Bei der Konferenz Neues Belarus, die kürzlich vom Büro Swetlana Tichanowskaja in Vilnius organisiert wurde, ging es zuweilen hoch her, was sicher auch Ausdruck einer vitalen demokratischen Kultur ist, die von der neuen belarussischen Diaspora gelebt wird. Seit geraumer Zeit steht die belarussische Oppositionsführerin in der Kritik, die aus den eigenen Reihen kommt. Auch um den Kritikern entgegenzukommen und verschiedene oppositionelle Initiativen und Gruppen besser zu repräsentieren, wurde ein fünfköpfiges Exilkabinett beschlossen, dem neben Pawel Latuschko vom Nationalen Anti-Krisenmanagement unter anderem auch Alexander Asarow, Chef der Initiative BYPOL angehören. Ob dieses Kabinett ein effektiveres Instrument ist, um Einfluss auf politische Entwicklungen in Belarus selbst zu nehmen, wird von Experten wie Alexander Klaskowski mitunter bezweifelt. Größere Einflussmöglichkeiten hat die Opposition indes in der Außenpolitik. „Faktisch ist Tichanowskajas Büro“, so urteilt der Politikanalyst Waleri Karbalewitsch, „zum alternativen belarussischen Außenministerium geworden, und zwar einem viel wirkungsvolleren als das offizielle Außenministerium unter der Führung von Wladimir Makei.“
Die große Politik für Alexander Lukaschenko sei indes vorbei, meint der belarussische Journalist Igor Lenkewitsch. Dem belarussischen Machthaber bleiben vor allem Treffen mit Wladimir Putin, mit dem ihn eine fatale Abhängigkeit verbindet. Vor dem Hintergrund des Besuches von Denis Puschilin, dem Anführer der selbsternannten Donezker Volksrepublik (DNR), in Belarus analysiert Lenkewitsch im belarussischen Online-Medium Reform.by, dass sich Lukaschenko außenpolitisch in eine ausweglose Position gebracht habe, die auch die Unabhängigkeit des Landes bedrohe.
Der Präsident der selbsternannten Donezker Voklksrepublik (DNR) Denis Puschilin war nach Brest gereist. Dort besuchte er gemeinsam mit dem Generalsekretär der Partei Einiges Russland, Andrej Turtschak, dem Botschafter der Russischen Föderation in Belarus, Boris Gryslow, und anderen Delegationsmitgliedern aus der Pseudorepublik die Gedenkstätte Brester Festung. Am Ewigen Feuer legte man Blumen nieder.
In seiner Erklärung nannte Puschilin Brest eine Stadt, die zum „Vorbild für Mut und Widerstand des russischen Soldaten“ geworden sei. Hier stellt sich die Frage: Warum nur „des russischen“? Die Brester Festung wurde schließlich von Soldaten verschiedener Nationalitäten der UdSSR verteidigt. Und an 1939 wagt man ja kaum zu erinnern. Dennoch setzte Puschilin den Akzent ausschließlich auf den „russischen Soldaten“. Zufall? Oder steht der „russische Soldat“ für das russländische Imperium? Hält Puschilin damit auch Brest, das Vorbild des russischen Heldenmutes, für russisch? Bedeutet das, dass Russlands ambitionierte Pläne territorial so weit reichen? Wie angemessen sind solche Äußerungen überhaupt in einem fremden Land?
Bis zu diesem Besuch hatte die belarussische Regierung von offiziellen Gesprächen mit Vertretern von DNR und LNR abgesehen, mit Ausnahme eines Austauschs in der Trilateralen Kontaktgruppe. Den Donbass hatte der Parlamentsabgeordnete Oleg Gaidukewitsch gemeinsam mit einer Delegation seiner Partei LDPB besucht. Der in Minsk nach der erzwungenen Landung des Ryanair-Fluges festgenommene Blogger Roman Protassewitsch gab an, in Minsk von Ermittlern aus der sogenannten LNR befragt worden zu sein. Dazu äußerte sich im August 2021 auch Lukaschenko. Das war alles. Sollte es weitere Kontakte gegeben haben, so wurde es vorgezogen, sie nicht an die große Öffentlichkeit zu tragen.
Gute Auswege gibt es für das offizielle Minsk einfach nicht mehr
In einem Interview mit der französischen Nachrichtenagentur AFP sagte Lukaschenko, er sehe keine Notwendigkeit und keinen Sinn in der Anerkennung der besetzten ukrainischen Gebiete Donezk und Lugansk als unabhängige Staaten, ebenso verhalte es sich mit der von Russland besetzten Krim. „Sollten die Krim, Lugansk und Donezk Lebensmittel, Ziegel, Zement oder Unterstützung beim Wiederaufbau benötigen, werden wir sie unterstützen. Wenn es notwendig ist, werden wir sie anerkennen. Wenn das irgendeinen Sinn ergeben sollte. Doch welchen Sinn hat es heute, ob ich sie öffentlich anerkenne oder nicht?“, erläuterte Lukaschenko seine Position.
Hat sich die Situation seitdem geändert? Gibt es mittlerweile diesen Sinn? Eine Wahrscheinlichkeit besteht. Der Kreml könnte Druck auf Lukaschenko ausüben und die Erfüllung der Unionsverpflichtungen einfordern. Möglich ist auch, dass Moskau die ewigen Ausflüchte des offiziellen Minsk leid ist und nun entschieden hat, dass die Zeit für die Anerkennung gekommen ist. Aus praktischen Gesichtspunkten gibt es für Russland keinen besonderen Sinn, außer dass es Lukaschenko noch mehr die Hände binden würde. Die Anerkennung der Separatistenregionen auf ukrainischem Gebiet als eigenständige Staaten würde die Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine sowie deren Verbündeten nur noch zusätzlich belasten. Minsk zu nötigen, Puschilin zu empfangen, ist außerdem eine gute Option für Moskau, den Verbündeten auf seinen Platz zu verweisen.
Letztlich ist auch eine andere Variante denkbar: Es wird keine offizielle Anerkennung von DNR und LNR geben, da der Kreml „Referenden“ vorbereitet, die über den Beitritt der Separatistengebiete zur Russischen Föderation befinden sollen. Eine Anerkennung wäre dann gar nicht nötig. Es wird einfach mitgeteilt, dass die Vertreter der DNR angereist sind, um im Kontext des Hilfsangebotes der belarussischen Seite ihren Bedarf an Zement und Lebensmitteln zu formulieren.
Damit würde jedoch das Problem nur aufgeschoben. Denn es ergibt sich unvermeidlich die Frage nach der Anerkennung der Moskauer „Referenden“. Hier wird der Kreml seinem Verbündeten in jedem Fall die Daumenschrauben anlegen. Gute Auswege gibt es für das offizielle Minsk einfach nicht mehr. Es bleibt lediglich die Hoffnung auf Erfolge der ukrainischen Armee, die solche „Referenden“ verhindern würde.
Die große Politik ist für Lukaschenko vorbei
Oder einfach abwinken und tun, was Moskau will? Den vom Kreml zugewiesenen Platz einnehmen? Denn die bloße Tatsache des Besuchs der DNR-Delegation stellt Belarus letztlich in eine Reihe mit dieser Pseudorepublik. Man kann sich ohne Ende hinter „de jure“ und „de facto“ verstecken und der Welt weismachen, dass man niemanden anerkannt hat, sondern nur den Bedürftigen hilft – das alles sind Argumente zugunsten der Armen. Die niemand glaubt. Die große Politik ist für Lukaschenko vorbei. Kamen früher noch die deutsche Kanzlerin, der französische Präsident oder der US-Außenminister nach Minsk, ist es heute nur Puschilin. Und gerade dieser Besuch definiert Belarus‘ aktuelle Position in der politischen Konstellation des Kreml.
So tummelt sich also die DNR in Brest, und Puschilin macht zweideutige Bemerkungen. Belarus ist gezwungen, einen Menschen zu empfangen, dem nicht nur die ukrainische, sondern auch die belarussische Unabhängigkeit keine Kopeke wert sind. Für den Brest höchstwahrscheinlich – wie auch Poltawa und Odessa – eine „russische Stadt“ ist. Den Moskau als Sturmbock für die Eroberung von Gebieten eines Nachbarstaates einsetzt, für die „Befreiung“ von Städten, „von russischen Menschen gegründet“. Die Glocke läutet, und dieses Läuten ist sehr besorgniserregend.
Seit Wochen befürchtet die ukrainische Führung, Alexander Lukaschenko könnte eigene Truppen in den Krieg entsenden und zusammen mit Russland eine zweite Front eröffnen. Am 3. Juli, dem Tag der Unabhängigkeit, erklärte der belarussische Machthaber in einer Rede zum Feiertag in deutlich aggressiver Rhetorik: „Wir sind das einzige Land, das die Russen in diesem Kampf unterstützt. Diejenigen, die uns Vorwürfe machen: Wussten Sie nicht, dass wir ein enges Bündnis mit der Russischen Föderation haben? Dass wir praktisch schon eine gemeinsame Armee haben …? Wir waren und werden mit dem brüderlichen Russland zusammen sein. Unsere Teilnahme an der Spezialoperation wurde von mir vor langer Zeit beschlossen.“
Belarussische Medien berichten aktuell von Einberufungsbescheiden, die verstärkt in Belarus verschickt würden. Am vergangenen Wochenende begann das ukrainische Militär, die Grenzregion zur Ukraine zu verminen. Entsprechend hitzig wird in Medien und sozialen Medien über die Rolle von Lukaschenko und der belarussischen Gesellschaft im Angriffskrieg des Kreml gegen die Ukraine debattiert. Das ukrainische Online-Portal Ewropeiskaja Prawda kritisiert in einem Leitartikel die zweideutige Politik der ukrainischen Führung, die bis heute nicht die Beziehungen zu Lukaschenko abgebrochen, lange auf den intensiven Handel zwischen beiden Ländern gesetzt habe und immer noch zögerlich sei, einen intensiveren Dialog mit der belarussischen Opposition zu führen. So heißt es in dem Text: „Ja, Tichanowskaja ist nach wie vor eine unerfahrene Politikerin, aber sie ist für den Rest der Welt zu einem Symbol der belarussischen Opposition geworden, und Kiew ignoriert sie demonstrativ.“ Abseits der offiziellen politischen Beziehungen organisieren Belarussen in vielen Ländern Hilfs- und Solidaritätsaktionen für die Ukraine, Freiwillige kämpfen auf Seiten der Ukraine im Krieg, schon die Maidan-Proteste wurden von vielen Belarussen vor Ort unterstützt, sie zogen damals auch in den Krieg in der Ostukraine.
Für das belarussische Online-Medium Reform.by beschäftigt sich auch der Journalist Igor Lenkewitsch mit den ukrainisch-belarussischen Beziehungen. Er plädiert dafür, mit kühlem Kopf auf die gegenwärtigen Herausforderungen zu reagieren und den Schwerpunkt der Beziehungen auf eine untere Ebene, nämlich auf die der Gesellschaften beider Länder, zu verlegen.
Die Beziehungen zwischen den Staatsführungen von Belarus und der Ukraine sind verworren. Kiew erkennt Alexander Lukaschenko offiziell nicht als rechtmäßig gewählten Präsidenten an; und von Swetlana Tichanowskaja wurde in der Ukraine eine Vertretung eröffnet. Zugleich hat sich der ukrainische Regierungschef Wolodymyr Selensky mit Tichanowskaja noch nicht getroffen, während der Kontakt zu Lukaschenko anscheinend weiterhin besteht – wenn auch „sehr begrenzt“. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba berichtet, die Kommunikation zwischen Kiew und Minsk sei „amtlich-nüchtern“, der Kontakt bleibe aber eingeschränkt. Doch immerhin bestehen diese Kontakte. Und ungeachtet des Vorwurfs, dass Belarus sich an der russischen Aggression beteiligt, halten Belarus und die Ukraine ihre diplomatischen Beziehungen aufrecht.
Wolodymyr Selensky zufolge hat Lukaschenko mit gewissen Signalen zu verstehen gegeben, dass er keine Kontrolle über die Aktionen der russischen Truppen habe. Lukaschenko selbst aber gab zur feierlichen Zusammenkunft am Vorabend des Tags der Unabhängigkeit bekannt, dass ukrainisches Getreide künftig über Belarus transportiert werden soll. Die Belarussische Eisenbahn hat für diesen Gütertransport bereits eine Vorauszahlung erhalten, was ohne Kontakte auf höchster Ebene unmöglich gewesen wäre. Parallel dazu besteht ein Kontakt zu den belarussischen demokratischen Kräften. Tichanowskajas Vertretung in Kiew ist aktiv, sie soll Beziehungen zur ukrainischen Regierung aufbauen und die Interessen der Belarussen in der Ukraine schützen. Noch vor dem Krieg, im Sommer 2021, hatte Swetlana Tichanowskaja gesagt, sie und ihre Mitarbeiter seien „mit den Vertretern der ukrainischen Regierung im Gespräch“. „Mit Herrn Kuleba habe ich ein Mal online gesprochen, und vorgestern sind Herr Selensky und ich uns bei einer Veranstaltung in Litauen begegnet [gemeint war die Internationale Konferenz zu Reformen in der Ukraine, die am 7. Juli 2021 in Vilnius stattfand – Anm. von Reform.by]. „Offizielle Treffen gab es noch nicht“, erklärte Swetlana Tichanowskaja damals. Bis heute fand allerdings noch kein offizielles Treffen zwischen Swetlana Tichanowskaja und Wolodymyr Selensky statt. Man könnte meinen, die ukrainische Regierung bemüht sich, die demokratisch gewählte Regierungschefin von Belarus zu ignorieren.
Lukaschenko hat wahrscheinlich keinerlei Kontrolle über die russischen Streitkräfte auf seinem Territorium
Die ukrainische Führung kann man da verstehen. Vertritt man in der Ukraine gegenwärtig auch die Ansicht, die belarussische Armee sei ineffizient und im Falle einer Einmischung bloß Kanonenfutter, so gibt es dennoch wenig Interesse an einer zusätzlichen Frontlinie an der belarussischen Grenze. Denn das würde einen schweren Schlag für die Ukraine bedeuten, die gezwungen ist, den konzentrierten Vorstoß russischer Truppen im Osten abzuwehren.
Bislang sieht es so aus, als könne auch Lukaschenko keine zweite Front gebrauchen. Er hat genug eigene Probleme mit seiner Legitimität, hat wahrscheinlich keinerlei Kontrolle über die russischen Streitkräfte auf seinem Territorium. Außerdem ist die Mehrheit der Belarussen jüngsten Umfragen zufolge gegen eine direkte Beteiligung unseres Landes am russisch-ukrainischen Krieg.
Aber das heißt nicht, dass die Ukraine vom Norden her in vollkommener Sicherheit ist. Lukaschenko könnte der belarussischen Armee gut und gerne den Angriffsbefehl erteilen, sollte sich beispielsweise eine Niederlage der Ukraine abzeichnen. Dessen ist man sich auch in Kiew bewusst und hält sich in Bezug auf die belarussische Armee an eine vorsichtige Formulierung: „stellt derzeit keine Bedrohung dar“. In dieser Form sind die belarussisch-ukrainischen Beziehungen seit Kriegsbeginn erstarrt. Das offizielle Minsk gibt weiterhin „Signale“, und Selensky erkennt Tichanowskaja weiterhin nicht an. Denn bei einer Anerkennung wäre Kiew nolens-volens gezwungen, den zustande gekommenen Status quo dieser Beziehungen zu ändern.
Es ist nicht auszuschließen, dass zwischen Kiew und dem Minsker Regime geheime Absprachen bestehen. Allein schon, um unnötige Provokationen zu vermeiden. Aber auch wirtschaftliche Interessen sollte man nicht außer Acht lassen. Vor dem Krieg war Belarus ein wichtiger Handelspartner für die Ukraine. Zudem sind einige hochrangige Vertreter des ukrainischen Establishments eng mit mit unserem Land verbunden gewesen: Ukrainische Medien berichteten, David Arachamija, der Fraktionschef von Sluha Narodu und spätere Vertreter der ukrainischen Delegation bei den Verhandlungen mit der Russischen Föderation, stünde mit einigen Unternehmen in Verbindung, welche wiederum in Stromlieferungen aus Belarus in die Ukraine involviert seien. Davon ist nichts bestätigt, aber in Zeiten von Krieg und Sanktionen tauchen nicht wenige bequeme und lukrative „Grauzonen“ für alle Beteiligten auf.
Im Netz schlagen indes immer wieder Hasswellen hoch. Nur um ein aktuelles Beispiel zu nennen: Der ukrainische Journalist Wachtang Kipiani fordert von Belarus Gebietsabtretungen und Reparationszahlungen für die Beteiligung am Krieg. Ein anderer verlangt von den Belarussen eine öffentliche Verurteilung des Krieges, Massenproteste und Sabotageakte im Landesinneren (angeblich gebe es diese bislang nicht, behauptet diese Person). Es geht sogar so weit, dass einige Kommentatoren von den Belarussen erwarten, die Panzer mit bloßen Händen aufzuhalten und sich an deren Ketten zu Hackfleisch verarbeiten zu lassen. Die himmelschreiende Dummheit dieser Forderungen irritiert die Verfasser dabei nicht – aber die objektive Wirklichkeit war in der „schwarzen“ PR noch nie gefragt. Die Initiatoren solcher Endlosvorwürfe kaprizieren sich darauf, mit allen Mitteln zu beweisen, es gäbe keinen Unterschied zwischen Lukaschenko und dem Rest der Belarussen. Systematisch ziehen sie in Zweifel, dass sich Belarussen und ihre Vertreterin Swetlana Tichanowskaja gegen den Krieg aussprechen. Auch anonyme Kommentatoren versuchen mit beneidenswerter Beharrlichkeit nachzuweisen, dass es diesen Unterschied zwischen Lukaschenko und den Belarussen nicht gebe.
Dem Hass muss man ruhig begegnen. Und rational
All diese Hasswellen erinnern an gut geplante PR-Aktionen. Vielleicht lädt die gegenwärtige Situation in den politischen Beziehungen manche Leute dazu ein, einen Keil zwischen die Ukrainer und die Belarussen zu treiben. Aber eigentlich ist es nicht wichtig, wer dahintersteckt – Moskau oder bestimmte Kräfte in Kiew oder Minsk. Wichtig ist nur unsere Reaktion. Dem Hass muss man ruhig begegnen. Und rational. Es ist besser, die heutigen belarussisch-ukrainischen Beziehungen, mindestens mal an der Basis, ohne einen Überschuss an Emotion zu betrachten – und ohne gegenseitige Vorwürfe, man sei nicht radikal oder empathisch genug in Anbetracht der Tragödie des jeweils anderen. Jeder, der der Ukraine irgendwie helfen kann, sollte es tun, ohne Dankbarkeit oder Anerkennung zu erwarten.
Was Tichanowskajas Vertretung angeht, so sollten sich sie und ihr Team der Koalition gegen Putin anschließen und mit allen Mitteln zum Sieg der Ukraine beitragen. Die belarussisch-ukrainischen Beziehung wird man sowieso von neuem aufbauen müssen. Aber erst nach dem Sieg.
Belarus hat bis heute zu keinem Zeitpunkt seit Beginn der Corona-Pandemie Quarantänemaßnahmen für die eigene Bevölkerung verordnet. Im vergangenen Jahr, als während der ersten Corona-Welle die Regierungen weltweit Massenveranstaltungen untersagten und auch Schulen, Restaurants oder Kneipen schließen mussten, ging das Leben in Belarus seinen vermeintlich normalen Gang, auch in die Fußballstadien durften die Fans, was dem sonst kaum beachteten belarussischen Fußball internationale Aufmerksamkeit einbrachte. Staatsführer Alexander Lukaschenko verkündete lauthals, dass Wodka, Traktorfahren oder ein Gang in die Banja helfen würden, das Virus zu bekämpfen. Das allerdings habe er damals im Scherz gesagt, entgegnete Lukaschenko dem Interviewer von CNN Anfang Oktober dieses Jahres und fügte an: „Aber Sie wollen sagen, dass dieser Diktator in Belarus ein Wahnsinniger ist, der die Menschen nicht heilt. Ich bin sogar noch tiefer in die Materie eingetaucht als Sie alle im Westen, als alle Führungskräfte zusammen.“
Dass der Staat seinen selbstbeschworenen Fürsorgepflichten nicht nachkam und auf die Pandemie lasch reagierte, war auch ein Grund – so sehen es Experten – für die angeheizte Proteststimmung in der Bevölkerung im Jahr 2020. Mittlerweile ist die Situation in Belarus, das ebenfalls mit der vierten Welle zu kämpfen hat, dramatisch. An vier aufeinanderfolgenden Tagen seit dem 12. Oktober übersprangen die Neuinfektionen bei einer Bevölkerungszahl von 9,4 Millionen die 2000er-Marke. Auch die Regionen vermelden überfüllte Krankenhäuser und neue Rekordzahlen. Aufgrund der Überlastung wurde die medizinische Versorgung in ambulanten Gesundheitseinrichtungen teilweise ausgesetzt, wie beispielsweise für ambulante Vorsorgeuntersuchungen, Früherkennungsmaßnahmen oder physiotherapeutische Behandlungen. Seit dem 9. Oktober gilt nun erstmals landesweit eine Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln und an öffentlichen Plätzen. Nach offiziellen Angaben des Gesundheitsministeriums sind seit dem Ausbruch von Corona 4402 Personen mit oder an dem Virus in Belarus verstorben. Kritiker gehen aber davon aus, dass die Dunkelziffern wesentlich höher liegen.
Bei den Impfungen nimmt Belarus einen der hintersten Plätze in Europa ein. 18,6 Prozent der Bevölkerung sind nach offiziellen Angaben durchgeimpft, 1,75 Millionen Personen. Als Impfstoffe sind in Belarus die russischen Fabrikate Sputnik V und Sputnik light zugelassen, die teilweise auch im Land selbst produziert werden, sowie das chinesische Vero Cells. Seit Monaten lässt die Staatsführung verlautbaren, dass man auch an einem eigenen Impfstoff arbeite. Als Grund für die mangelnde Impfbereitschaft der Belarussen nennt beispielsweise der Arzt Igor Tabolitsch, der bereits im vergangenen Jahr offen das staatliche Fehlverhalten gegenüber den Corona-Maßnahmen kritisierte, an den Protesten teilnahm und schließlich nach Moskau ging, das zerrüttete Verhältnis zwischen Gesellschaft und Regierung: „Propaganda ist ein Spiel gegen den Staat. Alles, was die Behörden jetzt einführen wollen, wird mit Skepsis betrachtet.“
Das belarussische Online-Medium Reformation widmet sich der aktuellen Corona-Lage in Belarus, indem es Ärzte und anderes medizinisches Personal zu Wort kommen lässt
Die vierte Covid-19-Welle hat Belarus fest im Griff. Sogar das Gesundheitsministerium vermeldete jetzt erstmals über 2000 Neuinfektionen innerhalb eines Tages. Die Stationen sind überfüllt, Betten stehen auf den Fluren, in jedem Minsker Krankenhaus sterben zehn bis 15 Patienten pro Tag an Corona. Fast keiner der Krankenhauspatienten ist geimpft, und die Epidemie nimmt gerade erst an Fahrt auf. Darüber hat Reform.by mit Medizinern gesprochen, die beim Kampf gegen Covid an vorderster Front stehen. Wir haben mehrere Mitarbeiter verschiedener Minsker Krankenhäuser und zwei Rettungssanitäter aus Minsk und Umgebung interviewt. Um unsere Quellen nicht zu gefährden, nennen wir keine konkreten Krankenhäuser und Bezirke. Die Ärzte betonen jedoch, dass die Situation überall ungefähr gleich schlecht ist.
„Die Menschen entwickeln begleitende Psychosen“ Alexandra (Name geändert), Rettungssanitäterin in der Oblast Minsk:
„Viele sind infiziert. In der Stadt gibt es abgesehen von einem reinen Infektionskrankenhaus, das sowieso schon für Covid-Patienten reserviert war, noch zwei weitere: Eines wurde für alles andere als Corona bereits komplett geschlossen, das zweite teilweise. Oft reicht der Platz nicht aus. Sehr häufig kommt es vor, dass Leute aus anderen, aus Nicht-Covid-Stationen entlassen werden, und nach ein paar Tagen werden sie positiv auf das Virus getestet. Das Personal ist erschöpft, wir hatten ja im Grunde keine Pause. Aber sie strengen sich an, übernehmen Zusatzfunktionen, machen Überstunden. Wie groß der Personalmangel ist, kann ich nicht genau sagen, aber dass alle mehr als Vollzeit arbeiten, weiß ich ganz bestimmt. Die Krankenschwestern und -pfleger infizieren sich selbst, ihre Kinder auch … Im Vergleich fühlt sich diese Welle stärker an. Die Komplikationen treten sehr schnell ein. Man bekommt Fieber, und nach ein paar Tagen hat man schon Lungenentzündung, 45 Prozent erleiden Lungenschäden. Noch dazu haben viele Leute begleitende Psychosen. Oft wirst du zu einem Covid-Patienten gerufen und siehst, dass er auch psychisch leidet. Todesangst, Panik, Bluthochdruck, Schlafstörungen, Depressionen – die Ausformungen sind unterschiedlich.
Ein paar Mal wurden wir nach Sputnik-Impfungen gerufen: Die Leute klagten über Schwäche, Fieber, Husten. Unter den Covid-Infizierten gibt es zwar auch Geimpfte, aber wir haben es dann höchstens mit mittelschweren Fällen zu tun, von schweren Verläufen ist mir nichts bekannt. Was die Zahl der Toten betrifft, kann ich nichts sagen. Es heißt immer, in unserem Bezirk sterben viele, aber dazu wird nicht viel berichtet.“
„Statt drei Ärzten ist oft nur einer auf der Station“ Nikolaj (Name geändert), Notarzt, Minsk:
„Die Situation in den Krankenhäusern selbst kenne ich nicht gut. Aber ich weiß, dass vor den Notaufnahmen, wo wir die Patienten hinbringen, lange Schlangen sind. Ich weiß, dass Leute auch schon fünf Stunden gewartet haben und ohne Untersuchung wieder gegangen sind. Also ja, wahrscheinlich gibt es ein Platzproblem. Das Personal bei uns in den Rettungswagen kommt mit der Situation ganz gut zurecht. Ja, im letzten Monat gab es mehr Notrufe, mehr Patienten mit Fieber. Aber im Herbst und Winter sind es immer mehr als sonst. Natürlich ist auch das Personal krank, nicht alle Brigaden sind voll besetzt, manchmal ist auf einer Dienststelle nur ein Arzt statt drei. Das war auch vor einem Jahr so, während der zweiten Welle. Ich hatte selbst vor Kurzem Covid, zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres, und wieder fast symptomlos, nur ein paar Tage Halsschmerzen und um die 37 Grad, diesmal war nicht einmal mein Geruchssinn beeinträchtigt. Im Frühling habe ich mich mit dem chinesischen Impfstoff impfen lassen.“
„Bei uns auf der Intensivstation gab es überhaupt keine geimpften Patienten“ Jekaterina (Name geändert), Anästhesistin in einem Minsker Krankenhaus, das teilweise zum Covid-Krankenhaus umgerüstet wurde:
„Die Infektionszahlen steigen, das sieht man nicht nur an den Intensivstationen, sondern auch an den Inneren Abteilungen. Vor ein paar Tagen waren die Zimmer überfüllt und die Patienten lagen ohne Sauerstoffgeräte auf dem Flur. Wir haben versucht, das irgendwie zu lösen, und entließen die stabileren Patienten. Der Platz ist sehr knapp, wir haben höchstens ein oder zwei freie Betten pro Tag.
Auf der Intensivstation haben wir heute fast zweieinhalbmal so viele Patienten wie Betten (es geht hier um ein paar Dutzend Menschen, die genauen Zahlen wurden zur Sicherheit der Auskunftsperson entfernt – Anm. Reform.by). Sie liegen in Zusatzbetten. In Dreibettzimmern liegen zum Beispiel vier Personen, in Einzelzimmern zwei. Außerdem wird derzeit in den OPs nicht operiert, sondern sie sind zur Behandlung von Intensivpatienten umfunktioniert.“
Gelingt es unter solchen Bedingungen, die nötige Hilfe zu leisten?
„Natürlich nicht. Wir bemühen uns aus Leibeskräften, aber es ist körperlich sehr schwer. Sie haben gefragt, ob das medizinische Personal ausreicht. Im Prinzip arbeiten wir vorschriftsmäßig nach Protokoll. Ein Facharzt für Intensivmedizin ist zum Beispiel für sechs Patienten zuständig, eine Krankenschwester auf der Intensivstation muss drei Patienten versorgen – und so ist es auch ungefähr. Aber wenn man bedenkt, wie schwer die Fälle sind … Manchmal sind es auch acht Patienten, manchmal noch mehr, aber auch wenn es sechs sind, ist es für einen allein körperlich sehr anstrengend, sich um sie zu kümmern. Weil sich ihr Zustand alle fünf Minuten ändern kann. Auch für die Krankenschwestern ist es schwer. Während der Arzt noch gewisse Pausen hat, in denen er die Zone verlassen kann, sind die Krankenschwestern rund um die Uhr auf der Intensivstation. Es kommt auch vor, dass nicht genügend Medikamente da sind oder Einwegprodukte für Geräte fehlen. Elementare Dinge wie Infusionsschläuche, Katheter … Nichts von höchster Priorität, aber wenn zum Beispiel ein Patient bessere Antibiotika braucht, und man muss sie erst bestellen – das kostet Zeit, dabei bräuchten wir sie hier und jetzt. So etwas passiert jetzt leider manchmal. Auch die Beatmungsgeräte, die seit eineinhalb Jahren im Dauereinsatz sind, gehen manchmal kaputt, noch dazu in den unpassendsten Momenten. Im Vergleich zu den vorherigen Wellen sind die Symptome der Krankheit im Grunde dieselben. Nur die Patienten werden merklich jünger. Während es in der ersten Welle 70- bis 80-Jährige waren und in der zweiten 60+, sind es jetzt viele Junge, 40- bis 50-Jährige. Die schweren Fälle, wohlgemerkt. Generell erkranken alle Altersgruppen, aber wie ich auf der Intensivstation sehe, trifft es jetzt gerade die Jungen besonders hart.
Wie viele Leute sterben, ist jeden Tag anders. Manchmal an einem Tag keiner, manchmal fünf oder sechs Personen. Im Durchschnitt sterben bei uns im Krankenhaus zwei bis drei Menschen pro Tag. Was Geimpfte betrifft, die werden auch krank, aber sehr selten. Ich habe Bekannte und Verwandte, die geimpft sind, manche von ihnen wurden krank, aber nur leicht. Dass so jemand ins Krankenhaus oder auf die Intensivstation kommt – nein, Geimpfte trifft man dort äußerst selten an.“
Hatten Sie auf der Intensivstation geimpfte Patienten?
„Nein, bei uns gar nicht.“
Und was sagen Ihre Patienten zur Impfung, bereuen sie es, nicht geimpft zu sein?
„Verschieden, die meisten verstehen nicht, dass sie das hätte retten können. Sie glauben, nachdem man auch mit Impfung krank werden kann, ist sie unwirksam. Ein Mann war bei uns, der sagte: Uns hat auf der Arbeit ein Kollege angesteckt, obwohl er geimpft war. Aber Fakt ist, dass dieser geimpfte Kollege jetzt gesund und munter ist, während der Mann künstlich beatmet werden muss.“
„In einer Schicht habe ich sechs Leichen abtransportiert“ Wladimir (Name geändert), technischer Arbeiter an einem anderen Minsker Krankenhaus:
„Vor ein paar Wochen wurden wir wieder auf Covid umgestellt. Kürzlich habe ich in einer Schicht fünf Leichen abtransportiert, in einer anderen sechs. Zum Vergleich, in der vorigen Welle, im Winter, sind in unserer Abteilung ein bis zwei Menschen pro Tag gestorben und im ganzen Krankenhaus fünf bis sechs. Jetzt sind es insgesamt 15 bis 16 Menschen pro Tag. Im Leichenhaus wird der Platz knapp, manchmal bahren wir die Toten vorübergehend draußen auf, bis ein Platz frei wird. Die Patienten sind jünger als früher. Derzeit liegt auf der Intensivstation eine 24-Jährige mit schlechten Chancen, außerdem ein kräftiger, brutaler Kerl, 34 Jahre alt. Auf dieser Intensivstation rechnet man nicht mit Entlassung, man geht davon aus, dass diese Leute sterben. Mit manchen ist es schon nach ein oder zwei Tagen vorbei.
Das Personal ist derzeit überwiegend gesund, alle, die ich kenne, arbeiten. Alle sind geimpft, das wurde von den Mitarbeitern auch verlangt. Kann sein, dass auch jemand verweigert hat, aber davon wüsste ich nichts. Voriges Jahr, als es noch keine Impfung gab, sind circa 80 Prozent des Personals erkrankt.“
„Noch gibt es keine Anzeichen, dass wir ein Plateau erreichen würden. Die Sache nimmt grad erst an Fahrt auf“ Tatjana (Name geändert), Internistin an einem Minsker Krankenhaus:
„Unser Krankenhaus ist jetzt fast zur Gänze ein Covid-Krankenhaus, kürzlich wurden noch ein paar Abteilungen umfunktioniert, andere gibt es fast gar keine mehr. Die Aufnahmen werden seit ein paar Wochen immer mehr. Pro Tag kommen mindestens 130 bis 150 Menschen in die Aufnahme, insgesamt haben wir über 800 Covid-Patienten. Der Platz reicht nicht für alle. Es ist schon vorgekommen, dass Betten auf den Flur gestellt wurden, dementsprechend gab es für diese Patienten keinen Sauerstoff. Dann schieben wir sie die nächsten Stunden durch die Station, tauschen Plätze – je nachdem, wer den Sauerstoff gerade dringender braucht. Wer ohne Sauerstoff auskommt, wird – wenn er nicht sonstwie in einer lebensbedrohlichen Lage ist – nach Hause geschickt. Die Intensivstation ist sowieso immer voll … Viele Patienten, die laut Anordnung des Gesundheitsministeriums und aufgrund der Ernsthaftigkeit ihres Zustands auf der Intensivstation liegen sollten, werden in normalen Abteilungen behandelt. Und du rennst hin und drehst sie auf den Bauch und überlegst, wie sie mehr Sauerstoff kriegen können. Der Unterschied zu den vorherigen Wellen: viele Patienten, schwere Verläufe, kurze Krankheitsdauer, viele junge Menschen. An einem Tag sterben im Krankenhaus im Schnitt zehn bis 15 Patienten. Regelmäßig wird in den Abteilungen für Begräbnisse gesammelt, weil Eltern und Partner von Mitarbeitern sterben. Der Anteil der geimpften Patienten ist schwer auszumachen, von allen stationär aufgenommenen vielleicht maximal zehn bis 20 Prozent. Aber sie sind viel weniger schwer krank, kommen nur vereinzelt auf die Intensivstation. Normalerweise sind das jene, die nur die erste Teilimpfung haben und dann das Virus noch irgendwo aufschnappen. Ärzte und Krankenschwestern gibt es an sich noch genug, doch bei uns arbeitet niemand mehr nur die vertraglich festgelegten Stunden. Aber wir kommen zurecht. Manchmal gibt es Ausfälle bei Medikamenten, aber nach ein, zwei Wochen ist die Apotheke wieder aufgefüllt. Derzeit gibt es vorübergehend nicht genug Schutzanzüge, wir flicken ständig an unseren herum. Alle Ärzte sind im Dauerstress, weil wir nicht wissen, wann das vorbei ist … Noch gibt es keine Anzeichen, dass wir ein Plateau erreicht hätten, die Zahlen sind grad erst im Aufschwung. Die Kollegen aus den Polikliniken sind auch recht gut darin, uns Steine in den Weg zu legen: Sie raten den Leuten vom Impfen ab, mit dem Argument, dass sie zu viele chronische Krankheiten hätten. Dabei kommt eben das heraus, was wir jetzt haben. Es ist ein Krieg. Wenn einem beim Einkaufen jemand mit der Maske am Kinn zu nahe kommt, zuckt man zurück. Möchte ihm am liebsten eine reinhauen und ihn anschreien: ‚Setz deine Maske ordentlich auf!‘ Dann fährt man mit dem Auto, alles ist ruhig, man geht spazieren, alles wie immer … Aber kaum kommst du zur Arbeit, ist Krieg. Als ob das alles nicht bei uns wäre, als wäre es ein Horrorfilm.“
„Wir werden niemanden aufhalten“, sagte Alexander Lukaschenko Anfang Juli bei einem Treffen seiner Regierung in Minsk. Damit meinte der langjährige Autokrat Flüchtlinge vorwiegend aus dem Irak, aus Syrien oder Afghanistan, die versuchen, über Belarus in die EU zu gelangen. Tatsächlich sind seit Anfang des Jahres fast 4000 Flüchtlinge nach Litauen gelangt, täglich werden es mehr. Sie laufen durch die Wälder und Moorgebiete, die Belarus und Litauen auf einer Länge von 680 Kilometer voneinander trennen – es sind im Übrigen Fluchtwege, die zum Teil auch Belarussen nutzen, die aus politischen Gründen ins Nachbarland flüchten.
In den vergangenen Tagen demonstrierten mehrere hundert Litauer in Vilnius gegen einen Plan der EU-Kommission, die Migranten in einem Camp im Grenzort Dieveniškės unterzubringen. Auch im Grenzort Rudninkai protestierten Menschen gegen ein bereits errichtetes Zeltlager. Das kleine Litauen steht unter hohem politischen Druck. Das drei Millionen Einwohner-Land hatte bereits Anfang Juli den Notstand ausgerufen. Über 30 Soldaten der EU-Grenzbehörde Frontex wurden nach Litauen geschickt, um die dortigen Grenzbehörden zu unterstützen, auch bei der besseren Sicherung der Grenze zu Belarus. Der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis beschuldigte Lukaschenko, die Flüchtlinge als „hybride Waffen gegen die EU“ zu benutzen – sozusagen als Strafe für die Sanktionen, die die EU am 21. Juni gegen die belarussischen Machthaber beschloss. Auch Politiker der belarussischen Opposition wie beispielsweise Pawel Latuschko warfen Lukaschenko vor, die Migranten gezielt in Richtung EU zu schleusen. Die litauische Regierung gehört zu den schärfsten Kritikerinnen Lukaschenkos. Anfang Juli hatte Litauen der belarussischen Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, die sich mit ihrem Team in Vilnius aufhält, einen offiziellen Status zuerkannt, worauf es zu einer diplomatischen Krise zwischen beiden Ländern kam.
Aus welchen Ländern kommen die Flüchtlinge? Was sind ihre Beweggründe zu fliehen? Wer organisiert ihre Flucht vor Ort und in Belarus? Wie gelangen sie über die Grenzen? Das belarussische Online-Medium Reform.by beschäftigt sich in einer aufwändigen Reportage und Recherche mit diesen Fragen.
Bagdad und Minsk verbindet ein recht belebter Luftweg. Bis vor Kurzem flog diese Strecke nur die Iraqi Airways – ein- bis zweimal pro Woche, je nach Saison; jetzt fliegt sie mittwochs und freitags. Doch seit dem 10. Mai hat sich die Zahl der Flüge zwischen der irakischen und der belarussischen Hauptstadt verdoppelt. Denn auch Fly Baghdad fliegt jetzt die Strecke – montags und donnerstags. [Inzwischen fliegt Iraqi Airways nach Informationen von Zerkalo.io (ehemals tut.by) vier Mal pro Woche von Bagdad nach Minsk, im August gibt es außerdem weitere Verbindungen von Sulaimaniyya, Basra und Erbil nach Minsk – dek]. Seit Frühling 2021 preisen irakische Reisebüros massenhaft Urlaub in Minsk an. Die Kosten solcher Pakete variieren zwischen 560 und 950 Dollar. Im Preis inbegriffen sind Flugtickets, Visum, Versicherung, Unterbringung im Hotel und mehrere geführte Touren.
Solche Pauschalreisen aus dem Irak nach Belarus sind in den letzten Monaten deutlich billiger geworden. Das erwähnte im Gespräch mit Reform.by auch Jelena K. – eine Belarussin, die im irakischen Kurdistan lebt und mit einem Einheimischen verheiratet ist.
Lange Zeit plante das Paar eine Reise in Jelenas Heimat, konnte sich diese aber nicht leisten. Laut Jelena hätte noch im letzten Jahr ein Ticket nach Belarus und zurück mit Umsteigen in Istanbul rund 850 Dollar gekostet. Eine Pauschalreise wäre auf etwa 1000 Dollar pro Person gekommen. Jetzt, sagt Jelena, kann man Reisen nach Belarus ab 500 Dollar pro Person finden.
Im August 2020 bot die irakische Reiseagentur Jood Land achttägige Touren nach Belarus an, von denen die billigste 949 Dollar kostete. Reform.by hat die Agentur kontaktiert und nach dem aktuellen Preis gefragt. Die Antwort: Eine achttägige Reise mit Unterbringung im Doppelzimmer kostet für eine Person 570 Dollar. In der Agentur betonte man, dass es jetzt viel mehr Iraker als früher gebe, die Belarus besuchen wollen.
Ich habe mein Leben lang davon geträumt, den Irak zu verlassen
Angesichts der Preise für Pauschalreisen ist es nur logisch, dass viele Iraker sich für Belarus interessieren. Das beweisen auch die Facebook-Kommentare zu Werbungen von Reisebüros. Wir haben einige Iraker kontaktiert, die in FB-Kommentaren nach den Kosten für Belarus-Reisen fragten. Gleich der erste junge Mann aus Bagdad erklärt: Er habe eine Werbung gesehen, von den vier Angeboten habe ihm Belarus am besten gefallen, daher wolle er hinfahren – nur als Tourist, zur Erholung. In Belarus sei er noch nie gewesen, und er kenne auch niemanden, der schon mal dort war. Doch schon ein paar Minuten später fragt er: „Wissen Sie überhaupt, wie es im Irak zugeht? Kennen Sie sich vielleicht mit Migration in die EU aus? Wenn ich nach Belarus fahre und dort heiraten würde, könnte ich dann legal im Land bleiben?“
Wie uns der Iraker Amin (Name geändert) erzählt, wurde Alexander Lukaschenkos Verlautbarung, Belarus werde Flüchtlingen, die in die EU wollen, keine Steine mehr in den Weg legen, mehrere Tage hintereinander im irakischen Fernsehen gesendet. Und überhaupt würden die irakischen Medien Nachrichten zum Thema Migration viel Aufmerksamkeit schenken und jetzt oft über Belarus berichten. Daher würden viele Iraker, die permanent auf der Suche nach Möglichkeiten seien, das Land zu verlassen, diese Chance sofort nutzen.
Für Migranten sei Belarus derzeit eine der billigsten und ungefährlichsten Arten, nach Europa zu gelangen
Amin ist 25. Der junge Mann sagt, er habe sein Leben lang davon geträumt, den Irak zu verlassen, er nennt den Irak die Hölle auf Erden. Als er im Fernsehen von Belarus erfahren habe, hätten er und seine Freunde beschlossen, diese Gelegenheit beim Schopf zu packen. Er sagt, für Migranten sei eine Reise nach Belarus derzeit eine der billigsten und ungefährlichsten Arten, nach Europa zu gelangen. „Schlepper kassieren meistens ein paar tausend Dollar für eine Lkw-Fahrt in ein europäisches Land“, sagt Amin. Er meint, nach Lukaschenkos Worten sei im Irak die Nachfrage nach Belarus-Reisen deutlich gestiegen. Er selbst und vier seiner Freunde haben im Reisebüro Al Qimma Travel and Tourism für 700 Dollar pro Person gebucht. Im Preis inkludiert sind PCR-Test, Visum, Unterkunft und mehrere Ausflüge. Ein Visum für zehn Tage bekam Amin gleich auf dem Nationalen Flughafen in Minsk ausgestellt.
Noch vor seiner Ankunft in Belarus erzählt uns Amin: Seine Freunde und er verfolgen Meldungen über Festnahmen illegal Reisender an der litauischen Grenze und markieren die jeweiligen Orte auf einer Karte. Den Grenzübertritt planen die jungen Männer in der Region Grodno – weil dieses Gebiet auf Satellitenkarten bewaldet aussehe. Außerdem suchen sie Informationen darüber, mit welchen Transportmitteln sie bis zur Grenze kommen und wo sie litauische SIM-Karten kaufen können. Amin und seine Freunde entscheiden sich, mit öffentlichen Verkehrsmitteln bis Lida zu fahren und von dort mit dem Taxi zur Grenze.
Mit dem Taxi bis zur Grenze
Zuerst hatte die Gruppe vor, etwa drei Tage in Minsk zu bleiben, aber als sie am 10. Juli ankommen, wollen sie lieber keine Zeit verlieren und am selben Tag noch bis zur Grenze fahren. Dann passiert etwas Kurioses, das illustriert, wie illegale Einwanderer in Belarus – wenn auch nicht in allen, so doch in vielen Fällen – absolut auf sich gestellt und ohne jegliche Organisation und Hilfe agieren. Die Jungs verlassen das Hotel und gehen zur nächsten Bushaltestelle, wo Amin dem Journalisten, mit dem er Kontakt hat, ein Foto des Fahrplans schickt und fragt: „Welcher von diesen Bussen fährt an die Grenze?“ Im Endeffekt fahren sie mit dem Taxi. Wahrscheinlich sind sie über der Grenze, als unser Kontakt zu Amin abreißt. Soweit wir wissen, werden den Leuten in den Auffanglagern während der Quarantäne die Handys abgenommen und nur zu bestimmten Zeiten ausgehändigt.
Die Fluchtbewegung nach Litauen besteht nicht nur aus Irakern. Mansur (Name geändert) ist ein 23-jähriger Syrer, er hat in der Türkei einen Uni-Abschluss als Energieingenieur gemacht. Jetzt wird er zur Armee einberufen und hat beschlossen, das Land zu verlassen.
„Von Migration über Belarus habe ich in der Zeitung gelesen, in Syrien liest man aufmerksam alle Nachrichten zum Thema Migration. Ich habe von der Situation in Belarus und von Lukaschenkos Aussage über Einwanderer gehört, daher wollte ich die Chance nutzen“, erzählt der junge Mann. Da Mansur in der Türkei studiert hat, hat er eine doppelte Staatsbürgerschaft: die syrische und die türkische. Türkische Staatsbürger haben das Recht, sich bis zu 30 Tage ohne Visum in Belarus aufzuhalten. Daher braucht Mansur kein Visum zu beantragen.
Wenn ich über die Grenze gehe, werde ich ein Handy mit aufgeladener Karte, zwei Kilo Bananen, zwei Liter Wasser, eine Hose und ein Hemd einpacken
„Vom Flughafen fuhr ich mit dem Bus nach Minsk und ging zum Bahnhof, wo ich dem Schalterbeamten auf meinem Handy den Satz ‚Ich möchte ein Ticket Minsk–Grodno kaufen‘ auf Russisch zeigte. So fuhr ich nach Grodno. Auf der Karte hatte ich gesehen, dass es in der Nähe der polnischen und der litauischen Grenze liegt, daher wollte ich sofort in diese Stadt. Hier wohne ich bis auf Weiteres in einem Hotel im Zentrum und tüftle mir eine Route aus. Ich überlege, wo ich am besten hingehe, sehe mir diesen Ort an“, Mansur zeigt uns einen Screenshot.
„Wenn ich über die Grenze gehe, werde ich ein Handy mit aufgeladener Karte, zwei Kilo Bananen, zwei Liter Wasser, eine Hose und ein Hemd einpacken. Aber ich muss erst herausfinden, wie ich zur Grenze komme, wie das hier mit dem Taxi ist“, erzählt Mansur weiter. Der junge Mann gibt zu, große Angst vor der belarussischen Miliz zu haben. Das letzte Mal haben wir am 7. Juli mit Mansur gesprochen, seitdem war er nicht mehr telefonisch erreichbar und nicht mehr online.
Nach dem Irak kommt ihnen Belarus wie ein Polizeistaat vor
Wie wir von unseren Gesprächspartnern wissen, haben Migranten, die durch unser Land flüchten, generell große Angst vor Begegnungen mit der Miliz: Nach dem Irak kommt ihnen Belarus wie ein Polizeistaat vor. Sollte es dennoch passieren, wollen sie sich als Studenten der Universität Grodno ausgeben. Ihrer Meinung nach klingt das glaubwürdig und kann sie vor Festnahmen bewahren.
Keiner der Migranten erzählt uns (obwohl sie recht gesprächig sind), dass sie in Belarus Anweisungen bekommen hätten, wo sie hinfahren und was sie dort sagen sollen, schon gar nicht von Grenzbeamten. Daraus schließen wir, dass sie vor allem untereinander ihre Erfahrungen weitergeben. Sie verkehren in unzähligen Social-Media-Gruppen und Telegram-Chats für Flüchtlinge – in der Regel geschlossenen, in die man schwer reinkommt, aber uns ist es gelungen.
Hast du es geschafft – dann hilf dem Nächsten
Samir, der eine solche Community gegründet hat, erzählt uns, dass solche Gruppen in erster Linie dazu da sind, Informationen über möglichst ungefährliche Transitrouten nach Europa zu teilen. Mit dem Ziel, dass sich möglichst wenige Leute dem Risiko aussetzen, in Booten das Meer zu überqueren oder sich in mit Menschen vollgestopften Lastwagen über den halben Kontinent karren zu lassen und dafür noch Unsummen hinzublättern. Jetzt entstehen spezielle Gruppen, in denen es darum geht, wie man über Belarus nach Europa gelangt.
Tausende Dollar für Europa?
Samid (Name geändert) ist Kurde. Er will über Belarus nach Polen, um dann nach Deutschland weiterzureisen. Von ihm haben wir die Kontaktdaten eines kurdischen Schleppers bekommen, der die Leute von Litauen nach Deutschland bringt.
„Sie bringen die Leute von Litauen nach Deutschland, pro Person kostet das 85.000 US-Dollar. Außerdem haben sie noch jemanden an der Grenze, der den Weg erklärt, vielleicht ein Einwohner Litauens“, erzählt Samid.
Laut Samid sind in dem Preis ein Visum und andere Dokumente enthalten, die für die Einreise nach Belarus und den Transit zur Grenze nötig sind. An der Grenze werde den Leuten erklärt, wohin sie gehen müssen. Nach dem Grenzübertritt würden sie in Litauen von jemandem empfangen und nach Deutschland gebracht.
Samids Bericht ist die einzige uns vorliegende Quelle, die sich mit den Informationen überschneidet, die sich mittlerweile vielfach in den Medien finden: Dass viele Migranten bis zu 15.000 Dollar bezahlen würden, um über Belarus nach Litauen zu gelangen. In den Chats von irakischen Migranten haben wir diese Informationen nicht gefunden, und auch von unseren Interviewpartnern, die überwiegend aus dem Irak stammen, wurden sie nicht bestätigt.
Interessant ist, dass in den vergangenen Jahren illegal reisende Migranten (auch aus dem Irak) Belarus gemieden und sogar davor gewarnt haben, über dieses Land in die EU einzureisen, weil die Grenze zu streng bewacht werde.
Wir haben einen Post von 2017 gefunden, in dem Iraker darüber diskutieren, warum es gefährlich sei, die belarussische Grenze zu passieren. In den Kommentaren schrieb ein Syrer namens Hatim, Belarus sei als ein Staat bekannt, in dem jeder verhaftet würde, man solle diese Variante lieber nicht in Betracht ziehen.
Eine offene Grenze
Warum gilt der belarussische Korridor also jetzt als eine nahezu sichere Möglichkeit, in die EU zu gelangen? Das liegt nicht nur an den gesunkenen Preisen für Flüge und touristische Reisen. Aus den Berichten aller unserer Interviewpartner geht klar hervor, dass sich das Verhalten der Grenzbeamten grundlegend geändert hat. Das sagen nicht nur Migranten, sondern auch Belarussen. Diese Angaben wurden uns außerdem von zwei Grenzbeamten bestätigt, die bereit waren, anonym mit uns zu sprechen.
Ein anonymer Informant von Reform.by, der an einem Grenzkontrollpunkt arbeitet, erzählt von der gegenwärtigen Situation an der belarussisch-litauischen Grenze:
„Derzeit passieren ziemlich erstaunliche Dinge. Früher wurde man dafür belohnt, wenn man einen Zigarettenschmuggler erwischt hat, jetzt ist das nicht gern gesehen. Und was die Illegalen angeht, die Grenzbeamten verhaften zwar welche, doch neuerdings gibt es den Befehl von oben, dass die Beamten ihre Patrouillen nach einem festen Plan durchführen sollen, so dass gewisse Fenster entstehen, durch die die Illegalen hindurchkönnen. Es gibt keinen konkreten Befehl, aber wenn du zum Beispiel deinen Vorgesetzten sagst, die rechte Flanke der Grenzzone ist nicht abgedeckt, heißt es, das sei nicht weiter schlimm, und keiner unternimmt etwas.“
Es ist offensichtlich, dass die Schleusen für Schmuggelei und illegale Migration geöffnet sind
„Früher hat ein Grenzbeamter einen Illegalen festgenommen und dafür 200 Rubel [knapp 70 Euro – dek] Prämie bekommen, aber wenn ein Grenzbeamter heute trotz allem noch jemanden festnimmt, bekommt er gar nichts mehr. Kollegen, die neulich Gruppen von je 14 und fünf Irakern festgenommen haben, haben gerade mal 20 Rubel bekommen.
Es ist offensichtlich, dass die Schleusen für Schmuggelei und illegale Migration jetzt geöffnet sind. Sogar die festgenommenen Illegalen bekommen jetzt nur eine kleine Geldstrafe und werden wieder freigelassen. Früher wurde ein Protokoll erstellt, Anklage erhoben, sie wurden in spezielle Abschiebelager gebracht. Das Ergebnis ist ein starker Beamtenschwund, viele verlängern ihre Verträge nicht.“
Roman (Name geändert) ist Grenzbeamter an der belarussisch-litauischen Grenze in der Oblast Grodno. Auch er bestätigt die Informationen über den Beamtenschwund im Grenzdienst.
Es gab den mündlichen Befehl, die Augen vor illegalen Migranten zu verschließen
„Es gab den mündlichen Befehl, die Augen vor illegalen Migranten zu verschließen, sie nur festzunehmen, wenn sie extrem dreist werden, quasi direkt über den Grenzkontrollpunkt marschieren. Normalen Grenzbeamten gefällt das natürlich gar nicht, sie versuchen trotzdem, die Gesetzesbrecher festzunehmen. Dann gibt es einen Stempel, ein Protokoll, eine Geldstrafe und die Illegalen werden mit ihren Sachen in ein Untersuchungsgefängnis gebracht. Wobei sie oft nur einen Rucksack dabeihaben oder gar keine Sachen, keine Ahnung, wo sie die lassen.
Übrigens werden statt Grenzbeamten derzeit OSAM (Spezialeinheiten der Grenztruppen) auf Grenzpatrouille geschickt – schon möglich, dass diese Spezialeinheiten den Migranten selbst den Weg zeigen.“
Auch Belarussen bemerken an der Grenze Gruppen von Migranten. Anfang Juli posten viele Anwohner der Grenzregion in Telegram-Kanälen, dass sie immer wieder Busse zur Grenze und wieder zurückfahren sehen und dass die Beamten keine Passkontrollen bei den Nichteinheimischen mehr durchführen.
Wir sprechen außerdem mit einem Belarussen, der Ende Juli ins Ausland geflohen ist, um einer politisch motivierten Gefängnisstrafe zu entgehen. Zunächst hat er knapp eine Woche in der Nähe von Lida gewohnt und auf den richtigen Moment gewartet. Er sagt, er hätte von Einheimischen gehört, dass sie oft Kleinbusse mit zugezogenen Vorhängen sehen – ihrer Meinung nach werden darin Migranten transportiert. Unser Interviewpartner hat auch selbst einen solchen Bus gesehen.
Schon möglich, dass diese Spezialeinheiten den Migranten selbst den Weg zeigen
Unmittelbar hatte er nur beim Grenzübertritt mit Migranten zu tun. Er berichtet, er und seine Begleiter hätten kurz vor der Grenze, unweit der Stelle, an der sie das Land verlassen wollten, ein militärisches Zeltlager mit Grenzbeamten gesehen. „Als würden sie auf jemanden warten, oder sich abseits halten, um nicht zu stören“, sagte er. Deswegen entschieden er und seine Begleiter sich, nicht an dieser Stelle, sondern direkt, wo sie waren, über die Grenze zu gehen. Sie mussten also durch den Sumpf fliehen, überquerten die Grenze und trafen dort auf litauische Grenzbeamte. Eine Viertelstunde später kam auf demselben Weg eine Gruppe von Migranten: knapp zwölf arabisch aussehende Menschen. Sie erklärten den Grenzbeamten, sie wären Studenten der Universität Grodno, wurden verhaftet und in ein Lager gebracht.
Außerdem wissen wir von einem Mann, der Anfang Juli nach einer Festnahme durch Sicherheitskräfte aus Belarus geflohen ist. Er berichtet, ein befreundeter Grenzbeamter hätte ihm zu einem Grenzübertritt in der Oblast Grodno geraten, denn „dort achtet gerade keiner auf die Grenze“. Tatsächlich konnte unser Interviewpartner die Grenze bei Lida problemlos überqueren. Er sagt auch, er habe an dem Grenzabschnitt noch vier arabisch aussehende „Kollegen“ gesehen, die auf der belarussischen Seite ebenfalls nicht aufgehalten worden seien.
Migranten als aktive Teilnehmer eines hybriden Angriffs zu betrachten
Alena Tschechowitsch ist Juristin bei Human Constanta, einer öffentlichen Beratungsstelle für Migranten und staatenlose Menschen. Sie kommentiert für Reform.by die Situation aus Sicht des Migrationsrechts. Tschechowitsch ist der Meinung, dass Migranten, die die politische Situation in Belarus nutzen wollen, in einer sehr gefährlichen Lage sind:
„Nach polnischem und litauischem Recht können die Migranten, die in diesen Ländern Asylanträge stellen, nicht abgeschoben werden, bevor über diese Anträge entschieden wurde. Diese Gesetze gelten für alle Asylsuchenden, unabhängig davon, ob sie legal oder illegal ins Land gekommen sind. Wenn die Migranten nicht nachweisen können, dass ihnen im Herkunftsland Gefahr droht, wird ihnen das Asyl verweigert, dann können Polen oder Litauen sie nach ihren jeweiligen internen Verfahren abschieben. In der gegenwärtigen Situation, also angesichts der hohen Zahl von Ankommenden, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass die litauischen und polnischen Behörden die Anträge auf Asyl und einen Flüchtlingsstatus unbegründet ablehnen.
Zudem hat das litauische Parlament die gestiegene Fluchtbewegung über die belarussische Grenze als hybride Kriegsführung bezeichnet. Das Parlament fordert, die Migranten aus Drittstaaten, die illegal über die litauische Grenze einreisen und keine Papiere haben – ausgenommen sind Frauen mit Kindern, behinderte Menschen und Kinder unter 16 – , als aktive Teilnehmer eines hybriden Angriffs zu betrachten, solange nicht das Gegenteil bewiesen wurde. Wenn die litauische Regierung diesem Gesetzesentwurf zustimmt, könnten sich hunderte Menschen in einer sehr gefährlichen Lage wiederfinden, ohne den ihnen zustehenden Schutz.“
Am 21. Juli wurde der Gesetzesentwurf vom litauischen Präsidenten unterzeichnet.
Der Protest in Belarus wird besonders von Frauen getragen und geprägt, darüber ist schon viel gesagt worden. Olga Shparaga ist eine der prominentesten Stimmen in diesem Diskurs. Die Philosophin lehrt am European College of Liberal Arts in Belarus, ist Mitglied im Koordinationsrat der Opposition – und auch international bekannt, im April 2021 erscheint ihr Buch Die Revolution hat ein weibliches Gesicht in deutscher Übersetzung im Suhrkamp-Verlag.
Shparaga befindet sich aktuell in der Haftanstalt Shodino östlich von Minsk, nachdem sie während einer friedlichen Demonstration Anfang Oktober zunächst für einen Tag festgenommen und am 12. Oktober schließlich zu einer 15-tägigen Haftstrafe verurteilt wurde – für die „Teilnahme an einer nicht genehmigten Massenveranstaltung“.
Inwiefern die Figur der Frau in patriarchalen Strukturen heute stellvertretend für die gesamte belarussische Gesellschaft steht, warum sich so viele Menschen in Swetlana Tichanowskaja wiedererkennen können, und wie die Oppositionsbewegung auch auf diejenigen zugehen kann, die ihr kritisch gegenüber stehen – darüber sprach Shparaga noch kurz vor ihrer Haft beim Spaziergang mit Darja Amelkowitsch vom unabhängigen belarussischen Portal Reformation.
Wir beobachten zurzeit, wie sich unterschiedlichste gesellschaftliche Gruppen zusammentun und gemeinsam protestieren. Kann man diese Bewegung als neue Solidarität bezeichnen?
Schon während der Wahlkampagne haben wir gesehen, wie eine neue gesellschaftliche Energie freigesetzt wurde. Nach den Wahlen erreichte sie eine neue Intensität, als den Leuten nichts anderes übrigblieb, als auf die Fälschungen und den von der Regierung entfesselten Terror zu reagieren. Für die Gesellschaft gab es kein Zurück mehr. Die Leute spürten, was für eine gewaltige Energie plötzlich da war, was für eine Solidarisierung im Gange war, und suchten nach Formen, sie zu bewahren. Wir sehen auch jetzt noch, wie diese Formen sich wandeln, wie neue erfunden und weiterentwickelt werden.
Die Idee der Humanität. Dass Menschen sich miteinander solidarisieren, einfach weil sie Menschen sind. Weil sie finden, dass niemandem Gewalt angetan und niemand in seinen Grundrechten und seiner Freiheit eingeschränkt werden darf. Wir sehen, wie diese Idee die Leute über alle beruflichen, alle Alters- und Geschlechtsunterschiede hinweg vereint: Sie wollen aktive Bürgerinnen und Bürger sein, dafür stehen sie ein. Sie wollen keinen autoritären Staat und sind bereit, sich miteinander zu verständigen, um dieses Ziel zu erreichen.
Wir haben viel über die Atomisierung der belarussischen Gesellschaft diskutiert. Ihr fehlt Debattenerfahrung, ihr fehlt Vertrauen. Und plötzlich war da diese große Offenheit und Toleranz, der Wunsch der Menschen, gemeinsam etwas zu schaffen und sich daran zu freuen.
Derzeit wird viel diskutiert, ob man nicht alle Kräfte darauf richten sollte, den politischen Gefangenen zu helfen, ihr Trauma zu bewältigen. Oder ob es richtig ist, dass sich die Leute abends in den Innenhöfen versammeln, um positive Emotionen zu teilen – ich finde, das ist alles wichtig. Die Menschen brauchen einen emotionalen Rückhalt, sie suchen Verständigung und wollen vertrauensvolle Beziehungen aufbauen. Es ist genau die Art von Solidarität, die unserer Gesellschaft bislang gefehlt hat.
Und doch lebt ein Teil der Gesellschaft immer noch in einer anderen Realität. Diese Menschen halten Veränderungen weder für notwendig noch für wünschenswert. Sie werfen dem progressiven Teil der Gesellschaft vor, die Stabilität aufs Spiel zu setzen. Was kann man diesem paradoxen Argument entgegnen, wenn man bedenkt, dass der Sozialstaat praktisch nicht mehr existiert?
Führen wir uns diese Gruppe vor Augen. Sie ist überaus heterogen. Glühende Lukaschenko-Anhänger gibt es dort kaum, sondern vor allem Frauen, die im Niedriglohnsektor arbeiten. Diese Frauen haben ein kleines Gehalt, sie müssen sich um ihre Kinder kümmern, oft auch um ihre alten Eltern. Die Angst, die Unterstützung zu verlieren und auf einmal mit nichts dazustehen, ist deshalb groß. Diese Gruppe hat sehr wenig Freizeit. Wenn die Frauen außerhalb von Minsk wohnen, haben sie häufig keine Zeit, ins Internet zu gehen. Deswegen bleiben ihnen die vielen Wege der Solidarität verborgen – sie wissen schlicht nicht, wo sie Hilfe erhalten können. Das Regime wiederum nutzt sie aus und droht ihnen damit, dass sie alles verlieren. Dasselbe tut auch die Propaganda, die behauptet, eine neue Regierung werde sich nicht um sozial schwache Gruppen kümmern.
Die Angst, die Unterstützung zu verlieren und auf einmal mit nichts dazustehen, ist groß
Es gibt in dieser Gruppe sicher auch Menschen, die unter Lukaschenko Karriere gemacht haben und dank ihm sozial aufgestiegen sind. Sie sind dem System gegenüber loyaler. Aber es gibt auch Menschen, die in Lukaschenkos System gefangen sind. Beide muss man ansprechen, in unterschiedlicher Weise.
Wir müssen uns eingestehen, dass sich der alternative Diskurs derzeit überhaupt nicht an diese Gruppe richtet. Wir können nicht nur über Privatisierung [des staatlichen Eigentums] und politische Freiheiten sprechen. Wir müssen uns auch um die anderen Themen kümmern: Was wird aus dem Schulsystem, dem Gesundheitswesen, den sozial Benachteiligten? Die Gesellschaft braucht auch dieses Narrativ.
Wie stehen Sie dazu? Sind Sie auch eine Verfechterin des Sozialstaats?
Ja. Aber nur, wenn er funktioniert wie in Deutschland oder Schweden. In Belarus ist er seit langem erodiert, wie wir bei Corona gesehen haben, oder auch, als die halbe Stadt ohne Wasser war. Die Regierung unternahm nichts und erklärte: „Das ist euer Problem.“ Das wäre in einem Sozialstaat undenkbar. Der ganze Beamtenapparat, die Ministerien – wozu sind sie da? Ich bin sicher, dass sich viele Leute zum ersten Mal gefragt haben, ob sie mit einem anderen Staat nicht besser dran wären.
Es wird weitere Pandemien wie Corona geben, und dafür braucht es ein funktionierendes Gesundheitssystem, und überhaupt soziale Unterstützung. Der Staat sollte keine Ideologie erfinden, sondern den Menschen helfen. Es gibt verschiedene Institutionen, die mit einem vernünftigen Steuersystem gut funktionieren würden. Ich denke, wenn wir heute für so ein Modell des Sozialstaates kämpfen, gewinnen wir gleichzeitig neue Anhänger.
Kommen wir zur Kreativität der Frauenbewegung, die zum Gesicht der belarussischen Proteste wurde. Frauen haben sich einen Glitzermarsch ausgedacht, oder sie kommen zusammen und bilden eine Kette, weiß gekleidet, Blumen in den Händen … Heute spricht die ganze Welt über die belarussischen Frauen, weil sie mutig, schön und kreativ sind.
Es war ein langer Prozess. Alles hat mit der Solidaritätsaktion für die Evavon Chaim Soutine begonnen. Das war noch im Juni. Diese Bewegung wurde überwiegend von Frauen unterstützt, weil viele von ihnen mit der Sammlung der Belgazprombank zu tun hatten: Künstlerinnen, Kuratorinnen. Auch im Kulturbetrieb gibt es sehr viele Frauen, insbesondere in den Projekten, die Viktor Babariko unterstützt hat. Die Frauen machten Eva zu einem Sinnbild für sich selbst: Viele fotografierten sich als Eva oder trugen T-Shirts mit Eva.
Haben sie sich mit ihr identifiziert?
Ja. Wohlgemerkt nicht mit dem Bild einer halbnackten Frau auf dem Sofa, sondern mit Eva. Mit dieser strengen, ernsten, vielleicht sogar missbilligenden, herausfordernden Frau – sie wurde zum Gesicht der weiblichen Solidarität. Später kamen dann die Bilder, die für das schwache Geschlecht standen.
Die Frauen in Weiß?
Ja. Und mit Blumen. Als sich die Frauen am 12. August auf dem Komarowka-Markt versammelten, als der Terror der Behörden losging. Das war so ein Bild der Weiblichkeit, der Schwäche. Und gleichzeitig ein Symbol dafür, dass auch in der Schwäche eine Stärke liegt. Unsere Revolution – der friedliche Protest – ist ein Ausdruck dafür: Man kann sich wehren und für seine Rechte kämpfen, auch wenn man schwach ist.
Als die Frauen am 12. August eine Kette bildeten, wussten sie nicht, wie die Sicherheitskräfte reagieren würden. Heute können wir sagen, die Frauen werden nicht inhaftiert, ihnen wird weniger Gewalt angetan, aber ich weiß, dass sie Todesangst hatten, als die Aufseher um sie herumliefen und keiner wusste, wie es ausgehen würde. In dieser Haltung liegt eine große Selbstaufopferung.
Diese Reaktion wurde zum Vorzeichen dafür, dass die Revolution friedlich verlaufen könnte. Dass wir friedliche, kreative Wege gehen. Wir werden sie, unsere Freunde, unsere Nächsten, bis zum Schluss verteidigen.
Die nächste Etappe, das waren dann schon die Frauenmärsche?
Die Frauen nehmen längst eine aktive Position ein. Ob feministische Elemente oder LGBTQ-Community, die Märsche zeigen, dass das weibliche Subjekt existiert. Die Frauen sprechen nicht mehr als Opfer.
Der Protest hat viele unterschiedliche weibliche Gesichter, denn auch die Frauen sind ja alle ganz unterschiedlich. Wir haben unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse. Doch das Thema Gewalt hat alle vereint. Eva wurde „verhaftet“. Die Männer landeten in den Gefängnissen – die Frauen gingen gegen Gewalt und Willkür auf die Straße. Die Frauen machen klar, dass die Gewalt die Gesellschaft als Ganze betrifft. Sie sagen es mit den unterschiedlichsten Slogans. Das Wichtigste ist, dass Plakate, die ich sonst auf feministischen Demos gesehen hatte (wie „Er schlägt dich, also wandert er in den Knast“), auf den großen Frauenmärschen auftauchten. Ein Plakat für ein Gesetz gegen häusliche Gewalt wurde zum Symbol dafür, wie sich die ganze Gesellschaft wahrnimmt. Das bedeutet, die Figur der Frau, die in einer patriarchalen Gesellschaft systematischer Gewalt ausgesetzt ist, steht heute für die Gesellschaft insgesamt.
Sobald die Frauen ihre Position behaupteten und Subjekte wurden, begegnete die Staatsmacht ihnen mit Gewalt. Bis dahin verhielt sie sich nachsichtig. Wie würden Sie das interpretieren?
Warum wohl hat Swetlana Tichanowskaja die Wahlen gewonnen? Weil Lukaschenko sie nicht ernstgenommen hat. Aber die Gesellschaft hat sie ernstgenommen. Maria Kolesnikowa hat ihren Pass zerrissen und ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die Frauen haben erzwungen, dass man fortan mit ihnen zu rechnen hat. Die Staatsmacht, die nur auf Gewalt setzt, fand die entsprechende Antwort.
Die Figur der Frau, die in einer patriarchalen Gesellschaft systematischer Gewalt ausgesetzt ist, steht heute für die Gesellschaft insgesamt
Doch die Art des Protestes hat sich dadurch nicht geändert. Der Koordinationsrat plant keinen Staatsstreich, die Frauenmärsche sind völlig friedlich. Dieses Engagement hat mittlerweile einen Rückhalt in der Gesellschaft, es kann nicht mehr ignoriert werden.
Sprechen wir über unsere Anführerinnen – Swetlana Tichanowskaja und Maria Kolesnikowa.
Ihr Wahlkampfbündnis war gut, weil darin verschiedene Frauen vertreten waren. Jede von ihnen arbeitete für die eigene Gruppe. Maria Kolesnikowa vertritt eine eher aktivistische Position; in einem der Interviews bezeichnete sie sich als Feministin. Swetlana Tichanowskaja sagte, sie sehe sich selbst nicht in der Politik. Veronika Zepkalo ist Managerin und richtet sich an Frauen in der Wirtschaft. Ich denke, die Kraft lag in der Zusammensetzung dieses Bündnisses.
Und was Swetlana betrifft: Ihre Reaktion gleicht der Reaktion der belarussischen Gesellschaft. Auch sie überwindet sich selbst und schöpft daraus Kraft. Das ist toll. Ich denke, die Menschen erkennen in ihr sich selbst. Vielleicht wollten die Belarussen sich nicht an dieser Wahl beteiligen, wollten nicht aktiv werden. Aber dann entstand eine Situation, die die Leute in den Protest trieb. Die Wahlfälschungen, die brutale Gewalt des Staates gegen seine Bürger … Die Menschen haben Angst, es ist schwer, Alltag und Protest unter einen Hut zu bringen, aber sie machen es trotzdem, sie tun sich zusammen und kämpfen.
Swetlana Tichanowskaja ist bis heute ein Spiegel, in dem die Gesellschaft sich selbst erkennt. Sie sagt: Wir sind keine Politiker, aber wir können nicht tatenlos bleiben. Wir wollen und können nicht mehr in einem autoritären Staat leben.
Dabei sagt sie aber auch, ein starker Anführer werde künftig an ihre Stelle treten.
Das ist schade. Ich finde, wir brauchen keine starken Anführer, wir brauchen eine starke Gesellschaft. „Wir wollen nicht auf Anführer hoffen“ – das höre ich von vielen engagierten Menschen.
Swetlana Tichanowskaja ist bis heute ein Spiegel, in dem die Gesellschaft sich selbst erkennt. Sie sagt: Wir sind keine Politiker, aber wir können nicht tatenlos bleiben
Wie die Erfahrung gezeigt hat, kann ein starker Anführer uns und unsere Bedürfnisse ignorieren. Wichtig ist, dass der politische Anführer unser Partner ist, einer von uns.
Um Ihren Gedanken fortzuführen: Mir fällt der berühmte Ausspruch von Maria Kolesnikowa ein: „Liebe Belarussen, ihr seid unglaublich!“ Darin steckt doch die Grundeinstellung: Alles, was die Belarussen tun müssen, ist an sich selbst zu glauben. Oder etwa nicht?
Wenn wir davon ausgehen, dass sich unsere Gesellschaft in einem Zustand der Gewalt befindet, (erinnern Sie sich, wie Lukaschenko sagte: „Eine Geliebte lässt man nicht gehen“), so heißt das: Ihr fehlt der Glaube an die eigene Stärke. Es gibt viele Formen der Gewalt: physische, ökonomische, psychische. Oft fällt es schwer zu erkennen und sich einzugestehen, dass man Gewalt ausgesetzt ist. Oft wissen die Frauen nicht, wie sie aus dieser Situation herauskommen sollen. Ich hatte von Anfang an den Eindruck, dass jenes Empowerment, von dem die Feministinnen reden, der Glaube an die eigene Stärke, genau das ist, was man in solchen Situationen braucht. „Ich beende eine Missbrauchsbeziehung“, sagen die Frauen heute. Offenbar ist es genau das, was heute die gesamte Gesellschaft tun muss. Und dafür muss sie auf ihre eigene Stärke vertrauen.
Das ist eine wichtige Parallele, aber ich muss doch fragen, wie es weitergeht. Natürlich verändert sich unsere Gesellschaft. Doch wie stehen die Chancen, dass die konkreten Frauen, über die wir heute gesprochen haben, aber auch die Frauen insgesamt, in der Politik bleiben, wenn das gegenwärtige Regime fällt?
Ich denke, die Frauen, die das Problem erkennen, müssen kämpfen. Das ist eine der Aufgaben, die wir uns in der Koordinationsgruppe, dem Femsowjet, stellen. Wir meinen, dass die belarussische Gesellschaft eine patriarchale Gesellschaft ist. Natürlich verändert sich jetzt etwas, aber das bedeutet nicht, dass es morgen keinen Sexismus mehr gibt und alle Männer aufhören, Frauen herablassend zu behandeln. Deswegen ist es sehr wichtig, dass die Frauen, die sich dessen bewusst sind – die Feministinnen -, die anderen Frauen darin bestärken, sich zu vereinen und ihre Interessen und Probleme zu artikulieren. Ihnen dabei helfen, zu verstehen und daran zu glauben, dass ihre Probleme einer Erörterung wert sind. Ich wiederhole, diese Probleme betreffen die gesamte Gesellschaft. Häusliche Gewalt ist nicht nur das Problem der Frauen.
Warum ist die Gleichheit der Geschlechter so wichtig?
Wenn Männer und Frauen in der Gesellschaft nicht gleichgestellt sind, wie sollen sie dann in anderen Gruppen kooperieren? In Gruppen unterschiedlichen Alters, im Beruf? Wie werden sie sich als Partner erkennen, wenn sie der Meinung sind, dass eine Frau einem Mann in vielerlei Hinsicht unterlegen ist? Deshalb wird die Gleichstellung der Geschlechter in demokratischen Ländern so sehr verteidigt – sie ist wichtig für die gesamte gesellschaftliche Ordnung.
Und die letzte Frage, Olga: Wer ist Ihr Präsident?
Für mich ist der Präsident oder die Präsidentin eher eine technische Figur. Ich wiederhole es: Der Präsident, so würde ich sagen, ist einer oder oder eine von uns. Ein Mensch, der sensibel und offen ist für die Probleme der unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen. Der Präsident muss nicht in erster Linie ein guter Manager, sondern ein guter Kommunikator sein, jemand, der zuhört und bereit ist, Kompromisse einzugehen. Er steht für bestimmte Werte, und für mich sind diese Werte verbunden mit einer inklusiven Gesellschaft.
Haben Sie eine bestimmte Person aus unseren Kreisen im Blick?