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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Unerforschte Ufer: postsowjetische Fotografie

    Unerforschte Ufer: postsowjetische Fotografie

    Andere Ufer – so nannte der wohl bekannteste russische Exilschriftsteller Vladimir Nabokov (1899–1977) seinen autobiografischen Roman, der 1954 in New York erstmals erschien. Am Ende des Romans bricht der Autor nach Jahren der Emigration in Berlin und Paris in Richtung USA auf, eben zu jenen anderen Ufern, die in der russischen literarischen Tradition nie nur geografisch gemeint waren, sondern auch metaphysisch: Das Überqueren des Ozeans stand symbolisch für das Überqueren des mythischen Totenflusses Styx.

    Die Fotoausstellung Unerforschte Ufer, die 2023 in der armenischen Hauptstadt Jerewan gezeigt wurde, ist ein Blick aus dem Exil auf die nähere Vergangenheit. Sie konzentriert sich jedoch auf die Erkundung der Ufer, die nicht weit weg, sondern ganz nah liegen und die postsowjetischen Kulturen trennen. Eine Erkundung, die lange vernachlässigt wurde und deren Notwendigkeit mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine noch einmal deutlich geworden ist.

    Die beiden Kuratoren – der Armenier Wigen Galustjan und die Russin Victoria Muswik – haben Fotos russischer und armenischer Fotografen aus den vergangenen 15 Jahren ausgewählt. Sie analysieren und dokumentieren künstlerisch die Transformationsprozesse und den „postsowjetischen Zustand“. dekoder zeigt einige Bilder, die im Fotojournal von Republic.ru veröffentlicht wurden.

    Piruza Khalapyan, „Die Mauer“, aus dem Projekt Unaddressed [fragmented] memory, 2020

    „Wir wollten Fotografie als eine Methode der archäologischen Forschung nutzen. Mit dem Unterschied, dass wir statt physischer Denkmäler Bildwelten ausgraben“ – so formuliert die Kuratorin Victoria Muswik ihre Herangehensweise. Im Fokus dieser Forschung befinden sich Übergangsidentitäten und Räume, die in der postsowjetischen Wirklichkeit entstanden sind. Aber auch die Fragen nach Hierarchie und Macht, „Unausgewogenheit zwischen Zentrum und Peripherie“, „zerstörerischen Kräfte des neokolonialen Despotismus“ und „Gleichgültigkeit der Marktwirtschaft“. Diese Themen werden aus zwei Perspektiven betrachtet – aus der russischen und aus der armenischen.

    Dabei stellen die Kuratoren in einem auf Republic.ru veröffentlichten Dialog fest, dass die russische und die armenische Fotografie unterschiedliche Wurzeln haben: Die Entwicklung der russischen Fotografie ist von imperialen und – später – revolutionären Imperativen nicht zu trennen. So spielten etwa die Fotos von Sergej Prokudin-Gorski im 19. Jahrhundert eine entscheidende Rolle in der „Kartografie“ des Russischen Imperiums, in der Bestimmung von dessen Grenzen, dessen Zentrum und Randgebieten. Die armenische Fotografie dagegen war ursprünglich ein Mittel der interkulturellen Beziehungen zwischen Armenien und dem Nahen Osten, Europa und Russland.

    Die modernen Fotografen erben diese Besonderheiten, weisen aber gleichzeitig viele weitere Unterschiede auf. Etwa im Hinblick auf die fotografische Analyse von ähnlichen Themen, wie zum Beispiel die (gemeinsame) sowjetische Vergangenheit. Ein wiederkehrendes Motiv vieler Fotografen ist der „postsowjetische Zustand“ – Ruinen und Symbole der vergangenen Epoche. Während russische Fotografen meistens versuchen, die Größe und Mehrschichtigkeit des untergegangenen sowjetischen Projekts an sich zu verstehen, sehen die armenischen Fotografen nicht nur das Sowjetische oder die Splitter des Sowjetischen, sondern auch das Persönliche und Lokale. Während die russischen Fotografen sich analytisch und verfremdet auf die Landschaften konzentrieren, treten in der armenischen Fotografie die Menschen, deren Beziehungen, Gefühle und persönliche Geschichten deutlicher hervor.

    Wie es in der Fotografie oft der Fall ist, sagen die Bilder nicht nur etwas über die Objekte aus, die sie zeigen, sondern auch etwas über die Fotografen, die sie aufgenommen haben. Alle Fotos wurden vor dem Beginn des großflächigen Angriffskrieges gegen die Ukraine gemacht.

     

    Arman Harutyunyan, „Einige Minuten vor dem Angriff der Hunde“, 2020

     

    Max Sher, „Theater der Ordnungshüter: Glaube in den herrschenden Umständen“, aus dem Projekt Infrastructures, 2016–2019

     

    Natalya Reznik, „Elena“, aus dem Projekt Virtual acquaintances, 2009

     

    Anastasia Tsayder, Ohne Titel, aus dem Projekt Arcadia, 2016–2021

     

    Alexander Gronsky, Ohne Titel, aus dem Projekt Pastoral, 2009–2012

     

    Anahit Hayrapetyan, „Marina“, aus dem Projekt Princess to Slave, 2013

     

    Ilja Rodin, Ohne Titel, aus dem Projekt „Das Haus“, 2018

     

    Nazik Armenakyan, Ohne Titel, aus dem Projekt Red Black White, 2018 – bis heute

     

    Alisa Gorshenina, Ohne Titel, aus dem Projekt Russian Alienated, 2017–2019

     

    Alexey Vasilyev, „Zwillinge“, aus dem Projekt Sakhawood, 2019

     

    Ani Gevorgyan, „Polizeiübungen“, 2014

     

    Igor Tereschkow, „Tschum und Rentierherde, Sommerweide der Familie Tewlins, Jugra“, aus dem Projekt Moos und Öl, 2016–2018

     

    Tanja Tschaika, Ohne Titel, aus dem Projekt Der Weg nach Hause, 2019

     

    Nelly Shishmanian, „Bewohner des Grenzdorfs Tsopi in Georgien feiern den armenischen Feiertag Wardawar“, aus dem Projekt „Vielleicht zusammen“, 2018

     


    Quelle: republic.ru
    Fotoauswahl: Victoria Muswik und Wigen Galustjan
    Veröffentlicht am 25. April 2024
    Wir danken Max Sher für seine Unterstützung in der Vorbereitung dieser Publikaton.

     

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  • Echo aus Syrien

    Echo aus Syrien

    Wladimir Putin gibt der ukrainischen Regierung die Schuld am blutigen Terroranschlag in der Crocus City Hall. Bei einer Videokonferenz mit Regierungsmitgliedern und Leitern der Sicherheitsbehörden sagte er am Montag: „Wer profitiert davon? Diese Übeltat kann bloß ein Glied sein in einer ganzen Kette von Versuchen derer, die seit 2014 mittels des Kiewer Neonazi-Regimes gegen unser Land kämpfen.“ Putin sagt zwar, dass die Täter radikale Islamisten waren, doch die Hintermänner sieht er in Kyjiw und Washington: „Es geht darum, Panik in unserer Gesellschaft zu schüren und gleichzeitig dem eigenen Volk zu zeigen, dass für das Kiewer Regime noch nicht alles verloren ist.“ 

    Auch russische Staatsmedien wiederholen diese These der „ukrainischen Spur“ – ebenfalls ohne dafür Beweise zu präsentieren. Terrorismusforscher wie Peter Neumann vom Londoner King’s College halten eine solche Version für absurd und sehen gewichtige Indizien für eine Urheberschaft der Tat bei der Terrororganisation Islamischer Staat. 

    Auch Ruslan Lewijew hält die These der „ukrainischen Spur“ für unsinnig. Lewijew ist Gründer des unabhängigen Investigativ-Netzwerks Conflict Intelligence Team (CIT), das sich seit 2014 mit seinen Open-Source-Recherchen zu den russischen Kriegseinsätzen in der Ukraine und in Syrien einen Namen gemacht hat. Im Interview mit Republic spricht Lewijew darüber, warum Putin die Warnungen der US-Geheimdienste über einen bevorstehenden Terroranschlag ignoriert hat und warum der Islamische Staat insbesondere seit Russlands Beteiligung im Syrienkrieg durchaus Motive hat, Anschläge in Russland zu verüben. 

    Putin bespricht den Terroranschlag in der Crocus City Hall mit dem Sicherheitsrat der Russischen Föderation / Foto © Imago, Zuma Wire

    Farida Kurbangalejewa, Republic: Putin hat vor wenigen Tagen vor führenden FSB-Generälen erklärt, bei den Warnungen über in Russland geplante Terroranschläge handle es sich um Täuschungsmanöver westlicher Staaten. Haben Sie eine Erklärung für dieses Verhalten? 

    Ruslan Lewijew: Er versucht, jede Nachricht für die Propaganda in Russland zu nutzen. Denn wir befinden uns ja angeblich in einer Art Krieg mit dem Westen, das haben hochrangige Staatsbeamte oft verlautbaren lassen. Und Amerika immer mal mit etwas in Zusammenhang zu bringen, ist für Putin ja ganz nett. In den vielen Jahren beim KGB und dann auf dem höchsten Posten in Russland waren Menschen um ihn versammelt, die ihm das liefern, was er sehen und hören will: Dass die westlichen Geheimdienste listige Taktiken verfolgen. Ich glaube, dass er bereits selbst an die Welt glaubt, die er geschaffen hat, eine absolute Fantasiewelt, die aus seiner Propaganda und seinen Lügen besteht. Das heißt, dass er die Realität nicht so wahrnimmt, wie sie ist.  

    Welche Vorwürfe erhebt der IS-Khorasan (ISPK) gegen Russland? Ich habe mir vor unserem Gespräch eine Auflistung ihrer Terroranschläge angesehen – hauptsächlich fanden die in Afghanistan und Pakistan statt. Warum jetzt plötzlich in Russland? 

    Leider ist das ein Punkt, bei der ein Großteil der russischen Gesellschaft nicht aufgepasst hat. Wir [CIT – dek] analysieren Russlands Vorgehen in Syrien seit 2015. Dabei wurde auch deutlich, wie die russische Gesellschaft, einschließlich der unabhängigen Medien dieses Thema ignoriert haben. 

    Es gab Massen von Bildern, wie russische Flugzeuge Bomben abwarfen, die auf Wohnviertel, Märkte und Krankenhäuser fielen

    Die Russen haben regelmäßig Stellungen von IS-Kämpfern und von Al-Qaida attackiert. Aber vor allem haben sie die Freie Syrische Armee angegriffen. Also die Soldaten, die gegen Bashar al-Assads Regime kämpften. Dabei haben die russischen Soldaten ihre Waffen wahllos eingesetzt. Das ist auch jetzt der Fall, wenn die russische Armee ukrainische Städte bombardiert. Und da die syrischen oppositionellen Gruppen nicht über Luftabwehrsysteme verfügen, konnte sie dort noch freier die Städte überfliegen und Bomben abwerfen.   

    Es gab Massen von Bildern, wie russische Flugzeuge Bomben abwarfen, die auf Wohnviertel, Märkte und Krankenhäuser fielen. Menschen werden in Stücke gerissen und sterben, darunter auch Kinder. Dann kommt der Zivilschutz – die Weißhelme, die in Russland als Unterstützer der Terroristen bezeichnet werden. Sie versuchen, Menschen aus den Trümmern zu retten, und die russische Luftwaffe wirft erneut Bomben auf sie. Auch die Retter kommen ums Leben. 

    Wir haben schon damals gesagt, dass diese Aktionen weitreichende Folgen für Russland haben werden. Dass die Terror-Gruppen anfangs „Tod für Amerika“ skandierten und dazu aufriefen, den imperialistischen Westen und all diese Ungläubigen zu bekämpfen. Aber seitdem die Russische Föderation [in Syrien – dek] eingegriffen hat, hat sich ihr Fokus sofort auf Russland verlagert. Jetzt heißt es „Tod für Russland für das, was es den Muslimen antut“. 

    Die Islamisten werden ihre Propaganda dafür einsetzen, dass mehr Terroranschläge gegen Russland verübt werden

    Die Menschen in Russland haben es damals überhaupt nicht mitbekommen, aber die muslimische Welt hat sich das gut gemerkt und sie wird sich noch über Generationen hinweg daran erinnern. Die Islamisten werden ihre Propaganda dafür einsetzen, dass mehr Terroranschläge gegen Russland und gegen Russen verübt werden. Ich bin mir absolut sicher: Selbst wenn das Putin-Regime in den nächsten Jahren fällt und ein demokratischer Präsident an die Macht kommt – die Terroranschläge in Russland werden trotzdem weitergehen. Weil sich für die Terroristen dadurch nichts ändert. „Es sind doch dieselben Russen, die Muslime bombardiert haben. Und überhaupt: Es sind Ungläubige, also muss man weiterhin Terroranschläge verüben“. Das ist für sie die Hauptsache. 

    Seitdem Putin an der Macht ist, hat es viele Terroranschläge gegeben, besonders viele gab es aber vor 2014. Denn dann begann der Krieg in Syrien, und viele Anhänger des radikalen Islam gingen dorthin, um zu kämpfen. In der Folge wurde es in Russland relativ ruhig. Müssen wir damit rechnen, dass jetzt die Zeiten zurückkommen, in denen es regelmäßig Bombenanschläge gibt? Wie am Flughafen Domodedowo im Jahr 2011 oder in Wolgograd im Jahr 2013? 

    Tatsächlich gab es weiterhin kleinere Terroranschläge: Zum Beispiel 2016, als eine Kinderfrau in Moskau einem Dreijährigen den Kopf abschlug und dann mit dem abgetrennten Kopf durch die Straßen lief und rief: „Das ist für das, was ihr in Syrien tut.“ Im selben Jahr ermordete ein Terrorist den russischen Botschafter in der Türkei: Er schoss ihm in den Rücken und rief ebenfalls, dies sei für das, was Russland in Syrien tue. Es gab weitere Terroranschläge, zum Beispiel in den Regionen des Nordkaukasus, die ebenfalls unbemerkt blieben, weil die Medien ihre Schwerpunkte anderswo legten.  

    Es sieht tatsächlich so aus, als käme die Zeit vor zehn Jahren zurück

    Aber grundsätzlich stimme ich Ihnen zu. Offensichtlich haben viele Menschen, die sich zu radikalen Strömungen des Islam bekennen, versucht, nach Syrien zu gehen, weil in diesem Krieg die wichtigste Schlacht geschlagen wurde. Vor diesem Hintergrund ging die Zahl großer Terroranschläge in Russland zurück. Und jetzt sieht es tatsächlich so aus, als käme die Zeit vor zehn Jahren zurück. 

    Tatsächlich ist Russland hier kein Sonderfall. Erst vor ein oder zwei Monaten sollen Anschläge in Deutschland vereitelt worden sein. Das zeigt, dass Terroristen jetzt auf der ganzen Welt aktiv sind. Aber natürlich haben sie Russland ganz besonders im Visier.  

    Umso mehr als der IS-Ableger Khorasan vor allem in Afghanistan aktiv ist. Dort tritt er als erbitterter Gegner der herrschenden Taliban auf. Deren wichtigster Verbündeter wiederum ist Russland. Das Problem ist, dass die Taliban ebenfalls ein repressives Regime errichtet haben. Viele Kämpfer der Taliban und von Al-Qaida laufen zum Khorasan über, weil sie der Ansicht sind, dass die Taliban die Scharia falsch auslegen. In der Folge planen sie dann neue Terroranschläge gegen Russland. 

    Welche Folgen wird dieser Anschlag haben? 

    Zunächst wird es natürlich Druck auf die Migranten [in Russland] geben: Razzien in ihren Unterkünften, Kontrollen in der Metro und im öffentlichen Nahverkehr. Vielleicht werden sie auch an der Grenze strenger kontrolliert. Und natürlich werden die repressiven Gesetze jetzt verschärft umgesetzt: Überwachung, Kontrolle von Medien und Messengern. Das sind die Maßnahmen, mit denen man jetzt zuerst rechnen muss. 

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  • „Wir wissen, dass sich alles ändert“

    Nach einer Präsidentschaftswahl mit handverlesenen Gegenkandidaten hat die russische Wahlkommission dem 71-jährigen Wladimir Putin am Sonntagabend ein Ergebnis von mehr als 87 Prozent zugeschrieben. Die unabhängige Wahlbeobachtungs-Organisation Golos hat diesmal nicht nur Manipulationen bisher nie dagewesenen Ausmaßes festgestellt, sondern auch unmittelbaren Zwang von Polizei und Geheimdiensten gegen Wählerinnen und Wähler. Wozu der ganze Aufwand, wenn eh niemand dem Kreml glaubt? Die Redaktion von Republic hat mit Maxim Trudoljubow vom Kennan Institute darüber gesprochen, was Putin mit der Wahl bezweckt und welche Aussichten eine demokratische Opposition in Russland noch hat. 

    Eine große Leuchtreklametafel in Moskau verkündet am Sonntagabend ein Rekordergebnis für Wladimir Putin in einem Rennen ohne echte Konkurrenz / Foto © Imago, Alexander Zemlianichenko 

    Jewgeni Senschin/Republic: Wie beurteilen Sie die aktuelle politische Lage in Russland? 

    Maxim Trudoljubow: Putin hat keinen langen Krieg geplant, doch im Endeffekt ist der lange Krieg zum Kernstück geworden, nach dem er sein ganzes Regime ausrichtet und um das herum er die Gesellschaft konsolidiert, so sieht er es. 

    Meiner Ansicht nach sollte die Abstimmung dazu führen, den Krieg von maximal vielen Menschen absegnen zu lassen und im Nachhinein die Unterschrift von Millionen Bürgern Russlands für Entscheidungen zu bekommen, die er vor langer Zeit im Alleingang getroffen hat

    Natürlich sind sich Putin und seine Kumpane der Kontroverse bewusst: Ist es Putins Krieg oder der Krieg von ganz Russland? Und sie wissen auch, dass er im Westen von Anfang an als Putins Krieg galt. Doch Putin möchte das korrigieren, damit alle die Verantwortung dafür tragen. Einige Tage vor dem Einmarsch hatte er den Sicherheitsrat um sich versammelt, am ersten Kriegstag hat er führende Geschäftsleute zusammengerufen, dann traf er sich noch mit anderen Gruppen vor laufender Kamera. Und so sammelte er Zustimmung für den Krieg. Und jetzt möchte er die Zustimmung des Großteils der Bevölkerung. Also ist die Abstimmung eine Abstimmung für den Krieg, damit Putin sagen kann: „Das ist nicht nur mein Krieg, das ist der Krieg von ganz Russland.“ Er will alle ins Boot holen. 
     
    Für den Westen ist das ein schlechtes Signal. Sie schauen auf die Ergebnisse dieser „Wahlen“: 80 Prozent für Putin, also 80 Prozent für den Krieg. Also haben wir alles richtig gemacht, als wir mit unseren Sanktionen nicht nur das Putinsche Establishment beschränkt haben, sondern alle Bürger Russlands. Bei weitem nicht alle wollen tiefer in die Materie des russischen Lebens eindringen und verstehen, was diese Ergebnisse wirklich bedeuten. 
     
    Wie schätzen sie die Chancen der Opposition nach dem Tod Nawalnys ein? Es gibt da sehr konträre Meinungen. Durch den Tod werde die Opposition böser, radikaler, entschlossener und so weiter. Die Rockgruppe Nogu svelo hat sogar schon ein Lied darüber geschrieben. Aber es gibt auch die entgegengesetzte Meinung: Der Tod hat die Opposition in eine Depression stürzen lassen, hat gezeigt, dass ihre Chancen die Innenpolitik Russlands zu beeinflussen gen Null gehen. 

    Ich war tatsächlich viele Jahre sehr pessimistisch. Aber ich glaube, dass wir nun wirklich Optimismus brauchen. Derzeit meinen viele, dass das Spiel verloren ist und man das Land nicht ändern kann. Aber das ist nicht so. Kein Land ist dazu verdammt, auf immer mit dem gleichen Regime zu leben. Die Geschichte liefert eine Menge von Beispielen. Es gibt keine „Sklavenmentalität“, die Neigung einer ganzen Nation zu einem spezifischen System. Wir wissen, dass sich alles ändert. 

    Das ist definitiv auch in Russland möglich. Sobald sich die Umstände ändern, wird ein Tauwetter einsetzen, die Leute werden sich zusammenschließen und gemeinsam auf die Straße gehen. Aber wann kommen diese Umstände? Darauf gibt es leider keine gute Antwort. Dabei ist es völlig offensichtlich, dass es in der Gesellschaft keine massenhafte Unterstützung für den Krieg gibt, so wie es auch keine massenhafte Unterstützung für Putin gibt. Dafür gibt es haufenweise Indizien. Beispielsweise weigern sich Leute bei Umfragen zu antworten und sagen, dass sie keine Meinung zum Krieg hätten. Das heißt, dass sie vor etwas Angst haben, und nicht, dass sie das Handeln des Kreml gutheißen. Aber wenn sich die Umstände ändern, wird ihre Haltung zum Vorschein kommen.  

    Andererseits ist das bloße Warten und Hoffen auf eine Schwächung des Regimes unangenehm. Diejenigen, die Russlands Zukunft noch nicht begraben wollen, müssen an dieser Zukunft arbeiten und ein konkretes Bild von ihr erschaffen. Sie sollten sich außerdem der Bildung widmen, für sich und für ihre Kinder, die im Bewusstsein aufwachsen sollten, das das heutige Regime Russlands eine historische Anomalie ist. Die Leute, die die Macht an sich reißen konnten, sind nicht ewig, ihre Zeit ist begrenzt. 

    Aktuell findet ein unsichtbarer Kampf darum statt, was die nachfolgende Generation tun wird. Heute ist eine Generation an der Macht, die in den 50er Jahren geboren und in den 70er und 80er des vergangenen Jahrhunderts erzogen wurde. Sie wuchsen auf in einer Atmosphäre der Enttäuschung, des Unglaubens und Zerfalls der Ideale. Der Glaube an den Kommunismus war schon vorbei, aber ein anderer noch nicht entstanden. Es entstand ein Bewusstsein des historischen Scheiterns. So bildete sich diese Generation von Greisen, die sich um ihre Kränkungen sorgen und Revanche suchen. Natürlich gibt es in dieser Generation auch beispielsweise einen Oleg Orlow, einen der Gründer von Memorial, der, verurteilt für die „Diskreditierung der russischen Streitkräfte“, aktuell eine Haftstrafe absitzt. Doch an der Macht ist genau der boshafte Teil dieser Generation. 

    Wichtig ist, dass es eine neue Generation gibt, die Generation Nawalnys, die Ende der 1980er und in den 1990er Jahren erwachsen wurde. Für sie ist die Zukunft kein leeres Wort. Und Putin hat den Anführer dieser neuen Generation umgebracht. Aber das ist nicht das Ende der Geschichte. Ja, die Vertreterinnen und Vertreter dieser Generation befinden sich gerade in der Depression und im Schock. Aber ihnen bleibt trotzdem eine Vision von Zukunft und Hoffnungen, die mit dieser Zukunft verknüpft sind. Heute wird um die Herzen dieser Generation gekämpft und um die Herzen jener, die noch jünger sind. Es liegt heute an uns allen, diese Depression zu überwinden. 

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  • „Für die Z-Blogger ist Putin ein Trottel“

    „Für die Z-Blogger ist Putin ein Trottel“

    Mit dem Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat sich auf Telegram ein regelrechtes Ökosystem sogenannter Z-Kanäle entwickelt: Sie werden betrieben von Militärbloggern, Frontberichterstattern, Kadyrow-Anhängern und Propagandisten aus den Staatsmedien, die alle den Krieg gegen die Ukraine befürworten und sich meist ein noch entschlosseneres Vorgehen des Kreml wünschen.

    Der Schriftsteller Iwan Filippow verfolgt diese Szene genauestens und berichtet auf seinem eigenen Telegram-Kanal darüber. Im Interview mit dem Portal Republic spricht er darüber, wie diese sogenannten „Z-Blogger“ ihre Enttäuschung über den Kriegsverlauf zeigen, warum sie Putin für einen Trottel halten und was sie zum Gaza-Krieg schreiben. 

    Fenster an einem Gebäude in Moskau formen den Buchstaben Z – das inoffizielle Symbol für den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine / Foto © Russian Look/imago images

    Jewgeni Senschin: Gibt es so etwas wie eine Z-Ideologie, oder ist das ein Mosaik aus Meinungen, Positionen, Stimmungen und Äußerungen, die nur die Idee vereint, gegen die Ukraine zu kämpfen?

    Iwan Filippow: Die Z-Ideologie ist eine Ideologie des Kriegs, die auf jeden Fall die militärische Niederlage Kyjiws und den Sieg Russlands in seiner „militärischen Spezialoperation“ umfasst. Auf dieser Basis sind sich alle einig, aber dann beginnen die „ideologischen Unstimmigkeiten“. Je nach Themengebiet haben alle unterschiedliche Vorstellungen. Wie sieht der Sieg aus? Soll die ukrainische Sprache verboten werden oder nicht? Soll die gesamte ukrainische Bevölkerung ausgerottet werden, oder kann man manche am Leben lassen? Was soll man mit Kyjiw machen: es russifizieren oder in einen gigantischen Friedhof verwandeln?

    Da gibt es viele Kannibalen, die einen Genozid befürworten

    Soll man es bei der Ukraine belassen oder auch das Baltikum und Polen erobern? Welche postsowjetische Republik soll nach der Ukraine „bestraft“ werden – Kasachstan, Armenien, Georgien? Sogar die Gründe für den Krieg sehen die Betreiber von Z-Kanälen manchmal völlig unterschiedlich.

    Nachdem Sie diese Community jetzt so lange beobachtet haben, was können Sie über deren psychische Verfassung sagen? Sind die ganz bei Sinnen oder nicht? Vielleicht ist die Eroberung Polens ja eine durchaus rationale Idee, für die es knallharte Argumente gibt? Wir verstehen sie nur einfach nicht und halten ihre Verfechter deswegen zu Unrecht für Psychos und Menschenfresser? 

    Ja, da gibt es viele Kannibalen, die einen Genozid befürworten und für Konzentrationslager und sonstige Scheußlichkeiten Stimmung machen. Zu den Ärgsten gehören da Goworit TopaZ (dt. Hier spricht TopaZ) oder Alex Parker Returns

    Der Grat ist natürlich schmal – dass Russland den Krieg gewinnt, wollen sie ja sowieso alle, aber trotzdem rufen noch lange nicht alle Autoren zu Kriegsverbrechen und bestialischen Ungeheuerlichkeiten auf. So mancher glaubt ehrlichen Herzens und nicht nur, um sich vom Kreml finanzieren zu lassen, an die Größe des Imperiums, an Russlands Waffen, an die Überlegenheit der Russen über alle anderen. Von Schlagwörtern wie „Entnazifizierung“ und sonstigen propagandistischen Klischees halten sie genauso wenig wie die Kriegsgegner, gleichzeitig glauben viele von ihnen aber tatsächlich an das zugrundeliegende Narrativ von der „Bedrohung durch die NATO“, der „Verteidigung nationaler Interessen“ und so weiter. 

    Was Militärblogger betrifft, so gibt es unter ihnen sehr viele Ideologen, die seit 2014 kämpfen und sich ein Leben ohne Krieg gar nicht mehr vorstellen können. Obwohl man auch über die Armeeangehörigen nichts Fixes sagen kann: Es gibt Zweifler, es gibt Gleichgültige, und es gibt richtige Menschenfresser.

    Der Betreiber des Kanals Ubeshischtsche №8 (dt. Schutzbunker Nr. 8) schrieb zum Beispiel einmal einen sehr prägnanten Text über die Stimmung in der Armee, der auf den einfachen Gedanken hinausläuft: Zwar sehe ich keinen Sinn in diesem Krieg, mir ist die Ukraine absolut egal, aber wenn sie mich schon losschicken und mir Geld dafür zahlen, dann kämpfe ich eben.

    Sie sehen ein Problem, bleiben aber buchstäblich einen Meter vor der richtigen Schlussfolgerung stehen

    Solche Stimmungen zu erforschen, ist deswegen interessant, weil wir daran die Entwicklung der Gedanken beobachten können. Wie Zweifel entstehen, wie sich Sichtweisen verändern, wie Reflexion beginnt. Zusammen mit Kollegen, die ebenfalls die Kreml-Propaganda untersuchen, bin ich zu folgendem Schluss gekommen: Die Denkweisen all dieser Autoren haben eine Gemeinsamkeit. Sie sehen ein Problem, das eine Lösung erfordert, bringen einleuchtende und vernünftige Argumente vor, denken logisch über das Problem nach und … bleiben buchstäblich einen Meter vor der richtigen Schlussfolgerung stehen. 

    Seht nur, schreiben die Z-Autoren, ringsum gibt es nichts als Probleme, vor allem Korruption und Willkür, es fehlt an Meinungsfreiheit, an Rechtsstaatlichkeit, an fairen Wahlen. Darüber gibt es tausende Z-Beiträge, doch keiner der Verfasser antwortet auf die Frage: „Wie kam es denn dazu?“ Tja, offenbar ist das ganz von selbst so gekommen.

    Wahrscheinlich kann man so gut wie alle Z-Blogger als Imperialisten bezeichnen. Nicht unbedingt Monarchisten, obwohl es auch die massenhaft gibt, aber generell Menschen, die davon träumen, in einem großen, mächtigen Land zu leben, einer Art neuer Sowjetunion. Als Staatsbürger von diesem Imperium auf Händen getragen zu werden und sich erhaben zu fühlen, allein durch Geburt. Amüsant war, wie sich etwa vor einem Jahr gleich mehrere Blogger verbittert über die neue Einstellung des Westens gegenüber Russland beklagten: Dass sie uns nicht mögen können, verstehen wir ja, aber warum fürchten sie uns nicht mehr? Wie können sie es wagen, keine Angst vor uns zu haben?

    Sie sprechen von einer Art Entwicklung der Ansichten. Welche Ereignisse haben diesbezüglich Einfluss? Wahrscheinlich solche wie die Verhaftung von Strelkow, Prigoshins Meuterei und seine anschließende Ermordung, dann diverse Misserfolge an der Front. Wie spiegelt sich all das in dieser „Evolution“?  

    Hierzu gehören auch der Rückzug aus der Oblast Charkiw, die Übergabe von Cherson, das Scheitern der Eroberung von Kyjiw, Prigoshins Kritik, Bachmut, Prigoshins Konflikt mit Schoigu, Prigoshins Ermordung.

    Die Geschichte mit Igor Strelkow ist für die Z-Community extrem wichtig. Es gab offenbar ein unausgesprochenes Tabu, Putin persönlich zu kritisieren. Das betraf nur Putin höchstselbst, nicht etwa seinen „Furniermarschall“. Aber je miserabler die Lage an der Front war, desto zorniger richtete sich Strelkows Kritik gezielt gegen Putin, und kurz vor seiner Verhaftung artete das schon in regelrechte Beschimpfungen aus. Und mit ihm fingen auch andere damit an … Doch kaum befand Strelkow sich in U-Haft, breitete sich ein vielsagendes Schweigen aus. Wenn man jetzt auf einem Z-Kanal eine Beleidigung oder Kritik liest, die direkt gegen Putin gerichtet ist, dann lebt der Verfasser garantiert im Ausland.

    Für sie ist Putin ein Trottel

    Ein unerwartetes Ergebnis dessen, wie sich die Z-Meinungen angesichts der Ereignisse entwickelt haben, ist Enttäuschung über Putin. Diese wird sehr dezent formuliert und nie direkt geäußert (zumindest nicht von Leuten, die noch in Russland leben), aber generell wiegt die Enttäuschung schwer. Putin hat sich als Schwächling erwiesen. Seine Anhänger wollen ihn als Feldherren sehen, als Visionär, der die Soldaten an der Front besucht und jede Sekunde seines Lebens dem Sieg Russlands widmet. Aber er ist ein Piepmatz. Es macht sie rasend, dass Putin ständig lamentiert, wie ihn der Westen betrogen hat. Darüber, dass Putin übers Ohr gehauen wurde, kursieren in der Z-Community bereits Memes. Sie und ich, wir können darüber nur schmunzeln, aber die Z-Community lacht breit und schadenfroh aus vollem Halse. Für sie ist Putin ein Trottel. Wer wird über den Tisch gezogen? Ein Trottel. Und wen können die „geschätzten Partner im Westen“ zum x-ten Mal reinlegen? Einen Trottel.       

    Gleichzeitig wird seit der Sache mit Strelkow und seit Prigoshins Tod jetzt nur mehr unpersönlich und in Andeutungen geschrieben, oder man wendet sich dem altbewährten Mythos zu: Gut ist der Zar, die Bojaren sind böse. Und wer Putin „Pynja“ oder „Pypa“ nennt, lässt uns wissen, dass er im Ausland lebt.

    Wo denn zum Beispiel?

    Eine Bloggerin lebt in England. Zwei in Spanien. Ein radikaler Autor schreibt, er lebe in Kanada. Ein anderer in Armenien. Sie lieben ihre Heimat und unterstützen den Krieg aus sicherer Entfernung. 

    Kürzlich sind an der Front ATACMS-Raketen aufgetaucht. Wie reagierte das Z-Publikum darauf?

    Der Angriff mit ATACMS auf den Flugplatz im besetzten Berdjansk, der je nach Quelle zu einem Verlust von bis zu sieben Helikoptern führte, hat die Z-Community erschüttert. Man ist aber nicht nur frustriert, sondern auch empört, und buchstäblich jeder Blogger monierte, dass es nirgendwo – weder in Russland noch in den besetzten Gebieten – Schutzbauten für Hubschrauber und Flugzeuge gebe. Sie regen sich auf, dass es seit über einem Jahr keiner schafft, diese einfachste aller Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Und sie fordern (wie immer) die Erschießung der Verantwortlichen. Die Diskussion über Perspektiven des Kriegs angesichts dieser ATACMS-Lieferungen verläuft ruhiger. Man geht davon aus, dass sie zwar keine Wende im Kriegsverlauf, aber trotzdem allerhand Probleme bringen werden. 

    Vor allem aber ärgert die Z-Blogger, dass Russland zuerst mit Tod und Teufel droht und rote Linien zieht, wenn Langstreckenraketen ins Spiel kommen sollten, und dann auf einmal: Pffft. „Was können wir denn machen? … ordentlich kämpfen (wie Israel gerade) traut sich keiner, die roten Linien gehen durch die Unterhosen der Kinder eines Tuwiners und einer Turnerin. Dafür stopfen sie den eigenen Leuten das Maul immer fester, statt den Feind zu vernichten“, schreibt der Betreiber des Channels DschRG Russitsch.

    Die Z-Community speist sich aber nicht nur aus der Ukraine. Die Weltpolitik hat auch noch die Konfrontation zwischen Hamas und Israel für sie in petto. Was sagen die denn dazu?

    Etwa 70 Prozent reagierten auf die tragischen Ereignisse in Israel mit Begeisterung. Sie hegen starke Antipathien gegen Israel, zumal dort viele Russen Zuflucht vor der Mobilmachung gefunden haben. „Ihr habt unsere Verräter aufgenommen, das habt ihr nun davon.“ Sie feiern jeden Tod in diesem Krieg, posten unzensiert die furchtbarsten Videos, die die Hamas verbreitet. Sie freuen sich über die Vernichtung israelischer Zivilisten und wünschen der Hamas den Sieg. Zugleich schreiben sie über Verbrechen des israelischen Militärs in Gaza. Und hier und da schimmert der alte banale Antisemitismus durch. Wie Sie wissen, hatte die Hamas für Freitag, den 13. Oktober, einen weltweiten Pogrom gegen Juden angekündigt, doch nichts geschah. Einer der Z-Blogger war sogar enttäuscht: „Wie denn das, kein einziger Toter, ich dachte, wenigstens die Muslime sind effektiv, aber auch die sind faul geworden und können nicht mal mehr Juden ermorden.“

    Ich betone, das ist nicht die Haltung des Mainstreams, aber der Antisemitismus nimmt in den Z-Kanälen tagtäglich zu. Zum Beispiel die aussagekräftige Reaktion nach dem Fernsehauftritt von Amir Weitmann, dem Vorsitzenden der libertären (die Hälfte schrieb irrtümlich: liberalen) Fraktion der Likud-Partei, in dem dieser versprach, nach dem Sieg Israels müsse Russland seine Rechnung zahlen. „Glauben Sie mir, Russland wird bezahlen. Russland unterstützt Israels Feinde. Russland unterstützt Nazis, die einen Genozid unseres Volkes wollen. Und Russland wird dafür bezahlen, genauso wie die Hamas bezahlt hat.“ Der Blogger von Grey Zone schrieb: „Lck mcham Arsch, eine sprechende Seife … Wir können das wiederholen.“ Oder, formal weniger radikal, Shiwow Z: „Ihr habt selber noch etliche Rechnungen offen, von der Ermordung des russischen Zaren bis zur Ausmerzung der russisch-orthodoxen Kirche und Auslöschung ganzer Klassen aus unserer Gesellschaft.“

    Die größte Freude bezüglich des Hamas-Angriffs auf Israel macht jedoch die Hoffnung, dass Amerika nicht gleichzeitig zwei Kriege unterstützen und seine Waffen statt in die Ukraine nach Israel liefern wird – was Russland natürlich zugute käme. 

    In den letzten Wochen bestand der Content von Z-Channels zu circa 40 Prozent aus Beiträgen über Israel.

    Doch in diesem Z-Strom passiert auch Skurriles. Es gibt Autoren, die ihren politischen Überzeugungen nach absolut proisraelisch sind. Doch in der aktuellen Situation wird ihnen plötzlich bewusst, dass das Land, das sie medial bedienen, nicht für Israel ist, sondern für die Hamas. Das ist für sie ein schwerer Schock. Im Fernsehen ist das Jakow Kedmi, auf Telegram Jewgeni Satanowski, der den Kanal Armageddonytsch betreibt. Wo er die Frage stellt: „Wie kann ein Land, das Budjonnowsk, Nord-Ost, Beslan hinter sich hat, die Hamas unterstützen?“ Er ist aus der Bahn geworfen und versucht, die Balance wiederzufinden. Und er kommt zu der Lösung: In der Ukraine werde ich Russland unterstützen, im Nahost-Konflikt Israel.     

    Meiner Ansicht nach sind das zwei unvereinbare Positionen, diese Haltung ist schizophren. Das vorhersehbare Ende kennen wir. Satanowski nannte in einem Interview [Außenamtssprecherin] Maria Sacharowa eine „versoffene Schlampe“ und wurde von Solowjow umgehend entlassen. Die Z-Community interpretiert diesen Vorfall durchweg dahingehend, dass „ein schlafender Agent des globalen Zionismus enttarnt wurde“. Nicht ohne immer wieder auf die Nationalität von Jewgeni Janowitsch Satanowski hinzuweisen, und ungefähr jeder zweite Text ist – mal heftiger, mal weniger – antisemitische Hetze.  

    Wie lassen sich die Stimmungen zusammenfassen, die in dieser Szene derzeit vorherrschen?

    Ich habe für mich längst beschlossen, ihre Stimmungen nicht nur anhand dessen einzuschätzen, was sie an einem konkreten Tag schreiben. Sie sind wie hyperaktive Kinder, ihre Launen schwanken in einer gigantischen Amplitude. Heute schreiben sie vielleicht: „Alles verloren, Chef!“, und morgen schon: „Klar wird Kyjiw erobert!“ Wobei natürlich sehr wohl eine allgemeine Richtung auszumachen ist. Die Gefühle, die die Z-Community heute vorwiegend durchlebt, sind Fassungslosigkeit und Besorgnis. 

    Fassungslosigkeit, weil sie nicht verstehen, wieso – so scheint es ihnen – „keiner versucht, den Krieg zu gewinnen“. Daraus wächst Misstrauen, vor allem an die Adresse Putins – er will diesen Krieg nicht so richtig führen. Außerdem kann er der Gesellschaft nicht einmal ein Bild des Sieges bieten. Der Krieg dauert nun schon weit über 600 Tage, und noch immer erhalten wir, wenn wir zwanzig Z-Bloggern die Frage stellen, wie ein Sieg Russlands in dieser „Spezialoperation“ aussieht, ganz unterschiedliche oder gar keine Antworten. Gleichzeitig ist Bitterkeit und Enttäuschung darüber zu verspüren, dass die „Spezialoperation“ irgendwie nur für den Schein sei, aber die Menschen tatsächlich darin umkommen.  

    Sie fürchten, dass sich der Kreml auf ein faules Abkommen einlassen könnte

    Die Tendenz der letzten Tage ist, dass die Z-Blogger ihre Beiträge von vor einem Jahr ausgraben, in denen sie sich über Probleme in der Armee beklagten, um damit zum Ausdruck zu bringen: „Seitdem ist nichts besser geworden.“

    All das zusammen führt zu Besorgnis. Sie befürchten, dass der Kreml sich auf ein faules Abkommen einlassen und damit die nationalen Interessen verraten könnte. Manche rechnen sogar ernsthaft damit, dass Russland die Krim abtreten könnte, was für sie einer Katastrophe gleichkommt.   

    Eine meiner wichtigsten Schlussfolgerungen, die sich auf tausende Z-Postings stützt, lautet: Heute unterstützt nur eine Minderheit der russischen Gesellschaft den Krieg. Trotz aller weit verbreiteten Mythen und Behauptungen der Propaganda ist der Krieg unpopulär, wurde nie und wird auch jetzt nicht von der großen Masse unterstützt. Die Kriegspartei ist eine marginale Minderheit, die die Interessen eines sehr kleinen Segments der russischen Gesellschaft vertritt. Und das Wichtigste, die Z-Blogger wissen das eigentlich, und es macht ihnen sehr zu schaffen, weswegen sie endlos darüber jammern.  

    Wollen Sie sie nur beobachten wie ein Biologe das Verhalten von Mäusen? Oder muss man sie als würdige Opponenten betrachten und versuchen, mit ihnen in einen Dialog zu treten, zu diskutieren, sie von etwas zu überzeugen?

    Ich glaube schon, dass man mit ihnen diskutieren sollte. Die Z-Community besteht ja aus realen Menschen. Und wie schon gesagt, viele von ihnen zweifeln, sind enttäuscht von der Regierung, ihr Denken entwickelt sich weiter. Es ist absolut nicht ausgeschlossen, auch wenn es jetzt naiv klingt, dass es manchen von ihnen sogar irgendwann dämmert, wie sinnlos und kriminell dieser Krieg ist.

    Und natürlich muss es eine Möglichkeit zum Dialog mit ihnen geben. Ich bin mir nicht sicher, ob sie dazu bereit sind, aber eine solche Möglichkeit, auch wenn sie vielleicht nur theoretisch besteht, vom Tisch zu wischen, das fände ich nicht richtig. Was meinen eigenen Kanal betrifft, so weiß ich ganz bestimmt, dass die Z-ler ihn lesen und hier und da auch beeindruckt davon sind. Das merkt man an den Kommentaren. Wobei jedoch ein Austausch mit Kriegsverbrechern, die einen Genozid rechtfertigen, nicht möglich ist. 

    Welche Prognosen könnte man ausgehend vom Content der Z-Kanäle zu den Perspektiven des Kriegs anstellen?

    Am allerwenigsten will ich ein Professor Solowei sein, Prognosen sind eindeutig sein Metier. Ich verfüge über kein geheimes Wissen. Aber die Stimmung in den Z-Kanälen ist nicht siegessicher. Der letzte Beitrag, in dem es um die Besatzung von Kyjiw ging, liegt, wenn ich mich recht erinnere, ein Jahr zurück. Sie haben schon die Rechtfertigung dafür gefunden, warum das so ist – weil Russland gegen die ganze Welt kämpft. Es herrscht Enttäuschung über Putin, über den Kriegsverlauf: Wir gehen nicht auf Angriff, und wenn doch, dann wird es ein Fleischwolf à la Awdijiwka, wir sind ständig in der Defensive, und da gewinnt man nicht, wir bekommen unser Land kriegstechnisch nicht auf Schiene … Diese Liste ließe sich endlos fortsetzen.

    Kann man daraus schließen, dass sie einsehen, dass Russland diesen Krieg schon verloren hat? 

    Ich glaube, so ganz stimmt das nicht. Obwohl – während zu Beginn sehr viel vom Sieg die Rede war, wird dieses Thema mittlerweile tatsächlich einfach ignoriert. Jetzt sind andere Themen aktuell: Hoffentlich überleben wir heute den nächsten Streubombenangriff, und was übermorgen passiert, werden wir ja dann sehen. Mit einem Wort: Kaum jemand will weit vorausdenken, weil die Zukunft völlig im Ungewissen liegt. 

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  • „Putins Siegeskult erinnert an Kriegskult in Nazi-Deutschland“

    „Putins Siegeskult erinnert an Kriegskult in Nazi-Deutschland“

    Jahrzehntelang feierte auch die Ukraine am 9. Mai den Tag des Sieges − ein Volksfest mit Militärparade zur Erinnerung an den Sieg der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland im Zweiten Weltkrieg. 2023 wird er als Tag des Gedenkens und der Versöhnung auf den 8. Mai vorgezogen: In Anlehnung an die Tradition in Westeuropa stellt die Ukraine von nun an die Opfer des Krieges zwischen 1939 und 1945 in den Mittelpunkt. 

    Das Wort „Sieg“ ist für die Ukraine kein historischer Begriff mehr, er ist das gegenwärtige Ziel ihres Verteidigungskampfes im andauernden russischen Angriffskrieg. Wie genau soll der aussehen, welche Zugeständnisse sind vorstellbar für ein Ende der Kampfhandlungen? Und wie sehen die Ukrainer die mit Russland gemeinsame sowjetische Geschichte angesichts der gegenwärtigen russischen Aggression?

    Diese Fragen beantwortet im Interview mit dem russischen Onlinemedium Republic der Soziologe Mychailo Mischtschenko vom unabhängigen Forschungsinstitut Rasumkow-Zentrum in Kyjiw. 

    Die Arbeitsbedingungen für Meinungsumfragen und Studien sind durch den andauernden Krieg erschwert: Schon seit 2014 sind bei Befragungen durch ukrainische Institutionen die Menschen auf der annektierten Halbinsel Krim und in den sogenannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk ausgenommen. Seit der russischen Invasion 2022 können Forschungsgruppen auch in den okkupierten Regionen kaum Befragungen durchführen. In den aktuellen Studien des Rasumkow-Zentrums werden jeweils die Regionen aufgelistet, in denen Umfragen durchgeführt wurden − teils mit der Einschränkung „nur in Gebieten, die von der Regierung der Ukraine kontrolliert werden und in denen keine Kampfhandlungen stattfinden“.

    Jewgeni Senschin: Die Ukrainer sind aktuell größtenteils bereit, bis zum siegreichen Ende zu kämpfen. Aber wie definieren sie einen solchen Sieg im jetzigen Krieg?

    Mychailo Mischtschenko: Dazu haben wir im Dezember 2022 zusammen mit der Stiftung Demokratische Initiativen eine Umfrage durchgeführt. Ihr zufolge glauben 93 Prozent der Ukrainer an einen Sieg ihres Landes in diesem Krieg. Wir haben auch gefragt, was Sieg für sie heißt. Von denen, die an den Sieg glauben, antworteten 54 Prozent: die Vertreibung der russischen Truppen vom gesamten Staatsgebiet der Ukraine und die Wiederherstellung der Grenzen nach Stand vom Januar 2014. Weitere 22 Prozent betrachten die Zerschlagung der russischen Armee und die Begünstigung eines Aufstands innerhalb Russlands als Sieg. 
    Für acht Prozent bedeutet Sieg die Vertreibung der russischen Truppen vom gesamten Territorium der Ukraine, die Krim ausgenommen. Für sechs Prozent – die Vertreibung der russischen Truppen hinter die Frontlinie, wie sie noch am 23. Februar 2022 galt [also ausgenommen die Krim sowie die Gebiete der von Russland unterstützten sogenannten Donezker und Luhansker „Volksrepubliken“ − dek]. Für nur drei Prozent der Befragten wäre allein das Ende des Kriegs schon ein Sieg, selbst wenn russische Truppen dort blieben, wo sie jetzt sind. 

    Wir sehen also, die überwiegende Mehrheit versteht unter einem Sieg die Vertreibung der russischen Truppen vom gesamten Staatsgebiet der Ukraine. In diesem Fall spiegelt die Position von Präsident Wolodymyr Selensky die Position der überwiegenden Mehrheit der ukrainischen Staatsbürger wider. 

    Zudem liegen Daten des Kyjiwer Internationalen Instituts für Soziologie vor zur Frage, ob die Bevölkerung zu Gebietsabtretungen bereit wäre. Diese Studie stammt vom Februar 2023. Nur neun Prozent sind da der Meinung, dass die Ukraine auf bestimmte Gebiete verzichten könnte, um schneller einen Frieden zu erzielen und ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Gleichzeitig finden 87 Prozent, dass die Ukraine unter keinen Umständen auf Gebiete verzichten dürfe. Dabei ist das auch die vorherrschende Meinung in den meisten Regionen: In der Westukraine denken das 89 Prozent, in der Zentralukraine 87 Prozent, im Süden 86 Prozent und im Osten 82 Prozent.
     
    Sie sprechen häufig von „Putins Russland“. Wie hat sich die Einstellung zu Putin verändert? War er für die Ukrainer immer schon ein Feind, eine Verkörperung der Anti-Zivilisation? 

    Bis 2013 wurde noch öfter positiv als negativ über Putin gesprochen. Bei einer Umfrage 2014 betrug der Anteil derjenigen, die gegen Putin waren, schon 71 Prozent. 2017 stieg dieser Prozentsatz auf 79. Im März 2021 waren es bereits 82 Prozent, im August 2022 schon 96 Prozent. Dieser Wert kann praktisch nicht mehr steigen. Die jüngsten Forschungen haben ergeben, dass die Zahl jener, die sich positiv über Putin äußern, gegen null geht. 

    In der Ukraine richtet sich die Meinung über ausländische Politiker meistens danach, wie beliebt diese bei sich zu Hause sind. Wenn ein Politiker im eigenen Land positiv bewertet wird, wird er analog dazu auch in der Ukraine positiv wahrgenommen. Doch das ändert sich, wenn dieser Politiker sich in die ukrainische Innenpolitik einmischt oder offen feindlich gegen das Land aktiv wird. Seit der Annexion der Krim und [Russlands] hybridem Krieg bekamen die Ukrainer natürlich gute Gründe für eine negative Haltung gegenüber Putin. 

    Dasselbe gilt für Lukaschenko: Nach den gefälschten Wahlen in Belarus verschlechterten sich seine Umfragewerte in der Ukraine. Die Ukrainer haben begriffen, dass Lukaschenko ein richtiger Diktator ist. Seitdem er in Russlands Angriff auf die Ukraine involviert ist, ist er noch unbeliebter. Laut unseren Umfragen vom Februar und März 2023 sind 92 Prozent der Ukrainer Lukaschenko gegenüber negativ eingestellt.

    Gibt es Befragungen darüber, wie sich in den letzten Jahren die Beziehung zur russischen Sprache verändert hat? 

    Das Verhältnis zur russischen Sprache war bis zum Beginn des hybriden Kriegs sehr gut, erfuhr in dessen Folge jedoch eine deutliche Veränderung und verschlechterte sich nach der russischen Invasion noch mehr. Dazu gibt es Daten des Kyjiwer Internationalen Instituts für Soziologie: 1998, 2019 und 2023 wurde die Frage gestellt, ob in ukrainischsprachigen Schulen Russisch gelehrt werden soll. 2019 antworteten nur acht Prozent, dass Russisch gar nicht an Schulen unterrichtet werden solle. 1998 bot der Fragebogen eine solche Option gar nicht an, weil die Forscher wohl davon ausgingen, dass sie niemand ankreuzen würde. Im Februar 2023 vertreten diese Ansicht jedoch schon 52 Prozent.

    42 Prozent sind zwar für die Beibehaltung des Russisch-Unterrichts an Schulen, wollen aber die dafür verwendeten Stunden reduzieren. 

    Während 1998 noch 46 Prozent meinten, dass die russische Sprache im selben Umfang unterrichtet werden soll wie die ukrainische, fiel dieser Anteil 2019 auf 30 und liegt heute nur noch bei drei Prozent. Jene, die fanden, Russisch solle weniger als Ukrainisch, aber mehr als andere Fremdsprachen unterrichtet werden, machten 1998 noch 32 Prozent aus, 2019 dachten 26 Prozent so, und 2023 nur noch sechs Prozent. Jetzt finden 33 Prozent, dass Russisch im Vergleich zu anderen Fremdsprachen im selben oder in geringerem Umfang unterrichtet werden soll. 2019 dachten das 25 Prozent, 1998 nur 17 Prozent.

    Das ist eine Folge der russischen Aggression. Die russische Sprache ist heute für die Ukrainer jene Sprache, in der sich russische Soldaten in abgehörten Telefonaten unterhalten, wo fast die Hälfte Vulgärsprache ist. 

    Vor dem Krieg fragten wir auch, zu welcher kulturellen Tradition sich die Menschen zugehörig fühlen. Zum letzten Mal haben wir diese Frage 2021 gestellt, und wir können die Antworten mit jenen aus dem Jahr 2006 vergleichen. Sieht man sich die Daten zu ethnischen Russen mit ukrainischer Staatsbürgerschaft an, so fühlten sich innerhalb dieser Gruppe 2006 nur 21 Prozent zur ukrainischen Kulturtradition zugehörig. 2021 betrug dieser Wert bereits 49 Prozent. Zur russischen Kulturtradition fühlten sich 2006 noch 35 Prozent der ethnischen Russen zugehörig, 2021 nur noch 18 Prozent [andere genannte waren sowjetisch und europäisch − dek]. Seit Beginn des großen Kriegs 2022 wird sich diese Tendenz wahrscheinlich fortgesetzt haben. 

    Wir sehen, dass die Distanzierung von Russland nicht nur generell unter den ukrainischen Staatsbürgern stattfindet, sondern auch unter den ethnischen Russen in der Ukraine. Wenn also Putin von der Verteidigung des russischen Volkes spricht, dann sehen wir, dass das gerade bei den ethnischen Russen in der Ukraine auf Ablehnung stößt.

    Wie hat sich die Einstellung der Ukrainer zur gemeinsamen Vergangenheit mit den Russen verändert? Dass sie generell negativ ist, liegt auf der Hand. Aber vielleicht gibt es noch irgendwelche Symbole, Ereignisse, Figuren, die vom negativen Schatten des Kriegs verschont bleiben?

    In Russland herrscht Umfragen zufolge eine ausgeprägte Sowjetnostalgie. In der Ukraine ist das so nicht zu beobachten. Bei einer Umfrage des Rasumkow-Zentrums im September und Oktober 2022 haben nur drei Prozent angegeben, dass sie sich eine Wiedererrichtung der Sowjetunion wünschen. Weitere elf Prozent antworteten, sie würden sich diese zwar wünschen, hielten sie aber für unmöglich. Und 87 Prozent sagten, sie wollten keine Wiederherstellung der Sowjetunion. 2021 waren das noch 69 Prozent, 2016 noch weniger, nämlich 65 Prozent.

    Aber was könnte Ukrainer und Russen noch verbinden? Am häufigsten wird als ein solches historisches Ereignis ja der Sieg im Zweiten Weltkrieg genannt. 

    Aus ukrainischer Sicht sieht dieser Sieg so aus: Erstens wurde er zusammen mit den westlichen Alliierten errungen, zweitens war er das Verdienst aller Völker, die zur Sowjetunion gehörten. Doch Putin unterzog diese Interpretation einer drastischen Veränderung. Schon 2010 erklärte er: „Was unsere Beziehung zur Ukraine betrifft, erlaube ich mir, Ihrer Behauptung zu widersprechen, wir hätten ohne einander den Krieg nicht gewinnen können. Wir hätten trotzdem gesiegt, weil wir das Land der Sieger sind … Die Statistik aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs zeigt eindeutig, dass die größten Verluste damals die Russische Sowjetrepublik hinnehmen musste, nämlich mehr als 70 Prozent. Das bedeutet, ohne da jemandem zu nahe treten zu wollen, dass der Sieg vor allem auf Kosten menschlicher und industrieller Ressourcen Russlands errungen wurde. Das ist eine historische Tatsache.“ Putin versucht also, den Sieg zu privatisieren. 

    Mein Vater hat zum Beispiel im Zweiten Weltkrieg gekämpft. Meint Putin also, er hätte nicht unbedingt teilnehmen müssen, es wäre auch ohne gegangen? Mit seiner Aussage löscht Putin das Moment der Einheit aus, den gemeinsamen Sieg. Natürlich hat diese Auslegung die Ukrainer beeinflusst. Kein Wunder, dass seitdem viele Ukrainer Putins Haltung zum Sieg im Zweiten Weltkrieg einen „Siegeswahn“ nennen. 

    Putin und seine Politik kappen alle Verbindungen zwischen der Ukraine und Russland, auch die historischen

    Putin hat sogar noch eins draufgesetzt und ist von der sowjetischen Interpretation des Sieges abgewichen. Damals war der Sieg die Garantie für Frieden, „Bloß kein Krieg mehr“ war eines der Narrative unter Chruschtschow, Breshnew, Gorbatschow. Für Putin ist der Siegeskult aber Ausgangspunkt für eine militärische Revanche. Sein Siegeskult erinnert stark an den Kriegskult in Nazi-Deutschland. Faktisch führt er nicht die Tradition der Sieger über Nazi-Deutschland fort, sondern lässt jene Haltung zum Krieg wiederaufleben, die im Nationalsozialismus bestand. Deswegen wird Russland heute von der internationalen Gemeinschaft eher mit Nazi-Deutschland assoziiert als mit den Alliierten, die es besiegt haben. 

    Daher sinkt in der Ukraine die Motivation immer mehr, am 9. Mai den Tag des Sieges zu feiern. Das Kyjiwer Internationale Institut für Soziologie führt regelmäßig Umfragen durch, welche Feiertage die Ukrainer am liebsten haben. Während 2013 noch 40 Prozent der Befragten den Tag des Sieges nannten, waren es 2016 nur noch 35 Prozent, 2018 – 31 Prozent, 2021 – 30 Prozent und im Februar 2023 nur noch 13 Prozent.

    Putin und seine Politik kappen alle Verbindungen zwischen der Ukraine und Russland, auch die historischen.

    Ich kann auch die Ergebnisse einer Studie des Rasumkow-Zentrums aus dem Jahr 2017 anführen. Da wurde gefragt, womit Russland assoziiert wird. Schon damals waren die häufigsten Assoziationen der Ukrainer Begriffe wie „Aggression“ (66 Prozent), „Diktatur“ (60 Prozent) und „Brutalität“ (57 Prozent). Das bestätigt wiederum, dass Russland in der emotionalen Wahrnehmung der Ukrainer eine gewisse Ähnlichkeit mit Nazi-Deutschland besitzt.

    Die Ukrainer nehmen Russland also negativ wahr. Aber machen sie einen Unterschied zwischen den russischen Staatsbürgern und dem Kreml? Heute werden in der radikalen pro-ukrainischen Presse oft Russland und der Kreml gleichgesetzt. Sieht das die ukrainische Gesellschaft auch so?

    Im August 2022 wurde eine gemeinsame Studie des Rasumkow-Zentrums und der Stiftung Demokratische Initiativen durchgeführt. Darin kam die Frage vor: „Wer trägt Ihrer Meinung nach die Hauptverantwortung am Krieg in der Ukraine?“ Es gab mehrere Optionen zur Auswahl. Am häufigsten wählten die Befragten die Antworten: die russische Regierung (86 Prozent) und die russische Bevölkerung (42,5 Prozent). Wir sehen, dass ein großer Teil der Ukrainer die Verantwortung bei der russischen Bevölkerung sieht und nicht nur bei ihrer Führung.

    In einer Umfrage des Sozialforschungsinstituts Rating im August 2022 haben 81 Prozent der befragten Ukrainer eine negative (im Fragebogen stand das Wort „kühle“) Einstellung gegenüber den Bewohnern Russlands geäußert. Noch im April 2022 waren das nur 69 Prozent, im April 2021 waren es 41, und 2018 – 23 Prozent. Eine positive („warmherzige“) Einstellung äußerten im August 2022 nur drei Prozent, als neutral deklarierten sich 14 Prozent.

    Auch die Beziehung zu den Belarussen veränderte sich. Im August 2022 waren 52 Prozent ihnen gegenüber „kühl“ eingestellt, im April 2022 waren das 33 Prozent, und im April 2021 nur vier Prozent. Im Februar-März 2023 ergab eine Umfrage des Rasumkow-Zentrums, dass 81 Prozent der Befragten Belarus (ich betone, nicht den Belarussen) gegenüber negativ eingestellt sind.

    Hier ist anzumerken, dass die Einstellung gegenüber einem Kollektiv sich nach der darin dominierenden Gruppe richtet, also jener Gruppe, die am aktivsten ist, am sichtbarsten, am lautesten, selbst wenn sie nicht die Mehrheit stellt. Heute sind das in Russland die Befürworter von Putins Politik und Krieg, die man zu den faschistoiden Persönlichkeitstypen zählen kann. Wie hoch ihr Anteil in der russischen Bevölkerung ist, ist schwer zu sagen. Es ist in Russland ziemlich schwierig, anhand von Umfragen eine adäquate Vorstellung davon zu bekommen – in einer Situation, in der die Verurteilung des Krieges und die „Diskreditierung der Armee und anderer militärischer Einheiten“ strafrechtlich verfolgt werden, können öffentliche Meinungsumfragen wohl kaum verlässliche Ergebnisse liefern. 

    Weisen Ukrainer in Umfragen auf ihre familiären und freundschaftlichen Beziehungen nach Russland hin?

    Bei der Umfrage des Rasumkow-Zentrums im Jahr 2017 antworteten 51 Prozent der ukrainischen Staatsbürger, sie hätten Verwandte, Freunde oder Bekannte, die in Russland leben.

    Was den Kontakt betrifft: Im April 2022 gaben bei eine Online-Befragung der Forschungsgesellschaft Gradus 48 Prozent an, mindestens einen Verwandten in Russland zu haben. 59 Prozent jener, die Verwandte in Russland haben, sprachen mit diesen in den ersten Wochen nach Kriegsbeginn per Messenger oder am Telefon über den Krieg. 54 Prozent jener, die mit Verwandten in Russland kommunizierten, berichteten, dass ihre Gespräche nach Kriegsbeginn keinen Einfluss auf das Vertrauen ihrer Verwandten in die russische Propaganda gehabt hätten. Acht Prozent sagten, ihre Verwandten würden dieser Propaganda seitdem noch mehr glauben, während 40 Prozent angaben, ihre Verwandten würden ihr weniger glauben. Im April 2022 setzten jedoch nur noch 46 Prozent jener Personen, die in den ersten Kriegswochen Kontakt zu Verwandten in Russland gehabt hatten, diesen Kontakt fort. Die Mehrheit hatte ihn also abgebrochen

    Fassen wir zusammen: Welche wichtigen Veränderungen im Hinblick auf die Entwicklung einer politischen Nation hat es seit Beginn der Kampfhandlungen in der ukrainischen Gesellschaft gegeben? 

    Im Juli und August 2021, als gerade Putins Artikel Zur historischen Einheit der Russen und Ukrainer herausgekommen war, untersuchten wir die Reaktionen der Ukrainer auf die Thesen, die darin aufgestellt wurden. Damals reagierte die überwiegende Mehrheit negativ auf Putins Aussagen, dass es „keinerlei historische Grundlage für die Vorstellung eines vom russischen getrennten ukrainischen Volkes gibt und auch nicht geben kann“, und dass „das Territorium der heutigen Ukraine in hohem Ausmaß auf Kosten historisch russischen Staatsgebiets definiert wurde“. 

    Während des Krieges ist ein neuer dominierender Persönlichkeitstyp hervorgetreten – ein Mensch mit deutlich ausgeprägten soziozentrischen Werten

    Dieser Krieg hat das Selbstbewusstsein der Ukrainer als Nation deutlich gefördert. Während in einer Umfrage des Rasumkow-Zentrums im Jahr 2021 noch 40 Prozent auf die Frage nach der Zukunft der Ukraine geantwortet haben, sie werde ein hochentwickeltes, demokratisches, einflussreiches europäisches Land sein, waren es im September-Oktober 2022 schon 65 Prozent, die so dachten.

    Und, nicht unwichtig, während des Krieges ist ein neuer dominierender Persönlichkeitstyp hervorgetreten – ein Mensch mit deutlich ausgeprägten soziozentrischen Werten. Das sieht man am Beispiel der freiwilligen Soldaten und Volonteure, die den Kämpfern an der Front helfen. Diese Gruppe wird, wie es aussieht, auch nach dem Krieg die dominierende bleiben, was den Fortschritt und die Entwicklung von Gesellschaft und politischer Nation fördern wird. Und genau das ist es, was der ukrainischen Gesellschaft diesen spürbaren Optimismus verleiht. 

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  • Der Fall Kamila Walijewa

    Nach fünfeinhalbstündigen Videoanhörungen in der Nacht zum Montag hat der Sportsgerichtshof CAS entschieden: Die 15-jährige russische Eiskunstläuferin Kamila Walijewa darf weiter an Olympia teilnehmen. Am 8. Februar – ausgerechnet einen Tag, nachdem die russische Mannschaft im Teamwettbewerb Gold gewonnen hatte – war die Nachricht gekommen, dass Kamila Walijewa am 25. Dezember vergangenen Jahres positiv auf Trimetazidin getestet worden war. 

    Dies hatte für viel Aufsehen gesorgt. Sowieso können russische Athleten bei Olympia nicht unter russischer Flagge antreten, sondern als Vertreter des ROC (Russischen Olympischen Komitees) – weil Russland wegen der Manipulation von Doping-Daten von der Welt-Doping-Agentur (Wada) gesperrt wurde. Zudem gilt die positiv getestete 15-jährige Walijewa als Eiskunstlauf-Ausnahmetalent. Im Teamwettbewerb brillierte sie mit gleich zwei Vierfachsprüngen, was Kommentatoren zu Vergleichen mit den Eislauf-Männern hinriss; nach ihrem Kurzprogramm jubelte auch Hollywood-Star Alec Baldwin auf Instagram: „Ein Lied. Ein Gedicht. Ein Gemälde.“ 

    Der Sportsgerichtshof hat nun allerdings nur über eine Sperre Walijewas und nicht über den Dopingfall generell entschieden. Es kann immer noch passieren, dass dem ROC-Team wie auch Walijewa im Nachgang zu den Olypmpischen Spielen Medaillen aberkannt werden.
    Die Aufregung um die 15-jährige Walijewa – die als Minderjährige im Sinn des Welt-Anti-Doping-Codes als „geschützte Person“ gilt – hat außerdem eine Debatte um das Alter der Eiskunstläuferinnen ausgelöst. Die ehemalige Eiskunstläuferin und zweimalige Olympiasiegerin Katarina Witt schrieb auf Facebook: „Vielleicht sollte das Alter für die Teilnahme auf der olympischen Weltbühne auf 18 Jahre festgelegt werden. Wäre es nicht richtig, ein Kind reifen zu lassen?“ Für 15-Jährige seien die Youth Olympic Games ins Leben gerufen worden.

    Auch in russischen Medien hat der Fall Kamila Walijewa eine Debatte über die zunehmend jungen Athletinnen ausgelöst, die auch in Sozialen Medien lebhaft geführt wird. Für Kirill Schulika auf Republic ist diese Frage die entscheidende.

    Kamila Walijewa und ihre Trainerin Eteri Tutberidse (rechts). © Foto Alexander Kasakow/Kommersant
    Kamila Walijewa und ihre Trainerin Eteri Tutberidse (rechts). © Foto Alexander Kasakow/Kommersant



    Für Kamila Walijewas Trainerin Eteri Tutberidse gibt es noch schlimmere Nachrichten als Walijewas Dopingtest: Beim internationalen Eislaufkongress der ISU 2022 soll darüber beraten werden, die Altersgrenze im Eiskunstlauf schrittweise anzuheben. In der nächsten Saison soll das Eintrittsalter zum Erwachsenen-Wettbewerb in allen Disziplinen noch bei 15 Jahren bleiben, dann soll es nach und nach erhöht werden: in der Saison 2023/24 auf 16 Jahre, 2024/25 auf 17. 
    Damit will die Union Tutberidses „Kindergarten“ einen niederschmetternden Schlag versetzen. Fans ihres Trainerinnen-Talents halten das natürlich für eine Verschwörung der Konkurrenz. Zumal diese Trainerin in Russland über jede Kritik erhaben ist. Ja, manchmal gibt es Zoff mit dem mehrfachen Eislauf-Olympiasieger Jewgeni Pljuschtschenko und vor allem seiner Frau Jana Rudkowskaja, aber das wirkt eher wie ein banaler Social-Media-Hype um Gnom Gnomytsch, [Spitzname vom] Sohn der beiden.   
    Warum aber darf man Tutberidses Methoden nicht öffentlich anzweifeln? In der Sportwelt herrscht die Meinung, sie werde von der Eiskunstläuferin Tatjana Nawka protegiert – die ist die Gattin von Putins Pressesprecher Dmitri Peskow. 

    „Tutberidse entwickelt keine großen Sportlegenden. Sie trainiert Sprünge“

    Aber wenn im Wettbewerb der Erwachsenen eine 15-Jährige die olympische Eisfläche betritt, scheint es doch, als würde Tutberidse ihre Schützlinge nicht trainieren, sondern dressieren. Und, oh weh, später geraten diese Sportlerinnen dann leider in Vergessenheit. Wer kennt jetzt noch Julia Lipnizkaja [geboren 1998, war 2014 Europameisterin und mit der russischen Mannschaft Olympiasiegerin als bis dahin jüngste Eisläuferin – dek]? Sie ist gerade mal 23, hat ihre Karriere aber schon mit 19 beendet! Auch die Olympiasiegerin von 2018 in Pyeongchang  Alina Sagitowa stand mit 19 Jahren am Ende ihrer Laufbahn. Während etwa die legendäre Italienerin Carolina Kostner bis ins Alter von 32 aktiv war.

    Offenbar ist aus dem Frauen-Eiskunstlauf mittlerweile ein Kinderwettkampf geworden. Tutberidse entwickelt auch keine großen Sportlegenden wie Kostner oder Pljuschtschenko. Sie trainiert Sprünge, damit ihre Zöglinge die höchsten Punktzahlen und Preise absahnen. Die olympische Idee ist eigentlich eine andere.  
    Das Geheimnis von Tutberidses Erfolg liegt einzig und allein im Alter ihrer Sportlerinnen. Vierfachsprünge schaffen nur Mädchen, deren Körper noch nicht vollständig entwickelt sind. Wenn also ein solcher Sprung zu einem Element wird, ohne das man keine großen Wettbewerbe mehr gewinnen kann, dann ist der Eiskunstlauf für Mädchen über 18 vorbei.           

    Außerdem muss eine Eiskunstläuferin enorm viel Kraft aufwenden, um bei einem Vierfachsprung den Moment des vertikalen Absprungs von der Eisfläche mit dem Beginn der Drehung zu verbinden. Die nötige Rotation kann aufgrund des weiblichen Körperbaus – breitere Hüften und geringere Sprungkraft als bei den Männern – nicht erreicht werden, sodass Frauen bei Vierfachsprüngen den Rumpf schon vor dem Absprung zu drehen beginnen, was sehr gefährlich für die Wirbelsäule ist. 

    „Dem System ist ganz egal, wie viel menschliches Material umsonst verbraucht wird“

    Die finnische Eiskunstläuferin Kiira Korpi, die nach dem Ende ihrer Karriere Sportpsychologin wurde, formuliert noch einen weiteren für Kinder gefährlichen Aspekt des Eiskunstlaufs: „Ich kenne viele Sportler, die emotional und körperlich gebrochen sind, weil dem System ganz egal ist, wie viel menschliches Material umsonst verbraucht wird, solange es ein paar gibt, die den Ansprüchen gerecht werden. Aber am schlimmsten ist, dass auch jene, die es schaffen, nur wenige Jahre dabeibleiben und dann ebenfalls aussortiert werden – weil sie angeblich zu alt sind, weiterzumachen. Eteris ‚Kinderfabrik‘ ist einfach nur eine Folge der unmenschlichen Kultur unserer Sportart. Das war nicht ihre Idee. Viele Trainer arbeiten auf ähnliche Art und Weise, und viele Verbände begrüßen solche Methoden des Nachwuchstrainings“, meint Korpi.      

    Jetzt kümmern sich anscheinend auch die Sportfunktionäre um dieses Problem. Russland wird sicher dagegen sein und möglicherweise seine lobbyistischen Ressourcen im ISU einsetzen. In der Öffentlichkeit werden uns alle, von Tatjana Nawka bis zu Tatjana Tarassowa, von einer Verschwörung gegen den russischen Sport und vom Neid auf die Erfolge „unserer Mädels“ erzählen. Und wenn der Skandal um Walijewa weiter an Fahrt  aufnimmt, dann werden wir bestimmt auch zu hören kriegen, dass ihr die verbotene Substanz heimlich verabreicht oder die Blutprobe vertauscht wurde, um die russische Schule der Eiskunstläuferinnen in Verruf zu bringen.

    Nichts kann jedoch den russischen Sport nachhaltiger zerstören, vor allem wenn es praktisch um Kinder geht, als wenn Ärzte wie Philipp Schwetski mit im Boot sind, die nachgewiesenermaßen Sportlerinnen mit Dopingsubstanzen versorgt haben. 
    Das Mindestalter der Eiskunstläuferinnen wird bestimmt angehoben. Und eines der Argumente dafür wird die Geschichte von Kamila Walijewa und dem Trimetazidin sein, für dessen Einnahme sie [als unter 16-Jährige – dek] nicht bestraft und nicht einmal offiziell angeklagt werden darf.  

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  • „Russland ist nicht bereit für die grüne Wende“

    „Russland ist nicht bereit für die grüne Wende“

    Immer mehr Verbraucher in Europa bekommen es zu spüren: Rekordpreise auf dem Energiemarkt. Ein Faktor, der in der Debatte darüber immer wieder genannt wird, ist Russland. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtet unterdessen, dass die US-Regierung Insidern zufolge bereits Notfallpläne für Gaslieferungen nach Europa ausarbeite – für den Fall, dass diese im Zuge der Krise um die Ukraine etwa unterbrochen würden. 
    Präsident Wladimir Putin hatte noch im Dezember größere Gaslieferungen versprochen – sobald Nord Stream 2 in Betrieb ginge. Nach Aussagen der Internationalen Energieagentur (IEA) könnte der staatliche Gazprom-Konzern die Liefermengen jedoch auch über die bestehende Infrastruktur deutlich erhöhen.

    Der Energieexperte Michail Krutichin nennt das „Erpressung“. Im Interview mit Republic spricht der Branchenkenner der Consulting-Firma RusEnergy über die Perspektiven des Pipeline-Projekts, über die Vermischung politischer und wirtschaftlicher Interessen bei Gazprom, aber auch ausführlich über die möglichen Auswirkungen der globalen Hinwendung zu den erneuerbaren Energien für die russische Öl- und Gaswirtschaft.

    Jewgeni Senschin: Was hatte Ihrer Meinung nach im vergangenen Jahr den größten Einfluss auf den russischen Öl- und Gasmarkt?

    Michail Krutichin: Das Wesentliche ist, dass sich die globale Ölbranche umorientiert: weg von Investitionen zur Förderung kohlenwasserstoffbasierter Rohstoffe hin zu Investitionen in erneuerbare Energiequellen und in die grüne Energiewirtschaft. Wir sehen das bei den führenden Öl- und Gasunternehmen. Die Regierungen vieler Länder, auch erdölfördernder Länder wie Saudi-Arabien, unterstützen diesen Trend nicht nur, sondern sichern die Entwicklung gesetzgeberisch, finanziell, mit verschiedenen Vergünstigungen in diese Richtung ab, sogar mit staatlichen Investitionen.
    Im vergangenen Jahr hat sogar die russische Führung verstanden, dass sich die Welt ernsthaft in eine neue Richtung bewegt. Und das ist keineswegs die Richtung, auf die man in Russland gesetzt hatte. Wir erinnern uns an solche Dokumente wie die Doktrin der nationalen Energiesicherheit, in der ganz klar davon die Rede war, dass diese ganze Energieeffizienz, die Energieeinsparungen, die grünen Energien, dass das alles Herausforderungen, Risiken und Bedrohungen für Russland sind. Das aber will den bisherigen Weg weiter beschreiten und stützt sich dabei auf die Förderung und den Export von Erdöl, Erdgas und Kohle, das heißt auf das, was heute als „schmutzige Energie“ bezeichnet wird. Dieser Trend wird kurz- und mittelfristig bestimmen, wohin sich die Welt bewegt und wie sehr Russland dabei ins Hintertreffen gerät.

    Russland stützt sich auf das, was heute als ‚schmutzige Energie‘ bezeichnet wird

    Neben dieser allgemeinen Entwicklung in der Branche wird jedoch auch die Gefahr deutlich, dass weltweit weniger in die Suche nach Öl- und Gaslagerstätten investiert wird. Möglicherweise wird das nach einer gewissen Zeit zu einem Einbruch in der Öl- und Gasförderung führen, und das hätte wiederum höhere Öl- und Gaspreise zur Folge. Somit ringen also zwei unvereinbare Trends miteinander, und welcher davon auf absehbare Sicht die Oberhand behält, ist derzeit ungewiss. 

    Inwieweit tragen die Maßnahmen der russischen Führung Ihrer Meinung nach diesen Herausforderungen Rechnung? 

    Bislang sehen wir einen Tanz der russischen Führung um den heißen Brei – es werden seltsame Dokumente verabschiedet, etwa ein Wasserstoff-Aktionsplan; einzelne Unternehmen beschließen Aktionspläne für die Entwicklung grüner Energien. Hier stechen einige Unternehmen heraus, wie Nowatek, Gazprom Neft und teilweise Lukoil. Aber insgesamt zeigt sich, dass Russland für die grüne Wende nicht bereit ist und es auch nicht eilig hat, sich darauf vorzubereiten. 

    Niemand hat es mit dem Übergang zu etwas Neuem eilig, solange das Alte noch nutzbar ist

    Die Regierung ist nicht einmal in der Lage, eine kohärente Wasserstoff-Strategie zu beschließen, stattdessen werden einzelne Dokumente verabschiedet. Das Ergebnis ist ein Flickenteppich, doch welche Behörde wofür zuständig ist, bleibt völlig unklar. Alle zerren in unterschiedliche Richtungen und kommen mit bürokratischen Äußerungen wie „gut wäre es, wenn“, „wir arbeiten aktiv daran, dass“ oder „die Vorbereitungen für x y z laufen“. Aber tatsächlich passiert sehr wenig.

    Weshalb passiert so wenig? Misst man dem keine Bedeutung bei, mangelt es an Kompetenz, fehlt die Zeit, oder was ist das Problem?

    Sowohl die Beamten als auch die Chefs der Öl- und Gasunternehmen sind es gewohnt, wie Parasiten von der traditionellen Ausbeutung natürlicher Ressourcen zu profitieren, sprich, einfach zu fördern und zu verkaufen. Niemand hat es mit dem Übergang zu etwas Neuem eilig, solange das Alte noch nutzbar ist. Wir beobachten den seltsamen Trend, dass gigantische Projekte initiiert werden (vor allem zu Lasten von Staatsunternehmen wie Rosneft), die wirtschaftlich jedoch kaum zu rechtfertigen sind – zum Beispiel Vostok Oil. Somit bestätigt sich die alte Wahrheit, dass ein Beamter in einem Staatsunternehmen nicht am Endergebnis, an Gewinn und an Effizienz interessiert ist. Für ihn ist der Prozess interessant, im Zuge dessen etwas herauszuholen ist, nennen wir es mal eine Korruptionssteuer – also das, was man als raspil und otkat bezeichnet. In diesem Sinne werden bei uns Projekte oft ohne Rücksicht auf die künftige Rentabilität umgesetzt. Und das ist nicht nur Vostok Oil, sondern beispielsweise auch die viel gepriesene Erdgaspipeline Sila Sibiri 2.

    Auf lange Sicht sind grüne Energien eine Bedrohung für Russland in seiner derzeitigen wirtschaftlichen Struktur. Aber wenn wir eine Perspektive von vielleicht fünf Jahren nehmen, lohnt es sich da überhaupt für das heutige politische Regime, entschiedene Maßnahmen zu ergreifen? Vielleicht wird das Regime eher untergehen, als dass sich die Welt von Öl und Gas verabschiedet. Der Planungshorizont von Beamten und Politikern ist kurz.

    Wir sehen, dass der Trend zur Ökologisierung, insbesondere die Abgaben auf CO2-Emissionen in die Atmosphäre, für einige Unternehmen schon jetzt zu einer ernsthaften Belastung werden. In den europäischen Richtlinien für Öl und Gas findet sich bislang nur wenig dazu, aber: In ein, zwei Jahren werden Öl und Gas in die Liste der Energieträger aufgenommen, die solchen Beschränkungen unterliegen. 

    Die Kosten für das aus Russland exportierte Öl und Gas werden drastisch steigen

    Dann werden die Öl- und Gaslieferanten und natürlich auch die Kohlelieferanten eine sogenannte CO2-Steuer in ganz unterschiedlicher Form zahlen. Und die Kosten für das aus Russland exportierte Öl und Gas werden drastisch steigen. Möglich ist das bereits in naher Zukunft.

    Die Lage wird noch verschärft: Solange es genügend Nachfrage gibt, aus der Profit geschlagen werden kann, schrumpfen die Möglichkeiten, die Öl- und Gasförderung rasch hochzufahren. So ist vor allem beim Erdöl festzustellen, dass russische Ölunternehmen die Förderung aus längst erschlossenen Lagerstätten intensivieren – mit Ausnahme von Rosneft und seinem zweifelhaften Projekt Vostok Oil. Oder sie beginnen einfach mit der Ausbeutung der Vorräte im sogenannten Erdölsaum von Gaslagerstätten. 

    Solange es genügend Nachfrage gibt, aus der Profit geschlagen werden kann, schrumpfen die Möglichkeiten, die Öl- und Gasförderung rasch hochzufahren

    So deklariert Gazprom Neft beispielsweise die bereits 1974 erschlossene Lagerstätte Peszowoje als neu und gibt feierlich bekannt, dass dadurch die Förderung erhöht wird. Jedoch könnten solche Möglichkeiten in alten Lagerstätten sehr schnell ausgeschöpft sein, da der Großteil der übrigen Ölvorräte in Russland zur Kategorie der schwer förderbaren Reserven gehört und die Preise für solche Rohstoffe dann zwangsläufig extrem hoch sein werden. 

    Die Unternehmen wollen ganz einfach nichts Neues entwickeln. Bei der Erschließung neuer Lagerstätten können vom Beginn der Investition bis zum realen Gewinn sieben bis 15 Jahre vergehen. Aber wie sich in diesem Zeitraum die Branche, die weltweite Nachfrage, die politischen Verhältnisse und die steuerliche Situation in Russland entwickeln, weiß niemand genau. Es gibt hier keine Stabilität, daher investieren die Unternehmen nicht in solche Projekte. 

    Wenn man für das Jahr 2021 ein Fazit für den russischen Öl- und Gassektor zieht, kann die Gaspipeline Nord Stream 2 nicht außer Acht gelassen werden. Alexander Nowak hat kürzlich gesagt, die Zertifizierungsverfahren für das Projekt könnten Mitte 2022 abgeschlossen sein, sodass dann die ersten Gaslieferungen aufgenommen würden. Sie sind ein bekannter Kritiker dieser Pipeline und sagten einmal, dass das Projekt bereits im Dezember 2019 gestorben sei, als vom US-Kongress Sanktionen dagegen verhängt wurden. Wie schätzen Sie aktuell die Zukunft des Projekts ein?

    Noch vor ihrer Inbetriebnahme ist die Pipeline zu einem politischen Druckmittel geworden. Unser Präsident erklärt, dass er die Gaslieferungen [in die Europäische Union – dek] um zehn Prozent erhöhen könne, jedoch unter der Bedingung, dass das Gas durch Nord Stream 2 fließt. Andernfalls würden Europas Bürger aufgrund des fehlenden Gases womöglich im Winter frieren. Das heißt, dass entweder enorme freie Kapazitäten für den Gastransport durch die Ukraine und auch durch Belarus und Polen stillliegen, oder dass dort der Gasdurchfluss gedrosselt wird. Das ist ein Gaskrieg von Seiten Russlands. 

    Wird Nord Stream 2 zertifiziert? Diese Frage ist offen. Erst kürzlich haben sich in Deutschland das Auswärtige Amt und der Bundeskanzler darauf geeinigt, dass das Projekt nach europäischen und nicht nach deutschen Richtlinien zertifiziert werden soll. Damit ist eine einfache Anforderung verbunden: Der Betreiber der Pipeline kann nicht gleichzeitig auch der Eigentümer des Gases sein. Somit kann Gazprom nicht sein Gas durch seine eigene Pipeline leiten. Das widerspricht den Wettbewerbsregeln der EU. Das bedeutet, dass Gazprom entweder eine Änderung des Föderalen Gesetzes über den Gasexport erwirken muss, das dem Konzern bislang eine Monopolstellung zuschreibt, oder gezwungen ist, die Funktion des Pipeline-Betreibers an ein anderes Unternehmen abzutreten.

    Das ist ein Gaskrieg von Seiten Russlands

    Gazprom hat versucht, diese Funktion an ein in der Schweiz registriertes Unternehmen abzugeben. Von den Deutschen hieß es daraufhin, so gehe es nicht. Das Unternehmen müsse in Deutschland registriert sein. Bislang ist Gazprom dieser Forderung der deutschen Regulierungsbehörde nicht nachgekommen. Wann es dazu kommt – dahinter steht ein riesiges Fragezeichen. In welche Richtung sich die Sache entwickelt, ist absolut unklar. Bislang sehen wir ganz einfach eine Erpressung, um Deutschland zur Absage an europäische Wettbewerbsregeln zu zwingen. Die Erwartung seitens Gazprom ist jedoch unrealistisch.

    Könnte Europa auf russisches Gas verzichten, wenn das Vorgehen von Gazprom die Grenzen des Tolerierbaren überschreitet?

    Ich würde nicht von der gesamten Europäischen Union sprechen. Nehmen wir Deutschland. Dort sind drei Terminals für Flüssigerdgas geplant, es gibt Pläne für den Bezug großer Mengen via Frankreich, Belgien und so weiter. Das heißt, Deutschland wird auf russisches Gas verzichten können, obwohl es heute einen großen Teil seines Bedarfs damit deckt. 

    Eine solidarische Entscheidung über ein Embargo für russisches Gas würde ich nicht erwarten

    Aber es gibt andere Länder, die nicht ohne russisches Gas auskommen. Das sind die osteuropäischen Länder: Ungarn, Bulgarien, die Slowakei. Sie werden eine erhebliche Zeit benötigen, um auf russisches Gas verzichten zu können. Eine solidarische Entscheidung über ein Embargo für russisches Gas würde ich daher nicht erwarten.
    Aber ich möchte eines anmerken: Sogar in den Darstellungen von Gazprom ist immer die Rede davon gewesen, dass russisches Erdgas in der Europäischen Union bis 2040 einen Anteil von 30 bis 33 Prozent behalten wird. Ja, selbst wenn der Gesamtgasverbrauch aufgrund der grünen Wende zurückgehen könnte, bleibt demnach der Anteil von Gazprom an der Gesamtmenge unverändert. Allerdings nur, wenn der Konzern sich nicht als politisches Druckmittel instrumentalisieren lässt, sondern als echtes Wirtschaftsunternehmen agiert.

    Gazprom verfügt über bemerkenswerte Wettbewerbsvorteile. Erstens ist eine gute Lieferinfrastruktur vorhanden. Zweitens stehen gigantische Mengen zur Verfügung, mit denen Verbraucher flexibel versorgt werden können. Drittens gibt es die Unterstützung der russischen Regierung in ganz unterschiedlicher Form. Viertens gibt es das Phänomen der sogenannten Schröderisierung, also korrumpierte Politiker aus Europa, die Gazprom unterstützen können.

    Gazprom kann einen beträchtlichen Anteil am Gasverbrauch in der EU halten. Jedoch nur, wenn es nicht wie ein Hooligan auftritt

    Kurz, Gazprom hat alle Chancen, über viele Jahre hinweg einen Anteil von einem Drittel am Gasverbrauch in der Europäischen Union zu halten. Jedoch unter der Bedingung, dass der Konzern nicht wie derzeit als Hooligan auftritt und Krieg gegen die Verbraucher führt.

    Man muss Gazprom als drei getrennte Unternehmen betrachten. Ein Gazprom, das Vorkommen erkundet, Gas fördert, Pipelines baut und innerhalb Russlands mit Gas handelt. Das ist ein abgegrenztes Geschäft, das Gazprom gut beherrscht. Dort sind massenhaft Menschen beschäftigt, bis zu einer halben Million, die einen riesigen und sehr leistungsfähigen Industriezweig aufgebaut haben. 

    Gazprom ist ein politisches Instrument, wenn das Unternehmen Entscheidungen entgegen wirtschaftliche Interessen trifft

    Das zweite Gazprom ist ein politisches Instrument, wenn das Unternehmen Entscheidungen entgegen wirtschaftliche Interessen trifft. Beispielsweise im Winter 2014/2015, als die Lieferungen nach Europa eingeschränkt wurden. Damals hatte Gazprom nur die halbe Menge Gas nach Europa geliefert, weil es der russischen Regierung nicht gefiel, dass europäische Händler Gas an die Ukrainer verkauft haben. Dadurch entgingen Gazprom mehr als vier Milliarden US-Dollar. Jetzt, wo Gazprom im Winter die Lieferungen kürzt, haben wir genau das gleiche Bild. Das zweite Gazprom schadet also dem ersten.
    Das dritte Gazprom ist schlicht ein Instrument, um staatliche Gelder in private Unternehmen zu transferieren. Dabei geht es um die Initiierung großer Investitionsvorhaben ohne wirtschaftliche Perspektiven: die Pipelines Sila Sibiri, Sila Sibiri 2, die Gasleitung Sachalin-Chabarowsk-Wladiwostok und ähnliche, völlig unrentable Megaprojekte. Das ist ein Gazprom des Eigennutzes. 

    Ein Monopol bedeutet immer schlechte Qualität, Niedertracht, Korruption

    Ich kann ein utopisches Szenario vorbringen. Zu dessen Verwirklichung bräuchte es allerdings die Hilfe von Außerirdischen. Doch sollte es in Russland einmal eine Regierung geben, die sich um die nationalen Interessen und nicht um die eigene Geldbörse sorgt, dann könnte in diesem Land ein richtiger Gasmarkt entstehen – heute gibt es keinen. Dafür ist eine Liberalisierung notwendig, damit alle Erdgas fördernden Unternehmen die gleichen Bedingungen erhalten, und zwar ohne Monopolismus. Ein Monopol bedeutet immer schlechte Qualität, Niedertracht, Korruption, umso mehr wenn das Ganze von Staatsbeamten geführt wird. 

    Zum Abschluss, worauf sollte man im kommenden Jahr mit Blick auf den Öl- und Gassektor in Russland besondere Aufmerksamkeit richten?

    Man sollte ein besonderes Augenmerk darauf richten, wie sich die politische Lage entwickelt. Denn diese drängt die wichtigsten Abnehmer von kohlenstoffbasierten Rohstoffen aus Russland verstärkt zu einem schnelleren Verzicht auf diese Lieferungen. Wenn sie sehen, dass die russische Regierung beabsichtigt, auch weiterhin militärische Spannungen an ihren Grenzen zu schüren, und offen von einer möglichen Aggression gegen andere Staaten spricht, dann ist zumindest Vorsicht geboten – oder man beendet die Geschäftsbeziehungen einfach komplett. Ich werde vor allem die Entwicklung der außenpolitischen Lage beobachten, und nicht die des Öl- und Gassektors an sich.

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  • Hinterhof-Diplomatie

    Hinterhof-Diplomatie

    Das Ergebnis mehrerer Gespräche zwischen den USA, der NATO und Russland in Genf und Brüssel aus den zurückliegenden Tagen ist kurz: Beide Seiten sind sich weiter uneins. Immerhin hat der NATO-Russland-Rat nach mehr als zwei Jahren erstmals überhaupt wieder als offizielles Gremium getagt. 
    Doch die Positionen bleiben verhärtet: Auf der einen Seite steht Russland mit Maximalforderungen, wonach die Ukraine und Georgien keine Mitglieder der NATO werden dürften und wonach die USA ihre Atomwaffen aus Europa abziehen sollten. 
    Auf der anderen Seite halten die USA und die NATO am Prinzip des Selbstbestimmungsrechts möglicher neuer Mitglieder in dem Verteidigungsbündnis fest und lehnen ein Vetorecht für Russland ab. Die massive russische Truppenpräsenz an der Grenze zur Ukraine wird zudem als unmittelbare Bedrohung für die Ukraine gewertet, und die NATO sicherte Unterstützung zu. Aus NATO-Sicht, das sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg, besteht weiter eine Kriegsgefahr. Die USA haben für den Fall der Fälle Sanktionen angekündigt. Die russische Seite streitet Angriffspläne ab.
    Seit Wochen beunruhigt die russische Truppenpräsenz internationale Beobachter, Diplomaten und politische Vertreter in der Ukraine, der EU und den USA. Die große Frage bleibt, ob es sich um Säbelrasseln handelt, um einen gefährlichen Bluff, um mehr Druck in Verhandlungen auszuüben, oder ob womöglich doch ein direkter Einmarsch droht. Bei diesen aktuellen Krisen-Gesprächen zu zentralen sicherheitspolitischen Fragen für Europa saßen Vertreter der Europäischen Union sowie der Ukraine nicht mit am Tisch; beziehungsweise erst dann, als schließlich noch die Vertreter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) am Donnerstag in Wien tagten.

    Was bleibt? Vor allem die Tatsache, dass überhaupt gesprochen wurde. Doch wie wird eigentlich gesprochen? Iwan Dawydow hat sich die öffentlichen Umgangsformen von Vertretern des russischen Außenministeriums genauer angeschaut und in bissiger Manier für Republic analysiert.

    In der Außenpolitik geht es um Worte, sowohl um geschriebene in Verträgen, als auch um gesprochene aus dem Mund von Diplomaten. Alles erwächst aus Worten, sogar Kriege.

    Mich hat gar nicht so sehr der Ausgang der Verhandlungen interessiert [Dawydow bezieht sich auf die Gespräche zwischen Russland und den USA in Genf – dek] – der war nach dem offenkundig unerfüllbaren Ultimatum von Putin vollkommen vorhersehbar – als vielmehr die Worte, die noch vor Beginn zu hören waren. Hier ein kurzer Satz des stellvertretenden Außenministers Russlands Sergej Rjabkow: „Die NATO soll ihre Siebensachen packen und in die Grenzen von 1997 abmarschieren.“

    Interessant wäre nachzuvollziehen, ab wann die Sprache der russischen Diplomatie mutiert ist

    Interessant wäre nachzuvollziehen, ab wann die Sprache der russischen Diplomatie mutiert ist. Ich denke mal seit Ende 2013, doch das ist schwer zu sagen. Hier sind brandneue Beispiele:
    Maria Sacharowa kommentiert (nicht sehr korrekt, doch ohne Flüche und direkte Beleidigungen) die Erklärung von US-Außenminister Antony Blinken zu den Ereignissen in Kasachstan: „Wenn in dieser Situation amerikanische Vertreter etwas zu Kasachstan sagen sollen, geraten sie öffentlich in eine Sackgasse. Sie wissen gar nicht, was sie sagen sollen. Sehen Sie sich doch das kindische Geplapper und den Quatsch an, den die verbreiten.“

    Oder dieser andere Fall, als Xenija Sobtschak in ihrem Telegram-Kanal irgendeinen witzigen Tweet geteilt und angemerkt hat, dass Sacharowa sich widersprüchlich äußere. Und sie dann noch „ihre liebste Optimistin“ nannte. 
    Da stellte sich der gesamte Pressedienst des Ministeriums auf die Hinterbeine, um die Sprecherin des russischen Außenministeriums in Schutz zu nehmen. Und auch hier haben die Diplomaten, wie ja eigentlich üblich, ihre Worte nicht sorgfältig gewählt. „Nicht bei Sacharowa stimmt da was nicht – sondern Sie zeigen hier einen akuten Ausbruch von Dummheit und Wut“ (so der Anfang der Reaktion auf Sobtschak). „Lassen Sie uns mal nachdenken, was die Welt nötiger braucht: einen optimistischen Menschen oder einen depressiven Unmenschen. Frohe Festtage! Frohe Weihnachten!“ (so das Ende der Erklärung). 

    Und so weiter, geradewegs bis zu den berühmten „Debilen“ aus dem Mund des Außenministers daselbst.

    Ich habe eine Hypothese, warum die Auftritte russischer Diplomaten schrittweise zu einer recht erbärmlichen Stand-up-Show verkommen, wo jede Nachricht in den offiziellen (also zum Begeistern verpflichteten) Medien mit Worten wie „auslachen“, „auf seinen Platz verweisen“ und so weiter beginnt.

    Ich denke, der Grund ist, dass die Außenpolitik in Putins Staat zwar die größte Rolle spielt, er jedoch innerhalb des Landes gefallen möchte. Denen hier, uns. Schlussendlich sind es keineswegs Wahlen, die für seine Legitimierung grundlegend sind, wie in den trostlosen Demokratien. Es ist dieses nicht greifbare Gefühl der Unterstützung durch das Volk. Das Regime braucht das Gefühl der Einheit der Nation – und es ist alles andere als ein Zufall, dass sie alle, begonnen beim Führer, besonders oft und gern inspirierte Reden von unserer besonderen Einigkeit schwingen. Geopolitische Erfolge sind auch ein Mittel der Vereinigung, ein Motiv für Großtuerei, das oft – häufig als einziges – gar nicht so schlecht funktioniert (siehe Krim).

    Das ist alles nur für uns – sie wollen ja mit ihren Pöbeleien und Beleidigungen nicht erreichen, dass sich die Amerikaner in sie verlieben.

    Die Sprache ist ein wildes Tier, das leicht seinen Sprecher zum Untertan macht

    An den Reden unserer Diplomaten erkennen wir, als was der Staat uns sieht. Welches „uns“ er da beeindrucken möchte. Offenbar sieht er in uns jene Bürger, die auf der Straße hocken und Adiletten tragen. Die mit den „traditionellen Werten“, die ungefähr den ungeschriebenen Diebesgesetzen gleichen. Die, die sich sicher sind, dass Respekt Angst bedeutet und es nichts Wichtigeres als rohe Gewalt gibt und dass das Recht des Stärkeren das einzig wirkliche Recht ist und dass ein Mensch mit echter Autorität der ist, der das Viertel kontrolliert und alle Schwächeren traktiert. 

    Sie inszenieren sich, passen sich an, versuchen in der Sprache zu sprechen, von der sie glauben, dass sie verständlich und volksnah ist, und geraten dabei in die Falle: Die Sprache ist ein wildes Tier, das leicht seinen Sprecher zum Untertan macht. Und je mehr das geschieht, desto weniger treffen sie die Zielgruppe im Land (die Mehrheit mag bei uns vielleicht auf Reden über imperiale Größe versessen sein, aber wir sind dennoch keine Hinterhof-Gopniki). 

    Und je heftiger das wird, desto mehr werden sie selbst zu Gopniki von Rang. Denn die Welt eines Menschen ist seine Sprache, und die Sprache der Aggression macht den Menschen zu einem primitiven Aggressor – selbst wenn dieser einen renommierten Abschluss des MGIMO in Internationalen Beziehungen hat. Und irgendwie unbemerkt passiert es von alleine, dass sich der Staat einer ziemlich kleinen und unangenehmen Bevölkerungsgruppe anpasst und auf globaler Ebene genau deren Weltbild reproduziert. Sie haben Russland von den Knien erhoben, es in Hockstellung gebracht, und zischen nun den Passanten zu: „Ej Junge, komm ma her!“ Und wedeln dabei munter mit ihren Hyperschall-Knüppeln herum. 

    Wenn man das laut sagt, sind sie beleidigt – und nicht ohne Grund: Sie können mehrere Sprachen, mögen klassische Musik, lesen Bücher, in ihren Anzügen, mit Krawatte … Doch die Adiletten schimmern trotzdem durch den edlen Stoff von Brioni.  

    Hier ließen sich ein paar Witze über einen Petersburger Hinterhof ergänzen, aber das wäre, erstens, ziemlich banal, und, zweitens, ist unser Politiker Nummer eins trotz allem komplizierter als das primitive Bild, das missgünstige Kritiker von ihm malen. 

    Leider ist er komplizierter, sonst würde er uns nicht regieren.

     

     

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  • Das Echo von Kasachstan

    Das Echo von Kasachstan

    Auslöser waren deutlich gestiegene Preise für Flüssiggas: In den ersten Januartagen hat die größte Protestwelle seit Jahren vom Westen Kasachstans ausgehend schließlich das ganze Land erfasst. Die hohen Gaspreise erwiesen sich dabei als Ventil für lange angestaute Unzufriedenheit, auch über Korruption und Währungsverfall, die Demonstranten skandierten etwa „Weg mit dem alten Mann“ – gemeint ist Ex-Präsident Nursultan Nasarbajew, der zwar 2019 die Amtsgeschäfte an seinen Nachfolger Kassim-Schomart Tokajew übergeben, aber weiter wichtige Posten behalten hatte.

    Am Mittwoch, 5. Januar, gab Tokajew bekannt, dass er nun den Sicherheitsrat leite – eine Position, die bislang Nasarbajew innehatte – und bat schließlich das von Russland geführte Militärbündnis OVKS um Hilfe. Tokajew sprach dabei von einer „terroristischen Bedrohung“ im Land. Am Donnerstagvormittag, 6. Januar, gab es Meldungen, wonach Russland Fallschirmjäger als Teil sogenannter „Friedenstruppen“ entsandte. 

    Der Hilferuf der kasachischen Regierung an Russland wurde in Sozialen Netzwerken heftig kritisiert. Der renommierte kasachische Politologe Dosym Satpayev kommentierte auf Facebook, Staatschef Tokajew zeige damit „nicht nur die Schwäche und Unfähigkeit der Regierung in Kasachstan, sondern wird auch zum Schuldner Russlands“. Das russische Außenministerium erklärte schließlich, die Proteste in Kasachstan als einen „von außen inspirierten Versuch“ zu betrachten, die Sicherheit und Integrität des Staates zu untergraben. 

    Im Land gelte die kritische rote Stufe der „Terrorgefahr“, informiert die Nachrichtenagentur Tengrinews, das Internet wurde in großen Teilen abgeschaltet, die Banken des Landes geschlossen. Nun sagte Präsident Tokajew, die Ordnung im Land sei weitestgehend wiederhergestellt. Das kasachische Innenministerium spricht von 26 Toten. Ein Staatssender berichtete von mehr als 3000 Festnahmen. 

    Welches Echo die Ereignisse in Kasachstan in der russischen Gesellschaft haben könnten – das kommentiert Iwan Dawydow auf Republic.

    Deutlich gestiegene Preise für Flüssiggas waren der Auslöser für die größte Protestwelle seit Jahren, die vom Westen Kasachstans ausgehend schließlich das ganze Land erfasst hat / Foto © Esetok/Wikimedia unter CC BY-SA 4.0

    Über Nacht ist ein Wunder geschehen – alle Virologen, die sich in den Sozialen Netzwerken rumtreiben, sind nun Kasachstan-Experten. Ich möchte den werten Lesern und Leserinnen nichts vormachen – ich verstehe von Kasachstan derzeit genauso wenig wie vor der Revolution dort. Mehr noch, sogar meine kasachischen Freunde, die die Ereignisse sehr aufmerksam verfolgen und eine gute Vorstellung von der politischen Situation in ihrer Heimat haben, sind durchaus perplex, wie sich die Ereignisse überstürzen. Und ganz bestimmt kann niemand vorhersagen, wie das alles endet (wobei es Massen von Propheten gibt; selbsternannte Propheten gibt es ungefähr so viele wie Pseudovirologen). 

    Aber das ist nicht schlimm – das Wochenende geht vorüber, die Proteste auch, echte Spezialisten werden aus den Schüsseln mit Kartoffelsalat Olivier auftauchen und uns alles erklären. Und bis dahin kann es keine Sünde sein, darüber nachzudenken, was wir schon jetzt verstehen, und sei es noch so wenig. Und darüber nachzudenken, welches Echo der Aufstand in Kasachstan im Putinschen Russland hervorrufen wird.

    Denn ein Echo wird es geben.

    Das moderne Russland hält sich für das Zentrum des Universums, wobei es keine eigene Politik macht. Und das ist kein Paradox, das ist ganz logisch: Je tiefer der Führer in den imaginierten Siebzigerjahren versinkt, je fester sein Glaube an seine höchsteigene Mission, desto seltener versucht seine Umgebung ihn in die langweilige Realität zurückzuholen. Das wäre doch furchtbar, denn es hätte höchst unangenehme Folgen. Je niedriger also die Kompetenz in den Staatsämtern, umso einfacher ist das Weltbild und desto unausweichlicher wird in der Politik nur noch reagiert: Putins Staat reagiert auf äußere Störenfriede und versucht damit, seine Fantasien zumindest irgendwie in die moderne Welt hineinzuzwängen. Und bei allen Unannehmlichkeiten – sowohl im Land selbst als auch jenseits der Grenzen – wird nur eines gesucht: Der FEIND. In Großbuchstaben, mit weniger geben wir uns nicht zufrieden.

    Bei allen Unannehmlichkeiten wird nur eines gesucht: Der Feind

    Haben Sie nicht auch schon von Experten unterschiedlichster Couleur gehört, dass die kasachischen Unruhen nur losgetreten wurden, um Putin vor den wichtigen Gesprächen mit den USA und der NATO die Laune zu verderben? In deren Welt ist Putin die Sonne, um die sich alles dreht.

    Und selbstverständlich, auch auf die Ereignisse in Kasachstan – wie diese Ereignisse auch immer enden werden – wird zu reagieren sein.
    Leute, die erst reden und dann denken, wenn sie überhaupt denken, weil sie lieber reden, haben schon wissen lassen: Die Ereignisse in Kasachstan begraben den Plan für einen Machttransfer in Russland, nun wird Putin für immer Präsident bleiben. 

    Was für eine Erkenntnis.

    Der Gedanke ist ganz einfach: Nasarbajew hat den Präsidentenposten einem gesichtslosen Platzhalter überlassen (Putin kann sich den Namen Kassim-Schomart Tokajew bis heute nicht merken, oder vielleicht hielt er es nicht für nötig), übernahm den Vorsitz des Sicherheitsrates und bewahrte sich die Macht. So etwas in der Art haben auch unsere Politologen vor ein paar Jahren [als potenzielles Szenario für einen Machttransfer Putins – dek] in Aussicht gestellt; bislang ist unklar, wie viele Briefe aufgeregte Bürger an Valentina Tereschkowa schreiben konnten.

    Unsere Autokratie lernt von den Fehlern der Nachbar-Diktaturen

    Und nun stellt sich heraus, dass man niemandem vertrauen darf. In einer Krisensituation werden jedwede Vereinbarungen vergessen, und Tokajew hat Nasarbajew in dem großen Spiel wie eine Schachfigur geopfert [indem er ihn als Chef des Sicherheitsrats absetzte und diesen Posten selbst übernahm – dek]. Also wird unser weiser Leader der Nation ganz sicher nichts riskieren.

    Natürlich, unsere Autokratie lernt von den Fehlern der Nachbar-Diktaturen, nur in diesem Fall ist das alles überflüssiger Murks. Putin hat mehrfach und ziemlich direkt gesagt, dass allein schon die Möglichkeit seiner Teilnahme an den Präsidentschaftswahlen, die die Verfassung nun [nachdem die Amtszeiten auf Null gesetzt wurden – dek] vorsieht, ein Sicherheitspfand für die politische Stabilität sei.
    Allerdings ist das ein Sicherheitspfand, das ihn zur Geisel macht. Also um das mal zu übersetzen: Das bedeutet, dass er einfach gezwungen ist, ein ums andere Mal wieder bei der Präsidentschaftswahl anzutreten, um das Land vor Erschütterungen zu bewahren (oh, wie viel Aufopferung darin liegt). 

    Für den russischen Präsidenten liegt darin der Sinn der Ereignisse in Kasachstan – sie sind nur eine weitere Möglichkeit, um sich davon zu überzeugen, wie sehr er doch mit allem im Recht und wie weitsichtig er doch war, aber sicher kein Grund, um irgendwelche neuen Entscheidungen zu treffen.

    Die hat er schon lange getroffen: Putin für immer.

    Doch das heißt nicht, dass aus der kasachischen Erfahrung gar keine Schlüsse gezogen werden. Wir erinnern uns, wie stark die Proteste in Belarus auf den Kreml gewirkt haben: Nach der dortigen Wahl geriet unser Staat in Repressions-Rage, man bemühte sich, alle Fehler zu vermeiden, die Lukaschenko begangen hatte.

    Der Protest kann sich also selbst um einen zufälligen Kandidaten scharen? (Ich erinnere daran, dass Swetlana Tichanowskaja bis zur Verhaftung ihres Mannes überhaupt keine politische Führungsperson war und es auch nie werden wollte.) Es reicht also nicht aus, die reale Opposition niederzuwalzen und die reale Führungsperson zu verhaften? Nun, dann schließen wir doch am besten einfach aus, dass zufällige Kandidaten bei der Wahl auftauchen: Direkte Repressionen, rückwirkende Gesetze, neue Abstimmungsmethoden – egal, jedes Instrument ist recht. Hauptsache, es gibt keine Kraft, die den Staat beim Ausarbeiten dieser Instrumente stören könnte. Ich werde keine konkreten Beispiele nennen – wozu sich wiederholen? Seit über einem Jahr können wir das in Echtzeit verfolgen. Schaut einfach auf den Balken [der gesetzlich geforderte Hinweis, dass der Text in einem vom russischen Justizministerium als „ausländischer Agent“ eingestuften Medium erscheint – dek], der inzwischen jeden Artikel von Republic ziert. Das ist in gewisser Weise ein Echo auf die Minsker Proteste.

    Kasachstan ähnelt Russland und Belarus – wir alle sind aus dem grauen Sowjetmantel gestiegen – und ähnelt ihnen auch wieder nicht, nicht nur, was nationale Besonderheiten betrifft: Die Opposition wird in Kasachstan schon seit Langem und brutal unterdrückt, der Personenkult um den nationalen Führer (inzwischen offenbar ehemaligen) wurde unverstellbar aufgeblasen, eine freie Presse gab es überhaupt nicht. Und gleichzeitig hat man beispielsweise massenweise westliche NGOs geduldet und ihnen mehr oder weniger freie Hand dabei gelassen, sich Dingen zu widmen, die dem Land nutzen.

    Es wird rauer

    Reicht also auch das nicht aus, damit sich die Regierung in Sicherheit wähnt? Aber die Regierung will sich in Sicherheit wähnen! Und ist dafür bereit, Teile unserer friedlichen Bevölkerung zu opfern. Naja, also nur jenen kleinen Teil, dem Politik wichtig ist. Und falls jemand gehofft hat, dass sich die Repressionen ein wenig beruhigen werden: Vergesst es! Jetzt steht mit Sicherheit ein schweres Jahr bevor für politische Aktivisten, für die Überbleibsel der freien Presse, für alle nicht unmittelbar dem Staat unterstehenden Organisationen, ja, auch einfach für Bürger, die zu viel reden. Es wird rauer. Es wird ein solcher Frost kommen, dass wir noch vom freien, warmen 2021 schwärmen werden. 
    Die reaktive Politik des spät-putinschen Russlands kennt eine Antwort auf beliebige Herausforderungen: Bomben auf Woronesh. Auf jenes riesige, unbehagliche, traurige globale Woronesh, das noch Russische Föderation genannt wird. In dem wir leben und das wir lieben. 

    Wir schulden Putin was für Kasachstan, und er wird uns danach fragen.

    Soros‘ Finger

    Und noch etwas: Schon jetzt, wenn man die Ausführungen der aus dem Neujahrsschlaf erwachten, noch verkaterten „Experten“ liest, wenn man sich durch ihre Gedanken arbeitet, über die Spuren des Außenministeriums, über Soros‘ Finger, die er da im Spiel hat, und über die Hinterlist Großbritanniens (was alles nicht neu ausgedacht ist, all das wurde schon gesagt und wird noch tausend Mal gesagt werden), da kann man sich nur wundern, wie universal die russische Propagandamaschine ist.

    Sie interessiert sich nicht für die Realität, sie ist nicht in der Lage die Bevölkerung zu mobilisieren, und sie kann auch nicht adäquat auf tatsächlich existierende Probleme reagieren – aber wie universell ist doch ihre Welt! Man braucht keine methodischen Handbücher umzuschreiben, es genügt, in den vorhandenen das Wort „Ukrainer“ durch „Kasachen“ zu ersetzen – und los geht’s!

    Und was macht es schon für einen Unterschied, wie viel Unglück das für das eigene Land bedeutet? Für die Dummquatscher gibt’s lauter Belohnungen. Wer’s braucht, bekommt Krieg … Aus Ekel möchte ich nichts verlinken, aber ihr solltet mal sehen, wie Margarita Simonjan abging auf Twitter, nachdem sich Tokajew an die OVKS gewandt hatte mit der Bitte um Hilfe im Kampf gegen „terroristische Gruppierungen“. Das war aufrichtige, fast kindliche, reine Freude. Es roch nach Blut! Und nach Geld!

    Aber uns friedlichen Bürgern von Woronesh bleibt nur zuzusehen, wie uns unter ihrem Gerede über die Intrigen von Soros, Rothschild, Rockefeller, State Department und MI5 auch noch die letzten Rechte genommen, die letzten Krümel des normalen Lebens weggefressen werden. 

    Wir schauen zu. Und können uns nicht sattsehen.

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  • Liquidierung des Gedenkens

    Liquidierung des Gedenkens

    „Ein Schock“ – so reagiert die deutsche Sektion der Menschenrechtsorganisation Memorial auf die Nachricht vom Donnerstag, 11. November: Die russische Generalstaatsanwaltschaft hat an diesem Tag die Auflösung der NGO gefordert, die Verhandlung ist für den 25. November angesetzt, wie die Menschenrechtsorganisation auf ihrer Seite berichtet. 

    Memorial macht sich seit der Perestroika vor allem auch für eine Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit stark. Die NGO ist regelmäßig Ziel von Einschüchterungs- und Behinderungsversuchen seitens der russischen Behörden. Seit 2014 steht das Menschenrechtszentrum von Memorial auf der Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“. 2016 bekam auch die gesamte Organisation das Stigma angeheftet.  

    Für Oleg Kaschin sind das alles keine Einzelfälle mehr, sondern Episoden einer regelrechten Vernichtungskampagne. Wie auch für zahlreiche andere Beobachter ist die Logik dahinter für Kaschin „klar und nachvollziehbar“: Der Kreml strebe nach einem Monopol der Erinnerungskultur, Konkurrenten auszuschalten gehöre da einfach dazu. Warum Säuberungen auf dem Feld der Erinnerungskultur aber nicht funktionieren können – das zeigt der Journalist auf Republic.   

    Die drohende Liquidierung von Memorial fällt aus dem Rahmen der sonstigen staatlichen Attacken auf gesellschaftliche Institutionen und wirkt beispiellos und einzigartig; für den Staat verständlich ausgedrückt hieße das: Genauso gut hätte man eine altehrwürdige Kirche abreißen, ein ewiges Feuer löschen oder ein Grab schänden können. Alle bisherigen Pogromaktionen gegen politische und gemeinnützige Organisationen, Medienredaktionen, Wissenschafts- und Bildungseinrichtungen gingen – so schmerzvoll sie auch gewesen sein mögen – nicht über das unmittelbare Verhältnis zwischen dem Staat und denjenigen hinaus, die nicht gefallen. Aber hier kommt nun außer dem Staat und denjenigen, die er zerstört, noch ein drittes Subjekt hinzu – ein körperloses, ätherisches, und trotzdem äußerst auffälliges, markantes. 

    Es geht um die Strafe für historisches Erinnern

    In diesem neuen Kapitel geht es um die die Bestrafung des historischen Erinnerns. Natürlich ist da noch der Aspekt unserer ewigen verfluchten Unsicherheit: Theoretisch wäre es denkbar, dass irgendein glubschäugiger Beamter, der den Kontext nicht kapiert, auf seinem Zettelchen gelesen hat, dass da irgendwelche Menschenrechtler gegen die Auflagen für „ausländische Agenten“ verstoßen, eine Resolution verhängt, und der seelenlose Mechanismus setzt sich seelenlos knarzend in Bewegung. Doch die Wahrscheinlichkeit einer solchen Erklärung ist zugegebenermaßen verschwindend gering, und die Rede ist eben nicht von einem seelenlosen Mechanismus, sondern von Menschen aus Fleisch und Blut, die alles verstehen, die einen Kopf und ein Herz und Hände haben (und zwar einen kühlen, ein warmes und saubere, wie es im Märchenbuch dieses Berufsstandes gleich zu Anfang heißt). Und eine Seele haben sie auch – nur dass sie schwarz ist, wie man in solchen Fällen zu sagen pflegt.

    Jede einzelne Episode des Drucks auf Memorial ließe sich als ein Einzelfall beschreiben: Der Fall Ojub Titijew in Grosny – klar, Tschetschenien, Kadyrow rechnet mit seinen Feinden ab. Der Fall Juri Dmitrijew in Karelien – auch klar, hier geht es um Dmitrijew selbst, vielleicht sind hier persönliche Rechnungen offen, vielleicht gibt es ja wirklich keinen Rauch ohne Feuer, jedenfalls ein Einzelfall, kein System. Auch als Ljudmila Ulitzkaja Brillantgrün ins Gesicht gespritzt wurde, ließ sich das erklären: Der Kreml hat sich im Spiel mit den Gopniki vergessen, mit ihnen gemeinsame Sache gemacht, Putin war außer sich vor Zorn, als er davon hörte, jetzt kriegt man jemanden dran und damit hat sich die Sache. Kürzlich dann der Skandal, als der Film Gareth Jones gezeigt wurde (die Entscheidung über die Liquidierung von Memorial lag da vermutlich bereits auf irgendeinem Schreibtisch und wartete darauf, abgesegnet zu werden) – selbst dieser Vorfall, als Halbstarke den Saal stürmten, in Begleitung eines Fernsehteams von NTW und der Polizei, die die Tür mit Handschellen versperrte und die Personalien aufnahm – selbst dieser Unsinn ging nicht über die mittlerweile zur Gewohnheit gewordenen „lokalen Auswüchse“ hinaus. 

    Als das Oberste Gericht vor sieben Jahren bereits einmal einen Antrag auf die Liquidierung von Memorial prüfte, erklärte der damalige Leiter Arseni Roginski, ein Dissident mit noch sowjetischer Prägung, das sei kein großes Drama – es gebe viele Projekte, viele juristische Personen, das Ökosystem sei riesig und es sei wohl kaum jemand in der Lage, es vollends zu zerstören. Jetzt ist Roginski nicht mehr da, er ist gestorben, und gestorben sind auch die Zweifel, was die Kräfte und Möglichkeiten des Gegners angeht – längst ist klar, dass es keine Festungen gibt, die diese Leute nicht einnehmen könnten. Der Liquidierungsantrag der Staatsanwaltschaft an das Oberste Gericht verbindet alle bisherigen Auswüchse zu einer einzigen großen Vernichtungsoperation. Das war auch so klar, aber jetzt ist es offiziell bestätigt.

    Denn hinter ihren Rücken hervor blickt in eure Tschekisten-Augen die größte Tragödie des Volkes …

    Wir wollen das Verhältnis zwischen den Erben des NKWD und den Erben seiner Opfer nicht einfacher machen, als es ist. Natürlich schüttelt es unsere Staatssicherheit, wenn sie das Wort „Menschenrechtler“ nur hört. Das war schon Mitte der 1990er Jahre so, und der durchschnittliche russische Silowik wird dir, wenn du ihn fragst, voller Überzeugung erzählen, wie Sergej Adamowitsch Kowaljow (Vorsitzender von Memorial in den 1990er Jahren) unseren Jungs in Tschetschenien in den Rücken geschossen hat. Seit dem Krieg ist die Liste der Vorwürfe eines durchschnittlichen Silowik oder eines durchschnittlich Loyalisten oder Patrioten gegen Memorial um weit mehr als einen Punkt gewachsen: die LGBT-Frage, der Georgienkrieg, der Donbass und vieles andere mehr. Ja sogar der Film, dessen Vorführung im Memorial-Büro vor sechs Wochen gesprengt wurde, war ein polnischer Film über den Holodomor in der Ukraine, den das offizielle Russland bestreitet. Schaut man also durch ein Fenster in der Lubjanka oder im Kreml auf Memorial, sieht man da eine echt feindliche Organisation.

    Ein echter Feind in allen Belangen, und vermutlich hätten sie ihn schon 1999 oder sagen wir Mitte der 2000er ausgeschaltet, so wie Lew Ponomarjows NGO Sa prawa tscheloweka [dt. Für Menschenrechte] oder Limonows Partei oder die ganzen anderen. Aber irgendetwas hielt sie davon ab, und wir verstehen auch, was: die in der Erde verscharrten Knochen, der Solowezki-Stein, die verrottenden Lagertürme in der Tundra und in den Wäldern, die Maske der Trauer in Magadan, der Butowski Poligon und die Kommunarka. Ja sogar Solschenizyn und Ljudmila Alexejewa, die sie mit Sicherheit auch verachtet und gehasst haben, aber tief in eurem Inneren habt ihr gespürt, dass man ihnen nicht feindlich gegenüberstehen darf – denn hinter ihren Rücken hervor blickt in eure Tschekisten-Augen die größte Tragödie des Volkes, dessen Führung euch nun zugefallen ist und die ihr immer noch, gelinde gesagt, ein wenig fürchtet. Deshalb habt ihr Denkmäler und Museen eingeweiht, und Neumärtyrer-Kirchen, und deshalb habt ihr es ertragen, musstet es ertragen, habt Memorial ertragen, seine euch unangenehme Positionen bis hin zur LGBT-Frage. Habt es ertragen, doch nun ist Schluss. Gesunken, ja, gefallen ist die psychische Hemmschwelle. Gestern durfte man nicht, aber heute darf man. Habt ihr vielleicht kapiert, dass Ljudmila Alexejewa nicht mehr bei euch anrufen wird.

    Die russische Staatsmacht macht keinen Hehl daraus, dass sie die einzige Quelle historischen Erinnerns sein will

    Und, ja, Gareth Jones wird nun nicht mehr gezeigt werden, und womöglich ist das total egal, aber bald wird auch die Website gesperrt sein, der die Menschen alljährlich Ende Oktober die Namen der Toten entnehmen, um sie am Solowezki-Stein vorzulesen, und dann werden eines Tages Forscher der Russischen Militärhistorischen Gesellschaft den Beweis erbringen, dass die Deutschen im Herbst 1941 bis zur Kommunarka vorgedrungen sind, und dort in den Gräben in Wirklichkeit sowjetische Partisanen liegen (und das ist gar nicht mal unbedingt eine Metapher – wie wir wissen, ist es mit Sandarmoch im Fall Dmitrijew fast genauso passiert).

    Vernichtet wird ein historisches Institut, das noch von Andrej Sacharow gegründet wurde

    Die russische Staatsmacht macht keinen Hehl daraus, dass sie die einzige Quelle historischen Erinnerns sein will. Memorial & Co sind für sie seit einiger Zeit nicht bloß Gegenspieler, sondern Rivalen. Rivalen, mit denen man bei Gelegenheit bis zur Vernichtung kämpft. Die Logik ist klar und nachvollziehbar. Aber dennoch – Erinnern ist kein Marktplatz, es ist Metaphysik, und auf diesem Spielfeld mit den Methoden klassischer staatlicher Säuberungen vorzugehen ist gefährlich und unberechenbar. Indem sie sich Memorial entledigen, entwerten sie auch die eigene Version der Geschichte – keinen Groschen ist sie wert, wenn man für ihre Untermauerung ein ganzes historisches Institut vernichten muss, das übrigens noch von Andrej Sacharow begründet wurde.

    Aber selbst Sacharow ist bei denen jetzt nur noch der Erfinder der Wasserstoffbombe und dreifacher Held der sozialistischen Arbeit.

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