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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Alles auf Autopilot

    Alles auf Autopilot

    Autoritär und dennoch stabil? In Teilen der Autoritarismusforschung gab es lange eine Art Grundsatz, dass die Stabilität einer politischen Herrschaft ihre demokratische Legitimität voraussetzt. Tatsächlich muss Legitimität allerdings nicht immer demokratisch begründet sein: Schon der Soziologe Max Weber schrieb, dass die politische Herrschaft auch vom Legitimitätsglauben abhängt, also dem Glauben an die Rechtmäßigkeit von Herrschaftsbeziehungen. 

    Bei der Frage, wie man Menschen zu einem solchen Glauben bringen kann, nennt die Autoritarismusforschung viele Beispiele: Etablierung von Feindbildern etwa, Betreiben von Personenkult, oder generell Propaganda. Auch die gezielte Steuerung von Diskursen, das Stiften von Symbolen, Sinnangeboten oder Ideologien gehört demnach zum Arsenal autoritärer Technologien zur Herstellung von Legitimitätsglauben. 

    Was aber, wenn all das weitgehend wegfällt und nur noch Repressionen bleiben? Diese Frage – und Diagnose – stellt die Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja kurz vor der Dumawahl im September auf Republic.

    Putin beim Besuch des Internationalen Luft- und Raumfahrtsalons MAKS-2021 / Foto © kremlin.ru unter CC BY-SA 4.0

    2015, als das Land auf die anstehende Dumawahl vorbereitet wurde, hatte Wjatscheslaw Wolodin, der damalige innenpolitische Chefstratege, drei Prioritäten für den Wahlkampf genannt: Legitimität, Transparenz und Wettbewerbscharakter. Der Kreml hatte dazu aufgerufen, die Konkurrenz nicht „in den Würgegriff zu nehmen“, und zu Deals der Partei der Macht [Einiges Russland – dek] mit der Systemopposition ermuntert. Von all so etwas kann heute keine Rede sein: Die Vorbereitung auf die Wahlen läuft mechanisch. Niemand befasst sich mit der Suche nach Sinnangeboten. Legitimität scheint voreingestellt, selbstverständlich, ja automatisch gegeben. Intransparenz ist niemandem peinlich, und der gesteuerte Wettbewerb mit der Systemopposition steht unter dem Motto: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns

    Es sind die ersten Wahlen, bei denen sich die Frage der Legitimität für die Präsidialadministration eigentlich nicht stellt. Man ist dort vielmehr überzeugt, das gewünschte Resultat ohne sonderliches Aufsehen und Kampagnengetöse erzielen zu können.

    Legitimität der neuen Art

    Im Grunde ist die Krim an allem schuld. Just nach dem Angliederung der Halbinsel hat die russische Staatsmacht – und in vielerlei Hinsicht auch Putin persönlich – ein neues Verständnis für ihre Legitimität entwickelt. 

    Hier sei – etwas vereinfacht – an die Typologie legitimer Herrschaft bei Max Weber erinnert: die traditionelle Herrschaft basiert auf Vertrauen in die Monarchie, die rational-legale Herrschaft auf Vertrauen in demokratische Prozesse und Gesetze und die charismatische Herrschaft auf Vertrauen in einen autoritären Führer. 

    Während der ersten beiden Amtszeiten Putins basierte die Legitimität des Regimes auf einer Mischung aus rational-legalem und charismatischem Herrschaftstyp. Damals gründete das neue System mit seiner machtvollen Vertikale auf der charismatischen Legitimität Wladimir Putins. Dieses neue System bestand darin, die reale Opposition vorsichtig (nach heutigen Maßstäben sanft) hinauszudrängen in den außersystemischen Bereich, die Gouverneure ihrer Autonomie zu berauben und die Oligarchen politisch zu kastrieren. Der Präsident erlaubte sich zudem ein begleitendes juristisches „Tuning“ der gesamten Parteien- und Wahlgesetzgebung, der Beziehungen zwischen den verschiedenen Haushaltsbereichen sowie der Regeln für öffentliches, politisches Engagement.

    Generalüberholung des Regimes

    Bis 2020 waren die Möglichkeiten dieses Tunings dann allerdings ausgeschöpft: Anstelle des ständigen Nachbesserns erfolgte nun eine Generalüberholung. Das „Putinsche Regime“ wurde „verfassungsmäßig“ verankert. Und zwar sowohl im Gesetzestext (der dem Präsidenten große Machtbefugnisse verleiht, der die Gewaltenteilung verschwimmen lässt und der traditionelle Werte gesetzlich festschreibt) als auch im Geiste: Nawalny wurde vergiftet und dann ins Gefängnis geworfen, die außersystemische Opposition ist zerschlagen und die unabhängigen Medien werden mundtot gemacht.

    Meritokratische Legitimität

    2020 wurde zum Jahr der verfassungsrechtlichen Neuaufstellung des Post-Krim-Russland, in dem sich Legitimität nicht mehr aus dem Vertrauen der Gesellschaft speist, sondern aus dem, was Putin persönlich als seine historischen Verdienste erachtet. Das könnte man als neuen Typus von Legitimität bezeichnen, als meritokratische Legitimität: Das Vertrauen der Menschen in die Staatsmacht verliert dabei seinen objektiven Wert, es wird zu etwas rein Subjektivem, zu einem Spiegelbild dessen, wie sich das Volk in der Vorstellung der Staatsmacht selbstverständlich zu verhalten hat. Es erfolgt eine Art „Selbstheroisierung“ des Leaders, für den das Vertrauen in ihn nurmehr ein Begleiteffekt seiner exklusiven Verdienste ist – und die Krim war da nur der Anfang. Nach der Krim folgten weitere für Putin bedeutende Verdienste wie der Feldzug in Syrien (und überhaupt die Außenpolitik im Nahen Osten), die Modernisierung der Armee und neue Waffensysteme, die geänderte Verfassung und sogar der Impfstoff Sputnik V.

    Durch die Selbstheroisierung ergibt sich eine Verantwortung nicht gegenüber dem Volk, sondern vor der Geschichte

    Durch die Selbstheroisierung und das Messiastum ergibt sich eine Verantwortung nicht gegenüber dem Volk, sondern vor der Geschichte. Und durch seine Verdienste sieht der Präsident die Möglichkeit, jedwede unpopuläre Entscheidung zu rechtfertigen und gesellschaftliche Stimmungen als politisch unreif und kurzsichtig zu missachten. Ist es etwa Zufall, dass Putin praktisch aufgehört hat, strategische, für das Land wichtige Entscheidungen öffentlich zu erörtern (nicht nur in der Außenpolitik, sondern auch im sozialen und wirtschaftlichen Bereich)? Das, was ihm wichtig erscheint, wird von ihm im Spezialeinsatz erledigt. Alles andere wird der entpolitisierten Regierung überlassen. Putin kommuniziert mit der Bevölkerung und mit Journalisten nicht mal wie mit Jugendlichen, sondern eher auf Kindergarten-Niveau („Was man sagt, das ist man selber“ beziehungsweise die Vergleiche mit Shir Khan und dem Schakal Tabaqui aus dem Dschungelbuch).

    Die Krim-Euphorie als psychologische Falle

    Das Problem ist, dass die Putinsche meritokratische Legitimität ab einem bestimmten Punkt ein Eigenleben entwickelte und die legale beziehungsweise charismatische Legitimität, die mit ihr vereinbar ist und sie ergänzte, begann zusammen mit dem schwindenden Post-Krim-Konsolidierungseffekt dahinzuwelken. Kurz gesagt: Das Volk hat von der Krim-Euphorie wieder auf seine gewohnten sozialen und wirtschaftlichen Probleme umgeschaltet (und wünschte sich dasselbe auch von den Machthabern), während Putin in der psychologischen Falle der Jahre 2014 bis 2016 feststeckt, verhaftet in der Krim-Euphorie und berauscht vom Konzert in Palmyra. 

    Der erste heftige Störfall war die Rentenreform [2018], die die Zustimmungswerte für das Regime um 15 Prozentpunkte abstürzen ließ. Eine Erhöhung des Rentenalters ist in jedem Land der Welt eine unpopuläre Maßnahme, doch hier ging es darum, wie sie umgesetzt wurde. Sie kam aus heiterem Himmel, noch dazu kurz nach der Präsidentschaftswahl, so dass sich die Menschen doppelt betrogen fühlen mussten – eine direkte Folge des Widerspruchs zwischen den beiden Legitimitäten. In diesem Zusammenhang frappierend war Putins Auftritt im August 2018, als er sich in Verteidigung der Rentenreform persönlich an die Bevölkerung wandte und es so klang, als ginge es darum, die Schulden für die Krim, für gesellschaftlichen Wohlstand und wirtschaftliche Stabilität einzutreiben. 

    Zustimmungswerte, Erkennbarkeit, Sympathien und gesellschaftliche Prioritäten – all dies verliert Schritt für Schritt an Bedeutung

    Putin scherte sich dabei nicht im Geringsten um den Schaden für seine Zustimmungswerte – schließlich hängen Verdienste nicht von Zustimmungswerten ab! – und sprach damals zur Bevölkerung wie zu lebenslangen Schuldnern, die es in ihrem Leben nicht schaffen würden, ihre Schuld für die großartigen historischen Errungenschaften Putins zu begleichen. Es wurde erwartet, dass die Rentenreform als alternativlos akzeptiert würde. Hier sammelte das Regime erste Erfahrungen damit, seine Entscheidungen einfach durchzudrücken, da es das eigene Vorgehen als „selbstverständlich legitim“ auffasste. Überhaupt wurde Legitimität nun als etwas verstanden, das automatisch funktioniert, das systemimmanent ist, als ein stabiler und integraler Bestandteil. Als eine Art politische Konstante und natürliche Komponente des Putinschen Regimes nach der Annexion der Krim.

    „Wählbarkeit“, Zustimmungswerte, Erkennbarkeit, Sympathien und gesellschaftliche Prioritäten – all dies verliert für das Wahlprogramm der Machthaber Schritt für Schritt an Bedeutung. Jüngstes Beispiel sind die Spitzenkandidaten auf der Parteiliste von Einiges Russland bei der Dumawahl: Lawrow und Schoigu – Außenpolitik beziehungsweise Verteidigung sind Symbole für die persönlichen Errungenschaften Putins. Für die Gesellschaft jedoch rangieren geopolitische Themen auf der Prioritätenliste derzeit ganz unten (ganz oben stehen Inflation und Armut).

    Das System erblindet

    So erodiert die legal-rationale und charismatische Legitimität in schnellen Schritten, während die meritokratische Legitimität Putins einen immer dominanteren Ausdruck findet. Die Bevölkerung ist niedergeschlagen und versinkt in politischer Depression. Im öffentlichen Raum verdrängen hurrapatriotische Huldigungen an das Regime und die Logik einer „belagerten Festung“ die negative sozialökonomische Realität, wobei das Gefühl eines drohenden Krieges permanent genährt wird. Die Verärgerung gegenüber der Partei der Macht wächst. In Reaktion darauf muss der Kreml immer neue Stützen und Mechanismen finden, um die jetzige „selbstverständliche“ Legitimität in den Autopilot-Modus zu überführen.

    Im Laufe eines Jahres wurde in dieser Richtung viel getan: Die echte Opposition wurde vollständig vernichtet (das Instrumentarium ist dabei unglaublich breit gefächert: „ausländische Agenten“, Extremisten, unerwünschte Organisationen oder einfach Verbrecher); es gibt strenge Hürden für „falsche“ Kandidaten bei der Wahl; denn für den politischen Raum gilt das Prinzip: „Was nicht von der Präsidialadministration genehmigt wurde, ist verboten“; und die Medien wurden gesäubert.

    An die Stelle zaghafter Regenerierungsversuche sind Versuche zur Mumifizierung des Systems getreten

    Praktisch die gesamte Systemopposition, außer der Kommunistischen Partei, steht unter dem Einfluss und der Kontrolle durch die „Kuratoren“ der Innenpolitik. Ideen für eine gemäßigte Modernisierung von Einiges Russland wurden wieder verworfen. Ernsthafte Spielereien mit neuen Parteiprojekten sind beendet. Putin gefällt alles so, wie es ist: Es gibt eine starke Machtpartei [Einiges Russland – dek] und eine konstruktive parlamentarische Opposition. Selbst handgesteuerte neue, synthetische Parteiprojekte wie die Neuen Menschen erscheinen dem Präsidenten da nur als überflüssige Ansammlungen mit trüber Perspektive. An die Stelle zaghafter Regenerierungsversuche sind Versuche zur Mumifizierung des Systems getreten, so dass das lebende Sterbliche zum ewig Toten wird.

    Die selbstverständliche Legitimität geht über in den Autopilot-Modus: Das Regime reproduziert sich automatisch selbst, ohne Beteiligung der Gesellschaft oder komplizierte Sinnkonstruktionen. Eine Stimmabgabe für die Systemopposition ist gleichbedeutend mit einer Stimme für Putins Regime. Und jeder Versuch, das Vorgehen des Regimes in Zweifel zu ziehen, bringt „das Boot ins Wanken“ und wird zu einer „Gefahr für die nationale Sicherheit“. 

    Im Autopilot-Modus

    Die gesamte Innenpolitik besteht aus zwei großen Bereichen: Der erste – eine Art Personalabteilung – ist der Wettbewerb Russlands Führungskräfte von der Organisation Russland – Land der Möglichkeiten, über den die „richtigen“, „technokratischen“ Kandidaten rekrutiert, die Spielregeln für alles Systemrelevante festgelegt sowie Wort und Tat penibel und bis ins Detail reglementiert werden. 

    Der zweite Bereich sind die politischen Sicherheitsorgane, die nicht nur das außersystemische Feld vollständig beherrschen, sondern auch jedwede gegen das Regime gerichtete Aktivität unterbinden sollen: sei es eine Beteiligung an Protestaktionen oder das Reposten politisch inkorrekter Inhalte in den sozialen Medien.

    In dieser Situation der immer stärkeren Kontrolle spielen weder Zustimmungswerte noch der gesellschaftliche Unmut irgendeine Rolle, weder Parteipräferenzen noch die Wahlbeteiligung oder die Proteststimmung – sondern Putin braucht schlicht einen lautlosen Urnengang, ein überzeugendes Ergebnis, ein sauberes Prozedere. Live-Übertragungen aus den Wahllokalen wird es diesmal nicht geben, und zwar nicht, weil dort geschummelt wird (die größten Wahlfälschungen erfolgen schließlich jenseits des überwachbaren Bereichs), sondern um einen Aufschrei zu verhindern. Das größte Problem dieser selbstverständlichen Legitimität im Autopilot-Modus besteht darin, dass sie das System absolut blind und gefühlstaub dafür macht, wie sehr ihm die Gesellschaft tatsächlich überhaupt noch vertraut. Und das ist nicht mehr bloß ein Autopilot, sondern ein unbemannter Hochgeschwindigkeitstrip in eine ungewisse Richtung.

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  • Covid: Die Russland-Variante

    Covid: Die Russland-Variante

    Russland droht die vierte Welle der Corona-Pandemie – wenn sich das Land nicht schon mittendrin befindet. Die offiziellen Zahlen – die viele immer noch für geschönt halten – sind erschreckend: Die Anzahl der Neuinfektionen pro Tag liegt demnach bei mehr als 20.000, mit 669 Toten am Tag war die Sterberate Ende Juni so hoch wie nie zuvor. Besonders stark betroffen sind die Metropolen, dabei sind allein in Moskau laut Behördenangaben 90 Prozent der Neuinfektionen auf die Delta-Variante zurückzuführen. 

    So war es auch Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin, der vor rund zwei Wochen Alarm schlug. In Moskau dürfen seit Montag nur noch Geimpfte, Getestete oder Genesene die Restaurants und deren Außenbereiche besuchen, was über QR-Codes geprüft wird. Außerdem verhängte Moskau eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen, einzelne weitere russische Regionen in der Folge ebenfalls. Nichtsdestotrotz wird am morgigen Freitag ein Viertelfinalspiel der Fußball-EM in der Sankt Petersburger Gazprom-Arena stattfinden – 50 Prozent Auslastung sind zugelassen, das sind knapp 30.000 Menschen.

    Beim Direkten Draht mit Wladimir Putin am gestrigen Mittwoch war Corona eines der wichtigsten Themen. Putin betonte dabei die Notwendigkeit einer Impfung, schloss eine Impfpflicht jedoch aus und sagte, dass durch die neue Impfstrategie der Regionen ein Lockdown hoffentlich verhindert werden könne. 
    Immer wieder werden kritische Stimmen laut, dass eine einheitliche Coronastrategie fehle: Die Regierung habe vielmehr lange den Eindruck erweckt, als sei die Coronagefahr gebannt. Und auch jetzt überlasse sie die Verantwortung den Regionen – wohl aus Angst, vor der Dumawahl im Herbst unpopuläre Maßnahmen zu ergreifen.

    Die Impfskepsis jedenfalls ist in Russland trotz der erschreckend hohen Zahlen nach wie vor groß: Laut John Hopkins University sind nur knapp 12 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft – und das, obwohl Russland mit Sputnik V als erstes Land einen Impfstoff zugelassen hatte. Laut Umfrageinstitut Lewada lehnen nach wie vor rund 60 Prozent der Menschen im Land eine Impfung ab. 

    In sozialen Medien entbrannte sogleich eine heftige Debatte über die teilweise geltende Impfpflicht. Die Linien verlaufen dabei jedoch nicht nur zwischen Corona-Leugnern, Impfgegnern und -befürwortern, vielmehr wird quer durch alle Milieus ein hohes Misstrauen gegenüber staatlich verordneten Maßnahmen deutlich. 

    Ein solches „Misstrauen auf allen Ebenen“ nimmt auch Journalist Andrej Sinizyn wahr und gibt auf Republic Einblick in ein zerrüttetes Gesundheits-und Vertrauenssystem.

    Impfmöglichkeit in einem Einkaufszentrum, Woronesh / Foto © Oleg Charsejew/Kommersant
    Impfmöglichkeit in einem Einkaufszentrum, Woronesh / Foto © Oleg Charsejew/Kommersant

    Letztes Jahr, als meine Zwillinge zwei Monate waren, fuhren wir in die Poliklinik, um sie vorschriftsgemäß impfen zu lassen. Wir gingen nacheinander ins Behandlungszimmer (die Mutter mit der Tochter und ich mit dem Sohn). Als wir fertig waren, wunderten wir uns, warum ein Kind eine Schluckimpfung gegen Rotaviren, das andere aber eine Spritze bekommen hatte. Doch auf unsere empörte Nachfrage entgegnete die Krankenschwester, das müsse so sein. Erst zu Hause sagte unsere wachsame Großmutter (eine Kinderärztin mit langjähriger Berufserfahrung), die gerade zu Besuch war, eine Rotaviren-Impfung würde niemals gespritzt. Wir fuhren sofort wieder hin und es stellte sich heraus, dass die Krankenschwester sich vertan und meinen Sohn gegen Hepatitis statt gegen Rotaviren geimpft hatte („Was ist schon dabei? Nächstes Mal machen wir es eben andersrum.“). 

    Falsche Impfung? „Was ist schon dabei?“

    Wir mussten ihn umgehend gegen Rotaviren und unsere Tochter gegen Hepatitis impfen lassen. Das war natürlich eine zusätzliche Belastung für den kleinen Körper (zuvor hatten beide auch noch „Prevenar“ bekommen), aber sonst wäre es noch gefährlicher geworden: Gegen Rotaviren gibt es eine Lebendimpfung, ein Kind könnte das andere anstecken, sie leben ja nicht nur zusammen, sie saugen auch noch an derselben Brust. 
    Selbstverständlich war der Papa schuld, weil er sich nicht im Voraus informiert hatte, welche Impfstoffe wie verabreicht werden. Anders gesagt, er hätte sich nicht blind auf die Pädiatrie verlassen dürfen, wo man offensichtlich Impfungen vertauscht, dies zunächst abstreitet und dann auch noch sagt: „Was ist schon dabei?“

    Gesundheitssystem am Boden – und dann bricht die Epidemie aus

    Der Papa ist ja nicht erst seit gestern auf der Welt, er hat schon seine Eltern zu Grabe getragen – verstorben an einem Infarkt und an Lungenkrebs, beides war im Bezirkskrankenhaus nicht diagnostiziert worden. Und auch er selbst hat schon bei Gesprächen mit Ärzten widersprüchliche Erfahrungen machen müssen. Ob Sowjetunion oder Russland, ob Kinder- oder Erwachsenenmedizin – die Qualitätsunterschiede sind nicht sonderlich groß. Alles hängt vom jeweiligen Krankenhaus, den jeweiligen Ärzten und jeweiligen Krankenschwestern ab, und die haben nicht wirklich viele Anreize, ihre Arbeit gut zu machen. Darüber wurde bereits hundertfach berichtet. Das Ausbildungsniveau, die technische Versorgung, die Gehälter, die Korruption, der Druck durch die Verwaltung (Buchhaltung und Schönung der Daten, damit das Ergebnis stimmt), der Druck durch die Behörden (Stichwort „Ärzteverschwörung“), die berüchtigte Optimierung des Gesundheitswesens – das alles sind Faktoren, weshalb die medizinische Versorgung in Russland in den letzten Jahren ins Bodenlose gestürzt ist.

    Und dann bricht in diesem Land eine Epidemie aus. Wir berichten über heldenhafte Ärzte, heldenhafte Krankenschwestern, heldenhafte Ehrenamtler – völlig zurecht. Sie sind Helden, sie retten Menschen, riskieren ihre Leben, sterben. Wir berichten von aus dem Nichts gestampften Covid-Krankenhäusern mit moderner Technik – auch zurecht, obwohl sich hier schon erste Fragen stellen: nach der medizinischen Versorgung jenseits von Covid und nach Korruption. 

    Korruption, Ineffizienz und schwindende Kompetenz

    Vergessen wir nicht, dass das russische Gesundheitssystem immer noch von Korruption, Ineffizienz und schwindender Kompetenz geprägt ist. Und wenn wirklich große Aufgaben wie die Impfung der gesamten Bevölkerung anstehen, wird das besonders deutlich.

    Die Novaya Gazeta berichtete davon, wie in Impfzentren Sputnik V gegen EpiVacCorona ausgetauscht wird (der Impfstoff hat zwar keine klinischen Studien durchlaufen, aber dafür hat der Leiter der Gesundheitsaufsichtsbehörde ihn mitentwickelt). Forscher haben ernsthafte Vorbehalte gegen EpiVac. Zudem wird einigen Patienten nach einer ersten Impfung mit Sputnik V als zweite Dosis EpiVac verabreicht, was prinzipiell nicht zulässig ist. Diese Fälle sind so häufig, dass sie sich nicht mehr mit Versehen oder Unwissenheit entschuldigen lassen – es scheint vielmehr, als bekämen die Kliniken entsprechende Anweisungen von oben. Zudem gibt es vermutlich Lieferengpässe bei Sputnik. Angenommen, Sputnik fehlt, die Logistik hinkt, aber, sieh an, EpiVac ist verfügbar – nehmen wir!

    Die Menschen, die der Novaya davon erzählt haben, werden vor Gericht ziehen. Aber wie viele Menschen, die wissen, dass sie betrogen wurden, ziehen nicht vor Gericht? Und wie viele wissen es nicht mal?

    Misstrauen auf allen Ebenen

    Wenn wir behaupten, der Unwille der russischen Bevölkerung, sich impfen zu lassen, käme vom Misstrauen gegenüber der Regierung, denken die meisten wohl an Putin, Mischustin, Sobjanin oder irgendwelche Minister und Bürgermeister. Aber Misstrauen herrscht auf allen Ebenen, auch auf der untersten: Misstrauen untereinander ist allen wohlbekannt.

    Gehört ein Arzt zum Machtapparat dazu? Für den Durchschnittsrussen absolut, und das seit Sowjetzeiten. Das Gesundheitswesen war ja staatlich (und ist es auch heute noch mehr oder weniger). Aber sogar, wenn es um konkrete Behandlungen geht, lehrt die Erfahrung mit diesem System einen Patienten, dass er ihm nur vertrauen soll, wenn es gar nicht anders geht. 60 Prozent der Lunge hin – na gut, dann rettet mich mal, wo wart ihr denn bislang? Aber mich impfen lassen? Nee, ich trink lieber einen Wodka, ein bewährtes Volksheilmittel. 

    Deswegen liegt Russland am 23. Juni mit einer Impfquote von 14,13 Prozent auch weltweit auf Platz 83. Während die Zahl der Infizierten unaufhaltsam steigt, Moskau und Petersburg brechen alle Rekorde bei der Corona-Sterberate.

    „Mich impfen lassen? Nee, ich trink lieber einen Wodka“

    In den sozialen Netzwerken wird hitzig diskutiert, ob das russische Volk gut oder böse sei, weil es sich trotz aller Gegebenheiten, trotz wirksamen Impfstoffs, nicht impfen lassen wolle und damit die Gesundheit anderer gefährde. Während die Regierung – endlich „aufgewacht“ – die Verantwortung für die Nicht-Impfung auf das Volk schiebt. 

    Aber eigentlich nehmen sich Volk und Regierung nicht viel. Das Problem ist nicht nur, dass ein Staat, der bisher gelogen hat, plötzlich die Wahrheit sagt und etwas Nützliches tut, während das Volk sein Glück nicht fassen kann und ihm nicht glaubt. Das Problem ist auch, dass der Staat das Nützliche mit seinen gewohnten Mitteln macht – sprich, einfach Mist –, indem er nur die halbe Wahrheit sagt, und auch die nur, wenn er davon einen Vorteil hat. Deswegen verliert nicht nur der Durchschnittsrusse den Überblick, sondern auch der Durchschnittsarzt, der zu diesem Russen sagt: „Der Impfstoff ist nicht ausreichend erforscht, lass dich lieber nicht impfen.“ 

    Aber die Beamten wären keine Beamten, wenn sie die Bürger nicht zur Impfung motivieren würden: durch strenge Regelungen in Restaurants, Druck auf Unternehmen, die Einführung einer 60-prozentigen Impfpflicht, Androhung von Diskriminierung und Kündigung. Sie übererfüllen die Norm und reproduzieren Sowjetpraktiken, denen die Bürger längst zu entgehen gelernt haben.

    Nicht alle natürlich. Die Impfpflicht („wie in der Sowjetunion“) kann die Quote anheben. Viele Bürger sind paternalistisch eingestellt; wenn eine „starke Hand“ uns zur Impfung zwingt – na dann machen wir’s halt. Aber irgendein „Impfkapital“ oben drauf, das wär doch fein? Natürlich mit der Verpflichtung, es in die Gesundheit zu investieren. Nur in die Gesundheit! Keine Auszahlung in bar, versteht sich … Na ja, höchstens für eine Reise in den Kaukasus. Oder für die Hypothek. Ein bisschen was für die Hypothek ist schon in Ordnung, oder Wladimir Wladimirowitsch? So kurz vor den Wahlen?

    Dann lassen wir uns auch impfen. Wenn wir dann noch leben.

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  • Spasibo, Herr Biden!

    Spasibo, Herr Biden!

    Massive Truppenverlegungen an die ukrainische Grenze haben in den vergangenen Tagen wiederholt Kriegsängste geschürt. Doch nun heißt es aufatmen, zumindest vorerst: Am Dienstag hat der US-Präsident Joe Biden Wladimir Putin angerufen und ihm ein Treffen in einem neutralen Land vorgeschlagen. 

    Bidens Angebot ist laut Andrej Sinizyn genau das, was der Kreml mit der Eskalation an der Grenze zur Ukraine angestrebt hat – ein Dialog „auf Augenhöhe“. Nachdem Biden den russischen Präsidenten als „Killer“ bezeichnet hat und zahlreiche westliche Politiker einen Tiefpunkt der Beziehungen zu Russland bescheinigt haben, bringt sich der Kreml offenbar zurück an den Verhandlungstisch. Gleichzeitig haben die USA am gestrigen Donnerstag, 15. April, neue Sanktionen gegen Russland verhängt – unter anderem wegen des SolarWinds-Cyberangriffs.
    Was kann bei so einem Gipfel also überhaupt rauskommen? Diese Frage stellt Sinizyn auf Republic.  

    Biden schlägt Putin ein Treffen vor – aber welche Ergebnisse sind von diesem Gipfel zu erwarten? / Foto © Matt Johnson/Flickr CC BY SA-2.0
    Biden schlägt Putin ein Treffen vor – aber welche Ergebnisse sind von diesem Gipfel zu erwarten? / Foto © Matt Johnson/Flickr CC BY SA-2.0

    Biden ist in diesem Spiel vorgeprescht – mit einem sehr guten Zug. Zumindest bis zu einem Gipfel wird es keinen Krieg geben, und der amerikanische Präsident ist in den Augen progressiver Kräfte ein Friedensstifter. 

    Völlig unklar ist, welche Ergebnisse von diesem Gipfel zu erwarten sind. Gemeinsame Themen außer Rüstungskontrolle gibt es zwischen den USA und Russland schon lange nicht mehr. Im Laufe der Vorbereitung wird der Kreml wahrscheinlich demonstrative Schritte Richtung „Entspannung“ (vielleicht die Entlassung von Alexej Nawalny?) einleiten. Aber natürlich wird er im Gegenzug verlangen, dass die Sanktionen gelockert werden, die technische Zusammenarbeit wieder aufgenommen wird et cetera. Washington wird darauf nicht eingehen, „nach allem, was war“.  

    Putin wird natürlich darauf bestehen, dass die Ukraine die Minsker Vereinbarungen umsetzt ohne jegliche Anpassungen (wie sie zuvor Wolodymyr Selensky vorgeschlagen hatte). Hier wird Putin wohl kaum mit der Unterstützung Bidens rechnen können, doch der Kreml wird bemüht sein, schon vor dem Gipfel Druck auf Selensky auszuüben – damit der „von sich aus um Verzeihung bittet“.

    Insgesamt wird es keinen Durchbruch geben, wie es ihn auch bei den Treffen von Putin mit Trump nicht gegeben hat. Die große Frage ist: Wie lange hält der Friedenseffekt von Bidens Anruf und dem geplanten Gipfel? Das traurige Fazit aus dem aktuellen Geschehen ist, dass Russland keine Hebel mehr hat, um sich in die Weltpolitik einzubringen und Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – außer durch Androhung eines Krieges.  

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  • Vom Säbelrasseln zum Krieg?

    Vom Säbelrasseln zum Krieg?

    Im Osten der Ukraine bahnt sich eine neue Krise an: Seit dem Frühjahr gibt es vermehrt Schusswechsel, trotz einer vereinbarten Waffenruhe sind 2021 schon rund 50 Menschen gestorben. Während der Kreml Truppenverlegungen an die ukrainische Grenze anordnet, läuft die Propaganda des russischen Staatsfernsehens auf Hochtouren: Die Ukraine bereite einen Angriff vor, Russlands „Friedenstruppen“ seien bereit, im Donbass einzumarschieren und dort für Ordnung zu sorgen, so der Tenor. 

    Die Ukraine versetzt Truppen in Bereitschaft und sucht Beistand im Ausland: In einem Telefonat mit dem ukrainischen Präsidenten Selensky sagte Joe Biden, dass die Ukraine auf die „unerschütterliche Unterstützung“ Amerikas zählen könne. 

    Die Einschätzungen der Lage gehen in Russland weit auseinander: Der russische Militärexperte Pawel Felgengauer glaubt etwa, dass die Krise sich im Extremfall sogar zu einem Weltkrieg auswachsen könne. Für Felgengauers Mitstreiter Alexander Golz ist sie vor allem Säbelrasseln, das dem Aufbau einer Drohkulisse gegenüber dem Westen dient. 

    Auch Fjodor Krascheninnikow argumentiert, dass Putin wohl keinen neuen Krieg will. Auf Republic kommentiert der Journalist, was der Kreml mit der aktuellen Eskalation beabsichtigt und warum die Situation trotz allem brandgefährlich ist.

    Im Internet häufen sich Aufnahmen von Militärfahrzeugen entlang der ukrainischen Grenze – laut „The Insider“ die größte Konzentration russischer Truppen dort seit 2015 / Screenshot © The Insider

    Warum braucht Putin einen Krieg? Die Frage mag denen idiotisch erscheinen, die schon alle Argumente rauf und runtergenudelt haben: Die Beliebtheitswerte sinken, der Westen will nur über Nawalny reden, und überhaupt – die weltumspannende Figur des Dr. Evil verlangt nach Aggression. Beständiges Geheul im Sumpf der Propaganda. Irgendwas hat das doch zu bedeuten. Gerade mit dem ganzen Militärgerät vor Augen.

    Die Staffeln von Militärgerät wirken besonders beunruhigend. Das geflügelte Wort, dass auch eine ungeladene Pistole einmal im Jahr losgeht, lässt Bedenken aufkommen, ob Riesenmengen an schweren Waffen und Soldaten, die sich am selben Ort befinden, nicht unweigerlich mit einer Schießerei enden. 

    Alles andere ist bei genauerem Nachdenken bedeutungslos. Bereitet man sich auf einen echten Krieg vor, dann jault man darüber nicht von morgens bis abends. 

    Das ist die dümmste aller Kriegsvorbereitungen, die man sich vorstellen kann

    Das Ergebnis ist irgendein Blödsinn: Putin hat beschlossen Krieg zu führen, hat dem Gegner aber einen Haufen Zeit gegeben sich vorzubereiten. Und damit der mehr Argumente zur Mobilisierung der Nachbarn zwecks Unterstützung hat – wird noch Angst geschürt und von morgens bis abends demonstriert, wie ernsthaft das Vorhaben ist. Es gibt natürlich alles Mögliche, aber das ist die dümmste aller Kriegsvorbereitungen, die man sich vorstellen kann.

    Wie sehr sich Chauvinisten auch versichern, dass die Ukraine keine Armee hat, keine hatte und keine haben wird – das entspricht im Frühjahr 2021 nicht den Tatsachen: Es gibt dort eine Armee, und selbst wenn es nicht die beste auf der Welt ist, so kann sie dem Gegner doch Schaden zufügen. Schaden – das bedeutet, falls es jemand nicht verstanden hat, Leichen unter unseren Landsleuten. Hunderte, tausende, im schlimmsten Fall zehntausende Leichen.

    2021 ist nicht 2014

    Der Unterschied zwischen unserer Zeit und der jüngsten Vergangenheit besteht darin, dass Opfer in der Gesellschaft schon lange nicht mehr als etwas Selbstverständliches angesehen werden. Es ist kein Zufall, dass die im letzten Ukrainekrieg und bei anderen geopolitischen Abenteuern Gefallenen ohne großen Pathos beerdigt werden und großer Aufwand betrieben wird, damit ihre Familien nicht vor aller Augen trauern. Das Krim-Epos brachte Putin einen so großen Erfolg ein, weil beim Normalbürger der Eindruck entstand, es wäre kein Blut geflossen.

    Ich wage zu behaupten, dass selbst der schwächste Widerstand der ukrainischen Armee unsere Falken verschrecken und überhaupt die ganze patriotische Messe vermiesen könnte: Höfliche Menschen, die von Krimbewohnern mit Blumen begrüßt werden, und ein ukrainischer Admiral, der in den russischen Dienst überläuft – das ist eine Sache. Aber Krieg, Leichen und Schusswechsel sind eine völlig andere Sache. Kommt mir nicht mit „Rückkehr in den Heimathafen“. Es ist völlig offensichtlich, dass die ukrainische Armee im Jahr 2021 bereit ist für einen Krieg. Schüsse und Opfer wird man da auf keinen Fall vermeiden können. 

    Das Rasseln mit den Säbeln ist weitaus wirkungsvoller als ihr Einsatz

    Der Krieg als Möglichkeit, um den Verhandlungen mit dem Westen einen anderen Dreh zu geben, scheint eine logische Variante zu sein. Doch auch hier scheint das Rasseln mit den Säbeln weitaus wirkungsvoller zu sein als ihr Einsatz. Denn wenn ein Krieg ausbricht, dann werden die Verhandlungen enden, und es ist unklar, wer in welcher Position ist, wenn erneut Verhandlungen aufgenommen werden. Darum ist eine Kriegsdrohung deutlich besser als ein Krieg, wenn es um Verhandlungstaktiken geht.   

    Auch die innenpolitischen Probleme Putins verlangen nicht nach einem handfesten Krieg. Diskussionen um innere Probleme kann man mit demonstrativen Kriegsvorbereitungen vermeiden, nicht mit einem Krieg. Um die Stammwählerschaft zu mobilisieren (auf alle anderen wird doch eh schon längst gepfiffen, falls das jemand noch nicht bemerkt hat) und rituellen Segen für weitere Gewalt gegen die Opposition zu bekommen – dafür braucht es sicher keinen Krieg als solchen, zumindest keinen realen. Die Leute wurden dazu erzogen, dem Fernseher zu vertrauen – und sie werden leicht daran glauben, Putin habe auch ohne Krieg alle überlistet, oder der Krieg habe schon stattgefunden und mit einem weiteren Sieg für uns geendet.

    Das Feiglingsspiel

    In der Mathematik gibt es den Bereich der Spieltheorie. Beachtenswert ist da das Chicken Game, das in einer einfachen Variante so aussieht: Zwei Autofahrer jagen aufeinander zu, und wer als erstes der Gefahr ausweicht, der ist ein Feigling. Und wer nicht ausweicht, der gewinnt. Falls keiner ausweicht, können beide beim Unfall umkommen.

    Damit der Gegenspieler garantiert als erstes ausweicht, ist es sinnvoll, vorab Leichtsinn oder gar Fatalismus zu demonstrieren: Der Gegner soll denken, dass dieser Dummkopf tatsächlich bereit ist zu sterben und den anderen mit ins Grab zu ziehen.

    Genau dieses Spiel spielt Putin nun mit dem Westen. Auf der einen Seite gibt es ihn, den Diktator, der mit allen Mitteln demonstriert, dass ihn die Meinung irgendwelcher Unzufriedener im eigenen Land überhaupt nicht interessiert, der nicht vorhat, sich in irgendwelchen Wahlkämpfen zu behaupten, und sich deswegen auch egal was erlauben kann – sei es, bis zum Äußersten zu gehen und tatsächlich einen Krieg anzuzetteln, oder seien es Zugeständnisse. Auf der anderen Seite gibt es die Eliten des Westens und allen voran der USA, die sehr wohl abhängig sind von der öffentlichen Meinung im eigenen Land und voneinander.

    Wolltet ihr etwa wirklich einen Krieg mit Russland wegen irgendeiner Ukraine?

    Darin liegt anscheinend Putins größter Trumpf: Die gegenwärtige westliche Moral macht Krieg zu einer größeren Schmach als Feigheit. Das gibt den westlichen Herrschern die Möglichkeit, im letzten Moment vom Pfad der Konfrontation abzuspringen und den Wählern zu sagen: Wolltet ihr etwa wirklich einen Krieg mit Russland wegen irgendeiner Ukraine?

    Genau darauf spekuliert Putin, wie es scheint: dass der Westen im Augenblick der größten Anspannung einen Rückzieher macht und sich nicht nur damit abfindet, dass die Krim russisch ist, sondern auch damit, dass die Ukraine zur russischen Einflusssphäre gehört und man sich in innere Angelegenheiten Russlands eben keinesfalls einzumischen hat. 

    Drohender Kontrollverlust

    Wenn der Welt und uns allen etwas droht, dann, dass die massenhafte Konzentration von bewaffneten Menschen und Militärtechnik an einem Ort zu einer Entwicklung der Ereignisse führen kann, die von niemandem mehr beherrscht wird. Putin, Biden und Selensky versuchen vielleicht globale Probleme zu lösen. Aber dann sind da ja auch noch die Offiziere und Generäle der Armeen und Geheimdienste, für die Krieg ein absolut legitimes Mittel zum Aufstieg auf der Karriereleiter ist. Und schließlich gibt es einfach auch noch Abenteurer, Sadisten, Beutemacher und andere Halunken verschiedenster Couleur, denen der Krieg eine Chance bietet, ihre alles andere als globalen Probleme zu lösen.

    Der Krieg könnte wie zufällig beginnen – als Antwort auf eine weitere Provokation, als lokale Operation, als Ergebnis einer falschen Lageeinschätzung oder als bewusste Manipulation von jemandem, dem persönlich an einer Eskalation gelegen ist. Den ersten Schritt könnte auch die Ukraine machen, denn auch für deren Regierung wäre das eine völlig erklärbare Strategie: Auf einen Krieg kann man vieles abschieben und Probleme hat Selensky genug. Kurz gesagt, momentan könnte alles mögliche passieren, durch das Verschulden von einer beliebigen Seite. Aber wenn ein Krieg ausbricht, dann ist das nie zufällig, sondern die gesetzmäßige Folge dessen, was in den vergangenen Jahren passiert ist. 
    Und dennoch bleibt die Hoffnung, dass es nicht zu einem großen Krieg kommt. Moderne Kommunikationsmittel bieten die Chance, dass im letzten Moment trotz allem der Befehl ankommt, der heißt: Entwarnung.

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  • Bidens Bärendienst

    Bidens Bärendienst

    Denken Sie, dass Putin ein Killer ist? „Das tue ich“, antwortet Joe Biden, als US-Präsident noch ziemlich frisch im Amt, im ABC-Interview und löst damit eine weltweite Debatte aus: Endlich deutliche Worte? Unverschämte Beleidigung? Oder Zeichen dafür, dass die USA Russland (von Obama als „Regionalmacht“ geschmäht) wieder ernst nehmen, und sei es als Bedrohung – wie es der Historiker Sergej Radtschenko im Interview mit Meduza nahelegt. Insofern legitimiere Bidens Aussage Putin geradezu. 

    Der russische Präsident hatte zunächst mit einer Anekdote aus seiner Kindheit im Petersburger Hinterhof gekontert, damals hätte es geheißen: „Wer anderen einen Namen gibt, heißt selbst so.“ Er wünsche Biden Gesundheit, „ohne Ironie“, und bot ihm außerdem ein Gespräch an, online und live. Das Weiße Haus reagierte ausweichend, man werde sicher irgendwann wieder miteinander reden. Unmittelbar nach dem Interview hatte Moskau seinen Botschafter aus Washington zu Beratungen zurückbeordert.

    Ganz egal, welche Auswirkungen Bidens Antwort auf die russisch-amerikanischen Beziehungen haben mag: Vor allem spielt Biden der russischen Wir-sind-von-Feinden-umzingelt-Propaganda in die Hände, findet Iwan Dawydow in seinem Kommentar auf Republic.

    Der Präsident der Vereinigten Staaten hat den russischen Politikern und Propagandisten ein echtes Geschenk gemacht. Noch nie war es so leicht, Loyalität zu demonstrieren. Nach der (übrigens ziemlich unvorsichtigen) Bemerkung von Biden ist ein regelrechter Wettstreit darüber entflammt, wer wohl mutiger zurückschlagen oder sich liebedienerischer beim Führer einschleimen könne. Es lassen sich gar nicht alle zitieren – es gab bereits dutzende Reaktionen, und dieser Karneval wird wohl noch mindestens bis zum Ende der Woche andauern.

    Nehmen wir zum Beispiel Andrej Turtschak von der Regierungspartei Einiges Russland (in Journalistenkreisen natürlich vor allem für seine leidenschaftliche Liebe zu Eisenstangen bekannt): „Bidens Aussage ist Triumph des politischen Wahnsinns der USA und der altersbedingten Demenz seines Führers. Eine aus Hilflosigkeit geborene äußerste Stufe der Aggression.“ Was dann folgt ist beinahe poetisch, oder wie soll man es nennen, wenn etwas derart Heiliges berührt wird: „Wir besiegen die Pandemie. Unser Impfstoff ist der beste der Welt – die anderen planen nur. Wir haben die Familie und ihre Werte – die haben Gender und Transgender.“ Und das Wichtigste: „Überhaupt ist es schlicht eine schamlose und widerwärtige Aussage. Es ist eine Kampfansage an unser ganzes Land.“

    Oder Wjatscheslaw Wolodin. Der Duma-Vorsitzende verzichtet auf jedwede Sentimentalität und kommt direkt zum Punkt: „Biden hat mit seiner Äußerung die Bürger unseres Landes beleidigt. Aus einer ohnmächtigen Hysterie heraus. Putin ist unser Präsident, Angriffe auf ihn sind Angriffe auf unser Land.“

    Diese beiden prominenten Vertreter von Einiges Russland sind sehr politikerfahren. Oder, besser gesagt, erfahren in etwas, das in Russland schon seit Langem die Politik ersetzt. Beide spüren genau, was geschehen ist. Und beide setzen ohne zu zögern ein Gleichheitszeichen – und man beachte den feinen Unterschied – nicht zwischen Putin und dem Staat, sondern zwischen Putin und dem Land. Russland ist Putin. Sein Schmerz ist unser Schmerz. Anders kann es gar nicht sein. 

    Russland ist Putin. Sein Schmerz ist unser Schmerz

    Während sich weise Analytiker fragen, ob wir eine neue Stufe der Verschlechterung der russisch-amerikanischen Beziehungen zu erwarten haben (falls das überhaupt möglich ist), wollen wir einen Blick darauf werfen, was uns die Ereignisse über die Struktur des russischen Regimes verraten.

    Regimekritiker sprechen oft – und nachdrücklich – von der „internationalen Isolation Russlands“. Die Verteidiger des Regimes weisen diesen Vorwurf zornig zurück und behaupten, die Isolation Russlands sei ein Mythos, wobei sie sich zum Beweis auf irgendein weiteres Abkommen mit Togo über die Nichtverbreitung von Waffen im Weltraum berufen. 

    Ich würde gern mal die Begriffe genauer klären:

    Alle Probleme in den Beziehungen zu Europa und den USA hat sich Putins Russland selbst geschaffen. Sukzessive, zielstrebig, über mehrere Jahre (dieser Text erscheint übrigens am Jahrestag der Rückkehr einer gewissen Halbinsel in den Heimathafen, herzlichen Glückwunsch, liebe russische Staatsbürger). Das heißt, es ist angemessener, nicht von „Isolation“, sondern von „Selbstisolation“ zu sprechen. Die russische Föderation hat auf internationaler Ebene die Praxis der Selbstisolation eingeführt.

    Anfänglich sah es wie eine „Gefechtsaufklärung“ aus, oder sogar, ich bitte um Entschuldigung, wie ein Test: Wenn wir den Westen hier anpieksen, wie wird er reagieren? Und hier? Aber mit der Zeit entwickelte sich dies zu einer Praxis, die vor allem für den internen Gebrauch notwendig war.
    Normale Beziehungen zum „kollektiven Westen“ werden sich nicht mehr herstellen lassen, immer weniger sind die dortigen Politiker bereit, in Putin einen verhandlungsfähigen Partner zu sehen (ich nehme übrigens an, dass Biden etwas Derartiges meinte, falls seine Bemerkung überhaupt irgendeinen Sinn hatte). Denn Putin ist Russland – denken Sie an die oben angeführten Sieger-Zitate im Wettkampf um die Liebe zum Präsidenten. Man kann ihn nicht ausklammern, und man kann auch Russland nicht gänzlich aus dem internationalen Leben streichen – letztendlich ist es zu groß, zu reich an immer noch wichtigen fossilen Brennstoffen und zu gefährlich. Also wird man es zähneknirschend ertragen. Wohin auch mit ihm – der Erdball ist klein.

    Und wenn das nunmal so ist, dann kann man dem Westen ganz unverblümt Gopnik-Streiche spielen und jeden seiner Versuche, darauf zu reagieren, zum eigenen Vorteil wenden.

    Konflikt als Strategie

    Sanktionen erfreuen die russische Führung immer weniger, aber sie bringen sie nicht um (auch künftig nicht, das ist ebenfalls klar). Also ist für die innere Ordnung jede Verschärfung der Beziehungen zur Welt ein Geschenk. Worte sind hier noch willkommener als Taten. Biden hat Putin Killer genannt – nun, dann hat er ihn eben so genannt – wie viele Vorteile lassen sich doch daraus ziehen! Und zwar hier in Russland, wenn es um die Aufgabe des Machterhalts geht.

    Andere Aufgaben gibt es schon lange nicht mehr und seit die Bürger der Verfassungsänderung bei der Abstimmung an frischer Luft auf Baumstümpfen zugestimmt haben, wird nicht einmal mehr sonderlich versucht, diese Tatsache zu verbergen.

    Erheben die verdammten Russophoben jenseits des Ozeans etwa ihre Köpfe? Wagen sie es, unseren Wladimir, die Rote Sonne, zu beleidigen? Wie bitte? Auf die unverschämten Machenschaften des Buchhalters Kukuschkind werden wir, die Russen, antworten wie aus einem Mund: Rückt nahe zusammen! Schließt die Reihen! Der Feind steht vor der Tür!

    Biden hat Putin Killer genannt – nun, dann hat er ihn eben so genannt – wie viele Vorteile lassen sich doch daraus ziehen!

    Doch der eigentliche Feind des Regimes ist die eigene Bevölkerung. Deren Maß an Geduld ist zwar riesig, aber vermutlich doch nicht grenzenlos. Gegen ihre (hypothetischen) Einmischungsversuche in die Politik gilt es sich zu schützen. Mit einem Regime der Selbstisolation auf internationaler Ebene lässt sich die Notwendigkeit solcher Schutzmaßnahmen wunderbar rechtfertigen:

    All die endlosen Kommissionen, die „den Tatbestand ausländischer Einmischung untersuchen“, die Strafgesetze für ausländische Agenten, die Geschichten über eine internationale Verschwörung gegen Russland, das Einimpfen von Hass gegen die Welt über die staatlichen Fernsehsender ist nicht etwa deshalb nötig, weil die derzeitige russische Führung tatsächlich Angst vor einer Bedrohung durch den „kollektiven“ (das heißt fiktiven) Westen hat.

    Wobei es natürlich sein kann, dass sie mittlerweile tatsächlich Angst hat. Es spricht viel dafür, dass unsere Politiker, angefangen beim obersten Führer, irgendwann begonnen haben, an ihre eigene Propaganda zu glauben. Aber das ist nicht das Entscheidende.

    Das Entscheidende ist, dass es in einem Regime, das sich in internationaler Selbstisolaton befindet, leicht ist, jeden internen Kritiker zu einem Handlanger des Westens zu erklären, ihm seine Selbstbestimmung abzusprechen und ihn nicht (nur) zum Feind, sondern schlimmer noch, zum Komplizen des Feindes, zum Verräter zu machen. Ein Krieg vereinfacht das Weltbild stark, und ob tatsächlich Krieg herrscht, spielt im Endeffekt keine Rolle.

    Wenn du aber daran zweifelst, dass Krieg herrscht, heißt das, du bist ein feindlicher Agent.

    Der Leere entgegen

    Sinnvoller als darüber nachzudenken, wie sich Bidens kurze Bemerkung auf die russisch-amerikanischen Beziehungen auswirken werden, scheint es daher, sich Gedanken zu machen, was das Regime in seiner Selbstisolation auf internationaler Bühne der einfachen russischen Bevölkerung bereits (ein)gebracht hat und noch einbringen wird.

    Und hier liegen die Dinge sehr einfach. Es bedeutet, dass ein Russe, der von einem Polizisten zusammengeschlagen wurde (weil er Parolen gerufen hat, einen falschen Gesichtsausdruck hatte oder dem Polizisten zufällig seine Brieftasche gefiel) sich vom Vorsitzenden des Rats für Menschenrechte eine erbauliche Rede darüber anhören darf, wie wichtig es ist, unsere Sicherheitsbeamten zu unterstützen, die uns vor Terroristen und Verschwörern schützen. Das ist alles, was er zu hören bekommt, denn die wirklichen Menschenrechtsverteidiger haben immer weniger Raum zu überleben.

    Es bedeutet, dass es keine unabhängigen NGOs mehr geben wird, die die Wahlen verfolgen, Diabetikern helfen oder sich um obdachlose Katzen kümmern. Und es wird auch keine unabhängigen Aufklärungskampagnen mehr geben (die sowieso schon faktisch verboten sind).

    Es wird auch keine unabhängigen Medien mehr geben. Wenn sogar die Verfassung auf Bitten der Werktätigen hin geändert werden kann, warum sollte dann nicht auch eine Zeitung auf den Wunsch der Männer des Achmat-Kadyrow-Regiments geschlossen werden können? Und so wird es weitergehen.

    Für den Streit der Herren, die die Welt regieren, muss immer der Knecht seinen Kopf hinhalten.

    PS: Die Praxis der Selbstisolation ist durchaus wirksam, wir sind leider Zeugen davon. Ganz ohne Makel ist sie jedoch nicht: Unweigerlich wird der Moment kommen, da der Verweis auf die Machenschaften ausländischer Feinde und ihrer hiesigen Mitläufer nicht mehr als Antwort auf jede beliebige Frage ausreichen wird, schon gar nicht auf die einfachen. Also nicht die Fragen zu Wahlen und anderen komplizierten Angelegenheiten, sondern nach den Preisen in den Läden.

    Die Zerstörung jeglicher wirklicher Kommunikationskanäle mit der Gesellschaft ist kein Weg zur Stabilität, sondern zu einer Explosion. Aber erstens kann es ein langer Weg sein und zweitens gibt es keine Garantie, dass nach der Explosion auf den Trümmern der Autokratie von selbst ein wunderschönes Russland der Zukunft erwächst. Nach einer Explosion ist da normalerweise erstmal ein Krater. Ein Loch.

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  • Sanktionen – bitte nicht zu viel erwarten!

    Sanktionen – bitte nicht zu viel erwarten!

    Der inhaftierte Kreml-Kritiker Alexej Nawalny soll seine rund zweieinhalbjährige Haftstrafe laut Medienberichten in der „Besserungskolonie Nummer 2“ (IK-2) der Strafvollzugsbehörde von Wladimir absitzen. Auf Papier sind die Haftbedingungen dieser Anstalt „mit allgemeinem Strafvollzug“ weniger hart als in anderen Lagern. Anwälte von Insassen beschreiben IK-2 jedoch als ein Straflager, das auf die „totale Vernichtung des Menschen“ ausgelegt sei.

    Dass die Wahl gerade auf diese Haftanstalt rund 100 Kilometer östlich von Moskau fiel – das bewertet Kirill Rogow als persönliche Rache des russischen Präsidenten. In seinem Blog auf Echo Moskwy schreibt der Politologe, dass Nawalnys Verlegung in die berüchtigte „Folterkolonie“ nicht nur deshalb möglich war, weil es im Land keinen breiten Protest gegen die Verurteilung gab. „Es war auch das Ergebnis der diplomatisch beschämenden Mission von Josep Borrell und der EU als Ganzes.“ 

    Die EU wendet voraussichtlich heute erstmals ihr neues Sanktionsregime für Menschenrechte an. Dabei sollen einzelne Silowiki wegen Vorgehens gegen Nawalny mit Vermögenssperren und Einreiseverboten bestraft werden. 
    Ähnlich wie Rogow kritisieren einige Liberale und Oppositionelle die neuen EU-Sanktionen als zahnlos. Fjodor Krascheninnikow – der gemeinsam mit Nawalnys Wahlkampfleiter Leonid Wolkow ein Buch geschrieben hat – sieht das etwas anders: Auf Republic erklärt der Politologe die grundsätzliche Logik von Sanktionen und deren (ambivalente) Folgen.  

    Die Bekanntgabe des EU-Sanktionspakets hat für große Enttäuschung unter den Regimekritikern gesorgt. Diese hatten sich selbst erfolgreich davon überzeugt, es könne westliche Sanktionen geben, die alle Probleme Russlands auf einen Schlag lösen. Und die außerdem Wladimir Wladimirowitsch, wenn schon nicht zum Weinen und zum Rücktritt, dann doch zumindest zur Freilassung Alexej Anatoljewitsch Nawalnys bringen würden und außerdem dazu, mit den ganzen Repressionen aufzuhören. 

    Keine Frage, die europäischen Sanktionen hätten deutlich schärfer ausfallen und einen größeren Kreis von Personen treffen können, die an der Tyrannei beteiligt sind. Aber ist das Ergebnis wirklich so schlecht? Oder steckt hinter den zaghaften Sanktionen vielleicht doch mehr als nur die Feigheit europäischer Politiker? 

    Die Sanktionen – aus den unterschiedlichen Gräben heraus betrachtet

    Die Sichtweise, die sich wohl am leichtesten nachvollziehen lässt, ist die der russischen Bürger, die mit dem gegenwärtigen Putin-Regime nicht einverstanden sind.

    Für sie wird immer deutlicher, dass Sanktionen nur sinnvoll sind, wenn sie sich gegen konkrete Personen richten, die vom bestehenden System profitieren – am besten gegen diejenigen, die dem unabsetzbaren Leader besonders nahestehen. Denn die „sektoralen Sanktionen“ treffen die russische Wirtschaft. Den daraus resultierenden Schaden gibt die gegenwärtige Elite gekonnt an die einfachen Bürger weiter: Sie sind es, die leiden, während die Eliten ihre Verluste kompensieren, das sollte jedem klar sein. Auch ein Aus der unseligen Pipeline Nord Stream 2 wäre schlimmstenfalls eine psychologische Niederlage und würde niemandem aus Putins Umfeld tatsächlich das Leben schwer machen; und falls doch, finden sich für die Geschädigten andere oder gänzlich neue lukrative Projekte.

    Ein Aus der unseligen Pipeline Nord Stream 2 wäre schlimmstenfalls eine psychologische Niederlage

    Manche meinen immer noch, dass eine allmähliche Verschlechterung des Lebensstandards die Bürger zu der Einsicht bringt, dass sich politisch etwas ändern muss. Diese Theorie mag überzeugend klingen, erweist sich bei näherer Betrachtung allerdings als eine Abwandlung der berühmten Theorie vom Kühlschrank, der den Fernseher besiegt.  

    Zeit, sich von ihr zu verabschieden.

    Erstens: Nichts ist gut an der Vorstellung, dass es allen zunehmend schlechter geht. Die Propaganda lässt sich die Wortfolge „Sanktionen gegen Russland“ nicht umsonst auf der Zunge zergehen, und erklärt damit, wer da genau Russland und jedem seiner Bürger schadet. Man muss schon sehr fanatisch oder zynisch sein, um allen, einschließlich sich selbst, den Abstieg in die Armut zu wünschen. Außerdem sollten wir nicht vergessen, dass Putin nicht ewig ist. Wenn die Wirtschaft bei seinem Abgang am Boden liegt, schadet das weniger ihm als uns – und zwar für viele Jahre.

    Nichts ist gut an der Vorstellung, dass es allen zunehmend schlechter geht

    Zweitens: Wenn sich der Lebensstandard zunehmend verschlechtert, beschleunigt das nicht den Anstieg der oppositionellen Gesinnung. Die Menschen würden sich vielmehr an die neuen Lebensumstände gewöhnen und nur immer mehr Kraft darauf verwenden, ihre alltäglichen und finanziellen Sorgen zu bewältigen. Folglich bliebe für politische Aktivität wenig Zeit, und auch die Risikobereitschaft würde nicht gerade größer. 

    Außerdem: Je ärmer der Durchschnittsbürger, desto weniger bedarf es, um ihn mit Almosen zu kaufen oder mit einem Jobverlust einzuschüchtern, sollte er an Protesten teilnehmen oder sich anderweitig ungebührlich verhalten.

    Wenn Wirtschaftssanktionen also eine schnelle und sichtbare Wirkung haben sollen, müssen sie extrem hart sein.

    Was könnte das sein? Außer dem Ausschluss aus dem SWIFT-System fällt einem wenig ein. Die Folge wäre eine Zerstörung oder zumindest eine schwerwiegende Schädigung des Bankensystems. Diese Maßnahme ist derzeit kaum denkbar – und das ist auch gut so. 

    Die Sichtweise des Westens

    Wie sehen die westlichen Staats- und Regierungschefs die Situation, und warum sind sie, gelinde gesagt, so vorsichtig?

    Erstens: Sie möchten sich nicht selbst schaden. Die konfrontative Rhetorik der russischen Regierung, die in letzter Zeit immer häufiger erklingt, hat eine ziemlich klare Botschaft: Als Krieg betrachtet der Kreml nicht nur die gute alte Überschreitung einer territorialen Grenze durch eine feindliche Armee, sondern alles, was erheblichen Schaden anrichtet. Das kann man natürlich für einen Bluff halten, aber wer möchte schon das Risiko auf sich nehmen, sich in solch heiklen Fragen zu irren? Jeder Staats- und Regierungschef eines demokratischen Landes ist sich darüber im Klaren, dass er keinen Dank ernten wird, wenn seine wirtschaftspolitische Entscheidung zu einem militärischen Konflikt mit Russland führt, noch dazu ist völlig unklar, wie das alles ausgehen würde. 
    Der Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-System könnte im Kreml durchaus als eine solche Kriegshandlung gedeutet werden, mit allen erwartbaren Konsequenzen. Genau darauf spielt der Kreml unentwegt an. Und genau deswegen wird es in nächster Zukunft auch keinen Ausschluss geben.

    Als Krieg betrachtet der Kreml alles, was erheblichen Schaden anrichtet

    Zweitens: In der Vorstellung von westlichen Staats- und Regierungschefs sieht die Welt ganz anders aus, als wir oder unsere Regierung sie sehen. Ihnen fällt es schwer, zu glauben, dass ein Regierungschef im 21. Jahrhundert sein Land in die Armut und Isolation treiben könnte, nur um seine Macht zu erhalten. Einfacher ist es, sich tröstende Theorien auszudenken, dass alles nicht so schlimm sei oder man im Kreml schon zur Vernunft kommen und sagen werde, dass das alles nur ein Witz gewesen sei, oder dass die Sache sich irgendwie von allein klärt. 
    Sich selbst erheblich zu schaden, nur um jemand anderen zu verärgern – das ist im Westen kein gängiges Verhaltensmuster. Genau das tut die russische Regierung aber und dies hat obendrein einen demoralisierenden Effekt: Was sollen Sanktionen bringen, wenn eine Regierung den eigenen Bürgern mit Gegensanktionen sogar mehr schadet? 

    In der Vorstellung von westlichen Staats- und Regierungschefs sieht die Welt ganz anders aus, als wir oder unsere Regierung sie sehen

    Drittens: Die in westlicher Rechtstradition erzogenen Staats- und Regierungschefs Europas und der USA können nicht so einfach zustimmen, dass Milliardäre aus dem Umkreis des russischen Präsidenten oder gar ihre Familienmitglieder mit Sanktionen belegt werden, nur weil sie Putin nahestehen. Denn das gilt es juristisch erst einmal nachzuweisen. 

    Und leider ist das auch richtig so: Denn heute wird einer wegen einer vermeintlichen Nähe zu Putin mit Sanktionen belegt, morgen ein weiterer, weil er irgendjemand anderem nahesteht – ohne Beweise im westlichen Sinne des Wortes. Das kann ziemlich ausufern, dieses Kapitel hat Europa bereits hinter sich und möchte es nicht wiederholen. Man braucht also Beweise, und die wird es früher oder später zweifellos geben.

    Viertens: Es kann durchaus sein, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs die verhängten Sanktionen als hart empfinden. Um den Unterschied in der Herangehensweise zu verstehen, sollten wir uns ein Beispiel aus einem anderen Bereich ansehen: Aus Sicht eines Durchschnittsrussen verbüßt der Massenmörder Breivik seine Gefängnisstrafe unter so komfortablen Bedingungen, dass so mancher unserer Landsleute gar nicht versteht, worin denn eigentlich die Strafe liegt. In Norwegen dagegen, und nicht nur dort, sieht man den Sinn einer Gefängnisstrafe nicht in der täglichen Demütigung – durch schlechte Lebensbedingungen oder durch die Schikane der Wärter und Mitinsassen –, sondern im Freiheitsentzug und der Isolation von der Gesellschaft. Aus Sicht der norwegischen Gesellschaft wurde Breivik also hart bestraft: Ihm wurde die Freiheit entzogen. 

    Es kann durchaus sein, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs die verhängten Sanktionen als hart empfinden

    Genauso ist es mit den Sanktionen: Aus ihrer Sicht haben die europäischen Politiker etwas sehr Gravierendes getan. Genauso wie unsere Regierung und Propaganda davon ausgeht, dass es im Rest der Welt ungefähr so zugeht wie in Russland, nur dass alle anderen mehr heucheln, so geht man auch in Europa naiverweise davon aus, dass Russland in etwa wie ein gewöhnliches europäisches Land ist, nur dass es merkwürdigerweise „in Richtung Autoritarismus driftet“, wie Josep Borell es ausdrückte. Man kann ihn und viele andere verstehen: Es fällt ihnen schon schwer einzuräumen, dass Russland in den 2020er Jahren „in Richtung Autoritarismus driftet“, wie sollen sie da akzeptieren, dass wir den Autoritarismus längst hinter uns gelassen haben und rasend schnell auf ganz andere „ismen“ zusteuern?

    Die Sichtweise des Kreml

    Die Bekanntgabe von personenbezogenen Sanktionen gegen einige Silowiki beunruhigt wohl kaum jemanden im Kreml.

    In Europa mag ein Justizminister oder Chef des Sicherheitsdienstes in erster Linie eine souveräne Person mit einem Privatleben und eigenen Interessen sein. In Russland aber sind das austauschbare Beamte, deren Hauptqualifikation in ihrem Gehorsam gegenüber der Obrigkeit besteht. Menschen, die sich weigern könnten, eine Anordnung von oben auszuführen oder bei der leisesten Andeutung, ihren Ruf und ihre Zukunft zu opfern, gibt es im russischen Beamtentum gar nicht: Sie wurden schon auf den untersten Stufen der Karriereleiter ausgesiebt. 

    Fraglich ist auch, ob die Silowiki, die mit den Sanktionen belegt wurden, überhaupt noch Konten oder Immobilien in Europa haben – ich vermute, nein. Aber selbst wenn sie solche verlieren sollten, würde der Schaden zweifelsohne kompensiert – aus dem Staatsbudget versteht sich, also auf Ihre und auf meine Kosten.

    Bedeutet das, dass man im Kreml unbesorgt ist und tatsächlich findet, es sei alles halb so wild? Ungeachtet der zur Schau getragenen Prahlerei wird man wohl anerkennen müssen, dass die verhängten Sanktionen für Putin und sein Umfeld durchaus unangenehm werden dürften – weniger durch ihre aktuellen, als durch langfristige und fundamentale Konsequenzen.

    Man muss wohl anerkennen, dass die verhängten Sanktionen für Putin und sein Umfeld durchaus unangenehm werden dürften

    Erstens: Es kann ihnen nicht gleichgültig sein, dass die russische Opposition zu einem eigenständigen Akteur auf der internationalen Bühne avanciert ist. Noch nie hat jemand so vehement und wirkungsvoll das Recht Putins und der offiziellen Regierungsvertreter infrage gestellt, Russland im Ausland zu repräsentieren. Nicht nur, dass das Schicksal eines russischen Oppositionsführers zu einem festen Punkt auf der Tagesordnung westlicher Politiker geworden ist, seine Mitstreiter sind auch noch unmittelbar an der Gestaltung der europäischen Sanktionspolitik beteiligt. Wir alle beobachten eine verblüffende Situation: Nawalnys Mitstreiter treffen sich in Brüssel mit den führenden europäischen Diplomaten, während der russische Außenminister und seine Sprecherin offenbar zu innenpolitischen Propagandisten umgeschult wurden, keinen besonders guten obendrein. 

    Zweitens ist das derzeit nur die erste Anwendung des neuen Sanktionsmechanismus, der von der EU entwickelt und beschlossen wurde, um bei Menschenrechtsverstößen gegen die Verantwortlichen vorzugehen. Einmal in Gang gesetzt, wird dieser Mechanismus nun permanent wirken. Angesichts dessen, wie unserer Regierung mit Menschenrechten umgeht, ist eine Erweiterung der Sanktionsliste also nur eine Frage der Zeit. Weitere gezielte Bemühungen der Opposition sowie ihre Zusammenarbeit mit der europäischen politischen Gemeinschaft und Expertenkommissionen dürften im Kreml Unbehagen verursachen. 

    Früher oder später werden die Sanktionen also unweigerlich sowohl Einzelpersonen als auch breitere Personengruppen treffen, die vom gegenwärtigen Regime profitieren – genau wie Nawalny es ursprünglich gefordert hat.

    Doch ganz gleich, ob sich die westlichen Sanktionen gegen Einzelpersonen oder gegen einen bestimmten Wirtschaftssektor richten, sie allein werden nichts ändern. Das sollten wir nicht vergessen. Im besten Fall können sie als eine äußere Ergänzung wirken zu dem Druck von innen, den wir, die russischen Bürger, auf das politische System ausüben.
     

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    Wie ist die Proteststimmung in Russland? Schon vor den landesweiten Demonstrationen am vergangenen Wochenende beschäftigte diese Frage Soziologen und Politikwissenschaftler – vor allem angesichts der anstehenden Dumawahl im Herbst.

    Corona und die Nullsetzung der Amtszeiten Putins waren die beiden Ereignisse, die für die meisten Russen 2020 am wichtigsten waren. Dies ergaben die Umfragen des unabhängigen Lewada-Instituts.
    Inwiefern dabei die Unzufriedenheit mit der Regierung wächst, Nawalny immer mehr Aufmerksamkeit bekommt (auch bei denen, die ihn nicht unterstützen) und warum seine Rolle als Bekämpfer der Korruption dabei eher in den Hintergrund gerückt ist – das beschreibt Denis Wolkow, Stellvertretender Direktor des Lewada-Zentrums, im Interview mit Republic. Es wurde übrigens noch vor den Protesten vom vergangenen Wochenende geführt, gibt die allgemeine Grundstimmung in Russland aber anschaulich wieder.

    Wie hat sich die mutmaßliche Vergiftung Nawalnys auf die öffentliche Meinung ausgewirkt?

    Nawalnys Tätigkeit befürworten laut unseren Umfragen etwa 20 Prozent der Bevölkerung; er rangiert schon relativ lange konstant unter den zehn Politikern, denen die Russen Vertrauen entgegenbringen. Diese Einstellung ihm gegenüber ist auf das durchdachte Vorgehen Nawalnys und seines Teams zur Erweiterung seiner Anhängerschaft zurückzuführen und nicht auf einzelne aufsehenerregende Ereignisse. Zum Zeitpunkt der Vergiftung war sowohl die Meinung seiner Befürworter als auch die seiner Gegner bereits gefestigt.

    Was Nawalny angeht, verläuft die Trennlinie seiner Anhängerschaft entlang folgender Kriterien: Alter, Informationskanäle, generelle Einschätzung der Arbeit der Regierung. Diejenigen, die Putin nicht vertrauen, sind eher dazu bereit, Nawalny zu glauben. Und umgekehrt. Die Gruppe derer, die Putin vertrauen, überwiegt schon allein deshalb, weil es bei uns mehr ältere Menschen gibt, die Fernsehen schauen, und weil diese politisch aktiver sind (die Wahlbeteiligung bei Menschen im Rentenalter ist um ein vielfaches größer als unter jungen Menschen). 

    Die älteren Menschen sind bei uns politisch aktiver

    Übrigens hat Putin in deren Augen Recht damit, Nawalny nie namentlich zu erwähnen – „zu viel der Ehre“, sagen sie. Für Nawalnys Befürworter bestätigt das einmal mehr, dass die Regierung ihn vergiftet hat. „Den Machthabern fehlen einfach die Worte.“ Interessant ist, dass sich mittlerweile recht viele Menschen, auch ältere, Nawalnys Videos ansehen, ohne sich zu seinen Anhängern zu zählen. Für sie ist das ein Anlass, einen Blick hinter die Geheimnisse der „großen Politik in Moskau“ zu werfen, aber sie haben es nicht eilig, auf die Seite der Opposition zu wechseln.

    Man muss außerdem hinzufügen, dass das Thema Antikorruptionskampf in Verbindung mit Nawalny in den Hintergrund gerückt ist. Für die, die seine Tätigkeit beobachten, ist er in erster Linie interessant als Politiker, der eine politische Alternative zum heutigen Regime darstellt.

    Wir haben das Thema Proteste bereits angesprochen. Nehmen die Russen Protestaktionen im eigenen Land – zum Beispiel in Chabarowsk – und in Belarus unterschiedlich wahr?

    Ja, und zwar signifikant unterschiedlich. Den eigenen, einheimischen Protesten gegenüber ist man freundlicher gestimmt. Die Menschen sind eher bereit, mit den Protestierenden in Chabarowsk mitzufühlen, sie zu verstehen, indem sie eigene Emotionen auf sie übertragen. Zu Belarus lässt sich eine große Distanz beobachten. Eine Antwort, die man oft hört, ist: „Warum protestieren die überhaupt? Die hatten doch ein gutes Leben: Ordnung, Sauberkeit, niedrige Preise, gute Lebensmittel.“

    Den einheimischen Protesten gegenüber ist man freundlicher gestimmt

    Das erinnert sehr an die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Proteste in Moskau und Kiew 2012/2013. Praktisch niemand glaubte daran, dass die Proteste in Moskau vom Westen aus dirigiert wurden. Aber über die ukrainischen Proteste hieß es: „Klar sind das Strippenzieher aus Washington.“

    Genau wie bei den anderen Fragen sieht man hier einen Unterschied zwischen jungen Leuten, die sich im Internet informieren, und dem älteren Fernsehpublikum. Es überwiegen die Sympathien für Lukaschenko gegenüber denen für die Protestierenden. Allerdings sagen selbst die, die mit Lukaschenko sympathisieren, recht oft, er habe „zu lange auf dem Thron gesessen“ und sich „zu viele Stimmen angedichtet“ – und ziehen damit unfreiwillig Parallelen zu Putin. 

    Wie wird sich die öffentliche Stimmung in Russland 2021 verändern?

    Das hängt stark von der wirtschaftlichen Situation ab. Wenn die Wirtschaft ein wenig auflebt, werden wir keine großen Veränderungen sehen. Das ist für mich das Ausgangsszenario. Die wichtige Frage ist, ob sich der Trend der schwindenden Regierungsautorität fortsetzt. Er begann bereits 2018 nach der Rentenreform – damals nahm die Proteststimmung zu, die Ratings der Regierung sanken. Dieser Prozess hielt ein paar Jahre lang an, und es ist immer noch unklar, ob er vorbei ist oder nicht.

    Die Parlamentswahlen sind eine Art Volksabstimmung

    Ich denke, das Verhältnis zur Regierung wird sich schon relativ deutlich bei den diesjährigen Parlamentswahlen zeigen. Das ist ein landesweites Ereignis und funktioniert wie eine Art Volksabstimmung über das Vertrauen in die Regierungspartei. Wir werden sehen, wie das Ergebnis ausfällt.

    Wird die Proteststimmung im Land zunehmen?

    Das ist ungewiss. Aber man kann mit Bestimmtheit sagen, dass das Protestpotential seit 2018 zugenommen hat und sich konstant auf einem relativ hohen Niveau hält. In den letzten zweieinhalb Jahren sagt stabil fast ein Viertel der Befragten, er oder sie sei bereit, für eigene Rechte auf die Straße zu gehen. Und tatsächlich haben wir in dieser Zeit nicht wenige Proteste gesehen, in Moskau und in anderen Städten Russlands.

    Das Protestpotential hat seit 2018 zugenommen hat und hält sich konstant auf relativ hohem Niveau

    Andererseits wird viel von der Reaktion der Machthaber abhängen. Dort, wo sie Zugeständnisse machen – wie in Jekaterinburg, Schijes oder Baschkirien –, flaut der Protest schnell wieder ab. Dort, wo sie keine machen, ist es umgekehrt, der Konflikt spitzt sich zu – wie bei der Stadtparlamentswahl in Moskau 2019 – und läuft auf eine Eskalation hinaus.

    Was denken Sie, wird Ihre Arbeit durch die Verschärfung der Gesetze zu „ausländischen Agenten“, zu denen auch das Lewada-Zentrum gehört, erschwert werden?

    Das allmähliche Abwürgen der unabhängigen Zivilgesellschaft – seien es Journalismus oder Meinungsumfragen – hat ja nicht erst gestern begonnen. Der Sinn dahinter ist klar: Die Bürokratie will sich gegen jeden gesellschaftlichen Einfluss auf ihre Entscheidungen absichern und versucht, alles und jeden über Einschränkungen und Verbote zu kontrollieren. Warum werden die Daumenschrauben jetzt fester gezogen? Ich denke, zum Einen wegen der  bevorstehenden Wahlen, sowohl der diesjährigen Parlamentswahlen als auch der für 2024 geplanten Präsidentschaftswahlen. Zum Anderen sinkt, wie wir bereits gesagt haben, das Vertrauen in die Regierung. In dieser neuen Situation reicht es nicht mehr aus, einfach nur die Befürworter zu mobilisieren und sie in die Wahllokale zu bringen. Es ist genauso wichtig, die Unzufriedenen zu demoralisieren, damit sie zersplittert bleiben, sich nicht an den Wahlen beteiligen und nicht versuchen, Einfluss auf die Situation zu nehmen.

    Die Bürokratie versucht, alles und jeden über Einschränkungen und Verbote zu kontrollieren 

    Was das Lewada-Zentrum angeht, so befinden wir uns schon seit mehreren Jahren in diesem Schwebezustand. Aber wir setzen unsere Arbeit fort, weil wir sie für wichtig halten. Natürlich betrachten wir unsere Tätigkeit nicht als politisch. Das Erforschen der öffentlichen Meinung hat keinen Einfluss auf die Stimmungen in der Gesellschaft, aber es hilft, die Situation besser einzuschätzen, unter anderem auch denen, die etwas verändern wollen. Das ist eine wichtige Informationsquelle, und ich denke, die Logik der Regierung liegt darin, ein Monopol auf diese Informationen zu haben.

    Die Daumenschrauben werden wegen der bevorstehenden Wahlen angezogen 

    Aber ich glaube, langfristig gesehen wirken sich solche Einschränkungen nicht nur auf das gesellschaftliche Klima insgesamt aus, sondern irgendwann auch auf die Arbeit der dann staatlichen Umfragen. Wenn du weißt, dass niemand deine Daten überprüft, sinkt unweigerlich die Qualität der Untersuchungen, ob soziologischer oder ökonomischer. Wenn keine unabhängige Presse mehr existiert, beginnt die Macht an ihre eigene Propaganda zu glauben. Das führt zu einer sinkenden Qualität der Regierung, und dann passiert das, was wir schon Ende der 1980er Jahre beobachtet haben – erst eine Lähmung, und dann ein Kollaps des Regierungssystems, der für niemanden gut ausgehen wird.    

    Im April haben Sie gesagt, die beginnende Corona-Krise würde sich nicht sofort auf die Ratings der Regierung in Russland auswirken, sondern erst in ein paar Monaten. Ist das eingetreten?

    Ganz zu Beginn sind die Menschen in Panik geraten, in den Großstädten gab es Hamsterkäufe und leere Supermarktregale. Putins Zustimmungswerte sanken Ende Mai/Anfang Juni auf 60 Prozent: Das hatte es zuletzt im Protestwinter 2011/12 gegeben. Bis zum Herbst haben sich die Umfragewerte wieder erholt, aber jetzt beginnen sie wieder zu sinken.

    Die wesentlichen Folgen dieser Krise für die Gesellschaft sind wirtschaftliche 

    Die wesentlichen Folgen dieser Krise für die Gesellschaft werden sich erst langfristig zeigen, denn sie sind wirtschaftlicher Natur: sinkende Löhne, Verlust von Arbeitsplätzen, Schließung von Unternehmen, allgemeine Verschlechterung des Lebensstandards. Unsere Umfragen zeigen, dass die Menschen vor allem wirtschaftliche Probleme interessieren; selbst der Zustand des Gesundheitswesens nimmt – trotz Pandemie – nur Platz drei oder vier auf der Liste der Ängste der russischen Bürger ein. Diese Ängste haben sich jetzt zugespitzt.

    Machen die Menschen die Regierung für die Situation verantwortlich oder halten sie das für höhere Gewalt?

    Im Grunde ist das unwichtig. Ja, mag sein, dass die Menschen die Regierung nicht unmittelbar für die aktuelle Krise verantwortlich machen. Aber der zunehmende Pessimismus wird sich unweigerlich auch auf das Verhältnis zu den Machthabern auswirken. Die Müdigkeit wächst – die Probleme werden größer. Das bedeutet, dass auch die Forderungen an die Regierung zunehmen werden, die unfähig ist, diese Probleme zu lösen.

    Sie haben vom Rating des Präsidenten gesprochen. Wie ist es mit den Umfragewerten der anderen Regierungsorgane und -institutionen?

    Hier muss man unterscheiden zwischen Institutionen wie der Armee und der Kirche, die eine eher symbolische Autorität haben – die unerschütterlich bleibt –, und solchen, die unmittelbar für das Regieren verantwortlich sind. Ihre Wahrnehmung in der Gesellschaft hat sich in den letzten Jahren deutlich verschlechtert. Die schwersten Schläge waren die Rentenreform und der generell sinkende Lebensstandard.

    Ist die Bevölkerung mit dem Vorgehen der Regierung im Zusammenhang mit der Pandemie einverstanden?

    Insgesamt eher ja. Etwa zwei Drittel sind einverstanden, ein Drittel nicht. Zu den einzelnen Maßnahmen sind die Meinungen differenzierter. Das Tragen der Masken beispielsweise haben alle mehr oder weniger akzeptiert, wenn auch zum Teil nur als Lippenbekenntnis – nicht alle tragen sie richtig.

    Nur die modernsten Bevölkerungsschichten und Wirtschaftszweige können ins Homeoffice wechseln

    Am schlechtesten haben die Menschen auf Geschäfts- und Betriebsschließungen reagiert, auf den harten Lockdown, die Ausgangsbeschränkungen und die Strafen bei Verstößen – sowohl in Moskau als auch im ganzen Land. Ich denke, das hängt damit zusammen, dass ein Lockdown für einen großen Teil der Bevölkerung automatisch sinkende Einkommen bedeutet, für manche sogar den Verlust des Arbeitsplatzes. Nur die modernsten Bevölkerungsschichten und Wirtschaftszweige können ins Homeoffice wechseln, ohne dass sie Einbußen haben. Also haben die Menschen Angst davor. Indem die Regierung jetzt keinen harten Lockdown verhängt, gibt sie auch der öffentlichen Meinung nach.

    Wie viele Prozent der Menschen glauben an diverse Verschwörungstheorien?

    Es ist schwierig, das genau einzuschätzen, wir haben nicht direkt danach gefragt. Konsequente Anhänger solcher Theorien gibt es vielleicht zwischen fünf und zehn Prozent – das sind die, die in jeder Umfrage zum Thema Covid gerne betonen, das Problem mit dem Virus sei erfunden und das Impfen dazu da, die Bevölkerung zu chippen usw. Doch der Anteil derer, die das nicht ausschließen, ist viel höher. Ein Viertel der Befragten glaubt zum Beispiel, dass die Behörden die Statistik absichtlich aufbauschen, um die Menschen einzuschüchtern und sie gefügig zu machen. Bei aller Akzeptanz der Corona-Maßnahmen bleibt das Misstrauen der Gesellschaft gegenüber der Regierung groß.

    Wie stehen die Russen zu der angelaufenen Impfkampagne gegen Covid mit dem einheimischen Impfstoff?

    In den letzten sechs Monaten wollten sich konstant 60 Prozent nicht impfen lassen, 40 Prozent schon. Unter den Ersteren sind nicht nur Impfgegner oder solche, die dem einheimischen Impfstoff nicht vertrauen. Fast die Hälfte der Russen hat keine große Angst, sich anzustecken, weil sie die Krankheit nicht besonders ernst nimmt. Im Moment wird viel für die Impfung geworben – ich glaube, es ist nicht nur wichtig, ihre Sicherheit zu beweisen, sondern auch weiter darüber zu sprechen, dass wir es mit einer wirklich ernsthaften Erkrankung zu tun haben. Nicht alle verstehen das. Das erklärt unter anderem auch das falsche Tragen der Masken.

    Fast die Hälfte der Russen hat keine große Angst, sich anzustecken

    Nichtsdestoweniger ist die Pandemie das wichtigste Ereignis des vergangenen Jahres und stellt alles andere im öffentlichen Bewusstsein souverän in den Schatten. So gesehen haben die Menschen das Ausmaß natürlich verinnerlicht. Unsere Befragten schätzen das Jahr 2020 als eines der schwersten in den letzten dreißig Jahren ein, seit es also regelmäßige soziologische Messungen gibt.

    Die Abstimmung über die Verfassungsänderungen, einschließlich der Nullsetzung der Amtszeiten des Präsidenten, liegt jetzt ein halbes Jahr zurück. Wie stehen die Menschen heute dazu?

    Auf die offene Frage nach den wichtigsten Ereignissen des Jahres nannten die Menschen die Nullsetzung an zweiter Stelle. Insgesamt überwiegt eine positive Wahrnehmung der Verfassungsänderungen, etwa 60 zu 40. Dafür sind vor allem diejenigen, die darin eine Stärkung der sozialen Garantien und der Staatssouveränität sehen. In den Fokusgruppen sagten einige, die Verfassung sei Anfang der 1990er Jahre von den Amerikanern geschrieben oder zumindest diktiert worden, das sei nun endlich korrigiert. Zum Teil wiederholen die Menschen hier die Thesen der offiziellen Propaganda, während die Propaganda sich zu einem gewissen Grad aus den Klischees speist, die im öffentlichen Bewusstsein existieren, und sie dadurch auch wieder verstärkt. Diejenigen, die gegen die Änderungen sind, sind in erster Linie gegen die Nullsetzung selbst bzw. die „Hauptänderung“, wie sie sie nennen.

    Insgesamt überwiegt eine positive Wahrnehmung der Verfassungsänderungen

    Wichtig ist, dass sich die Einschätzung dieses Ereignisses, wie auch anderer wichtiger politischer Ereignisse des Jahres, wiederum je nach Alter, bevorzugten Informationskanälen und dem Grad des Vertrauens in die Regierung deutlich unterscheidet. Junge Leute, die sich im Internet informieren, und Bürger, die das Vertrauen in die Regierung bereits verloren haben, sind häufiger gegen die Verfassungsänderungen, sie unterstützen häufiger oppositionelle Politiker und haben Verständnis für die Protestierenden, sei es in Chabarowsk oder Belarus. Auch die Wahrnehmung der Impfkampagne hängt davon ab, ob man Putin und der Regierung vertraut oder nicht. Genauso ist es mit allen Initiativen der Regierung, zum Beispiel dem Installieren von Überwachungskameras in Moskau. Diejenigen, die der Regierung vertrauen, meinen, das sei gut für die Sicherheit, und die, die das nicht tun, dass es der Überwachung der Bürger diene und so weiter.

    Also sind die sinkenden Umfragewerte der Regierung, die wir in den letzten Jahren beobachten, auch deshalb wichtig, weil viele Initiativen der Regierung bei einem wesentlichen Teil der Bevölkerung nun stillschweigend auf Ablehnung stoßen werden. Das wirkt sich unweigerlich auf die Qualität der Regierung aus. Eine Revolution wird es nicht geben, aber jede neue Entscheidung wird immer schwerer verdaut werden.

    Steigt die Zahl derjenigen, die kein Vertrauen in die Regierung haben? 

    Unzufriedenheit mit dem Präsidenten und der Regierung ist keine Randerscheinung mehr. Gab es direkt nach der Krim die berüchtigten 86 Prozent, „Putins Super-Mehrheit“, die sich mehrere Jahre auf ungefähr diesem Niveau hielt, so sind es jetzt 60 bis 65 Prozent. Ein Drittel und mehr machen heute diejenigen aus, die mit der Situation unzufrieden sind, die die Regierung nicht stillschweigend unterstützen. Das ist immer noch der kleinere Teil der Bevölkerung, aber es sind trotzdem sehr viele. Doch diese Unzufriedenen bleiben zersplittert und in vielerlei Hinsicht desorientiert.

     

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  • Tschüss, Russki Mir?!

    Tschüss, Russki Mir?!

    Ende September ist der Krieg um Bergkarabach zwischen Aserbaidshan und Armenien wieder neu entflammt, zahlreiche Zivilisten und Soldaten sind dabei ums Leben gekommen. Nun kam die überraschende Wende: Beide Seiten einigten sich in der Nacht zum Dienstag unter Vermittlung Russlands auf ein gemeinsames Abkommen

    Darin spiegelt sich die militärische Übermacht Aserbaidshans wider, die sich in den vergangenen Wochen deutlich zeigte: So sieht das Dokument etwa vor, dass Armenien sich teilweise aus Bergkarabach zurückzieht. Russland schickt knapp 2000 Soldaten, um den Frieden zu sichern – für zunächst fünf Jahre. Nachrichten, dass auch Aserbaidshans Verbündeter, die Türkei, Truppen entsende, dementierte der Kreml.

    Während die Menschen auf Aserbaidshans Straßen einen Sieg feiern, kam es in Armenien zu heftigen Protesten. Armeniens Präsident Nikol Paschinjan bezeichnete das Abkommen als „unaussprechlich schmerzhaft für mich selbst und für unser Volk“. 

    Was die Rolle Russlands, traditionelle Schutzmacht Armeniens, angeht, sind sich Beobachter allerdings uneins: Auch wenn die Türkei an dem Abkommen nicht beteiligt ist – den Einfluss in der Region muss Russland künftig mit Aserbaidshans wichtigstem Verbündeten teilen. Steht Russland mit Armenien also auf der Verliererseite?
    Der russische Außenexperte Wladimir Frolow erklärte dem Nachrichtenportal Rambler, der Deal sei gut für Putin – unter der Voraussetzung, dass Russland nicht für Armenien in den Krieg ziehen will. Letzteres versteht Frolow als Ausdruck einer strategischen Wende in der russischen Außenpolitik – die er schon länger beobachtet und Ende Oktober auf Republic am Beispiel von Bergkarabach und Belarus beschrieb: Demnach verabschiedet sich Moskau von der Dominanz im postsowjetischen Raum ganz bewusst – schlicht, weil der Preis für Russland zu hoch ist.

    Ohne viel Aufhebens zu machen, hat Russland seine Politik im postsowjetischen Raum geändert. Eine „Eurasische Union“, eine „Zone privilegierter Interessen“, der „Russki Mir“, die regionale Dominanz, die Verteidigung einer Pufferzone vor den „NATO-Panzern und -Raketen“ und die einzigartige Rolle als „Garant für Sicherheit und Souveränität“ für die postsowjetischen Staaten gegen äußere Einmischungen – diese großen Träume sind von der aktuellen Agenda des Kreml verschwunden.

    Solch grandiose Ideen existieren zwar in den Talkshows der Staatssender, aber diejenigen, die die russische Politik in den Regionen machen, bedienen sich viel realistischerer Narrative. Denn es herrscht die Meinung, dass der Traum von der russischen Dominanz im postsowjetischen Raum zwar eine gute Sache ist, aber der Preis für seine Verwirklichung viel zu hoch; de facto kann er nur in Ausnahmeszenarien realisiert werden – im Falle, dass existenzielle Staatsinteressen bedroht sind. In den meisten Fällen aber, und insbesondere dort, wo es keine gemeinsame Grenze mit Russland gibt, ist die postsowjetische Dominanz eher ein Luxus als ein Vehikel für nationale Entwicklungsziele. Man ist dazu übergegangen, die Ambitionen im postsowjetischen Raum zu optimieren und eine Bestandsaufnahme der realen Bedürfnisse und ihrer Umsetzungsmöglichkeiten vorzunehmen. Moskau „wägt ab, was für uns sinnvoll ist und was nicht“, sagt Fjodor Lukjanow. Zu einem großen Teil ist das auf die Analyse der russischen Aktionen in der Ukraine, Georgien und Syrien zurückzuführen.

    Die postsowjetische Dominanz ist eher ein Luxus

    Der neue russische Ansatz in postsowjetischen Angelegenheiten lässt sich im Wesentlichen auf drei Frames herunterbrechen: Wozu? Was habe ich davon? Wie trete ich möglichst nicht in dumme Scheiße? (In Anlehnung an die außenpolitische Doktrin Barack Obamas „Don‘t do stupid Shit“.)

    Das Konzept der „strategischen Zurückhaltung“ Russlands im postsowjetischen Raum lässt sich an Wladimir Putins letztem Auftritt beim Waldai-Forum ablesen, bei dem der Präsident Ruhe und Gelassenheit demonstrierte, während er akute Krisen im nahen Ausland erörterte.
    Die zeitliche Parallele der Unruhen in Belarus und Kirgistan sowie das Wiederaufflammen eines echten Krieges zwischen Armenien und Aserbaidshan um die Region Berg-Karabach sind ein guter Stresstest für die neue russische Strategie, und bisher hält sie ihm stand.

    Belarus

    In Belarus legt Moskau Selbstbeherrschung an den Tag – bei gleichzeitiger Wahrung des Handlungsspielraums. Noch bis vor kurzem glaubte man, ein drohender Regimewechsel infolge einer Farbrevolution in einem Staat, der durch ein Netz von Bündnisverpflichtungen an die Russische Föderation gebunden ist und Russland physisch von der NATO trennt, würde eine militärische Intervention Moskaus auslösen. Dadurch wären Proteste zu unterdrücken, oder zumindest ein hybrider Krieg möglich, um marionettenartige Pufferstaaten analog der Donezker Volksrepublik und der Volksrepublik Luhansk zu schaffen. Doch eine Wiederholung des ukrainischen Szenarios hat es nicht gegeben.

    Moskau hat den Wahlkampf in Belarus aufmerksam verfolgt und wusste sehr gut, womit das alles enden könnte. Die Frage war lediglich, ob Lukaschenko seine Macht unmittelbar unter dem Druck der Straße verlieren würde (was dem Kreml natürlich überhaupt nicht geschmeckt hätte) oder ob es gelingt, „den Prozess zu strukturieren“ und Moskau den Weg in die belarussische Politik zu ebnen.

    Am Ende entschied man sich für eine zurückhaltende Linie: schickte Lukaschenko wärmsten TV-Support (naja, und noch ein bisschen mehr), signalisierte die Bereitschaft, sich „im Falle von Massenunruhen“ einzumischen (ohne darauf die geringste Lust zu haben und völlig im Klaren darüber, dass eine direkte Einmischung einen antirussischen Protest konsolidieren würde), blockierte die Vermittlerrolle des Westens und riet den Demonstranten „zu Lukaschenko zu gehen und ihn nach einer Verfassungsreform zu fragen“.

    Russland hat es geschafft, unumkehrbare Schritte zu vermeiden, die in eine Sackgasse geführt und die Kosten in Form von neuen Sanktionen aus dem Westen in die Höhe getrieben hätten. Durch die Absage an eine zu aktive Einmischung in die Krise und an ein direktes gewaltsames Vorgehen in Belarus konnte eine Destabilisierung innerhalb Russlands verhindert werden. Indem Russland westliche Forderungen nach einem „nationalen Dialog“ unter OSZE-Vermittlung verhinderte, hat es diese Vermittlerrolle selbst eingenommen. Nicht zuletzt hat die zurückhaltende Reaktion auf die belarussische Krise Moskau einen besonnenen Blick auf das Projekt des Staatenbundes ermöglicht: Ist der wirklich so vorteilhaft für Russland oder birgt er nicht auch ein Risiko für die russische Staatlichkeit? Alles, was einen Staatenbund ausmacht, lässt sich auch innerhalb der Eurasischen Wirtschaftsunion verwirklichen.

    Russland hat es geschafft, unumkehrbare Schritte zu vermeiden

    Selbst der Wert eines Militärbündnisses mit Belarus stellt sich in neuem Licht dar. Die Bedrohung durch die NATO – das sind nicht die polnischen Panzer vor Smolensk, sondern amerikanische luft- und bodengestütze Hyperschallraketen mittlerer Reichweite in Zentraleuropa. Ist es für die Verteidigung Russlands da nicht sicherer, die 100 Milliarden US-Dollar an Öl- und Gassubventionen für Belarus darauf zu verwenden, den ganzen europäischen Teil des Landes mit Iskander-M-Raketen und S-400-Luftabwehrsystemen zu überziehen (und so die eigenen Fabriken mit Aufträgen auszulasten)? Klar ist, dass es in Minsk nach der Krise keine Rückkehr zum Status quo geben wird, und die „neue russische Zurückhaltung“ ermöglicht es, in aller Ruhe abzuwägen, wie es nun weitergehen soll.

    Bergkarabach 

    Hier hat Moskau eine Beteiligung auf dieser oder jener Konfliktseite vermieden, auch wenn die von der TV-Propaganda angeheizte Polemik in Russland bereits bedrohliche Ausmaße annimmt.

    Moskau gibt zu verstehen, dass der Konflikt um die Region Bergkarabach weder direkten Bezug zu Russland hat noch seine nationalen Interessen berührt. Zwar stellt Putin die aus der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit OVKS resultierenden Bündnisverpflichtungen gegenüber Armenien nicht in Frage, doch in Wirklichkeit überdenkt Moskau den Nutzen eines solchen Bündnisses, dessen Vorteile für Armenien auf der Hand liegen, nicht jedoch für Russland.

    Die Beziehungen zu Aserbaidshan haben für Russland einen eigenständigen Wert und werden nicht durch das Prisma der armenischen Interessen betrachtet. Dieser Wert wird dadurch bestimmt, dass die russisch-aserbaidshanische Grenze durch eine äußerst heikle Region verläuft: Dagestan und das Kaspische Meer. Die Ruhe an dieser Grenze und die enge Zusammenarbeit mit dem Nachbarn, um diese Ruhe zu gewährleisten (damit es nicht wieder so wird wie in den 1990ern und Anfang der 2000er Jahre), sind nicht weniger wichtig als die Bündnisverpflichtungen gegenüber Armenien.

    Es ist Moskau ein Dorn im Auge, dass beide Seiten versuchen, Russlands Position zu ihren Gunsten zu manipulieren, und Russland auf diese Weise Probleme bereiten. Zu eindeutig nutzt Aserbaidshan das Thema der russischen Antiterroroperationen in Tschetschenien und Dagestan, um separatistische Tendenzen im eigenen Land abzuwehren. Macht man diese Position zu einem unumstößlichen Prinzip, dann entkräftet man die Argumente Russlands in Bezug auf den Donbass und die Krim und verstärkt im Gegenzug die der Ukraine.

    Armenien hat schon unter der damaligen Führung das russische Vorgehen auf der Krim im Jahr 2014 zu sehr als Freibrief für eine schrittweise „Wiedervereinigung“ durch eine „Selbstbestimmung des karabachischen Volkes“ gewertet. Und auch wenn Sergej Lawrow erklärt, dass gemäß UN-Charta das „Selbstbestimmungsrecht der Völker an zentraler Stelle steht und die territoriale Integrität und Souveränität respektiert werden müssen“, ist Moskau lediglich bereit, dieses rechtliche Novum auf die Krim (und Abchasien und Südossetien) anzuwenden, aber nicht auf Bergkarabach (und nicht einmal auf den Donbass).

    Zur Türkei

    Moskau wird sich wegen des penetranten Eindringens der Türkei in den postsowjetischen Raum und deren Anspruch auf Beteiligung an einer Regulierung in Bergkarabach nicht auf einen bewaffneten Konflikt mit ihr einlassen, trotz der laut werdenden Aufrufe, zu den Waffen zu greifen und „ein neues Chalchin Gol“ herbeizuführen. Russland und die Türkei befinden sich bereits in einer symbiotischen Beziehung, in der beide Seiten für die jeweils andere lebensnotwendig sind, um entscheidende außenpolitische Ziele durchzusetzen. Für Moskau ist es von zentraler Bedeutung, dass Erdogan seine Linie der werte- und geopolitischen Opposition zum Westen fortsetzt, was den Westen von einer Konfrontation mit Russland ablenkt, zu einem „Hirntod der NATO“ führt und die Wichtigkeit einer Zusammenarbeit Europas mit Moskau im Nahen Osten und dem Mittelmeerraum erhöht.

    Russland und die Türkei befinden sich bereits in einer symbiotischen Beziehung

    Es gibt nur zwei Minen, die die russisch-türkischen Beziehungen sprengen könnten: Erstens eine Ausweitung der militärtechnischen Zusammenarbeit zwischen Ankara und der Ukraine (Produktion von Drohnen, Lieferung von Hochpräzisionswaffen und Lobbyarbeit für einen Beitritt der Ukraine und Georgiens in die NATO). 
    Und zweitens die aggressive Propagierung eines Panturkismus und des politischen Islam innerhalb Russlands. Die Verstärkung der türkischen Präsenz im Südkaukasus ist eine vollendete Tatsache, und das einzige, was Moskau interessiert, ist, dass Erdogan die roten Linien nicht überschreitet.

    Ausformuliert bedeutet die neue außenpolitische Doktrin des Kreml in etwa:

    • nur das absolute Minimum tun, das sich aus Vertragsverpflichtungen ergibt; Ausgaben für das Krisenmanagement minimieren; „brüderliche Hilfe“ leisten; nach und nach „die Last der postsowjetischen Führung“ reduzieren
    • als Bedingung für russische Hilfe möglichst konkrete Schritte des Empfängers dahingehend vereinbaren, dass er sich und seine Souveränität unter die geopolitischen Ziele Moskaus unterordnet
    • die Bündnisverpflichtungen Russlands einer gründlichen Prüfung unterziehen, anpassen und die Formate der russischen Beteiligung konkretisieren
    • nichts tun, was die innenpolitische Lage in Russland destabilisieren könnte, auch nicht durch eine zu aktive Beteiligung Russlands an den inneren Krisen seiner Nachbarn oder eine unreflektierte Ausweitung bestehender Integrationsbündnisse
    • nicht zulassen, dass die russische Außenpolitik durch „Bruderrepubliken“ und ihre „russländischen Diasporen“ zugunsten von deren Interessen manipuliert wird, die sich nicht immer mit den russischen decken
    • keine weiteren Sanktionen aus dem Westen auf sich laden wegen eines postsowjetischen „Anhängsels“ der Russischen Föderation 
    • keine Schritte unternehmen, die Russlands Handlungsspielraum einschränken oder einen Rückzug ohne Gesichtsverlust unmöglich machen und in eine Sackgasse führen, vergleiche „stupid Shit“ 
    • nicht gegen Windmühlen der inneren Destabilisierung postsowjetischer Staaten ankämpfen; Toleranz für ein gewisses Grad an Instabilität in den Regionen entwickeln; von einem übermäßig aktiven Kampf gegen die Farbrevolutionen Abstand nehmen. 
    • sich der eigenen Möglichkeiten und Ressourcen bewusst sein sowie ihrer Unzulänglichkeit, einen entscheidenden Effekt auf regionale Krisen auszuüben – abgesehen von Situationen, die unmittelbar die Sicherheit der Russischen Föderation bedrohen
    • anderen regionalen Playern stillschweigend „eingeschränkte Interessen“ im postsowjetischen Raum zugestehen – und einen Modus vivendi mit ihnen suchen, ohne einen Fetisch aus der „russischen Dominanz“ zu machen: Dominant nur dort, wo es dich ohne Dominanz teuer zu stehen kommt, und nicht einfach nur aus Prinzip
    • anerkennen, dass der Aufstieg der Russischen Föderation zu einer Großmacht in anderen Regionen der Welt (dem Nahen Osten, Nordafrika und dem östlichen Mittelmeerraum) zu einer Abhängigkeit von anderen Regionalmächten führt, die wiederum die Handlungsfreiheit im postsowjetischen Raum einschränkt; sich aller Risiken und Gefahren einer direkten militärischen Konfrontation mit „aufstrebenden Regionalmächten“ bewusst sein – im Unterschied zu einer simulierten „kontrollierten Eskalation“ mit den USA, der NATO oder der EU, wo ein Militäreinsatz grundsätzlich unmöglich ist
    • sich wegen all dem „keinen Kopf machen“, auch wenn die internationale Presse sich mit Schlagzeilen über den schwindenden russischen Einfluss in ihrer eigenen Einflusssphäre überschlägt.

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  • Zarenreich der Unmenschlichkeit

    Zarenreich der Unmenschlichkeit

    Mitleid, Großherzigkeit, Mitgefühl – sind das etwa keine Qualitäten eines starken Staates? Das fragt die bekannte Radiojournalistin Tatjana Felgengauer in einem Meinungsstück auf Republic. Und meint: Allem Anschein nach hält Putin diese für das Wesen der Schwachen. Und dem Vorbild des Präsidenten folgen auch alle anderen Staatsbediensteten.

    Wladimir Putin ist wahrscheinlich nicht immer so gewesen. „Es ist gesunken.“ Dieser Satz von ihm [und vor allem die Art, wie er ihn aussprach] ganz zu Beginn seiner Regierungszeit, als das Atom-U-Boot Kursk verunglückte, lässt sich vielleicht auf die angespannt nervöse Situation zurückführen. Zwei Jahre später, bei der Geiselnahme durch Terroristen im Dubrowka-Theater, zeigte Putin noch Anzeichen menschlicher Emotionen. In seiner Ansprache hieß es damals: „Wir konnten nicht alle retten. Verzeiht uns.“ Doch danach hat Wladimir Putin nie wieder um Verzeihung gebeten. 

    In Beslan war der Präsident in all den Jahren nur ein einziges Mal, und in seiner Ansprache direkt nach diesem schrecklichen Ereignis 2004 redete er etwas von Schwäche, die gezeigt worden sei, und die Schwachen würden nun mal geschlagen. Dann wurde die Journalistin Anna Politkowskaja ermordet, und Wladimir Putin gab wieder merkwürdige Erklärungen ab. „Ihre Ermordung fügt der amtierenden Regierung mehr Verlust und Schaden zu als ihre Texte“, sagte das Staatsoberhaupt. 

    Kursk, Beslan, Politkowskaja

    Klar – wenn Regierende auf Unglücksfälle unmenschlich reagieren, dann kann man das damit erklären, dass es sich um Reaktionen des Staatsapparates handelt. Bürokratie bedeutet nicht Emotion. Entscheidungsmechanismen zur Problemlösung müssen universell sein, das heißt, sie können nicht die Besonderheiten jeder einzelnen Situation berücksichtigen. Jedoch besteht der Staatsapparat ja aus Menschen, von denen jeder einzelne mitempfinden, mitfühlen, unterstützen und trösten kann.

    Doch aus irgendeinem Grund zeigen uns Staatsbeamte mit ihren Handlungen Mal um Mal das Gegenteil. Hier eines der eindrücklichsten Beispiele aus jüngster Zeit: Vor vier Jahren ereignete sich auf dem See Sjamosero eine Tragödie. 47 Kinder hatten sich unter Aufsicht auf eine Bootstour begeben, die Boote gerieten in einen Sturm, 14 Kinder kamen dabei ums Leben. Pawel Astachow, der zu dieser Zeit Kinderschutzbeauftragter der Russischen Regierung war, besuchte die Jugendlichen, die überlebt hatten, im Krankenhaus und fragte sie: „Und? Wie war eure Bootsfahrt?“ Am nächsten Tag schrieb er selbstverständlich, dass der Satz aus dem Zusammenhang gerissen worden sei.

    Staatsbeamte sind nicht in der Lage, in russischen Bürgern Menschen zu sehen

    Hier noch das aktuelle Beispiel einer Beamtin aus der Stadt Welikije Luki, die den Ohnmachtsanfall von Schülerinnen und Schülern bei einem Festakt damit erklärte, dass der Moment einfach überaus feierlich gewesen sei. „Es wurden patriotische Reden gehalten“, erklärte Tatjana Losnizkaja vor Journalisten. 13 Schüler wurden ins Krankenhaus eingeliefert, und die Beamtin spricht von überbordenden patriotischen Gefühlen. Schwer einzuschätzen, was die Eltern der Kinder, die ins Krankenhaus mussten, von den Worten der Leiterin der Bildungsbehörde hielten. Und Tatjana Losnizkaja ist natürlich kein Einzelfall in ihrer Unfähigkeit und Unlust, Empathie aufzubringen. Staatsbeamte sind nicht in der Lage, in russischen Bürgern Menschen zu sehen. Lebendige, echte, Angst verspürende, Trauer durchlebende Menschen. Wichtiger ist, dass das offizielle Foto gelingt, das über den Pressedienst verteilt wird – und dann wird der Leitung Bericht erstattet.

    Ständegesellschaft

    Ihre Unmenschlichkeit – im Sinne von Unfähigkeit, Mensch zu sein – zeigen Beamte nicht nur in ihren Kommentaren zu Unglücksfällen. Entlarvend sind auch ihre Äußerungen zum Lebensstandard in Russland. Die Vertreter der Staatsmacht sind nicht nur Lichtjahre davon entfernt, die Gefühle und Emotionen der Russen zu verstehen, sie leben überhaupt auf einem anderen Planeten. Besser gesagt, innerhalb ihres eigenen Standes.

    Igor Schuwalow amüsierte sich als Vize-Premier unverhohlen, als er hörte, dass es Menschen im Land gibt, die 20-Quadratmeter-Wohnungen kaufen. Da möchte man sagen: Und das, Igor Iwanowitsch, sind noch die Reichen, es gibt nämlich auch welche, die sich in Baracken und Wohnheimen zusammenpferchen müssen.

    Natalja Sokolowa, Arbeitsministerin in der Oblast Saratow, war ihrerzeit angesichts des Existenzminimums ebenfalls perplex. Ihrer Meinung nach gibt es bei 3500 Rubel [zum Zeitpunkt der Aussage im Oktober 2018 etwa 50 Euro] im Monat nichts zu beanstanden, vor allem, wo doch „Nudeln eh immer gleich viel kosten“. Übrigens stand sie in der Hierarchie weiter unten als Schuwalow, daher hat ihr der Gouverneur der Oblast nach diesem Skandal gekündigt. 

    Wir leben schon lange in dieser Ständegesellschaft. Beamte unterschiedlichen Ranges können sich mehr oder weniger Geringschätzung gegenüber russischen Bürgern leisten, die sie scheinbar ernsthaft für undankbare Knechte halten. Wie frei man seine Geringschätzung zum Ausdruck bringen darf, hängt von der jeweiligen Position in der aktuell gültigen Rangtabelle ab. 

    Umso erstaunlicher ist es, wenn ein Vertreter der Staatsmacht mal menschlich reagiert. Der Gouverneur der Oblast Nishni Nowgorod, Gleb Nikitin, postete auf Instagram etwas zum Tod der Journalistin Irina Slawina und kam auch zu ihrer Beerdigung. Und man wird es nicht über die Lippen bringen, ihn hier des Populismus zu bezichtigen. 

    Unter heutigen politischen Bedingungen ist die echte Beliebtheit der Regierenden in den Regionen eher ein Grund zur Sorge, wie uns der Fall Sergej Furgal zeigt. Und dennoch, gerade solche plötzlichen und seltenen Bezeugungen von Empathie, Mitgefühl und Mitleid haben einen starken Effekt. Furgal verhielt sich als Gouverneur in den Augen der örtlichen Bevölkerung wie ein Mensch, ein lebendiger, normaler Mensch. Vielleicht ist genau das die Wurzel des Problems: Die Regierungsmacht kann kein menschliches Gesicht oder, noch schlimmer, Herz haben. Weil der Mensch schwach ist und die Macht stark sein muss. Genau mit diesem Konzept lenkt Präsident Putin schon viele Jahre unser Land. 

    Der Mensch ist schwach, die Macht ist stark

    Unfälle, Naturkatastrophen und Terroranschläge gab es in den 20 Jahren Regierungszeit Putins genug, doch der Präsident des Landes (mit kurzem Zwischenspiel als Premier) blieb immer außerhalb des emotionalen Feldes. Und wenn wir die eine oder andere spontane emotionale Reaktion gesehen haben, so rief sie meistens gemischte Gefühle hervor. Ein Kuss auf den Bauch eines kleinen Jungen, ein einsamer Spaziergang nach der Beerdigung [seines Judo-]Trainers, eine Aussage über kleine süße Kinderchen. All das wirkt entweder nicht echt, oder der Präsident hat in diesen 20 Jahren wirklich verlernt, Emotionen zu zeigen. 

    Mitleid, Großherzigkeit, Mitgefühl – sind das etwa keine Qualitäten einer starken Macht, eines starken Staates? Doch allem Anschein nach hält Putin sie für das Wesen der Schwachen. Und nach Vorbild des Präsidenten folgen diesem Denkschema auch alle anderen Staatsbediensteten und Institutionen. Mitgefühl oder Unterstützung seitens der Repräsentanten der Staatsmacht ist hier nicht zu erwarten, mit Freispruch oder Begnadigung ist hier nicht zu rechnen. Hier ist ein Zarenreich der Unmenschlichkeit, so groß wie die Russische Föderation. 

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  • Zitat #10: „Lukaschenko kapiert nicht, wie massiv er die Belarussen verprellt hat“

    Zitat #10: „Lukaschenko kapiert nicht, wie massiv er die Belarussen verprellt hat“

    Alexander Lukaschenko sucht den Dialog – so will der belarussische Machthaber zumindest sein Treffen mit oppositionellen Gefangenen am vergangenen Wochenende verstanden wissen. Im Untersuchungsgefängnis des KGB hat er sich laut staatsnahem Telegram-Kanal Pul Perwogo viereinhalb Stunden lang mit inhaftierten Oppositionellen – darunter Viktor Babariko, der ebenfalls zur Wahl antreten wollte und verhaftet worden war – und inhaftierten Vertretern des Koordinationsrats unterhalten. Unter anderem diskutierte er eine Verfassungsänderung und betonte: „Unser Land lebt unter der Losung der Dialogbereitschaft.“ Zahlreiche Oppositionelle, wie etwa Pawel Latuschko, jedoch kritisierten einen Dialog und Runden Tisch im KGB-Untersuchungsgefängnis als „absurd“.

    Dialog oder Repression – welchen Weg wählt Lukaschenko? Diese Frage wirft der renommierte russische politische Kommentator Alexander Morosow im unabhängigen Meinungsmedium Republic auf: 

    [bilingbox]Es wäre falsch, darauf zu spekulieren, dass sich der Protest auf natürlichem Wege durch Müdigkeit und Routine irgendwann wieder verläuft. Lukaschenko kapiert nicht, wie massiv er die Belarussen verprellt und gekränkt hat.

    […]

    Das beste Szenario für Lukaschenko wäre ein echter (kein fiktiver) Runder Tisch, freie Neuwahlen, bei denen er kandidieren kann, mit einer neu besetzten Zentralen Wahlkommission und internationalen Beobachtern. Natürlich würde er verlieren. Aber er könnte im Wahlkampf seine Wähler mobilisieren, eine eigene Partei gründen und mit dieser anschließend ins Parlament einziehen. Das wäre der beste aller möglichen Fortgänge seines Lebenswegs.

    Die beiden anderen Varianten sind deutlich schlechter. Die erste ist: Das Land über Monate mit Gewalt zu überziehen und so den Konflikt von Volk gegen Polizei, Armee und Geheimdienste anzuheizen und das Land langfristig in die wirtschaftliche Stagnation zu stürzen. Die zweite: Alles de-facto mit Hilfe des Kreml zu unterdrücken, das heißt die Souveränität von Belarus zu opfern.~~~Расчет на естественный спад протеста за счет усталости, рутинизации – ошибочный. Лукашенко не понимает, насколько глубоко он задел и оскорбил белорусов.

    […] Лучший сценарий для Лукашенко – это не фиктивный, а реальный круглый стол, повторные свободные выборы, в которых он сможет участвовать, с новым составом ЦИКа, с международными наблюдателями. Очевидно, что он проиграет. Но он получит возможность в ходе кампании мобилизовать своих избирателей, создать себе партию и с ней затем войти в парламент. Это – лучшее из возможных продолжений его жизненного пути.

    Оба других варианта гораздо хуже. Первый: залить страну многомесячным насилием, стимулируя конфликт между населением, с одной стороны, и полицией, войсками, спецслужбами, с другой, и погрузить ее надолго в экономическую стагнацию. Второй: подавить все это де-факто руками Кремля, т. е. пожертвовав суверенитетом Беларуси.[/bilingbox]

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