragische Zeit auf ihre künftige Beziehung zu den Bürgern auswirken wird. Ob es die Heldentaten der Ärzte und die Rettung vor dem Hunger (wobei, ist das überhaupt garantiert?) sein werden, die von diesem Frühling im kollektiven Gedächtnis zurückbleiben, oder nicht doch diese demütigenden QR-Codes und die öffentliche Verspottung der „besonders Begabten“. 

    Wir wissen, dass wir uns die Hände waschen, nicht ins Gesicht fassen und zu Hause bleiben sollen. Aber dieser Aufzählung sollte man vielleicht noch etwas nicht weniger Wichtiges hinzufügen: nicht zu vergessen, dass die Würde des Menschen in jeder Hölle ein unverzichtbarer Wert bleibt und dass die Freiheit nicht viel weniger wert ist als das Leben selbst. Und dass genau jetzt nicht nur der Arzt, der vor Erschöpfung umfällt, ein beispielloses Opfer bringt, sondern jeder Mensch, der zu Hause eingesperrt ist – und diesem Menschen Achtung zu zollen, ist die Pflicht des Staates, die er leider oft vergisst.

    Weitere Themen

    Corona: „Die Rettung ist Sache der Ertrinkenden“

    Russland – coronaresistent?

    Auf gut Glück

    Tiefer Riss in Zahlen

    Wo ist Superman Putin?

    Corona-Kreuzzug in der Kirche

  • Wo ist Superman Putin?

    Wo ist Superman Putin?

    Nur zögerlich, erst Ende März 2020, ist Wladimir Putin öffentlich gegen die Corona-Epidemie eingetreten: Am Montag, 23. März, zeigte er sich im Schutzanzug in einem Infektionskrankenhaus, am Mittwoch, 25. März, hielt er die erste Fernsehansprache, zwei weitere folgten inzwischen. 
    Kremlkritische Beobachter – wie etwa der Politologe Gleb Pawlowski – bemängeln, der Präsident wirke derzeit wenig überzeugend. So ist es vor allem der Moskauer Bürgermeister Sobjanin, der mit Maßnahmen gegen das Coronavirus auffällt. Sobjanin sei es gewesen, schreibt etwa Iwan Dawydow, der Wladimir Putin am Tag vor der ersten Fernsehansprache erklärte, dass die „Ansteckung hochdynamisch“ ist. 

    Auf Republic formuliert der Oppositionspolitiker Leonid Gosman seine Kritik am Auftreten Putins und die mutmaßlichen Gründe dahinter. Gosman ist unter anderem Präsident der liberalen politischen Bewegung Union der Rechten Kräfte. Gerade seine Schlussthese mag manchem Leser etwas zu steil erscheinen. Weil er viele Beobachtungen und Kritik, wie sie in den letzten Wochen von unterschiedlichen Seiten geäußert wurde, aber sehr pointiert zusammenfasst, ist sein Text jedoch unbedingt lesenswert.

    Beobachter kritisieren, er wirke wenig überzeugend – Putin bei seiner ersten Fernsehansprache zur Epidemie am 25. März 2020 / Foto © kremlin.ru
    Beobachter kritisieren, er wirke wenig überzeugend – Putin bei seiner ersten Fernsehansprache zur Epidemie am 25. März 2020 / Foto © kremlin.ru

    Was steht uns bevor? Die Epidemie wird abflauen – bisher haben alle Epidemien ein Ende gefunden. Es werden leider noch Menschen sterben, einige von uns werden Angehörige oder Freunde verlieren, doch die meisten werden überleben. Wir werden zu unserem normalen Leben zurückkehren. Das wird dann aber in einem anderen Land sein. In einem politisch veränderten Land.

    Vertrauen in das System vs. Vertrauen in die Person

    Das politische System kann schwere Zeiten überstehen, wenn eine der folgenden zwei Bedingungen gegeben ist: Vertrauen in die Institutionen oder Vertrauen in die Personen. 
    Vertrauen in die Institutionen, das ist die Variante der USA. Die Universitäten, die größten Städte, die gebildeten Bevölkerungsschichten, die Beamten – alle sind gegen Präsident Trump. Und alles ist in Ordnung, alles stabil. Viele meinen, dass der Präsident zu nichts taugt, aber sie glauben an das System, an die Abläufe.

    Das entgegengesetzte Beispiel war Kuba unter Fidel. Es gibt keinerlei Institutionen, aber es gibt Fidel Castro, den Glauben an ihn, die Kraft, die von ihm ausgeht. Natürlich wird das alles noch durch Repressionen unterfüttert, aber es beruht nicht auf diesen allein. Das Regime kam nicht wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten in die Bredouille, oder weil (wie in dem alten sowjetischen Witz) sie keine Patronen mehr hatten , sondern weil der gealterte Fidel nur noch ein Schatten seiner selbst war: Der Glaube an ihn war Geschichte.

    Unser System dagegen beruht nicht auf Institutionen. Putin ist nicht Präsident, weil er gewählt wurde – er wurde gewählt, weil er Präsident ist. Seine Legitimität, wie sie sich in den ersten Monaten seiner Regentschaft herausbildete, beruhte auf seinem Charisma, dem Glauben an ihn. Er ist ein Sieger, er steht für die einfachen Leute, solche wie du und ich. Meine Feinde sind seine Feinde. „Ich will so einen wie Putin“, „Sein Gang ist so sexy“, „Geht doch allen gut!“. Gibt sogar einen Wodka Putinka. Und wenn Sie selbst diese Gefühle nicht gehegt haben, egal – es gibt genug andere, die so fühlten.

    Das Bild vom Superman

    Putin und sein Team haben zielstrebig das Bild eines Supermans geschaffen: Er flog einen Düsenjäger, demonstrierte seine Wurftechnik auf der Judomatte und ließ sich mit nacktem Oberkörper fotografieren. Mitunter kam es zwar zu albernen Übertreibungen, wie mit den griechischen Amphoren oder den sibirischen Kranichen, aber insgesamt hat es erstmal funktioniert.

    Putin wird dafür kritisiert, dass er sich um Umfragewerte kümmert. Es ist Unsinn, ihn dafür zu kritisieren, Er macht das völlig richtig. Schließlich beruht seine Macht gerade auf seinen Umfragewerten. Und was passiert, wenn die abstürzen, das weiß niemand.

    Jetzt sind sie allerdings abgestürzt. Das wird nicht nur aus den Meinungsumfragen deutlich (die Umfragewerte sind zwar wieder besser, allerdings ganz offensichtlich frisiert), sondern auch in den Geschäften, auf dem Markt, im Bus – trotz aller sozialer Distanzierung. Das ist offensichtlich, nicht, wenn man nicht die ganze Zeit fernsieht, sondern wenn man bloß mal aus dem Fenster schaut.

    Die große Enttäuschung

    Das hat nicht gerade erst jetzt begonnen. Und das Vorgehen der Opposition – enthüllen und die Inkompetenz der Regierung herausstellen – spielt dabei längst nicht die wichtigste Rolle, vielleicht sogar gar keine. Zu merken ist natürlich der Ermüdungsfaktor: Ein und dasselbe alternde Gesicht, ein und dieselben Worte, Scherze, Versprechungen. Doch das Wichtigste ist die Enttäuschung. Die Enttäuschung über die Staatsmacht, und da die Macht personifiziert ist, ist man eben enttäuscht von dieser Person. 

    Die Anhebung des Rentenalters etwa hat die Regierung nicht ohne Verluste überstehen können. Hätte sich der Präsident allerdings sofort ans Volk gewandt, hätte er Verständnis für die Wucht des Schlages gezeigt, den Millionen zu spüren bekommen, hätte er mit den Bürgern auf Augenhöhe gesprochen und nicht versucht, sie mit kleinen Vergünstigungen abzulenken, hätte er sich wie ein Mann verhalten, dann wären die Umfragewerte nicht so stark zurückgegangen.

    Damals haben ihm seine Anhänger zum ersten Mal etwas übel genommen: Mit seinem langen Schweigen hat er ihre Erwartungen enttäuscht. Der mit dem nackten Oberkörper und auf dem U-Boot, der, der die Russophoben in aller Welt zurechtweist, hätte sich anders verhalten sollen.

    Und jetzt die Epidemie.

    Die Maßnahmen, die der Präsident verkündet und die er nicht verkündet hat, wurden eingehend analysiert. Ich spreche aber von Erwartungen und Enttäuschungen. Man wartete auf seine Rede, fragte sich: Warum schweigt er? Von seiner zweiten Rede dann erwartete man sich schon nichts mehr. Sie hat niemanden beruhigt und keine Hoffnung gegeben. Sie hat nur für noch mehr Zorn gesorgt.

    Das Ausmaß dessen, wie unpassend er in den letzten Tagen vor das Volk tritt, wie sehr er nicht dem entspricht, zu dem er durch sein Amt verpflichtet ist, ist für die Bürger einfach nur unfassbar und beleidigend. Und natürlich ist es mittlerweile schwer, wenn nicht gar unmöglich, noch jemanden zu finden, der auf diesen Präsidenten hofft und glaubt, dass er ihm helfen wird. Das lässt sich auch nicht durch außenpolitische Siege kompensieren, die man sich vielleicht weiter zurechtdenken könnte. Angesichts der Epidemie, der Angst, ohne Geld und Arbeit dazusitzen, können solche Siege nicht mehr ablenken und bringen keine Freude – Putin hat sich demonstrativ geweigert, die tatsächlichen Probleme der Menschen zu lösen.

    Der Kommandeur im Bunker statt auf dem Pferd

    Kann die Staatsmacht Staatsmacht bleiben, wenn sie nicht respektiert wird? Intuitiv wird einem klar: Ein System, das bei den Menschen keinen Respekt und kein Vertrauen genießt, kann sich zwar in ruhigen Zeiten halten. Es übersteht aber keine Erschütterungen, ein träges Verhalten reicht nicht aus, wenn von der Regierung erwartet wird, den Rahmen üblicher Standards zu verlassen und wenn von der Bevölkerung ein Verhalten verlangt wird, das alles andere als Routine ist. In einem autoritären System muss der Kommandeur auf einem feurigen Pferd voranreiten. Sitzt er jedoch im Bunker, zerfällt die Machtvertikale und hinterlässt den unangenehmen Geruch dessen, woraus sie bestand.

    Die Einstellung vieler Bürger zur Regierung verändert sich – und gleichzeitig geschieht vor unseren Augen noch etwas anderes. Die oberste Staatsmacht und der Präsident persönlich sind objektiv in einen Konflikt mit jenen geraten, die Stütze und Auge des Herrschers sein sollten – mit den Gouverneuren. Ihnen für alles die Verantwortung zu übergeben, versetzt sie in eine fast ausweglose Lage.

    Die Gouverneure sind sich selbst überlassen

    Sie haben weder die finanziellen noch andere Mittel, um ihre Regionen in einer Situation zu verwalten, die zwar nicht erklärtermaßen, aber faktisch einen Ausnahmezustand darstellt. Die meisten sind eh nicht für ein Gouverneursamt geeignet – das Auswahlkriterium war in ihrem Fall persönliche Ergebenheit. Sie sollen keineswegs regieren, sondern die Kommandos von oben weiterleiten und im Gegenzug Geld und Stimmen nach oben liefern. Und diesen Gouverneuren wurde jetzt gesagt, dass sie es sind, die im Falle eines Misserfolgs aufgespießt werden.

    Drei sind zurückgetreten, aber wie viele verhehlen ihre Kränkung? Und die wenigen, die nun plötzlich in sich die Kraft finden, Mittel zu sichern (sie etwa den Oligarchen vor Ort aus der Tasche ziehen) und diese Situation würdig meistern, werden die bereit sein, in den Stall zurückzukehren? Wie auch immer die Epidemie sich entwickelt, das Verhältnis der Gouverneure zur obersten Staatsmacht wird sich ändern und ganz sicher auch ihre Bereitschaft, dieser ergeben zu dienen. Die Einheit und Geschlossenheit der herrschenden Gruppe ist drastisch geschwächt.

    Sie hatte 20 Jahre darauf beruht, dass Putin – für viele unerwartet – in der Lage war, „seine Leute“ aufzubauen und ein tatsächlicher Anführer des Teams zu sein. Die Angst, dass man ohne Putin dastehen könnte, die sie dem behördenhörigen Volk jahrelang eingetrichtert haben, war ihre Angst.

    Natürlich hat sich der Unmut seit Jahren angesammelt, schon mit Beginn der Sanktionen, als das geregelte bequeme Leben ins Stocken geriet. 

    Und jetzt hat sich Putin zurückgezogen. Man kann nur vermuten, was mit ihm los ist: Vielleicht ist er krank, hat Angst wegen der Epidemie oder hat sich wegen der Krise erschossen?! Man könnte das mit Stalin in den ersten Tagen des Zweiten Weltkrieges vergleichen. Wichtig ist jedoch, dass er vielen Anzeichen nach nicht nur von den Bildschirmen verschwunden ist, sondern auch nicht mehr jene oberen Tausend im Griff hat, die das Land verwalten.

    All das bedeutet, dass das Virus unser Land – es hat ja schon ganz anderes überstanden – nicht auslöschen wird, das politische System eventuell aber schon. 

    Kommt eine Palastrevolte?

    Eine Palastrevolte schien mir stets unwahrscheinlich, doch nun ändert sich die Situation. Putin ist praktisch weg, das Land schliddert in den Abgrund, es gibt keine Institutionen und vor allem keine Zusammenarbeit zwischen ihnen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir in nächster Zeit das gleiche erleben, was viele, viele andere Länder durchgemacht haben: „Wegen der schweren Erkrankung des Präsidenten und angesichts der aus dem Ausland drohenden Gefahr für die Unversehrtheit des Landes, und im Sinne der Sicherheit der Bürger …“ Ganz vorübergehend, versteht sich. Und wer kommt zur Rettung? Die Gouverneure, die er gerade erst bloßgestellt hatte? Die Unternehmen, die er ruiniert hat? Das Volk, dem angeraten wurde, aus eigener Kraft zu überleben? Bleiben die Nationalgarde und OMON-Kräfte aller Art. Die können zwar auf den Straßen und Plätzen wirksam werden, aber nicht innerhalb des Palastes.

    Das kann natürlich vorübergehen. Doch in jedem Fall wird das Land ein anderes sein. Ich denke, gleich nach dem Abflauen der Epidemie wird etwas von grundlegender Bedeutung geschehen. Oder sogar schon früher. 

    Weitere Themen

    Das russische Gesundheitssystem

    Corona: „Die Rettung ist Sache der Ertrinkenden“

    Russland – coronaresistent?

    Auf gut Glück

    Tiefer Riss in Zahlen

    „Hier gibt es keine Viren“

  • Ein Donbass für Syrien?

    Ein Donbass für Syrien?

    In der vergangenen Woche standen Russland und die Türkei am Rande eines Krieges: 36 türkische Soldaten wurden in Nordsyrien Opfer einer großangelegten Offensive der von Moskau unterstützten Assad-Truppen. Die Türkei reagierte zunächst mit Gegenangriffen, eine Eskalation konnte jedoch vermieden werden.

    Am kommenden Donnerstag, dem 5. März 2020, treffen sich nun Putin und Erdoğan in Moskau, um die Situation in der Region Idlib zu besprechen. Der türkische Präsident sagte, dass er sich von den Gesprächen eine Waffenruhe oder andere Lösungen erhoffe. Laut Militärexperten könne bei dem Treffen ein neues Abkommen geschlossen werden, dass das Sotschi-Memorandum vom September 2018 ersetzt. Dieses sah eine Stabilisierung der Region vor: Die Türkei verpflichtete sich darin unter anderem, die islamistischen Milizen von den gemäßigten Anti-Assad-Kräften abzuspalten. Die Assad-Regierung saß nicht mit am Tisch, sondern wurde über das Ergebnis und die Aufteilung der Einflusssphären zwischen Russland und der Türkei lediglich informiert.

    Einen Vormarsch syrischer Truppen auf das von der Türkei beanspruchte Idlib sah das Sotschi-Memorandum dabei aber genauso wenig vor wie das zuvor beschlossene Astana-Abkommen. Da Russland die Truppen von Assad bei ihrem Vormarsch auf Idlib zumindest gewähren ließ und die Türkei es nicht schaffte, Anti-Assad-Kräfte aufzuspalten, betrachten manche Beobachter die bisherigen Abkommen zwischen den beiden Ländern als weitgehend wirkungslos.

    Ein neuer Anlauf könnte darin bestehen, dass Russland der Türkei nun tatsächlich garantiert, dass die Region Idlib faktisch unter türkische Kontrolle kommt. In diesem Szenario des Politologen und Außenexperten Wladimir Frolow pfeift Russland Assad zurück und überlässt die Region weitgehend der Türkei. 
    Warum sollte Russland seinen Verbündeten Assad aber im Stich lassen? Unter anderem, weil die Türkei in dem Konflikt sowieso am längeren Hebel sitzt und Russland sich kräftig verkalkuliert hat, meint Frolow auf Republic

    Die Türkei setzt derzeit bei ihrer Operation Frühlingsschild massenweise auf Kampfdrohnen, Kampfflieger, Boden-Boden-Systeme, Spezialeinsatzkräfte und ein begrenztes Bodenkontingent. Mit dem Beginn der Operation hat die Türkei ihre Entschlossenheit demonstriert, eigene existentielle Interessen in Idlib zu verteidigen. Innerhalb von drei Tagen hat sie der syrischen Armee und pro-iranischen Kräften erheblichen Schaden bei Kriegstechnik und Streitkräften zugefügt.

    Assad kann, so hat sich gezeigt, die Region Idlib ohne massives militärisches Eingreifen Russlands und ohne Unterstützung des Iran nicht gänzlich unter seine Kontrolle bringen. Er muss dort stoppen, wo er gestoppt wurde. 

    Die Türkei wiederum musste einsehen, dass sie allein durch Luftangriffe unter vorwiegendem Einsatz von Kampfdrohnen die syrischen Truppen nicht an die Linie des Sotschi-Memorandums von 2018 zurückdrängen kann. Die türkischen Verbündeten aus den Reihen der syrischen Opposition waren nicht schlagkräftiger als die syrische Armee. Für eine Vergrößerung des [türkisch] kontrollierten Gebiets hätte man mit einer ausreichend großen Einheit von Landstreitkräften einmarschieren müssen (aktuell sind dort etwa 4000 Personen) – dafür hätte Erdoğan jedoch weder innenpolitische noch internationale Unterstützung gehabt.

    Damaskus war bestrebt, Idlib vollständig zu kontrollieren, um die Hoheit über das Gebiet wiederherzustellen, die Grenze [zur Türkei – dek] zu schließen und um die Bevölkerung, die dem syrischen Regime gegenüber nicht loyal ist, so weit wie möglich in die Türkei abzudrängen. Für Russland war es womöglich wichtig zu demonstrieren, dass es Damaskus darin unterstützt, die territoriale Souveränität im ganzen Land wiederzuerlangen. Außerdem bleibt die Aufgabe, die terroristischen Gruppierungen der HTS niederzuzwingen, um die eigenen Stützpunkte in Latakia endgültig vor terroristischen Drohnenangriffen abzusichern. Allerdings gab es auch Vermutungen, dass ein erheblicher Teil dieser Quadrokopter-Attacken Provokationen seitens alawitischer Pro-Assad-Gruppierungen waren, um Russland in die Operation in Idlib hineinzuziehen. Und Moskau in dieses Abenteuer hineinzuziehen – das ist Assad gelungen. 

    Womit Moskau nicht gerechnet hatte

    Womit Moskau nicht gerechnet hat, war die harte Reaktion der Türkei. Erdoğans Entscheidung, trotz der russischen Präsenz massiv militärische Gewalt gegen die syrische Armee einzusetzen, kam für Moskau unerwartet. Offenbar können wir sowohl über die ineffektive Arbeit unserer Agenten und des elektronischen Nachrichtendienstes in der Türkei sprechen, die die Absichten und die Entschlossenheit Ankaras nicht rechtzeitig erkannt haben, als auch über den übermäßigen Einfluss der syrischen Verbündeten auf die Einschätzungen des russischen Militärkommandos sowie die falsche Einschätzung der Situation durch die politische Führung des Landes. Auch wenn der Luftangriff vom 27. Februar, bei dem 36 türkische Soldaten getötet und mehr als 30 verwundet wurden, tatsächlich von syrischen Flugzeugen durchgeführt wurde (obwohl die Türken etwas anderes glauben und die syrische Luftwaffe bei Dunkelheit nicht fliegt), war es ein Signal an die Türkei, nicht die rote Linie zu überschreiten. Der Luftangriff hat das Ausmaß der militärischen Eskalation der Türkei nur noch verstärkt.

    Und hier wird klar, dass die russische Operation in Syrien seit 2015 darauf ausgelegt ist, die syrische Opposition und die Terroristen zu bekämpfen, aber nicht einen großen Staat, geschweige denn ein NATO-Mitglied. 

    Die Türkei hat mit dem Angriff auf die syrischen Truppen (unter gleichzeitiger Vermeidung eines Zusammenstoßes mit den russischen Luftstreitkräften) gezeigt, dass die russischen Streitkräfte in Syrien schlicht nicht ausreichen, um die Offensive einer mächtigen Armee und Luftwaffe zu verhindern. Die Türkei hat im syrischen Theater von Kriegshandlungen die absolute militärische Überlegenheit, und als Grenzland hat sie unbegrenzte Möglichkeiten zur Eskalationsdominanz.

    Die russischen Kräfte in Syrien sind dagegen praktisch isoliert, die Hauptversorgungswege führen durch türkische Meerengen und Luftraum. Ankara hat gezeigt, dass der Sieg Russlands in Syrien und eine Nicht-Wiederholung von Afghanistan unter Mitwirkung der Türkei erreicht wurde, die sich weigerte, „ein zweites Pakistan“ zu werden, und sich stattdessen auf Moskaus Anerkennung ihrer begrenzten, aber grundlegenden Interessen in Nordsyrien verließ. Die Verpflichtung Moskaus, diese Interessen der Türkei zu respektieren, wurde durch die Operation in Idlib verletzt.
    Eng abgesteckte Ziele in Syrien, die begrenzten Mittel für ihre Erreichung und die damit verbundenen Risiken sind seit 2015 die Schlüsselfaktoren für den russischen Erfolg. Oberstes Prinzip war es, Vorsicht walten zu lassen, wenn es darum ging, das Verhältnis zu Drittstaaten aufs Spiel zu setzen. 

    Moskau war in den Konflikt eingetreten, um das Assad-Regime zu retten, um einen Präzedenzfall in der Bekämpfung von Farbrevolutionen zu schaffen, um terroristische Einheiten und die bewaffnete syrische Opposition maximal zu schwächen sowie um eine Basis für die Militärpräsenz in der Region zu schaffen. Diese Aufgaben hat es erfüllt.

    Moskau hatte sich nie zur Aufgabe gemacht, die Kontrolle Assads über syrisches Territorium bis zum letzten Zentimeter wiederherzustellen – geschweige denn dazu, das syrische Regime in einem bewaffneten Konflikt mit einem anderen Staat und NATO-Mitglied zu verteidigen. So gesehen geht die aktive Beteiligung der russischen Streitkräfte an der Operation der syrischen Armee in Idlib „weit über die ursprünglich abgesteckten Ziele hinaus und übersteigt die ursprünglich eingegangenen Risiken“, wie der Kriegsberichterstatter Ilja Kramnik in seinem Telegram-Kanal schreibt.

    Moskaus Dilemma

    Moskaus Einlassen auf die syrische Operation in Idlib mit der starken militärischen Reaktion der Türkei, die die Kampffähigkeit der syrischen Streitkräfte untergrub, brachte Russland vor ein Dilemma: Es entweder selbst auf eine Eskalation der Kampfhandlungen anzulegen (was einer erheblichen Aufstockung der Truppen in Syrien bedurft hätte), indem man Flugzeuge und Luftabwehr auch gegen die türkische Armee einsetzt (man hätte türkische Drohnen abschießen und die kriegswichtige Infrastrukturen der Türken in Idlib und im syrischen Kurdistan bombardieren können – selbstverständlich ohne Schäden auf türkischem Territorium, was den Bündnisfall im Artikel 5 des Nordatlantikvertrags hätte auslösen können). Oder aber man hätte sich still und heimlich wegschleichen und die syrischen Verbündeten mit der Armee Erdoğans allein lassen können.

    Klugerweise wurde die zweite Entscheidung getroffen (genauer gesagt, ein paar Tage lang wurde überhaupt nichts entschieden). Moskau hat sich bis zum Montag nicht in den Kriegsverlauf in Idlib eingemischt und so der türkischen Luftwaffe und Artillerie die Möglichkeit eingeräumt, der syrischen Armee, den Hisbollah-Einheiten und der militärischen Infrastruktur (einer Munitionsfabrik, ein paar Flugplätzen) erheblich zu schaden. Doch sich noch weiter zurückzuziehen und eine absolute Niederlage und Erniedrigung des syrischen Verbündeten zuzulassen, hätte dem Image und Status Russlands in der Region und in der Weltpolitik inakzeptablen Schaden zufügen können. Daher stimmte Putin einem Treffen mit Erdoğan in Moskau und einem neuen Abkommen über die Aufteilung Idlibs zu.

    Die Schlüsselfrage über die Zukunft Idlibs bleibt aber weiterhin ungeklärt. Die Interessen Moskaus an guten Beziehungen zur Türkei (sowohl, was den wirtschaftlichen, als auch, was den militärstrategischen Bereich angeht) sind weit größer als alle Interessen Russlands an Syrien (diese sind eher bescheiden). In diesem Sinne ist es für Moskau sinnvoller, die türkischen Begehrlichkeiten zu stillen in Bezug auf die Sicherheitszone in Idlib. Die Verantwortung für einen weiteren Kampf gegen HTS/al-Nusra kann man Ankara überlassen.

    Idlib muss nicht unbedingt komplett wieder unter die Kontrolle Assads kommen. Schließlich hat Assad einen Bürgerkrieg im eigenen Land entfesselt, dem mehr als 550.000 Menschen zum Opfer fielen und der weitere sechs Millionen Menschen zu Flüchtlingen machte. Dafür muss er aufkommen. Denjenigen Bevölkerungsteil, der gegenüber seinem Regime am stärksten oppositionell eingestellt ist, gewaltsam unter seine Macht und seine Repressionen zu zwingen, ist kontraproduktiv.

    Idllib als syrisches Donbass?

    Moskau hat einen starken diplomatischen Trumpf in petto – den in Russland erstellten Entwurf einer neuen syrischen Verfassung: Er sieht eine dezentrale Macht und die Autonomie mancher Regionen in Syrien vor. 2017 hat Assad so getan, als würde er die Vorschläge Moskaus nicht wahrnehmen. Nun ist der Moment gekommen, da seine Aufmerksamkeit darauf gelenkt werden sollte.

    Denn wenn das „Volk des Donbass” das Recht auf einen „Sonderstatus” innerhalb der Ukraine hat, warum kann das „Volk Idlibs” dann nicht Anspruch auf genau so einen Sonderstatus erheben, wo es doch weitaus mehr Grund hat, eine Zentralregierung zu fürchten (als alawitisch-schiitische religiöse Minderheit, die die sunnitische Mehrheit unterdrückt)? Warum ist die gewaltsame Wiederherstellung der Kontrolle über das Territorium und die Grenzen mit militärischen Mitteln schlecht für die Ukraine, aber gut für Syrien? Warum sollte man auf die Situation in Idlib und auch im syrischen Kurdistan nicht Arbeitsergebnisse nutzen, die im Rahmen der Minsker Abkommen für den Donbass erzielt wurden? Dort finden sich alle nötigen Regulierungs-Komponenten.
    Der russischen Diplomatie würde es nicht schaden, größere Konsequenz bei der Anwendung von Schlüsselprinzipien des internationalen Rechts zu demonstrieren. Im Gegenteil, es würde Moskaus Verhandlungsposition sowohl im Donbass als auch in Syrien stärken.

    Weitere Themen

    Pack die Badehose ein

    Exportgut Angst

    Krieg im Osten der Ukraine

    Russland und der Krieg in Syrien

    Russland in der Welt

    Bystro #9: Great Game um Syrien?

    zweites Pakistan

  • Neue Weltordnung im alten Format?

    Neue Weltordnung im alten Format?

    Bei den Gedenkfeiern zur Befreiung des NS-Vernichtungslagers Auschwitz vor 75 Jahren hat Wladimir Putin am 23. Januar eine programmatische Rede gehalten: In der Gedenkstätte Yad Vashem sagte er vor den anwesenden 46 Staats- und Regierungschefs, dass alle dafür Verantwortung tragen, die schrecklichen Tragödien des Krieges nie mehr zu wiederholen. „Besondere Verantwortung für den Erhalt der Zivilisation“ tragen aber vor allem die Gründungsstaaten der Vereinten Nationen, so der russische Präsident.

    Diese Staaten sind heute die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats und müssen laut Putin „ein ernsthaftes und direktes Gespräch über die Grundprinzipien einer stabilen Weltordnung und die drängendsten Probleme der Menschheit“ führen. 

    Wie soll dieses Gespräch aussehen? Wie kann es zur „Entspannung der Weltlage“ beitragen? Und wie kommt der Kreml überhaupt zu einem derartigen Vorstoß? Diese Fragen stellt der Politologe und Außenexperte Wladimir Frolow auf Republic.

    Programmatische Rede bei der Gedenkfeier zur Befreiung des NS-Vernichtungslagers vor 75 Jahren / © kremlin.ru
    Programmatische Rede bei der Gedenkfeier zur Befreiung des NS-Vernichtungslagers vor 75 Jahren / © kremlin.ru

    Die Idee für einen Gipfel der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats brachte Wladimir Putin zum ersten Mal in seiner Rede an die Föderationsversammlung am 15. Januar 2020 ins Spiel. Und nur eine Woche später formuliert er sie in Israel anlässlich des internationalen Holocaust-Forums bereits als konkrete außenpolitische Initiative:

    „Geschichtsvergessenheit und Zersplitterung können angesichts der Bedrohungen schreckliche Konsequenzen haben. Wir müssen nicht nur den Mut haben, dies in aller Deutlichkeit zu sagen, sondern auch alles dafür tun, um den Frieden zu verteidigen und zu bewahren. Beispielgebend hierfür sollten und könnten, denke ich, die fünf Gründungsstaaten der Vereinten Nationen sein, die eine besondere Verantwortung für den Erhalt der Zivilisation tragen.“

    Gipfeltreffen mit dem 75. Jahrestag des Sieges in Moskau verbinden? 

    Dass Putin die Initiative innerhalb einer Woche zwei Mal vorgebracht hat, deutet darauf hin, dass das Thema im Vorfeld abgesprochen und von den Partnern insgesamt positiv aufgenommen wurde. Noch vor Ort bekam die Idee eines Fünfergipfels Unterstützung von Frankreichs Präsident Macron. Auch China soll laut Dimitri Peskow bereits seine Unterstützung zugesagt haben; Großbritannien warte auf „weitere Details“. Washington hat sich offiziell noch nicht geäußert, aber informelle Gespräche haben bereits stattgefunden (bei der Libyen-Konferenz vergangenen Sonntag in Berlin unterhielt sich Putin lebhaft mit dem US-Außenminister Mike Pompeo) – offenbar mit positivem Ausgang.

    Offenbar will der Kreml das Gipfeltreffen mit den Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag des Sieges am 9. Mai in Moskau verbinden – auch wenn Putin der Form halber erklärt, es könne „in jedem Land, an jedem Ort der Welt“ stattfinden. Dafür sprechen einerseits die „Gründungssymbolik“ – 75 Jahre seit dem Sieg über den Faschismus und 75-jähriges Bestehen der UN – und andererseits die ständigen Verweise auf das Konzept der „Siegermächte als Begründer der Nachkriegsordnung“. Noch symbolträchtiger wäre es, das Treffen in Jalta (wo 1945 über die Gründung der UN beraten wurde) oder San Francisco (wo die Gründung tatsächlich stattfand) abzuhalten, aber das wäre wohl zu viel der Symbolik.

    Merkwürdiger Beigeschmack für den Besuch von Kanzlerin Merkel 

    Ein Gipfel der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats am 9. Mai in Moskau würde den Jubiläumsfeierlichkeiten diplomatischen Inhalt verleihen und die Chance auf ranghöchsten Besuch erhöhen. Zwar würde ein „Gipfel der Siegermächte“ dem Besuch der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und des japanischen Premierministers Shinzo Abe einen merkwürdigen Beigeschmack verleihen. Dies hätte aber auch seinen verborgenen Sinn, nämlich die „geopolitische Unselbständigkeit“ von Berlin und Tokio zu unterstreichen, die genau wie vor 75 Jahren, die Entscheidungen der „Siegermächte“ hinnehmen müssten.

    Gleichzeitig birgt Wladimir Putins Initiative organisatorische wie inhaltliche Risiken. Ein solches Treffen hat es seit vielen Jahrzehnten nicht mehr gegeben (es war auch nicht nötig, weil die Staaten in ständigem Austausch stehen: einerseits auf der Ebene der Bevollmächtigten in New York, andererseits auf der Ebene der Außenminister, die alljährlich bei der UN-Vollversammlung zusammenkommen). Damit ein derart hochrangiges Treffen zustande kommt, bedarf es heutzutage triftiger Gründe und substanzieller Ergebnisse (eine allgemeine wohlklingende Absichtserklärung ist eindeutig zu wenig).

    Problematisch ist auch die Außenwirkung einer solchen Veranstaltung: Was werden die übrigen Staaten von den Teilnehmern halten, insbesondere ihre Verbündeten? 

    Für Russland und China ist das ein maximal bequemes Format: Im Gegensatz zur G7, G8 oder gar G20 ist der UN-Sicherheitsrat völkerrechtlich verankert, Russland und China haben ein Vetorecht auf sämtliche Entscheidungen. Weil sich die beiden Staaten bei den meisten internationalen Fragen einig sind, würden sie bei einem Fünfergipfel eine gemeinsame Front bilden, während die westlichen Teilnehmer mit Meinungsverschiedenheiten überfrachtet sind, die ihre Positionen schwächen. 

    Problematische Außenwirkung

    Das Vereinigte Königreich sieht nach dem Brexit ohnehin ziemlich schwach aus, sein Einfluss auf das Weltgeschehen scheint sich heutzutage offenbar auf die Regulierung des Erwerbs von Londoner Elite-Immobilien durch ausländische Investoren zu beschränken. Die rasche Zustimmung Macrons zu einem solchen Treffen zeugt von seinem Entschluss, die führende und unabhängige Rolle Frankreichs in Europa und der Welt zu betonen, doch sie wird für Unzufriedenheit innerhalb der EU sorgen (die bisher nicht zu dem Treffen geladen ist). Und ohne die Unterstützung aus Berlin ist die Zustimmung aus Paris nicht viel wert. Trump ist sowieso unberechenbar und könnte mit Vorschlägen kommen, die den übrigen Teilnehmern, einschließlich des Organisators, nicht schmecken.

    Die ungute Außenwirkung wird noch dadurch verstärkt, dass Moskau stark die besondere Rolle der „Siegermächte als Begründer der Nachkriegsordnung von Jalta“ hervorhebt. Es spiegelt die russische Sichtweise auf das Völkerrecht wider, wonach lediglich ein paar wenige Oligarchenstaaten, die das multipolare internationale Konzert bestimmen, über volle Souveränität und Unabhängigkeit verfügen, während alle anderen Länder mit eingeschränkter Souveränität ausgestattet sind und den „Großmächten“ im Rahmen des „jeweiligen Lagers“ zu folgen haben. Eine Veranstaltung, die nur annähernd an Jalta 1945 erinnert, erscheint für die politische Elite in Washington, Paris und London inakzeptabel, ganz zu schweigen von den Hauptstädten Osteuropas und Asiens.

    Viele Fragen wirft auch die abstrakt gehaltene Agenda des Gipfels auf. Was bedeutet „ein ernsthaftes und direktes Gespräch über die Grundprinzipien einer stabilen Weltordnung und die drängendsten Probleme der Menschheit“? Wie genau soll das Gespräch „über die kritische Masse an Herausforderungen in den unterschiedlichsten Bereichen, über das Konfliktpotential auf regionaler und internationaler Ebene aussehen, damit die Teilnehmerstaaten Verantwortung übernehmen und dem weiteren gefährlichen Anwachsen dieser Masse Einhalt gebieten“? Bisher ist das nichts weiter als Buchstabensalat. Die Unschärfe der Tagesordnung könnte den Gipfel scheitern lassen oder zu seiner Durchführung in einer gestutzten Version führen, was für Moskau eine Demütigung wäre.

    Es droht weder ein globaler Atomkrieg noch macht es Sinn, das „Konfliktpotential“ von möglichen regionalen Zusammenstößen ohne die daran beteiligten Länder zu diskutieren. Was genau sollen die Fünf entscheiden? Als einziges konkretes Thema hat Putin die Lage in Libyen genannt. Aber welchen Zweck hat es, darüber zu beraten, ohne die anderen zentralen Akteure mit einzubeziehen: Deutschland, Italien, die Türkei, Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate, Algerien, Katar und Saudi-Arabien? Drei der fünf ständigen Mitglieder – Russland, Frankreich und bis zu einem gewissen Grad auch die USA – unterstützen Marschall Haftar, die Regierung der Nationalen Einheit Saraj wurde von der UN selbst aufgestellt. Was sollte man da beschließen? Welches Ergebnis soll das „neue Jalta“ nach dem Verständnis des Kreml liefern?

    Gipfel als Schlussstrich unter Putins erfolgreiche geopolitische Offensive

    Die Antwort auf diese Frage scheint in Dimitri Peskows Kommentar zu liegen: Der Gipfel des UN-Sicherheitsrates soll „die Suche nach Wegen zur Entspannung der Weltlage in Gang setzen“. Nach dem Überschreiten der roten Linie 2014 und nach sechs Jahren offener Konfrontation mit dem Westen braucht Moskau nun also eine „Entspannung der Lage“, um seine Stellung als „globale Großmacht“ neu zu bestätigen und – ganz wie Mitte der 1970er Jahre – um seine geopolitischen Errungenschaften zu konsolidieren (Multipolarität und absolute Souveränität; der postsowjetische Raum als „Region mit privilegierten Interessen“ ohne EU und NATO; eine führende Rolle im Nahen Osten; eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa). 
    Es ist Zeit, einmal tief durchzuatmen, sich umzusehen und den Blick auf die innere Agenda zu richten. Und die wird aktuell bestimmt durch den von Putin eingeleiteten verfassungsmäßigen Machttransfer, der unter möglichst angenehmen und stabilen äußeren Bedingungen durchgeführt werden will.

    Putin möchte außenpolitische Rechnungen begleichen

    Der Gipfel soll also die erfolgreiche geopolitische Offensive von Wladimir Putin besiegeln, ihre Ergebnisse legitimieren, einen Prozess der Normalisierung und Aufhebung der Sanktionen in Gang setzen und die konstruktive Zusammenarbeit auf der gemeinsamen Agenda einleiten. Dafür scheint Moskau bereit, den Konflikt im Donbass unter überwiegend ukrainischen Bedingungen zu lösen (Modernisierung der Minsker Abkommen, Übertragung der vollständigen Grenzkontrolle an Kiew bis zu den Wahlen in den vorübergehend besetzten Gebieten um Luhansk und Donezk, den Abzug von sämtlichem schweren Gerät auf russisches Gebiet), gefolgt von einer Normalisierung der bilateralen Beziehungen zu Kiew. 

    Putin möchte vor seinem Abtritt wahrscheinlich versuchen, alle außenpolitischen Rechnungen zu begleichen und seinem Nachfolger keine offenen außenpolitischen Probleme zu hinterlassen, die zu akuten militärischen Krisen führen könnten. Wenn es sorgfältig vorbereitet wird, wäre ein solches Gipfeltreffen dafür kein schlechtes Format.

    Weitere Themen

    Kalte Freundschaft

    Die Honigdachs-Doktrin

    Wer kommt nach Putin und wenn ja, wie viele?

    100 Jahre geopolitische Einsamkeit

    Russland und Europa

    Großmacht im Abseits

  • Tiergarten-Mord: Nachgeschobene Rechtfertigung

    Tiergarten-Mord: Nachgeschobene Rechtfertigung

    Der Mord an dem 40-jährigen Georgier Zelimkhan Khangoshvili in Berlin hat eine diplomatische Krise zwischen Russland und Deutschland ausgelöst. Der mutmaßliche Täter war schnell gefasst, die Bundesanwaltschaft sieht „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte“ dafür, dass „staatliche Stellen“ in Russland den Mord in Auftrag gegeben haben. Sollte sich dieser Verdacht erhärten, würde der Kreml des Staatsterrorismus beschuldigt – was weitere diplomatische Verwerfungen nach sich ziehen würde.

    Diese aber gibt es schon jetzt zuhauf: Da Moskau bei der Aufklärung des Mordes nicht kooperiere, hat sich Berlin entschieden, zwei Agenten des Militärgeheimdienstes GRU auszuweisen, die als Diplomaten akkreditiert waren. Der Kreml reagierte traditionsgemäß „symmetrisch“, indem er zwei deutsche Diplomaten des Landes verwies. 

    Auf der Pressekonferenz des Normandie-Gipfels in Paris am 9. Dezember 2019 sagte Putin noch, Russland habe mehrmals ohne Erfolg die Auslieferung von Khangoshvili beantragt. „Wir sind nicht angefragt worden, jemanden auszuliefern […] Das kommt jetzt alles im Nachhinein, das hört sich ein bisschen nach Rechtfertigung an“, dementierte der deutsche Außenminister Heiko Maas einige Tage später. (UPDATE: Auf der Jahrespressekonferenz am 19.12.2019 räumte Putin ein, dass über eine Auslieferung nicht auf offizieller, nur auf Geheimdienstebene gesprochen wurde.)

    Wer war eigentlich Zelimkhan Khangoshvili? Was wirft der Kreml ihm vor? Und warum nimmt Moskau trotz weitgehender internationaler Isolation erneut solch gravierende Verwerfungen in Kauf? Oleg Kaschin kommentiert auf Republic

    Mit dem am 23. August in Berlin ermordeten georgischen Tschetschenen Zelimkhan Khangoshvili geschehen die sonderbarsten Dinge, und zwar nach dessen Tod. So etwas passiert wohl zum ersten Mal überhaupt: Erst wird jemand ermordet und danach denkt man sich aus, warum. Ganz allgemein ist die Rede von einem „tschetschenischen Warlord“, aber das kann alles Mögliche bedeuten. 1979 geboren, war er 15 Jahre alt, als der erste Einmarsch begann, und 20 Jahre zu Beginn des zweiten. In beiden Fällen war das zwar ein durchaus wehrfähiges Alter (es geht schließlich um den Kaukasus), trotzdem wird der junge Mann wohl kaum ein außerordentlicher Schlächter gewesen sein. Wenn, dann hätte sicher irgendjemand schon von ihm gehört.

    Wer war Zelimkhan Khangoshvili?

    Er lebte im Pankissi-Tal – und ja, das war in dieser Zeit ein übler Ort. Damals war es sehr wahrscheinlich, dass ein junger, dort lebender Tschetschene (in dem Tal liegen tschetschenische Dörfer) einer gewissen Logik folgend auf der Seite der tschetschenischen Rebellen kämpft. Doch hat damals ganz Tschetschenien gekämpft. 

    Schon unter Saakaschwili wurde über Khangoshvili in der georgischen Presse geschrieben, dass er für die georgischen Geheimdienste arbeite, ihnen dabei helfe, einen Einmarsch Russlands ins Pankissi-Tal zu verhindern. Dann, nach dem Krieg, haben georgische Sicherheitskräfte vor sieben Jahren im Pankissi-Tal irgendeine tschetschenische Bande entwaffnet – und unter deren Unterhändlern soll wohl auch Khangoshvili gewesen sein. Das ist bestimmt nichts Gutes, aber nicht Horror Horror Horror, wie man es uns heute erzählen will.

    Wer erzählt, und was wird erzählt?

    Wer erzählt, und was wird erzählt? Hauptquelle ist die Polizei in Inguschetien, das berüchtigte inguschische Zentrum E, also eine Behörde, in die kein deutscher Journalist hineingelangt, der noch ein paar Nachfragen hat, und wo ein Moskauer Journalist nicht mal per Telefon durchkommt. (Erst kürzlich wurde der oberste Extremismusbekämpfer dort zu Grabe getragen, der wahrscheinlich einer Blutrache zum Opfer fiel – so viel zu Sitten, Recht und so weiter)

    Nun erinnern sich die inguschischen Extremismusbekämpfer nach dem Mord an Khangoshvili daran („erinnern“!), dass sie ihn seit 2008 suchen. Ganz schön lange, aber das nur, weil sie sorgsam Ermittlungsinformationen über seinen möglichen Aufenthaltsort durchgearbeitet haben. Warum er gesucht wurde? Weil er 2004 an dem Überfall von Bassajews Einheiten auf Nasran beteiligt gewesen sei.

    Jetzt in Paris hat Putin auf die Frage eines deutschen Journalisten eine Zahl genannt: 98 Tote. Was ist das für eine Ziffer? Eben die vom Überfall auf Nasran. Das war der größte und gewiss verwegenste Überfall Bassajews in der Nachkriegszeit (die aktive Phase der Kampfhandlungen war damals schon vorüber). Selbst wenn die (durch nichts bestätigten) Information über eine Beteiligung Khangoshvilis an diesem Überfall zuträfe, so wäre es doch vermessen, die Verantwortung für die 98 Toten ihm persönlich zuzuschreiben – vielleicht saß er am Steuer eines LKW oder kaufte auf dem Markt Essen für Bassajew.

    Dann sprach Putin von den Explosionen in der Moskauer U-Bahn, ohne genauer zu sagen, von welchen (entweder von 2004 zwischen den Stationen Awtosawodskaja und Pawelezkaja, oder denen von 2010 in den Stationen Lubjanka und Park Kultury). Und es wäre peinlich, daran zu erinnern, dass die russischen Behörden in beiden Fällen öffentlich verkündet haben, die Organisatoren der Terroranschläge seien ermittelt worden. Weder 2004 noch 2010 war von einem Khangoshvili die Rede. 

    Moskau hat die deutschen Behörden doch sicher um Auslieferung gebeten?

    Aber gut, einmal angenommen, alles war genauso, wie es Putin und die inguschischen Extremismusbekämpfer sagen, und wir glauben, dass Khangoshvili ein blutrünstiger Terrorist war, der lange gesucht wurde. Daran kann man tatsächlich nur glauben (Beweise liegen ja nicht vor), und die stärkste Probe für diesen Glauben, das sind Anfragen. Wenn ein Terrorist in Deutschland lebt und Russland an ihn herankommen möchte, dann hat Moskau die deutschen Behörden doch sicher um eine Auslieferung gebeten?

    Die deutsche Regierung aber sagt: Nein, es gab keine Anfragen. Der deutsche Peskow, Regierungssprecher Steffen Seibert, erklärt offiziell, dass es keinen Antrag gegeben habe. Russlands Peskow sagt, es habe einen gegeben, nimmt dann Worte in den Mund, die selbst für ihn untypisch sind, und spricht von „außerordentlich blutigen Terroranschlägen und Massenmorden“, wobei er nichts belegt. 

    Welchem Peskow glaubt man da eher, unserem oder dem deutschen? 

    Wer ist Wadim Sokolow?

    Der Killer – das ist eine Frage für sich. Die Deutschen haben ihn gefasst, er hat einen russischen Pass auf den Namen Wadim Sokolow, und der Insider bezeichnet ihn als Wadim Krassikow, einen 2014 untergetauchten mehrfachen Mörder, der früher in einer Spezialeinheit des FSB gedient hat. Wird er reden, und was wird er aussagen – das ist die bisher spannendste Frage. 
    Die russische Seite, unter anderem Putin persönlich, leugnet eine Verwicklung des russischen Staates in die Ermordung Khangoshvilis. Doch auf eine Stelle aus dem Buch des Genres „Das waren wir nicht!“ kommen zehn aus einem anderen Genre: „Das war ein derart übler Schurke, dass es schon lange an der Zeit war, ihn zu töten.“ 
    Das ist das gleiche Verhältnis wie im Fall Skripal, und es ist klar, wie das in den Ohren der Deutschen klingt – wohl kaum anders als letztes Jahr in den Ohren der Engländer. Sanktionen, zerrüttete Beziehungen, neue spannende Details, das alles wird es zweifellos geben. Und mit der gegenseitigen Ausweisung von Diplomaten wird die Sache nicht beendet sein. Für Russland, das sowieso mit allen im Streit liegt, stehen die Dinge offensichtlich nicht allzu gut. Doch war es das wohl wert.

    Warum? Wer hat das entschieden?

    Die wichtigste Frage ist aber: Warum? Der Insider nimmt an, der Grund für alles sei darin zu suchen, dass Khangoshvili 2008 die georgische Armee beraten hat, und dass auf Leute, die den Georgiern während des Fünftage-Krieges irgendwie geholfen haben, Jagd gemacht wird. So schrieb etwa die New York Times über einen russischen Killer im ukrainischen Riwne: Dieser hat einen Angehörigen der ukrainischen Sicherheitskräfte ermordet, der ebenfalls 2008 in Georgien tätig gewesen war. Bei dem Killer hat man eine Liste von sechs Ukrainern gefunden, die in Georgien gekämpft hatten. 

    Wer weiß – vielleicht führen die russischen Geheimdienste tatsächlich jenen Krieg zu Ende, irgendwie ist die Sache ja heilig. Aber dafür die Beziehungen zu Deutschland aufs Spiel setzen? Wer hat das entschieden, wer hat die Risiken gegeneinander abgewogen, wer hat die Szenarien vorausgesehen, wie sich die Dinge weiterentwickeln? Entweder niemand, oder es gibt einen zehn Jahre alten Befehl, der lautet „Alle umbringen“, und alle führen ihn aus, ohne darüber nachzudenken, in welchem Maße sie jetzt damit ihrem Staate schaden. Jetzt habt ihr euren Khangoshvili endlich, und was bringt’s?

    Jetzt habt ihr euren Khangoshvili endlich, und was bringt’s?

    Die schlimmste (und wahrscheinlichste) Antwort wäre: Nichts. Einfach, weil sie es wollten; sie liquidierten ihn, weil sie sich das leisten können. Das Problem ist nur, dass längst auch so schon niemand mehr daran zweifelt, dass sie das können. Und doch versuchen sie immer weiter, es zu beweisen, als ob es ihr Ziel wäre, in der ganzen Welt dieses unstrittige Bild vom Übeltäter Russland zu erzeugen. Damit ja niemand darauf kommt, mit Russland Beziehungen zu knüpfen. Damit von außen ein Eiserner Vorhang fällt und eine Isolation entsteht, die sie selbst hervorrufen.

    Weitere Themen

    Die Geiselnahme von Beslan

    Totenwasser

    Die Honigdachs-Doktrin

    Schuld und Sühne à la Kadyrow

    Im Dorf des Skripal-Verdächtigen

    Ojub Titijew – die Geschichte eines Menschenrechtlers