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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Wir haben absolut nichts gegen Russland“

    „Wir haben absolut nichts gegen Russland“

    Seit dem 9. August dauern die Proteste in Belarus an – am Wochenende gingen wieder zehntausende in Minsk auf die Straße, auch am Mittwoch hat es massive Proteste gegeben: Nach der im Geheimen durchgeführten Vereidigung Lukaschenkos ist die Polizei mit Wasserwerfern und Tränengas gegen Demonstranten vorgegangen. Von Anfang an waren die Demonstrationen weder antirussisch noch pro-westlich, sondern richteten sich gegen die Fälschungen bei der Präsidentschaftswahl und gegen Lukaschenko. So fordern die Demonstranten, Swetlana Tichanowskaja als eigentliche Wahlsiegerin anzuerkennen.

    Unterdessen ergibt sich in einem gewissen Sinne dennoch eine Lagerbildung: Lukaschenko bat Russland um Hilfe, während Swetlana Tichanowskaja im EU-Ausland Exil suchen musste. Vergangene Woche hat Alexander Lukaschenko sich in Sotschi mit Putin getroffen, der Belarus einen Kredit in Höhe von 1,5 Milliarden US-Dollar gewährte. 
    Eine Woche später trafen die EU-Außenminister Swetlana Tichanowskaja in Brüssel – allein, dass sie sich mit ihr an einen Tisch setzen, hat hohen Symbolwert. Geplante und von Tichanowskaja geforderte Sanktionen gegen das belarussische Regime scheitern jedoch bislang am Veto Zyperns. Moskau verurteilte das Treffen als Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Belarus.

    Das russische Wirtschaftsmagazin RBC, das seinen einstigen Ruf als Vorreiter des unabhängigen Journalismus nach einem Eigentümerwechsel inzwischen eingebüßt hat, hat Tichanowskaja vor dem Brüsseler Treffen online interviewt. Tichanowskaja spricht dabei über ihre eigene Rolle – sie sei mit dem Versprechen für Neuwahlen angetreten, nicht als künftige Präsidentin. Gleichzeitig kann man an einzelnen Äußerungen Tichanowskajas in dem russischen Medium durchaus ablesen, dass sie das „Einmaleins der Diplomatie“ inzwischen beherrscht – wie sie selbst ganz offen sagt. 

    Alexander Atassunzew: Sie hatten bislang noch keinen Kontakt zu offiziellen Vertretern aus Moskau. Warum?

    Swetlana Tichanowskaja: Diese Frage kann ich nicht beantworten. Das entscheidet ja jedes Land selbst. Die einen unterstützen uns, andere nicht. Aber natürlich ist Russland ein befreundetes Land, und ich weiß, dass die Russen, das heißt die Menschen dort, die Belarussen unterstützen. Wir bedauern es natürlich sehr, dass Herr Putin Lukaschenko unterstützt hat und nicht das belarussische Volk. Doch wir sind immer offen, unser Koordinationsrat ist immer offen für einen Dialog. Auch ich bin offen für einen Dialog mit Vertretern der Russischen Föderation.

    Ich bitte Sie, in mir nicht die zukünftige Präsidentin von Belarus zu sehen, denn als die bin ich nicht angetreten

    Warum sieht Moskau in der Politik von Swetlana Tichanowskaja nicht das, worauf man bauen will? Worin besteht Ihrer Meinung nach das Problem?

    Ich bitte Sie, in mir nicht die zukünftige Präsidentin von Belarus zu sehen, denn als die bin ich nicht angetreten. Mein Wahlprogramm bestand aus drei Punkten, von denen der wichtigste die Durchführung neuer, ehrlicher und transparenter Wahlen war. Und erst bei diesen Wahlen wird der Präsident gewählt. Ich bin mir sicher, dies wird eine äußerst starke Führungspersönlichkeit sein, mit der Herr Putin gemeinsame Verhandlungs- und Gesprächsthemen auf Augenhöhe finden wird, falls er mich nicht als Menschen sieht, mit dem er sprechen kann.

    Worin besteht der Sinn der regelmäßigen und recht häufigen Treffen mit Vertretern der Europäischen Union? Als Reaktion intensiviert Lukaschenko doch nur die Bindung an Russland, schließt die Grenzen zur EU und kontrolliert die Grenzen zur Ukraine stärker. Meinen Sie nicht, dass Ihre ständigen Kontakte zur EU Moskau verschrecken und Anlass geben zu sagen, dass Ihnen da jemand den Rücken stärkt.

    Ich würde nicht sagen, dass es häufige Treffen sind. Sie finden je nach Notwendigkeit und Bedarf statt. Treffen mit Staatsoberhäuptern gibt es nicht täglich, nicht mal wöchentlich. Ich glaube nicht, dass Russland da etwas befürchtet.

    Unser sogenannter Präsident hat noch nie adäquat auf Europa reagiert

    Ich sehe auch keine Verbindung zwischen diesen Treffen und Lukaschenkos Verschärfung der repressiven Maßnahmen, denn unser sogenannter Präsident hat noch nie adäquat auf Europa reagiert. Doch wir sind gezwungen, adäquat zu reagieren, denn uns geht es vor allem um die Unterdrückung der Menschenrechte in Belarus. Die Repressionen gehen weiter und werden stärker, denn die Belarussen sind aufgewacht und haben beschlossen, für ihre Rechte zu kämpfen. Denn genau aus diesem Grund können sie nicht länger so leben und nicht aus dem Grund, weil wir uns mit Vertretern der Europäischen Union treffen.

    Ich möchte Sie daran erinnern, dass Herr Lukaschenko uns noch vor ein paar Monaten [während des Wahlkampfs – dek] beschuldigt hat, wir würden aus Russland gelenkt werden und dass der Kreml uns in der Hand habe. Und jetzt hat dieser Mensch seine Meinung um 180 Grad geändert. Plötzlich finanzieren uns angeblich die USA und diverse andere Strippenzieher, Lettland, Polen, und jetzt ist auch schon die Ukraine mit von der Partie.

    Wissen Sie, Wladimir Putin ist trotz allem eine kluge Führungsperson. Ihm ist klar, dass alles, was da geredet wird, die Fantasien eines einzelnen Mannes sind. Und er weiß genau, dass wir immer gesagt haben: Wir sind offen für einen Dialog. Und dass wir, ich meine das belarussische Volk, niemals Russland den Rücken zukehren würden. Wir sind befreundete Länder, und das wollen wir auch bleiben.

    Wissen Sie, Wladimir Putin ist trotz allem eine kluge Führungsperson. Ihm ist klar, dass alles, was da geredet wird, die Fantasien eines einzelnen Mannes sind

    Wir hätten gern von allen Ländern Unterstützung in unserem Kampf dafür, dass das Volk über die Zukunft des Landes entscheidet. Denn wir kämpfen für das Recht zu wählen, mit wem wir unser Land aufbauen wollen. Das ist kein prowestlicher oder prorussischer Kampf, das ist das Aufstehen gegen einen Mann, zu dem unsere Leute das Vertrauen und vor dem sie die Achtung verloren haben und mit dem wir weder weiter leben noch weiter arbeiten wollen. Das hat weder etwas mit Herrn Putin noch mit der Ukraine noch mit irgendwelchen anderen Ländern zu tun. 

    Sprechen Sie denn auf den Treffen mit den EU-Vertretern über mögliche Wirtschaftshilfen für Belarus, etwa durch einen Stabilisierungskredit für den Fall, dass die Opposition siegen sollte? Und wenn ja, wie und zu welchen Bedingungen soll das geschehen?

    Ja. Belarus wird für die Stabilisierung und die wirtschaftliche Entwicklung Hilfe brauchen. Wir haben darüber mit vielen Staatsoberhäuptern und internationalen Organisationen gesprochen, auch mit potentiellen Investoren. Es gibt Interesse und den Wunsch zu helfen. Der Ministerpräsident von Polen machte den Vorschlag eines Marschallplans für Belarus. Wir begrüßen alle Vorschläge, die auf die Entwicklung unseres Landes abzielen. Die Bedingungen und Formen der Unterstützung sollen Experten vereinbaren, und ich weiß, dass sie schon in die Richtung arbeiten.

    Warum sind auf Ihrer Website Links aufgetaucht zu einem Reanimationsmaßnahmen-Paket, das unter anderem den Austritt von Belarus aus der OVKS vorsieht, aus der Russisch-Belarussischen Union, der Eurasischen Wirtschaftsunion und so weiter? 

    Da verblüffen Sie mich jetzt aber, denn es kann nicht sein, dass von unserer Website, die für Swetlana Tichanowskaja und ihren Wahlkampf erstellt wurde, auf so etwas verlinkt wurde – das hätte ich nicht zugelassen, und ich habe auch nichts davon gehört. Von solchen Ideen habe ich erstmals von Staatsbeamten gehört, die diesen Unsinn verbreitet haben. Das kann jedenfalls nicht stimmen. Mein Programm besteht aus drei Punkten. Wenn irgendwann irgendwo irgendwas aufgetaucht ist, dann hat das mit mir überhaupt nichts zu tun. 

    Finden Sie die Ideen des Reanimationsmaßnahmen-Pakets gut? Entrussifizierung, Austritt des Landes aus Bündnissen mit Russland und so weiter?

    Diese Frage kann ich nicht beantworten, denn bei solchen Fragen muss das belarussische Volk mitentscheiden. Es gibt viele Fragen, in die die Meinung der Menschen einfließt, und wenn der neue Präsident der Republik Belarus einmal solche Entscheidungen treffen muss, dann werden die Menschen darüber abstimmen, sie werden ihre Meinung äußern, und Entscheidungen werden nur unter Berücksichtigung dieser Meinung getroffen werden. 

    Wir haben absolut nichts gegen Russland. Das ist nur die künstlich aufgeblasene Meinung eines Einzelnen

    Vor dem Treffen von Putin und Lukaschenko [in Sotschi am 13. September 2020 – dek] haben Sie angekündigt, dass alle Verträge, die Moskau und Minsk jetzt schließen, ihre Gültigkeit verlieren, falls Sie an die Macht kommen. 

    Ich habe gesagt, dass ich sie überprüfen werde. Weil das belarussische Volk jetzt kein Vertrauen zu Herrn Lukaschenko hat. Sie betrachten ihn nicht als ihren Präsidenten. Sobald ein neuer, gesetzlich gewählter Präsident sein Amt antritt, werden diese Abkommen, wenn sie Belarus, der belarussischen Wirtschaft oder dem belarussischen Volk irgendwie schaden, natürlich abgeändert. Der zukünftige, gesetzlich gewählte Präsident wird natürlich das Recht haben, Abkommen mit allen Ländern neu zu verhandeln. Wir wollen jetzt nicht ins Detail gehen, ob Russland, die Ukraine oder sonst ein Land – das gilt für alle Länder. 
    Sie müssen verstehen, wir haben absolut nichts gegen Russland. Das ist nur die künstlich aufgeblasene Meinung eines Einzelnen. 

    Es geht um die Verträge, die nach dem 9. August 2020 [dem Tag der belarussischen Präsidentschaftswahl – dek] abgeschlossen wurden. Ist das der Zeitpunkt, ab dem sich, wie Sie sagen, das Volk von Alexander Lukaschenko abgewandt hat?

    Ganz genau. 

    Sie haben außerdem erklärt, die zukünftigen belarussischen Machthaber hätten das Recht, den jetzt von Russland gewährten Kredit über 1,5 Milliarden Dollar nicht zurückzuzahlen. Finden Sie das wirklich?

    In den Augen der Menschen hat Lukaschenko keine Legitimität, sie haben ihn nicht gewählt. Wenn dieser Mensch einen Kredit aufnimmt und die Belarussen sollen ihn zurückzahlen, obwohl sie diese Person gar nicht anerkannt haben und nicht anerkennen werden, wovon reden wir dann? Natürlich ist das ein emotionales Statement, kann sein, aber ich habe es gemacht, weil wir in Wirklichkeit alle wissen, wofür dieses Geld verwendet wird. Für die Vernichtung der eigenen Leute. Sie kaufen damit kugelsichere Westen. Gegen wen müsst ihr euch verteidigen? Gegen unbewaffnete Menschen?

    Dieses emotionale Statement habe ich gemacht, weil wir wissen, dass dieses Geld für die Vernichtung der eigenen Leute ausgegeben wird

    „Den Kredit zahlen wir nicht ab, die Abkommen erkennen wir nicht an“ und so weiter – glauben Sie nicht, dass Ihre Aussagen Moskau erst recht anspornen, Lukaschenko vorbehaltlos zu unterstützen? 

    Das weise Moskau denkt nicht so. Denen ist klar, dass man heutzutage alles im Dialog lösen kann, zu dem wir die derzeitige sogenannte Staatsmacht von Belarus gerade einladen. Und genauso werden alle anderen Fragen im Dialog gelöst werden. Zwischenstaatliche Fragen und Fragen bezüglich der Abkommen, die in diesem Zeitraum geschlossen wurden. Das heißt nicht, dass wir alle Verpflichtungen ignorieren, keineswegs. Aber der Punkt ist, dass nur der Dialog aus dieser Situation herausführen kann. Und für uns, die Mehrheit, ist es natürlich schwer zu sagen, dass Wladimir Putin die Meinung der belarussischen Mehrheit nicht berücksichtigt hat. Weil ihm klar sein muss, dass Lukaschenko die Situation nicht mehr im Griff hat. Und als weiser Anführer sieht Herr Putin das alles.
    Das Entscheidende ist, dass dieser Konflikt ein innerer ist, und wir bitten die Länder, sich nicht in unsere inneren Angelegenheiten einzumischen. Weil dieses Problem ohne äußere Einmischung viel schneller zu lösen wäre. 

    Warum sprechen Sie von der Weisheit Moskaus und schließen aus, dass Wladimir Putin annimmt, dass Sie in der Minderheit sind oder dass Sie NATO-Stützpunkte in Belarus wollen?

    Ich könnte auch etwas anderes sagen, aber ich habe mir das Einmaleins der Diplomatie schon ein wenig angeeignet – das musste ich –, daher sage ich es genau so.

    In einem Interview sagten Sie, Lukaschenko bekäme im Fall seines friedlichen Rücktritts eine Garantie auf Immunität. In einem anderen Interview sagten Sie dagegen, er hätte sich für die Verbrechen der Silowiki zu verantworten. Welche Zukunft sehen Sie denn nun für Lukaschenko? 

    Bei dieser Frage gerate ich immer ein wenig ins Schlingern, weil ich auch nur ein Mensch bin und meine eigene Haltung dazu habe. Aber ich verstehe, dass es Leute gibt, die von den Ereignissen seit dem 9. August besonders betroffen sind, deren Angehörige getötet wurden, die diesem Menschen niemals verzeihen werden, und sie wären absolut dagegen, dass er diese Garantie bekommt. Und daher schlagen bei dieser Frage immer zwei Herzen in meiner Brust. Was kann ich da antworten als Vertreterin aller und für mich persönlich?

    Das Entscheidende ist, dass dieser Konflikt ein innerer ist, und wir bitten die Länder, sich nicht in unsere inneren Angelegenheiten einzumischen

    Wahrscheinlich ist die richtige Antwort: Wenn es keine weiteren Opfer gibt, dann kann und wird diese Frage zum Gegenstand von Verhandlungen werden. Wenn wir uns an einen Tisch setzen, können wir das alles diskutieren. 

    Sie werden das letzte Wort haben, wenn Sie Präsidentin werden.

    Nein, das letzte Wort wird ein faires Gericht haben. 

    Wie kann es ein Gericht geben, wenn eine Garantie auf Immunität gewährt wird?

    Da sehen Sie es, es ist klar, dass solche Verbrechen unverzeihlich sind. Wir wollen nicht, dass auch nur ein Tropfen Blut fließt. Daher sind unsere Demonstrationen prinzipiell friedlich. Daher kann die Frage der Immunität unter der Bedingung, dass es keine weiteren Opfer gibt, Gegenstand von Verhandlungen werden. 

    Warum kehren Sie nicht nach Belarus zurück?

    Ich fühle mich dort nicht sicher. Sogar wenn man sich in keiner Weise schuldig macht, denken sie sich irgendeinen Paragrafen für dich aus, dazu braucht es nicht viel. Ich bin ja nicht aus freien Stücken im Ausland. Wenn man bei uns offen reden und seine Position zum Ausdruck bringen könnte, glauben Sie, dann würde irgendjemand auswandern? Es würden natürlich alle in ihrer Heimat bleiben und von dort aus predigen und ihre Meinung kundtun. Wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, glauben Sie mir, ich wäre geblieben, ich hätte keine Minute überlegt. 

    Finden Sie nicht, dass Sie sich seit dem Wahltag stark verändert haben? Am 9. August haben die Menschen für eine Swetlana Tichanowskaja gestimmt, die ihnen eine Volksabstimmung versprochen hat. Jetzt sind Sie zur Politikerin geworden mit eigener Meinung zu vielen internationalen Fragen. Obwohl die Belarussen damals eigentlich keine Politikerin gewählt haben. 

    Natürlich war ich gezwungen, in sehr kurzer Zeit einiges zu lernen, und ich lerne weiter, das Leben verlangt mir das gerade ab. Aber meine Position in Bezug auf Belarus hat sich überhaupt nicht verändert. Dass wir beginnen müssen, gemeinsam mit den Menschen ein neues, demokratisches Land aufzubauen, das sehe ich nach wie vor so. Und ich weiß, dass mich die Leute als Symbol für den Wandel gewählt haben, auch wenn das pathetisch klingt. Weil alle wussten, dass ich mein Versprechen halten würde, dass, wenn sie Tichanowskaja wählen, was die Mehrheit auch gemacht hat, es Neuwahlen geben wird, in denen sie einen richtig starken Ökonomen, einen Politiker wählen. Das wird dann ein Wettkampf unterschiedlicher Programme sein, aber er wird fair und transparent sein. 

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  • Petersburger Trolle im US-Wahlkampf

    Petersburger Trolle im US-Wahlkampf

    Hat der Kreml die US-Wahl 2016 beeinflusst? Gerüchte gibt es schon länger, auch die US-amerikanischen Geheimdienste werfen Russland vor, die Wahl manipuliert zu haben. Ihr Hauptverdächtiger ist die sogenannte Trollfabrik, die unter dem Dach der St. Petersburger Nachrichtenagentur Glawset wirken soll. Untergebracht in einem unscheinbaren Gebäude an der Uliza Sawuschkina, soll sich hier demnach eine Zentrale für die nahezu industrielle Produktion von Falschinformationen befinden.

    Nun bringt die Nachrichtenplattform RBC Licht in diese „Trollhöhle“ und recherchierte zu wichtigen Fragen: Wer steckt hinter der Kampagne zur US-Wahl? Wie teuer war sie? Der vielbeachtete investigative Artikel deckt die Mechanismen hinter der Aktion auf. 

    Uliza Sawuschkina 55 –  seit vier Jahren Sitz einer Trollfabrik? / Foto © Alexander Korjakow/Kommersant
    Uliza Sawuschkina 55 – seit vier Jahren Sitz einer Trollfabrik? / Foto © Alexander Korjakow/Kommersant

    22. Oktober 2016. Die Stadt Charlotte im US-Bundesstaat North Carolina. Es ist ein sonniger Samstag. Einige Dutzend Menschen sind in den Central Park der Stadt gekommen. Allerdings nicht zum Spazierengehen, sondern zu einer Demonstration der afroamerikanischen Bevölkerung gegen Polizeigewalt. Die Protestierenden rufen am Brunnen des Parks Parolen, dann ziehen sie friedlich zum Eingang der örtlichen Polizeistation. Auf der Eingangstreppe zur Polizeiwache rufen sie einige Male: „Black Lives Matter!“ Eine populäre Parole und der Name einer Organisation, die sich für die Rechte schwarzer US-Bürger einsetzt.

    Die Aktion in Charlotte war auf Facebook ordentlich beworben worden von der Gruppe BlackMattersUS, die mit der Organisation Black Lives Matter nichts zu tun hat. Die Verbindungen von BlackMattersUS reichen weit über die Grenzen der USA hinaus – bis nach Russland in die Uliza Sawuschkina 55 in St. Petersburg.

    Diese Adresse im Primorski-Bezirk ist schon lange ein feststehender Begriff. Vor rund drei Jahren sind in das vierstöckige Gebäude in der Uliza Sawuschkina einige hundert junge Leute eingezogen, deren Hauptaufgabe es ist, patriotische Werte zu propagieren. Die Arbeit der Mitarbeiter dieser Trollfabrik (im Weiteren kurz: Fabrik), gegründet und finanziert vermutlich von dem Petersburger Geschäftsmann Jewgeni Prigoshin, bestand vor allem darin, unter fiktiven Namen non-stop Kommentare in Blogs und Sozialen Netzen des russischen Internet zu schreiben. Sie sollten das gegenwärtige Regime verteidigen, Oppositionelle kritisieren und politisch willkommene öffentliche Events unterstützen.

    Die Trollfabrik in der Uliza Sawuschkina

    Bald schon wurden in der Fabrik die anfänglich primitiven Methoden weiterentwickelt. Ungefähr zu dieser Zeit entstanden die ersten Portale, die dann zum Kern des Medien-Anteils der Organisation wurden, der sogenannten „Medienfabrik“. Eine komplette patriotische Holding, über die RBC im März 2017 berichtet hat und die mittlerweile monatlich über 50 Millionen Menschen erreicht.

    Bis Mitte 2015 war die Fabrik auf 800 bis 900 Leute angewachsen. Auch das Instrumentarium hatte sich erweitert, hinzugekommen waren Videos, Infografiken, Meme, Reportagen, Nachrichtenmeldungen, Interviews, analytische Beiträge und eigene Gruppen in den Sozialen Netzwerken. Im Januar 2017 wurde dann in einem Bericht der US-amerikanischen Geheimdienste über die Einmischung Russlands in die US-Präsidentschaftswahlen neben dem Fernsehsender RT  [Russia Todaydek] die Agentur für Internetrecherchen erwähnt. Mutmaßlich war dies eine der ersten juristischen Personen im Rahmen der Trollfabrik (die hatte ihre Tätigkeit 2015 eingestellt und war Ende 2016 aus dem Handelsregister gestrichen worden). Bald nach der Wahl Donald Trumps wurden im US-Kongress und im Senat eine Reihe von Ausschüssen eingesetzt, die die Vorkommnisse untersuchen sollten.

    US-amerikanische Firmen wie Facebook, Twitter oder Google arbeiten mit den Behörden zusammen und forschen auf ihren Plattformen nach Trollen. Westliche Medien, unter anderem The Wall Street Journal, The New York Times, CNN und The Daily Beast veröffentlichen fast täglich neue Details zu einer möglichen russischen Einmischung in die Präsidentschaftswahlen. Es werden immer neue Social-Media-Gruppen gefunden, die vor und nach den Wahlen aktiv waren, sowie Aufrufe und Veranstaltungen, die mit ihnen in Verbindung standen. Als Grundlage dieser Berichte dienen zuweilen einzelne Bilder und Videos gesperrter Gruppen.

    RBC hat jetzt eigene Recherchen angestellt. Es ist uns gelungen, die Beteiligung von Mitarbeitern aus der Uliza Sawuschkina an 120 Gruppen und Themen-Accounts in Sozialen Medien aufzudecken und deren Existenz zu belegen, ihren Inhalt zu analysieren und die Gesamtausgaben für diese Kampagne zu berechnen. Rechtfertigt das Ausmaß der Auslandstätigkeit der Trollfabrik die Hysterie, die in den USA darum entstanden ist?

    Es wurden nur Möglichkeiten getestet, es war ein Experiment. Und es hat funktioniert

    Frühjahr 2015. Ein paar Leute sind vor einem Bildschirm versammelt. Auf dem Monitor des Computers ist ein recht monotones Bild zu sehen: Menschen kommen auf einen Platz in New York, lassen den Blick schweifen, schauen auf ihre Telefone, schauen sich noch einmal um und gehen nach einiger Zeit weg.

    Einige Tage zuvor war auf Facebook mit einem Targeting auf die Bewohner von New York ein Event beworben worden: Man bekommt kostenlos einen Hotdog, wenn man zur richtigen Zeit am festgelegten Ort erscheint. Allerdings hat letztendlich niemand irgendein Würstchen bekommen. Dafür hatten andere Leute ihren Spaß: Mit Hilfe städtischer Überwachungs-Webcams wurde das Geschehen auf dem Platz online verfolgt, von St. Petersburg aus, aus einem Büro im ersten Stock der „Trollhöhle“.

    Die Aktion sollte die Praxistauglichkeit einer Hypothese prüfen, nämlich, ob sich aus der Ferne eine Aktion in einer US-amerikanischen Stadt organisieren lässt. „Es wurden nur Möglichkeiten getestet, es war ein Experiment. Und es hat funktioniert“, erinnert sich ein Mitarbeiter der Fabrik, ohne seine Freude zu verhehlen. An jenem Tag, also fast anderthalb Jahre vor den Präsidentschaftswahlen in den USA, begann die eigentliche Arbeit der Trolle in der amerikanischen Internet-Community.

    Im März 2015 wurde auf dem Portal Super Job eine freie Stelle als „Internet-Operator (nachts)“ ausgeschrieben. Für ein Gehalt zwischen 40.000 und 50.000 Rubel [etwa 590 und 740 Euro – dek] und mit Arbeitszeiten von 21.00 bis 9.00 Uhr (nach dem Schema „zwei Nächte arbeiten, zwei Tage frei“) wurde ein Mitarbeiter für ein Büro im Primorski-Bezirk gesucht: Zu den Aufgaben gehört das Verfassen von „nachrichtlich-informierenden und analytischen“ Beiträgen „zu einem vorgegebenen Thema“. Gefordert wird unter anderem „fließendes Englisch in Wort und Schrift“ sowie Kreativität.

    Die freie Stelle wurde von der Petersburger Firma Internet-Issledowanija [dt. Internet-Recherche – dek] angeboten. Als Besitzer dieser Firma wurde damals Michail Bystrow geführt, ehemaliger Leiter der Verwaltung des Innenministeriums für den Moskowski-Bezirk von St. Petersburg. Er leitete auch die Agentur für Internetrecherchen und steht bis heute an der Spitze von Glawset, registriert unter der Adresse Uliza Sawuschkina 55 (Angaben von SPARK-Interfax).

    Über Anzeigen dieser Art wurden in der Uliza Sawuschkina Leute rekrutiert, die die amerikanischen Social-Media-Gruppen in Echtzeit bearbeiten sollten, berichtet ein ehemaliger Mitarbeiter der Fabrik gegenüber RBC. Ein anderer ehemaliger Mitarbeiter ergänzt, dass seit Frühjahr 2015 zum Arbeitsfeld auch die „Diskreditierung der Kandidaten“ gehörte, die bei den Präsidentschaftswahlen in den USA antraten.

    Wenn Facebook die Accounts der Trolle sperrt, kauft die IT-Abteilung Proxy-Server, teilt neue IP-Adressen zu, schafft virtuelle Betriebssysteme, und die Arbeit beginnt von Neuem, berichtet ein ehemaliger Mitarbeiter der Fabrik. Auch kaufen sie neue SIM-Karten oder Cloud-Nummern, es werden neue Zahlungskonten eröffnet und manchmal auch Dokumentenpakete zur Registrierung von Accounts, ergänzt ein Gesprächspartner von RBC aus der Fabrik. Für die IT-Versorgung werden monatlich bis zu 200.000 Rubel [knapp 3000 Euro – dek] ausgegeben, führt eine Quelle aus, die mit der Vorgehensweise der Organisation vertraut ist.

    Einen sehr viel umfangreicheren Ausgabenposten stellen die Gehälter dar. Bis zum Sommer 2016, also innerhalb eines Jahres, hatte sich die Zahl der Mitarbeiter der Amerika-Abteilung in der Uliza Sawuschkina fast verdreifacht, auf 80 bis 90 Personen. Das sind rund zehn Prozent derjenigen, die der Fabrik zugeordnet werden können.

    Die Köpfe der Trollfabrik

    Chef der gesamten Fabrik ist de facto der 31-jährige Michail Burtschik, wie RBC berichtet hatte. Er war früher Besitzer der IT-Firmen VkAp.ru und GaGaDo und Herausgeber kommunaler Zeitungen. Burtschik hat nie offiziell bestätigt, dass er Chef der Fabrik sei oder im Büro in der Uliza Sawuschkina arbeite.

    Gegenüber RBC meinte er jedoch, dass er Medien berate, „als Fachmann für die Förderung und Entwicklung von Internet-Projekten“. Burtschik hat mit etwa 20 bis 30 Leuten zu tun, die ihrerseits wiederum, je nach Aufgabenbereich, Teams von zehn bis 100 Mitarbeitern leiten, beschreibt ein Informant der Fabrik das Arbeitsmodell.

    Auf die Frage, wer die Amerika-Abteilung leite, nannten Gesprächspartner gegenüber RBC einhellig den 27-jährigen in Aserbaidschan geborenen Ceyhun Aslanov. Einem Korrespondenten von RBC gegenüber hat Aslanov diese Information dementiert. Als Quellen dienten RBC ein aktueller Mitarbeiter der Fabrik, ein ehemaliger Mitarbeiter der Amerika-Abteilung sowie eine Person, die mit der Tätigkeit der Organisation vertraut ist. Neben diesen mündlichen Angaben liegt RBC noch eine Mitteilung aus einem Telegram-Chat vor, die Aslanov verfasst hat und in der es um die Zwischenergebnisse der Fabrik-Arbeit in den USA geht.
    Aslanov war Ende der 2000er Jahre aus der Stadt Ust-Kut (Gebiet Irkutsk) nach St. Petersburg gezogen, um dort an der Hydrometeorologischen Universität Wirtschaft zu studieren. 2009 verbrachte er einige Monate in den USA, besuchte dabei New York und Boston und fuhr 2011 nach London, wie aus den öffentlichen Informationen auf Aslanovs Profil bei Vkontakte hervorgeht. Aktuell gehören dem mutmaßlichen Leiter der Auslandsabteilung der Fabrik zwei Firmen mit Spezialisierung im Werbe- und Online-Geschäft. Eine der Firmen namens Asimut bietet Dienste an, mit denen Accounts in Sozialen Netzen gepusht werden, erzählte Aslanov und bot dem Korrespondenten von RBC sogar seine Hilfe an, um dessen persönliche Seiten hochzubringen.

    Eine Million Euro für Gehälter

    Ein beträchtlicher Teil des Content in den englischsprachigen Gruppen wurde auf Facebook mittels eingetakteter Postings veröffentlicht. Von der Gesamtbelegschaft der Auslandsabteilung arbeiteten rund zehn Mitarbeiter in Nachtschichten, die übrigen hatten eine normale Arbeitswoche (fünf Arbeitstage, zwei Tage frei). Der Budgetposten für die Gehälter der Amerika-Abteilung in der Uliza Sawuschkina liegt bei 60 bis 70 Millionen Rubel [knapp eine Million Euro – dek] jährlich. Trolle der unteren Ebene erhalten rund 55.000 Rubel [etwa 800 Euro – dek] (plus Prämien, wenn Mitglieder der Gruppen reagieren), Administratoren verdienen 80.000 bis 90.000 [etwa 1200 Euro – dek] und Führungskräfte 120.000 [1700 Euro – dek] aufwärts. Diese Zahlen nennen ein ehemaliger und ein aktueller Mitarbeiter der Fabrik.

    RBС liegt eine Liste mit fast 120 Gruppen und Themen-Accounts auf Facebook, Instagram oder Twitter vor, die bis zum August 2017 aktiv waren. Die Echtheit dieser Liste wird durch Screenshots mit Posts der Gruppen und der einzelnen Accounts bestätigt, die von den internen Panels der Administratoren aus gemacht wurden (ebenfalls gesperrt). Der Mitwirkung der Trolle an dieser Liste wurde RBC von einem Informanten aus dem engeren Umfeld der Fabrik-Leitung bestätigt. Darüber hinaus ist über die Hälfte der Twitter-Accounts auf Telefonnummern mit der russischen Ländervorwahl +7 registriert, wie aus der Passwortwiederherstellung hervorgeht.

    Zusätzlich hat RBC Linguisten gebeten, sieben Veröffentlichungen aus den Social-Media-Gruppen zu analysieren, die auf der Liste stehen. Die Autoren der Posts waren in vielen Fällen Russen. Ronald Meyer, Adjunct Associate Professor an der Columbia-Universität, und seine Kollegin Alla Smyslova, Direktorin des Programms für russischen Spracherwerb, haben hierfür „hinreichend Belege“ gefunden. Sie verwiesen auf wörtliche Übersetzungen aus dem Russischen (z. B.: „sitting on welfare“ – sidet’ na possobii / auf Stütze sitzen), auf Fehler in der Zeichensetzung ( Kommata vor „that“), auf fehlende Artikel und überhaupt auf „merkwürdige“ Formulierungen.

    Jekaterina Tschegnowa, Direktorin der Sprachenschule Star Talk, und der Englischlehrer Dimitri Bulkin meinten allerdings, dass die Publikationen in „recht sauberem Englisch“ geschrieben seien. Deshalb könne man davon ausgehen, dass die Verfasser Muttersprachler seien. Zum Teil könnte das damit zusammenhängen, dass die Trolle immer wieder Teile ihrer Posts von „echten“ US-Amerikanern übernehmen.

    Weniger als 100 Personen haben wöchentlich mehr als 1000 Beiträge verfasst und gepostet. Die Reichweite betrug beispielsweise im September 2016 durchschnittlich 20 bis 30 Millionen Nutzer. Wie ist es den Trollen gelungen, die User für ihre Fabrik-Inhalte zu interessieren?

    Das Erfolgsrezept der Trollfabrik

    Am 28. Februar 2017 hat sich Trump-Spitzenberaterin Kellyanne Conway bei einem Staatsempfang im Oval Office des Weißen Hauses mit Schuhen auf ein Sofa gekniet. Das Bild löste in den Sozialen Netzwerken einen Sturm der Entrüstung aus: Sie in dieser Position im Vordergrund und der Präsident im Hintergrund, wie er gerade mit den Direktoren der speziell für die schwarze Bevölkerung gegründeten afroamerikanischen Colleges und Hochschulen (HBCU) vor den Kameras posiert. Conway sei Respektlosigkeit gegenüber dem Oval Office, dem US-amerikanischen Volk und seinem Präsidenten vorgeworfen worden, hieß es in der BBC.   

    Am selben Tag reagierte die Bloggerin Jenn Abrams mit zwei Tweets auf die Kritik an Conways Verhalten: Ein Bild zeigte den Ex-Präsidenten Barack Obama mit den Füßen auf dem Tisch, das zweite wiederum den ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton mit Monica Lewinsky im Arm. Beide Fotos wurden im Oval Office gemacht. Diese Beiträge bekamen insgesamt circa 1000 Retweets, 1,3 Millionen Likes und wurden von der britischen Zeitung Independent aufgegriffen. Backlinks zu Abrams Beiträgen wurden von RBC unter anderem auf den Webseiten von Aljazeera, Elle, Business Insider, BBC, USA Today und Yahoo gefunden. Der Account @Jenn_Abrams, der unter einer Telefonnummer mit der Vorwahl +7 registriert wurde, und die Homepage Jennabrams.com sind aktuell nicht verfügbar.

    Die Fabrik hatte Dutzende von Accounts wie den von „Jenn Abrams“. Um die zehn Mitarbeiter der amerikanischen Abteilung waren für Twitter zuständig. Ihre Aufgaben hätten nicht den Wahlkampf selbst betroffen, sondern im Einrichten von Accounts und im Durchführen von Flashmobs bestanden, die von großen Medien und zentralen Medienpersonen aufgegriffen werden sollten, erzählt ein Mitarbeiter der Fabrik.

    Mehr Clinton als Trump

    Laut einer Quelle aus dem Umfeld der Fabrik-Leitung wurde fast der gesamte US-bezogene Content der Fabrik weniger zugunsten eines konkreten Kandidaten als zu „sozial brisanten Themen“ erstellt. Es sei quasi rein zufällig zu Übereinstimmungen mit Trumps Rhetorik gekommen, was ein Informant als „Korrelation“ und nicht etwa als direkte Unterstützung bezeichnet.

    „Wir hatten nicht den Auftrag, Trump zu unterstützen. Alle Probleme waren unmittelbar auf die Arbeit der damaligen Regierungspartei [der Demokraten Anm. d. Red.] zurückzuführen. Als ihre Vertreterin trägt Hillary [Clinton Anm. d. Red.] eine Mitschuld“, sagt ein anderer. Die Analyse hunderter Publikationen ergab, dass Clinton in den Posts der Trolle wesentlich öfter vorkam als Trump.

    „Teilt das, wenn ihr glaubt, dass Muslime an 9/11 unbeteiligt waren. Seht euch an, wie viele Menschen die Wahrheit kennen“ (Post von United Muslims of America vom 11. September 2016). „Clinton besteht darauf: ‚Wir haben keinen einzigen Amerikaner in Libyen verloren‘. Die vier mit Fahnen zugedeckten Särge waren nicht leer, Hillary“ (Being Patriotic zu Clintons Verhalten ob der nationalen Tragödie vom 8. September 2016). In einer Stellungnahme hat Facebook darauf hingewiesen, dass ein Großteil der gesperrten Beiträge Themen wie LGBT, Rassismus, Immigration oder Waffenbesitz betraf und „das ganze ideologische Spektrum umfasste“.   

    Die Gesamtzahl der Fans und Follower der etwa 120 gesperrten Gruppen und Accounts betrug nahezu sechs Millionen, nach Berechnungen von RBC waren davon über die Hälfte auf Facebook und ein Drittel auf Instagram. Unterteilt man die gesperrten Gruppen nach Themen, so wird deutlich, dass die Trolle meistens politische Konflikte anheizten, und ethnische, vor allem mit Bezug auf die Probleme der schwarzen US-Bevölkerung. Insbesondere für die massenhafte Streuung dieser Themen wurde das Marketingbudget in Sozialen Netzwerken verwendet.

    „Es ist verboten, mich im Fernsehen zu zeigen, weil ich zu gewalttätig war. Klick auf Gefällt mir und Teilen, wenn du mich als Kind im Fernsehen gesehen hast, eine Pistole besitzt und niemanden angeschossen oder umgebracht hast!“ Dieses Posting wurde am 9. März in der Facebook-Gruppe South United veröffentlicht. Inmitten des Textes ist ein Bild, das die Zeichentrickfigur Yosemite Sam zeigt. Die Reichweite dieses Beitrags betrug über 17 Millionen Nutzer, 1,6 Millionen haben darauf reagiert, lediglich 3000 Nutzer haben den Beitrag auf ihrer Chronik verborgen und neun haben ihn als Spam gemeldet, wie sich aus einem Screenshot schließen lässt.

    Die Zahl der Fabrik-Beiträge auf Facebook mit vergleichbarer Reichweite lässt sich an zwei Händen abzählen. Darunter war ein Post über Veteranen und Flüchtlinge, der in der Gruppe Being Patriotic über 17,2 Millionen Personen erreicht hat. Gerade mal an die 20 Posts hatten eine Reichweite von einer Million Nutzern. Nach Berechnungen von RBC sieht die Statistik bei Twitter ganz ähnlich aus. Es gibt zwar mehrere hundert Tweets, die zehntausende Views hatten, der Löwenanteil der Tweets hatte allerding bestenfalls 1000 Views.  

    Ein Marketingbudget von 5000 US-Dollar pro Monat

    Einer internen Statistik, die RBC vorliegt, kann man entnehmen, dass das Marketingbudget in Sozialen Netzwerken etwa 5000 US-Dollar pro Monat betrug, beziehungsweise 120.000 US-Dollar für den Zeitraum von insgesamt zwei Jahren. Diese Zahlen bestätigte ein Informant aus der Organisation gegenüber RBC.
    Der wesentliche Teil des Werbeetats der Fabrik war jedoch nicht etwa für die Promotion der Gruppen an sich vorgesehen, sondern für eine Potenzierung der Hotdog-Erfahrung.   

    Im Mai 2016 erhielt Micah White, ein bekannter amerikanischer Aktivist und Mitbegründer der Bewegung Occupy Wall Street, eine E-Mail von einem gewissen Yan Davis. Dieser gab sich als ein freier Mitarbeiter der Organisation BlackMattersUS aus, die sich den Problemen der afroamerikanischen Bevölkerung widmet, und bat um ein Telefoninterview. Der Aktivist willigte ein und gab ihm seine Nummer, die anschließende Unterhaltung kam ihm allerdings seltsam vor. „Die Verbindung war schlecht und ich glaube, der Interviewer war kein Muttersprachler“, erinnert sich White gegenüber RBC. White war 2014 vom Magazin Esquire zu einem der einflussreichsten Menschen unter 35 gekürt worden.

    Jetzt ist das Interview nur noch auf der Webseite BlackMattersUS verfügbar. Außer des Tumblr-Accounts sind die Seiten der Plattform auf Facebook, Twitter und Instagram mit insgesamt über 250.000 Fans und Followern nicht mehr aufrufbar. Auch das Facebook-Profil von „Yan Davis“ wurde deaktiviert. RBC hat versucht, die Person über die Adresse zu kontaktieren, über die auch White mit dem „freien Journalisten“ kommuniziert hat, aber nach Meldung des Dienstes Readnotify wurde die E-Mail nicht geöffnet. Der Account @BlackMattersUS ist bei Twitter auf eine Telefonnummer mit der Vorwahl +7 registriert. Laut Angaben eines fabriknahen Informanten von RBC waren die Mitarbeiter, die in Nachtschichten Kommentare in Gruppen beantworteten, auch für den Beziehungsaufbau zu verschiedenen amerikanischen Aktivisten verantwortlich.

    BlackmattersUS – geführt aus Russland

    Im Gegensatz zu einem Großteil der von der Fabrik geführten Gruppen, wurde BlackMattersUS als ein nichtkommerzielles Nachrichtenportal mit eigener Redaktion präsentiert: Jeder konnte den Kampf gegen Rassismus durch Spenden über PayPal auf ein Gmail-Konto mit dem Nutzernamen xtimwalters unterstützen. Auf der Webseite werden neben Yan Davis sechs weitere Redaktionsmitglieder gelistet. RBC hat außerdem von noch zwei „Mitarbeitern“ Twitter-Accounts gefunden: Einer davon ist gesperrt, der andere seit 2016 inaktiv.   

    BlackMattersUS gelang es, ein ganzes Interview-Portfolio mit bekannten Bürgerrechtlern zu erstellen, die sich für die Gleichstellung dunkelhäutiger US-Amerikaner einsetzen. Der Kontakt mit ihnen bestand nach den Interviews weiter: Besagter White erhielt von Yan Davis im Folgenden mehrere E-Mail-Anfragen mit der Bitte, die Aktionen von BlackMattersUS zu unterstützen. So sollte er über seinen Account Informationen zu einem Protest am 14. Oktober 2016 im Gebäude des Strafgerichts von New Orleans teilen. An diesem Tag wurde der Prozess gegen den Afroamerikaner Jerome Smith wiederaufgenommen, der 1986 wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Wie man auf der Seite von BlackMattersUS nachlesen kann, sei geplant gewesen, dass die Protestierenden nach der Kundgebung die Anhörung besuchen. RBC konnte jedoch nicht in Erfahrung bringen, ob tatsächlich jemand an der Protestaktion teilgenommen hat. Die Facebook-Seite der Veranstaltung wurde gesperrt.

    Mehr Belege gibt es hingegen für die anfangs erwähnte Demonstration gegen Polizeiwillkür, die ebenfalls im Oktober 2016, zwei Wochen vor der Präsidentschaftswahl, in Charlotte stattfand. Kurz vor Beginn der Veranstaltung kontaktierten Akteure der Gruppe BlackMattersUS per Facebook den lokalen Aktivisten und Leiter der Initiative Living Ultra-Violet Conrad James. Er sei gebeten worden, bei der Durchführung der Protestaktion zu helfen, berichtet James. Dieser erklärte sich nicht nur dazu bereit, sondern mobilisierte weitere lokale Bürgerrechtler, Afroamerikaner und andere Minderheiten. Er selbst erschien sogar mit Megafon bei dem Protest.

    Nach der Wahl: Anti-Trump-Posts

    Einige Wochen nach Trumps Wahl zum US-Präsidenten habe in Charlotte eine weitere, von James zusammen mit BlackMattersUS organisierte, Kundgebung stattgefunden, erzählt der Aktivist. Unter dem Motto „Charlotte against Trump“ versammelten sich mehrere Dutzend Gegner des neugewählten Präsidenten. Solche heftigen Positionswechsel der Fabrik lassen sich damit erklären, dass in der Uliza Sawuschkina völlige Gleichgültigkeit darüber herrscht, wer das andere Land letztendlich regiert.

    Durch die Initiative von BlackMattersUS seien in den USA im Zeitraum von 2016 bis 2017 etwa zehn Veranstaltungen durchgeführt worden, berichtet ein mit der Arbeit der Fabrik vertrauter Informant. Seine Aussagen werden von organisationsinternen Berichten über die Aktionen bestätigt und von Bildern illustriert, die bisher unveröffentlicht geblieben sind (sie liegen RBC vor). Die an den Aktivitäten von BlackMattersUS beteiligten Bürger vor Ort hätten nicht gewusst, dass hinter der Organisation Trolle von der Uliza Sawuschkina standen, versichern ein Angestellter der Fabrik sowie ein ehemaliger Mitarbeiter der Amerika-Abteilung. Beide betonen, dass es keinerlei Dienstreisen aus St. Petersburg in die USA gegeben habe.    

    Unterm Strich konnten die Trolle, die sich in den Sozialen Netzwerken unter falschen Namen als Mitarbeiter von Gruppen ausgeben, etwa 100 nichtsahnende ortsansässige Aktivisten mobilisieren, die bei der Umsetzung durch ihr Offline-Engagement halfen. 

    Über die Social-Media-Gruppen der Fabrik wurden in den USA rund 40 Kundgebungen und Aktionen verschiedener Art organisiert, wie aus internen Berichten hervorgeht. Dabei kamen einige dieser Veranstaltungen erst in die amerikanischen Medien, nachdem Facebook die Informationen zu den gesperrten Beiträgen und Accounts an den Kongress übergeben hatte. So hatte Being Patriotic im August 2016  die Bewohner von 17 Städten Floridas über Facebook dazu eingeladen, an Unterstützungskundgebungen für Trump teilzunehmen, der zu diesem Zeitpunkt noch Präsidentschaftskandidat war. Mindestens zwei dieser Veranstaltungen haben auch tatsächlich stattgefunden, stellten die Journalisten von The Daily Beast in einer investigativen Recherche zu Being Patriotic fest.  

    Konnten wir den Wahlausgang beeinflussen? Natürlich nicht

    Die Ausgaben der Fabrik für die Arbeit der lokalen Organisatoren – darunter Inlandsflüge, Druckproduktion, Technik und ähnliches – beliefen sich monatlich auf circa 200.000 Rubel [knapp 3000 Euro – dek], wie RBC aus organisationsnahen Kreisen berichtet wird. Somit betrugen diese Kosten für zwei Jahre insgesamt fünf Millionen Rubel, beziehungsweise 80.000 US-Dollar, und damit etwas weniger als die Marketing-Ausgaben in den Sozialen Netzwerken.

    Heute zählt die Amerika-Abteilung in der Uliza Sawuschkina etwa 50 Mitarbeiter. Diese namen- und gesichtslose Gruppe gilt in der aktuellen Berichterstattung US-amerikanischer Medien als geradezu wichtigster Motor für den Wahlsieg Trumps. US-Präsident Trump selbst hat zu den Vorwürfen über eine mögliche Einmischung der russischen Trolle in die Präsidentschaftswahlen nie eine klare Stellung bezogen.

    Statt Präsident Putin reagierte dessen Pressesprecher Dimitri Peskow auf die Vorwürfe. „Wir wissen nicht, von wem und wie Werbung auf Facebook platziert wird und haben so etwas auch nie gemacht. Von russischer Seite gab es keinerlei Beteiligung daran“, erklärte er bei einer Pressekonferenz. Quellen aus dem Umfeld der Fabrik-Leitung beteuern, dass es „keinerlei direkte Zusammenarbeit mit Vertretern der Präsidialverwaltung gab“. Die von RBC an Prigoshin adressierte Anfrage blieb bis dato unbeantwortet.  

    Unterdessen führt die amerikanische Abteilung ihre Arbeit fort, wie ein derzeitiger und ein ehemaliger Mitarbeiter berichten. Aus dem Gebäude in der Uliza Sawuschkina würden nach wie vor englischsprachige Gruppen mit einer Gesamtreichweite von rund einer Million Menschen betrieben, so ein Angestellter. Und ein Informant aus dem Umfeld der Fabrik-Leitung sagt:

    „Konnten wir den Wahlausgang beeinflussen? Natürlich nicht. Konnten wir unentschiedene Staaten zugunsten von Trump beeinflussen? Möglicherweise. Aber die Ergebnisse haben uns selbst umgehauen. Wozu wir das alles machen? Einfach aus Spaß an der Freude.“ 

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  • Der Mythos vom Zerfall

    Der Mythos vom Zerfall

    Vor 25 Jahren, im März 1991, hat die Auflösung der Sowjetunion ihren Anfang genommen, als sich die baltischen Teilrepubliken Litauen und Estland für unabhängig erklärten. Im Lauf des Jahres gab es Volksabstimmungen und Unabhängigkeitserklärungen weiterer Republiken, im Dezember 1991 wurde die Sowjetunion offiziell aufgelöst und die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) gegründet.

    Diesem Prozess folgten zahlreiche bewaffnete Konflikte und Auseinandersetzungen in unterschiedlichen ehemals sowjetischen Regionen, die zum Teil weiter schwelen oder andauern. Inwiefern der „Mythos vom Zerfall“ der Sowjetunion dabei noch heute eine Rolle in der politischen Rhetorik spielt, analysiert der Politologe Kirill Rogow auf RBC.

    Die Agenda der „Bewahrung“

    Das Verhältnis der Bevölkerungsmehrheit zum Zerfall der Sowjetunion hat sich im Laufe der Zeit ziemlich stark gewandelt. Die Wehmut über den Verlust nahm in den 1990er Jahren in Russland kontinuierlich zu und erreichte zu Beginn der 2000er Jahre einen Höhepunkt: Über 70 % der Menschen bedauerten den Zerfall. Ab Mitte der 2000er ging dieser Anteil wieder zurück und sank in den Jahren 2011/12 auf unter 50 %.

    Im politischen Diskurs hingegen war eine gegenläufige Entwicklung zu beobachten: Das Thema „Zerfall der Sowjetunion“ ist im Verlauf der Putin-Epoche politisch immer lauter zu vernehmen. 2005 bezeichnete Wladimir Putin den Untergang der Sowjetunion als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Die wichtigsten Wörter im Satz waren jedoch nicht „Katastrophe“ oder „größte“, sondern das Wort „geopolitisch“, denn das stülpte dem Land wieder die außenpolitischen Klischees der Sowjetzeit über. Erst kürzlich war Putin bei einem unerwarteten Angriff gegen Lenin auf dieses Thema zurückgekommen: Lenin habe der Sowjetunion durch sein Beharren auf einer föderalen Struktur einen Sprengsatz untergeschoben.

    Sehnsucht nach „Supermächtigkeit“

    Folgende zwei Punkte beleuchten die Rolle, die der „Zerfall der UdSSR“ in der zeitgenössischen politischen Mythologie spielt:

    Erstens ist da diese Sehnsucht nach einer „Supermächtigkeit“ und der Versuch, was den Supermachtstatus der UdSSR betrifft, eine Art Rechtsnachfolge anzutreten.

    Zweitens geht es um eine Projektion: der Zerfall des Landes (der UdSSR, Russlands) als größte innenpolitische Bedrohung. Eine solche Bedrohung zu verkünden, sei sie real oder imaginär, ändert umgehend die Prioritäten der politischen Agenda: Sämtliche Elemente einer normalen, zivilen Tagesordnung – wie gut ist ein Regime, wie effektiv ist seine Wirtschaft, wie gerecht die soziale Ordnung – treten in den Hintergrund. An die Stelle der zivilen Tagesordnung tritt eine Mobilisierungsagenda, das Ziel ist nicht Entwicklung, sondern Erhaltung des Status quo. Die Regierung ist voll und ganz damit beschäftigt, den Zerfall zu verhindern, und es wäre irgendwie fehl am Platz, noch mehr zu verlangen: Schließlich gibt es Wichtigeres als Wohlstand, Entwicklung und Effizienz, die auf ein ewiges Später verschoben werden können.

    Historisches Paradox

    So gesehen kam es keineswegs unerwartet, dass Putin auf dem Höhepunkt der Rubelverfalls-Welle plötzlich das Lenin-Thema aufbrachte. Damit wird nicht nur die Frage unter den Teppich gekehrt, wer für die Krise verantwortlich ist. Das Thema „drohender Zerfall“ beantwortet auch die wichtigste wirtschaftspolitische Frage: Denn es ist offensichtlich, dass angesichts der massiv gesunkenen Haushaltseinnahmen und der sich verschärfenden Wirtschaftskrise eine Liberalisierung sowohl der Wirtschaftsordnung als auch der Regierungsstruktur nötig wäre, das rückt ganz von selbst auf die Tagesordnung. Nun ist es an dem reanimierten „drohenden Zerfall“ zu erklären, warum es nicht dazu kommen wird, selbst wenn die Wirtschaft darunter leidet.

    Putin folgt Gorbatschows Weg

    Und hier stoßen wir nun auf ein erstaunliches historisches Paradox:

    Im Gegensatz zu Michail Gorbatschow, der sich Ende der 1980er Jahre für eine Liberalisierung des politischen Systems entschied, hat Wladimir Putin offenbar das Gegenteil vor und will den Herausforderungen der Wirtschaftskrise mit einer Art Anti-Perestroika begegnen. Bei Lichte betrachtet folgt Putin mit seinen politischen und wirtschaftlichen Prioritäten jedoch bis zu einem gewissen Grad Gorbatschows Weg.

    Mit der Antwort auf die Frage, warum die Sowjetunion auseinanderfiel und ob dieser Zerfall unvermeidlich war, ließen sich natürlich ganze Bücher füllen. Relativ einfach und kurz lässt sich hingegen beantworten, warum ein Zerfall in der Form, wie er tatsächlich erfolgte, möglich wurde. Hauptmotor waren nicht in erster Linie politische Faktoren, sondern der wirtschaftliche Kollaps.

    REFORMWILLIGE FUNKTIONÄRE VERSCHWANDEN

    National-demokratische Bewegungen, die einen Ausstieg aus der UdSSR anstrebten, gab es Ende der 1980er Jahre nur in einigen wenigen Teilrepubliken – vor allem in den baltischen und zum Teil in den transkaukasischen Gebieten, wo diese Prozesse durch national-territoriale Konflikte angeheizt wurden. Schon in der ersten Jahreshälfte 1990 versuchten die baltischen Staaten für den Ausstieg aus der UdSSR einen praktischen und juristischen Weg zu ebnen. Entscheidend für das, was anderthalb Jahre später geschah, waren jedoch die Unabhängigkeitserklärungen von fast allen übrigen Sowjetrepubliken im Sommer und Herbst 1990, obwohl es hier kaum ernsthafte national-demokratische Bewegungen gegeben hatte und größtenteils Parteifunktionäre an der Macht waren.

    Seit Mitte des Jahres 1990 war die Erhaltung der Sowjetunion zur politischen Hauptsorge Michail Gorbatschows geworden. Ende des Jahres verlieh ihm der Kongress der Volksdeputierten außerordentliche Vollmachten im Interesse der Erhaltung der Sowjetunion. Reformwillige Funktionäre verschwanden aus Gorbatschows Umfeld, ganz im Gegensatz zu ihnen spielten dann die Silowiki eine immer größere Rolle. Anfang 1991 suchte man den Austritt der baltischen Republiken aus der UdSSR mit Gewalt zu verhindern. Außerdem wurde der aufgelöste, progressive Präsidentenrat durch einen neugegründeten Sicherheitsrat ersetzt.

    DAS EINST VERBOTENE WORT „MARKT“ ERSCHRECKTE KEINEN MEHR

    Zu diesem Zeitpunkt war im Alltagsleben zweifellos die Wirtschaft das Hauptproblem. Seit über vier Jahren waren die Erdölpreise im Keller. Die wirtschaftliche Situation verschlechterte sich exponentiell, es brauchte Sofortmaßnahmen. Im März 1990 arbeitete man einen ersten Plan für den Übergang zur Marktwirtschaft aus – das Programm 400 Tage. Die Wirtschaftskrise verschärfte sich so rasant, dass das noch anderthalb Jahre früher verbotene Wort „Markt“ keinen mehr ins Staunen oder Stocken versetzte.

    GORBATSCHOW WAR ZU UNENTSCHLOSSEN

    Doch mit dem Programm für den Übergang zur Marktwirtschaft wird nie begonnen. Ab Mitte 1990 beginnt ein endloses Hin und Her – eine Abstimmung in einer ersten Kommission, dann in einer zweiten, dann die Zusammenführung mit Alternativprogrammen und so weiter und so fort. Grund dafür ist die offenkundige Unentschlossenheit Gorbatschows. Die Umsetzung einer realen, wirkungsvollen Reform hätte ernsthafte Kosten verursacht und steigende Preise mit sich gebracht. Gorbatschow scheut das Risiko: Eine Preiserhöhung wäre für seine politische Beliebtheit fatal und würde seine politischen Gegner stärken. Das Thema „Erhaltung der Sowjetunion“ hingegen wirkt lebenswichtig und wie ein sicherer politischer Gewinn. Gorbatschows Einschätzung nach musste das in den Herzen der Menschen Widerhall finden.

    SEPARATISTISCHE RHETORIK

    Doch je weniger das sowjetische Geld wert war und je weniger man damit kaufen konnte, umso schneller verlor das politische Zentrum an Macht. Und umso weniger brauchten die Eliten in den Republiken die Macht von dort – sie setzten mehr und mehr eine gemäßigt separatistische Rhetorik ein, um der Zentralmacht die Verantwortung für die verschlechterte Situation zuzuschieben und sich so den politischen Einfluss in den Republiken zu erhalten.

    Die Unabhängigkeitserklärungen, die anfänglich nach hochtrabender Rhetorik und einem Tribut an die politische Mode aussahen, gewannen allmählich an Inhalt. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil den Republiken jeder Ressourcenaustausch mit dem Zentrum unvorteilhaft erschien.

    Und da haben wir es in seiner ganzen Pracht, das erstaunliche historische Paradox: Der Kampf um den Erhalt der Sowjetunion war für Gorbatschow Grund und Anlass, die Wirtschaftsreformen aufzuschieben – und letztlich war dies auch der Hauptauslöser für den Zusammenbruch der UdSSR.

    Zentripetalkraft

    Die Frage, ob eine in der Jahresmitte 1990 begonnene radikale Wirtschaftsreform den Zusammenbruch hätte verhindern können, wird für immer unbeantwortet bleiben. Doch es gibt Argumente, die für diese Annahme sprechen. Nicht in Bezug auf die baltischen Staaten natürlich, aber ein Kerngebiet aus fünf oder sechs Schlüsselrepubliken hätte durchaus erhalten bleiben können. Zumindest zeigten die jeweiligen Bevölkerungen weder 1990 noch 1991 einen ausgeprägten Willen zur Abspaltung. Aber gleichzeitig sahen sie auch keinen Grund, an der Sowjetunion festzuhalten.

    Was die bedrohte Einheit angeht, so befand sich Russland nach dem Zerfall der UdSSR in einer kaum besseren Lage als die Sowjetunion 1990. Die russischen autonomen Gebiete hatten noch vor dem Zerfall der Sowjetunion ihre Unabhängigkeitserklärungen unterzeichnet. Tatarstan führte eine Volksabstimmung durch und wollte als gleichberechtigtes Gründungsmitglied der GUS auftreten. Auch das Gebiet Irkutsk rief die Unabhängigkeit aus, die Idee einer Ural-Republik lag im ungesunden Klima des Wirtschaftschaos in der Luft und wäre 1993 beinahe Wirklichkeit geworden. Natürlich wirkte die Irkutsker Unabhängigkeit ein wenig wie fake, aber so hatten die Unabhängigkeitserklärungen Weißrusslands oder Kasachstans 1990 auch gewirkt.

    Es war weniger Boris Jelzin als Jegor Gaidar, der Russland letztendlich vor dem Zerfall rettete. Die Freigabe der Preise verlieh dem Geld wieder Kaufkraft. Trotz der hohen Inflation brauchten alle dieses Geld, weil die Menge der Dinge, die man dafür kaufen konnte, ständig wuchs. Die Perspektive, dass es eine Privatisierung geben würde, änderte die Agenda der Eliten und den Fokus ihrer Aufmerksamkeit. Die Unabhängigkeitsfrage verlor allmählich an Energie und Schärfe. Neue politische Institutionen eröffneten den regionalen Eliten die Möglichkeit zur Lobbyarbeit, um ihre Interessen umzusetzen. Und der Bevölkerung wurde klar, dass eine Unabhängigkeit die anstehenden Probleme nicht lösen würde.

    Auch dem heutigen Russland droht kein Zerfall. Aber ihm droht wohl ernsthaft ein permanenter Kampf um den Erhalt der russischen Einheit. Wie oben dargelegt lenkt man durch einen solchen Kampf in Wirklichkeit ziemlich oft von wirklich wichtigen, komplexen Problemen ab. Versucht, sich der Verantwortung zu entziehen, und macht auf diese Weise Propaganda für den Einsatz von Gewalt als angeblich einzig wirksamem Mittel. Allein diese Kombination aus versuchter Gewaltanwendung und wirtschaftlicher Schwäche ist ein hochexplosives Gemisch, das schon öfter das Fundament eines Staates gesprengt hat – das lehrt uns unter anderem die Erfahrung der Sowjetunion.

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  • Der 50-Milliarden-Dollar-Prozess

    Der 50-Milliarden-Dollar-Prozess

    Der Konzern YUKOS, in den 1990er Jahren entstanden und in den damaligen zwielichtigen Auktionen privatisiert, avancierte zunächst zu einem unternehmerischen Aushängeschild Russlands. Von 2003 bis 2006 wurde Yukos dann in einer Reihe aufsehenerregender Prozesse vom Staat zerschlagen und in staatsnahe Besitzverhältnisse überführt. Seine Gesellschafter – als prominentester unter ihnen der politisch ambitionierte Michail Chodorkowski – wurden verhaftet. Kein anderes Ereignis bündelt die wirtschaftlichen und politischen Umbrüche im ersten Jahrzehnt dieses Jahrunderts in so eindrucksvoller und dramatischer Weise.

    Zehn Jahre nach diesen Ereignissen verpflichtete ein Urteil des Ständigen Schiedsgerichts in Den Haag den russischen Staat zu einer Entschädigungszahlung in Höhe von 51,6 Milliarden US-Dollar. Russische Vermögens- und Kulturwerte im Ausland könnten hierfür gepfändet werden. Russland strebt nun in einem neuen Prozess die Rücknahme dieses Urteils an. RBC, ein auf Wirtschaftsthemen spezialisiertes Internetportal, hat 800 Seiten Prozessunterlagen beider Seiten analysiert und geht hier der Frage nach: Worum und warum streiten die Parteien weiterhin?

    Zwar wird die YUKOS-Affaire auch von deutschsprachigen Medien immer wieder aufgegriffen, dieses Material von RBC bietet jedoch eine ausgesprochen vollständige Zusammenschau der letzten Ereignisse und ist dazu reich an Insiderinformationen, wie etwa über das von der russischen Seite angestrengte linguistische Gutachten.

    Um dieses komplexe Thema in der nötigen Tiefe darstellen zu können, publizieren wir zeitgleich auch mehrere speziell hierfür verfasste Gnosen.

    Laut dem Urteil des Ständigen Schiedshofs in Den Haag wurde den ehemaligen YUKOS-Aktionären Schadensersatz von russischer Seite in Höhe von 50 Mrd. EUR zugesprochen. RBC hat den Verlauf des darauf folgenden Prozesses am Haager Bezirksgericht untersucht, von dessen Ergebnis maßgeblich abhängen wird, ob die YUKOS-Aktionäre diese Summe tatsächlich beanspruchen können.

    Im Januar 2015 hatte Russland beim Bezirksgericht die Aufhebung des Haager Schiedsgerichtsurteils beantragt (RBC hat die Argumente der russischen Seite eingehend analysiert), im Weiteren wurde über den Verlauf des Prozesses nichts mehr bekannt. Im Mai 2015 jedoch haben die Aktionäre von YUKOS  (Yukos Universal, Hulley Enterprises und Veteran Petroleum, die gemeinsam etwa 70 % des Ölkonzerns kontrollieren) ihre Erwiderung auf Russlands Antrag eingereicht. Die Vertretung der russischen Seite hat Mitte September darauf schriftlich geantwortet.

    Der Zugang zu beiden Dokumenten, die zusammen mit den entsprechenden Anhängen mehr als 800 Seiten lang sind, gelang dank eines zeitlich parallel laufenden Verfahrens am District Court of Columbia in Washington DC, USA. Dort wollen Yukos, Hulley und Veteran die Anerkennung des Haager Schiedsspruchs auf dem Gebiet der USA erreichen, damit sie im amerikanischen Rechtsraum russisches Staatsvermögen sperren lassen dürfen. Russland (in diesem Prozess vertreten durch die Kanzlei White & Case) hat am 20. Oktober [2015 – dek]  beim Washingtoner Gericht beantragt, die Haager Entscheidung nicht anzuerkennen.

    Bei den Dokumenten, die Russland bei dem amerikanischen Gericht eingereicht hat (und die in die amerikanische Gerichtsdatenbank aufgenommen wurden), handelt es sich auch um Unterlagen, die die Parteien während des laufenden Prozesses am Bezirksgericht in Haag ausgetauscht haben. Im Mai hatten die YUKOS-Aktionäre (vertreten durch die Amsterdamer Kanzlei De Brauw Blackstone Westbroek) dem Gericht eine 400-seitige Antragserwiderung zugesandt. Am 16. September reichte Russland seine ebenso viele Seiten umfassende Antwort darauf ein. Wie der Vertreter Russlands, der Juraprofessor Albert Jan van den Berg dem amerikanischen Richter mitteilte, geht das Verfahren nun in die Schlussphase: Am 9. Februar 2016 finden vor dem Bezirksgericht in Den Haag die Anhörungen statt, das Urteil wird für April 2016 erwartet.

    Austausch von Liebenswürdigkeiten

    Obwohl das Haager Bezirksgericht weder imstande noch befugt ist, die Entscheidung des Schiedsgerichts zu revidieren (es können ausschließlich eng begrenzte rechts- und verfahrenstechnische Fragen verhandelt werden), haben Russland und YUKOS ihre Aussagen dazu genutzt, ihren langjährigen Propagandakrieg fortzusetzen. Die Aktionäre von YUKOS verwenden 23 Seiten ihrer Stellungnahme darauf, aus anderen Gerichtsverfahren zu zitieren (darunter die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu den Klagen von Michail Chodorkowski und Platon Lebedew sowie der YUKOS-Aktionäre) und Erklärungen von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens anzuführen, die zeigen sollen, dass „das Verhalten der Russischen Föderation gegenüber YUKOS zum Gegenstand weltweiter Verurteilung geworden ist“. Der Verteidigung von YUKOS zufolge hat „die internationale Gemeinschaft, einschließlich internationaler Organisationen, NGOs sowie weiterer Institutionen und Persönlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens weltweit, die Angriffe der Russischen Föderation auf YUKOS und die mit ihr verbundenen Personen einhellig verurteilt“.

    In den Erklärungen der YUKOSsianer werden Persönlichkeiten aufgezählt, die öffentlich für YUKOS eingetreten sind – etwa US-Präsident Barack Obama, Ex-Präsident George Bush, Hillary Clinton, die europäischen Politiker Jerzy Buzek und Catherine Ashton, der britische Premierminister David Cameron, die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie der frühere deutsche Außenminister Guido Westerwelle. Von den Persönlichkeiten aus Russland, die die Angriffe auf YUKOS verschiedentlich kritisiert haben, werden Ex-Premierminister Michail Kassjanow, der ehemalige Präsident der UdSSR Michail Gorbatschow, der erste Vize-Premierminister Igor Schuwalow, der frühere Medwedew-Berater Igor Jurgens, der Wirtschaftswissenschaftler Jewgeni Jasin sowie die Oppositionspolitiker Wladimir Ryshkow und Garri Kasparow genannt.

    Ein eigenes Kapitel verwenden die Vertreter von YUKOS auch darauf, die „Missachtung des internationalen Rechts und des internationalen Systems zur Beilegung von Streitigkeiten durch die Russische Föderation“ zu illustrieren. „Die Versuche Russlands, den Haager Schiedsspruch aufheben zu lassen, passen ins Gesamtbild seines Verhaltens – nämlich, dass es Entscheidungen internationaler Gerichte und Tribunale nicht respektiert. Russland hat nicht eine Entscheidung eines Investitionsschiedsgerichts freiwillig erfüllt“, heißt es in der Erwiderungsschrift der YUKOS-Aktionäre. Als Beweis werden Beispiele angeführt, wie etwa die Weigerung Russlands, im Fall der Festsetzung des holländischen Schiffs Arctic Sunrise und der Festnahme der an Bord befindlichen Greenpeace-Aktivisten an einem Schiedsverfahren nach dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen mitzuwirken, oder die nur selektive Umsetzung von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Russland. Die Verteidigung von YUKOS kommt zu dem Schluss, dass das laufende, von Russland beim Bezirksgericht in Den Haag angestrengte Verfahren sich konsequent in eine lange Reihe von Prozessen einfügt, in denen Russland „unbegrenzte Ressourcen“ darauf verwendet, sich der Befolgung von Entscheidungen internationaler Gerichte und Schiedsgerichte zu widersetzen.

    Russland erwidert darauf mit der Feststellung, dass der internationale Ständige Schiedshof in Den Haag „dem Einfluss unausgesetzter Lobby- und PR-Kampagnen“ der ehemaligen YUKOS-Aktionäre sowie „der russischen Oligarchen, die Yukos Universal, Hulley und Veteran kontrollieren, ausgesetzt war“. Die russische Seite weist das Bezirksgericht darauf hin, dass die früheren YUKOS-Aktionäre schon seit langem eine internationale Kampagne betreiben würden, um eine einseitige Wahrnehmung der YUKOS-Affäre durchzusetzen. So rechnet die russische Vertretung beispielsweise vor, dass die mit YUKOS verbundenen Organisationen einschließlich der in Gibraltar ansässigen GML, in den Jahren 2003–2009 nicht weniger als 3,7 Mio. US-Dollar auf Lobbyaktivitäten zugunsten ihrer Interessen in den USA verwendet hätten.

    Die Erörterung der von den YUKOSsianern so bezeichneten „Missachtung des internationalen Rechts durch Russland“ hält die russische Seite im Kontext des besagten Verfahrens für unangebracht, die Aussagen von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zugunsten von YUKOS bewertet sie als politisch voreingenommen und ohne eigenständige Sachkenntnis. Russland unterstreicht noch einmal gesondert, dass das Gericht die Erklärung von Michail Kassjanow nicht berücksichtigen solle, da dieser seine Zeugenaussage beim Haager Schiedsgerichtshof später widerrufen habe (was die YUKOS-Verteidigung verschweigt).

    „Alle diese Materialien [Urteile anderer Gerichtsverfahren, Aussagen von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens] stellen einen Versuch dar, die Russische Föderation durch für das Verfahren irrelevante und politisch motivierte Anklagen zu diskreditieren“, schreibt die russische Seite.

    Linguistisches Gutachten

    Russland setzt vor allem auf die Behauptung, dass die Haager Schiedsrichter, die YUKOS 50 Mrd. US-Dollar zugesprochen haben, ihr Mandat nicht in eigener Person wahrgenommen und damit ihre Berufsethik verletzt hätten, da der kanadische Jurist Martin Valasek, der offiziell nur als Assistent des Richters fungierte, entscheidenden Einfluss auf die Verhandlung genommen habe. In seiner Stellungnahme für das Bezirksgericht behauptet Russland unter Berufung auf ein vorgelegtes linguistisches Gutachten, dass der Text der Entscheidung des Haager Tribunals zum Großteil nicht von den Schiedsrichtern selbst, sondern von Valasek verfasst worden sei. Wenn dies zuträfe, wäre es ein schwerer Verstoß gegen das Mandat des Gerichtshofs, der eine Aufhebung des Urteils rechtfertigen könnte.

    Russland hat zu diesem Zweck die forensische Linguistin Carol Chaski herangezogen, die mittels statistischer Verfahren zu dem Schluss kam, dass Valasek „mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit“ (d. h. einer Genauigkeit von über 98 %) 71 % des Abschnitts zum Schadensersatz verfasst habe und dass (mit einer Fehlertoleranz von unter 5 %) 79 % des Passus zu vorläufigen Einwendungen und 65 % des Passus zu den Verbindlichkeiten von ihm stammten. Die von ihr angewandte Methode zur Autorschaftsbestimmung umfasst der russischen Verteidigung zufolge die in der theoretischen Linguistik angewandte syntaktische Standardanalyse sowie neueste statistische Verfahren. Sie wurde über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren entwickelt und unter anderem vom Justizministerium der USA gefördert.

    In dem im Januar eingereichten Prozessantrag hatte die russische Seite hervorgehoben, dass Valasek, der ursprünglich als ausschließlich für Verwaltungsarbeiten zuständig vorgestellt worden war, tatsächlich erheblich mehr Zeit auf das Schiedsgerichtsverfahren verwendet hätte als jeder der Schiedsrichter. Nach den Aufzeichnungen des Gerichtssekretärs hat er eine Rechnung über 3006,2 Arbeitsstunden ausgestellt, davon 2625 während der Hauptverhandlung. Damit ist sein Zeitaufwand um 65 % höher als der des Schiedsgerichtsvorsitzenden Fortier in der gleichen Prozessphase (1592 Stunden).

    In der Erwiderung der YUKOS-Vertreter heißt es jedoch, dass die Verdächtigungen hinsichtlich der Rolle von Valasek bei der Vorbereitung des endgültigen Urteils nicht stichhaltig seien. Sie wendet ein, dass von den Arbeitsstunden des Gerichtsassistenten während des Verfahrens nicht auf die Aufgaben geschlossen werden könne, die er in dieser Zeit wahrgenommen habe. Selbst wenn die Unterstützung durch Valasek über die Regelung rein administrativer Fragen hinausgegangen sei, handele es sich um gesetzlich zulässige Tätigkeiten, so der Anwalt der ehemaligen YUKOS-Aktionäre. Russland führt hingegen an, dass der Haager Schiedsgerichtshof sich weigert, weitere Einzelheiten der Tätigkeit Valaseks offenzulegen. Dies bekräftigt nach Auffassung der russischen Seite die Vermutung, dass der Gerichtsassistent faktisch an der Entscheidung in der Hauptverhandlung beteiligt war.

    Eine Armee von Juristen und die Taktik der Prozessverschleppung

    Die ehemaligen YUKOS-Aktionäre werfen Russland vor, den Prozess um Jahre hinausgezögert zu haben. Bei dem Schiedsgerichtsverfahren in Den Haag habe Russland eine „Armee von Juristen“ aufgefahren: Bei der Anhörung zur Zulässigkeit des Verfahrens waren 17 Juristen anwesend, und bei der Hauptverhandlung stieg ihre Anzahl auf 39 Personen. Dabei habe Russland alles getan, um den Prozess hinauszuzögern, so der Anwalt der YUKOSsianer.

    Die Verhandlung in dieser Sache war eine der langwierigsten in der Geschichte – es dauerte zehn Jahre, bis die YUKOS-Aktionäre ein endgültiges Urteil erwirken konnten. Der Hauptgrund für diese beispiellos lange Verfahrensdauer sei das „obstruktive Verhalten“ der russischen Seite gewesen, die versucht habe, die Verfahrensfristen zu torpedieren, und sich auch anderer Methoden der Prozessverschleppung bedient habe. Sie habe darum ersucht, den Prozess in drei separate Verfahren aufzuspalten und sich geweigert, an der Festsetzung der Verhandlungsdaten mitzuwirken, schreibt der Vertreter der ehemaligen YUKOS-Aktionäre. Schließlich wurde der Prozess in zwei Verfahren aufgeteilt, die jeweils fast fünf Jahre dauerten. Anschließend versuchte Russland, die Hauptverhandlung ein weiteres Mal zu unterteilen – in ein Verfahren zu den Verbindlichkeiten und in eines zur Frage des Schadensersatzes. Dieser Antrag wurde zwar abgelehnt, aber er führte zu drei Verhandlungsrunden, in denen Dokumente vorgelegt wurden, und zwei verfahrensrechtliche Verhandlungen, wodurch der Prozess nach Angaben des YUKOS-Verteidigers unnötig hinausgezögert wurde. Wenn dem Ersuchen stattgegeben worden wäre, würde das Schiedsgerichtsverfahren bis heute andauern.

    Eine weitere Prozessverschleppungstaktik der russischen Seite bestand den YUKOSsianern zufolge darin, dass sie Vorauszahlungen für die Inanspruchnahme des Gerichts nicht rechtzeitig leistete. Dies gefährdete die Fortführung der Verhandlungen und den Zeitpunkt der Vorentscheidung und der endgültigen Urteilsverkündung. So weigerte sich Russland zwischen Ende 2008 und Mitte 2009 – während der Vorbereitung der Vorentscheidung und der Verhandlung über die Zuständigkeit des Gerichts – seinen Anteil an den Kosten in Höhe von 750.000 Euro zu zahlen. Das hätte den Prozess fast zum Stillstand gebracht. Letztlich wurde der Betrag auf Ersuchen des Gerichts von den Klägern beglichen, denen Russland das Geld mit neunmonatiger Verspätung und erst nach zweimaliger Mahnung durch das Haager Schiedsgericht erstattete. Dieses Szenario wiederholte sich vor der Verkündung des endgültigen Urteils im Sommer 2014. Die ehemaligen YUKOS-Aktionäre hinterlegten für die beklagte Partei 250.000 Euro, von denen Russland nach Angaben der YUKOS-Vertretung 20.000 Euro noch immer nicht getilgt hat.

    Die Vertreter der russischen Seite erklären diese Verzögerung mit Verfahrensanforderungen der staatlichen Bürokratie und der Notwendigkeit, zahlreiche Genehmigungen einzuholen. Sie bestreiten kategorisch, dass Russland bewusst versucht habe, den Prozess in die Länge zu ziehen.


    Die Entschädigungen in der YUKOS-Sache in Zahlen
    114,174 Mrd. $
    an Entschädigungszahlungen haben die ehemaligen YUKOS-Aktionäre – Yukos Universal Limited, Hulley Enterprises Limited und Veteran Petroleum Limited – gefordert.
    50 Mrd. $
    muss Russland den ehemaligen YUKOS-Aktionären nach dem Urteil des Ständigen Schiedshofs in Den Haag als Entschädigung zahlen.
    1,86 Mrd. €
    Entschädigung muss Russland den YUKOS-Aktionären aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zahlen.
    300.000 €
    muss Russland den YUKOS-Aktionären als Rückvergütung ihrer Auslagen beim EGMR erstatten.
    Um 2,6 Mio. $ pro Tag
    steigt seit dem 15. Januar [2015 – dek] aufgrund des Zahlungsverzugs die gemäß der Entscheidung des Haager Schiedsgerichts an die YUKOS-Aktionäre auszuzahlende Summe.
    887 Mio. $ pro Jahr
    betragen die Verzugszinsen für Russland, wenn es die 50 Mrd. $ im Jahr 2015 nicht zahlt.
    130 Mrd. Rubel (knapp 2 Mrd. €)
    für die Zahlung der Entschädigung aus dem YUKOS-Verfahren am EGMR finden sich nicht im Entwurf für den Haushalt 2016.
    500 Mio. Rubel (7,5 Mio. €)
    sind im Haushaltsplan für das Jahr 2016 für die Zahlung von Entschädigungsgeldern im Zusammenhang mit den Entscheidungen des EGMR vorgesehen.
    1,242 Mrd. Rubel (18,6 Mio. €)
    sind im Haushaltsplan 2016 für juristische Dienstleistungen zur Vertretung der Interessen Russlands am EGMR vorgesehen.
    2,695 Mrd. Rubel (40 Mio. €)
    aus dem Haushalt sind im Jahr 2016 zur Gewährleistung des Schutzes der Interessen der Russischen Föderation „in internationalen Urteilen“ eingeplant.​

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