дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Sergej Mochnatkin – statt eines Nachrufs

    Sergej Mochnatkin – statt eines Nachrufs

    Am 28. Mai 2020 ist Sergej Mochnatkin in Moskau verstorben. Der Aktivist wurde bekannt als unbeugsamer und unbeirrter Streiter für Menschenrechte und gegen das russische Straf- und Gefängnissystem. Die langjährige Auseinandersetzung mit den Behörden begann für Mochnatkin nach einer Demonstration am 31. Dezember 2009: Er war für eine Teilnehmerin eingetreten, die von einem Polizisten gewaltsam in den Gefängnistransporter gezerrt wurde. Traurige Berühmtheit erlangte er, als ihm später im Gefängnis die Wirbelsäule gebrochen wurde. 

    In den Nachrufen Oppositioneller und Liberaler wird entsprechend an Mochnatkins starke Haltung erinnert. Mediazona schreibt von Mochnatkin als einem Mann, „der wegen seiner Unbeugsamkeit sechs Jahre in Kolonien und Gefängnissen verbrachte, dem im Streit mit Wärtern die Wirbelsäule gebrochen und der schließlich zu einem der berühmtesten Gefangenen des heutigen Russlands wurde“. 
    Der Historiker Sergej Medwedew erinnert an Mochnatkin auf Facebook: „Aus solchen Menschen wie Juri Dmitrijew und Sergej Mochnatkin besteht das eigentliche, ursprüngliche Russland. Aus irgendeinem Grund hatte man es im 20. Jahrhundert nicht vergessen, aber jetzt zerstören sie es, treten es nieder mit dem Polizeistiefel.“

    Eine so hohe Bekanntheit wie in Russland hat Sergej Mochnatkin im Westen nie erlangt. Aus Anlass seines Todes veröffentlicht dekoder eine ausführliche Recherche aus dem Jahr 2019, die das unabhängige Medium Projekt zu seinem Fall veröffentlicht hatte.

    Der Menschenrechtler und Aktivist Sergej Mochnatkin verstarb am 28. Mai 2020 in Moskau / Foto © Sergej Nechljudow/Wikipedia
    Der Menschenrechtler und Aktivist Sergej Mochnatkin verstarb am 28. Mai 2020 in Moskau / Foto © Sergej Nechljudow/Wikipedia

    Im März 2016 wollte der inhaftierte, graubärtige Einzelgänger Sergej Mochnatkin seinen 62. Geburtstag in der Strafkolonie in Archangelsk feiern. Dort saß er bereits seine zweite Haftstrafe ab. Zwei Tage vor dem feierlichen Anlass teilte man Mochnatkin mit, dass man ihn jetzt in die Stadt bringen würde, er solle wegen eines neuen Strafverfahrens vor Gericht erscheinen. Mochnatkin weigerte sich mitzufahren, weil er keinen Beschluss über seine Überstellung erhalten habe. Als er rausgeführt wurde, legte er sich schließlich auf den Boden und weigerte sich weiterzugehen. Man riss ihn hoch: Mochnatkin wehrte sich instinktiv mit einer Armbewegung und traf dabei einen der Wachmänner im Gesicht. Er wurde wieder zu Boden gezwungen und mit dem Knie niedergedrückt. Mochnatkin spürte, wie es in seiner Wirbelsäule knackste.

    Er wurde wieder zu Boden gezwungen und mit dem Knie niedergedrückt. Mochnatkin spürte, wie es in seiner Wirbelsäule knackste

    Der verletzte Häftling wurde in einen Gefangenentransporter geworfen und ins Gericht gefahren. Aussteigen konnte er schon nicht mehr. Also brachte man Mochnatkin in ein Gefängnis, wo zwei Krankenschwestern gerufen wurden und ihm ein Mittel gegen Bluthochdruck gaben. Nach zwölf Tagen kam Mochnatkin endlich in ein Krankenhaus, wo man ihn röntgte, dann kam er zurück in die Kolonie. 

    Mochnatkin reichte Beschwerde gegen das Vorgehen der Vollzugsbeamten ein: Zur Überprüfung seiner Aussage ordnete der Ermittlungsbeamte eine ärztliche Untersuchung an. Am 17. März [2016 – dek] attestierte man Mochnatkin eine Fraktur des ersten und zweiten Lendenwirbels, allerdings sei der Bruch „konsolidiert“, das heißt alt und zusammengewachsen – er könne also nicht vom 4. März stammen.

    Mochnatkin und seine Freundin Tatjana Paschkewitsch sagen, Sergej habe noch nie etwas an der Wirbelsäule gehabt. In einem Auszug aus seiner Krankenakte im Gefängnis vom 4. Februar, einen Monat vor dem Vorfall, steht nichts von Brüchen oder Rückenschmerzen.

    Eineinhalb Monate später, im April 2016, führte die gebrochene Wirbelsäule doch noch zur Einleitung eines Strafverfahrens. Allerdings gegen Mochnatkin selbst: Ihm wurde vorgeworfen, bei der Überstellung Widerstand geleistet und damit die Arbeit in der Kolonie gestört zu haben – ein Verstoß gegen Artikel 321 des russischen StGB.

    Das letzte Jahrzehnt seines Lebens ist die Geschichte des russischen Strafsystems erzählt am Schicksal einer konkreten Person

    Mochnatkin zählt zu den „erfahrensten“ politischen Gefangenen in Russland. Das Strafverfahren, das nach dem Wirbelsäulenbruch gegen ihn eröffnet wurde, war bereits das fünfte. Das letzte Jahrzehnt seines Lebens ist die Geschichte des russischen Strafsystems erzählt am Schicksal einer konkreten Person.

    Für Menschen wie Mochnatkin ist es im heutigen Russland nur eine Frage der Zeit, wann sie eine Gefängnisstrafe bekommen. Für Politik interessierte er sich schon seit seiner Studienzeit, die in die Jahre der Stagnation unter Breshnew und in die Zeit des Kalten Krieges fiel.

    An den Kundgebungen der Opposition zur Unterstützung von YUKOS nahm Mochnatkin teil, seit er Anfang der 2000er von Ishewsk nach Moskau umgezogen war. Danach war er aktives Mitglied bei Strategija 31 – einer Bewegung, die sich für das in Artikel 31 der russischen Verfassung verbürgte Recht auf Versammlungsfreiheit einsetzte. Zwischen 2009 und 2011 hielt sie an jedem 31. im Monat Kundgebungen auf dem Triumfalnaja-Platz in Moskau ab.

    „Das war wichtig. Damals wurden dort Menschen geschlagen, ich konnte so etwas noch nie ertragen – das darf nicht sein“, erinnert sich Mochnatkin, wieder in Freiheit [Stand: November 2019 – dek]. Wir unterhalten uns im Halbdunkel – im Moskauer Büro der Organisation Sa prawa tscheloweka wurde wegen Zahlungsrückstands der Strom abgestellt. Kurz nach unserem Treffen hat der Oberste Gerichtshof die Organisation liquidiert.

    Die erste Haftstrafe 2009: Mochnatkin hatte eine Frau verteidigt

    Seine erste Haftstrafe bekam Mochnatkin nach einer Kundgebung am 31. Dezember 2009, wo er festgenommen worden war, weil er einen Polizeibeamten beschimpft hatte; laut Mochnatkin hatte der Ordnungshüter eine Demonstrationsteilnehmerin geschlagen.

    „Ich wollte ihn zurechtweisen, da packten mich zwei andere. Ich war überrumpelt – sie haben mich zusammengefaltet und weggezerrt. ‚Wirf wenigstens die Kippe weg‘, sagt der zu mir. Ich dreh mich um und spuckе sie ihm ins Gesicht. Dafür landet seine Faust in meinem. Dann haben sie mich in den Transporter gezerrt.“

    Wegen Anwendung von Gewalt gegen einen Staatsvertreter – Artikel 318 – wurde Mochnatkin zu zweieinhalb Jahren Strafkolonie verurteilt. Das ist der Artikel, der den meisten [verurteilten] Teilnehmern der Moskauer Protesten im Sommer 2019 angehängt wurde.

    Die erste Haftstrafe verlief für Mochnatkin verhältnismäßig ruhig: Ein paar Mal musste er in Isolationshaft, aber im Großen und Ganzen, erinnert er sich heute, habe er versucht, die Zeit möglichst unauffällig hinter sich zu bringen, nicht gegen Regeln zu verstoßen und Konflikte zu vermeiden. Mochnatkin wurde nach knapp zwei Jahren aus der Kolonie entlassen: Wenige Monate vor Ende seiner Amtszeit hatte Dimitri Medwedew seine Begnadigung unterzeichnet – das Gesuch hatte ihm Boris Nemzow persönlich übergeben.

    Doch die Freiheit währte nicht lange. Etwa eineinhalb Jahre später, am 31. Dezember 2013, wurde er wieder verhaftet, wieder Artikel 318: Er setzte sich zur Wehr, als man ihn in den Gefangenentransporter zerrte. Fast ein Jahr später verurteilte ihn das Gericht zu viereinhalb Jahren Strafkolonie unter strengen Haftbedingungen.

    Die Freiheit währte nicht lange

    Die zweite Haftstrafe war schlimmer: Mochnatkin und die Verwaltung der Kolonie IK-4 in Archangelsk kamen nicht miteinander zurecht. Er bekam mehrere Verweise: weil er für einen Mitinsassen mit amputiertem Bein Essen aus der Kantine mitgenommen, am falschen Ort geraucht hatte und auf dem Weg zum Frühstück hinter der Kolonne zurückgeblieben war.

    Mit dieser Anzahl von Verweisen gibt es kaum Hoffnung, vorzeitig auf Bewährung entlassen zu werden. Trotzdem entschloss sich Mochnatkin 2015 dazu, einen Antrag auf Überstellung in den offenen Vollzug zu schreiben – in der Siedlung nahe der Strafkolonie sind die Haftbedingungen weniger streng. Der Leiter seiner Einheit lehnte ab mit der Begründung, dass Mochnatkin zu viele Verweise habe. Daraufhin nannte Mochnatkin ihn Arschloch, Wichser und Hurensohn. Die Szene ereignete sich vor den Augen des Leiters der Kolonie – dafür gab es Einzelhaft. Als der Kolonieleiter in Mochnatkins Zelle kam, wiederholte sich die Geschichte: Mochnatkin nannte ihn Arschloch und bekam fünf Tage Bunker obendrauf. 

    Kurz nach seiner Entlassung aus der Einzelhaft wurde ein neues Strafverfahren gegen Mochnatkin eingeleitet: Artikel 319 – Beleidigung eines Staatsbeamten.

    Das war erst der Anfang von Mochnatkins Krieg mit dem russischen Gefängnissystem.

    Paragraphen für die Widerspenstigen

    Im russischen Strafgesetz gibt es mehrere Artikel, die es erlauben, die Haftzeit eines Gefangenen zu verlängern – fast bis ins Unendliche. Menschenrechtler sagen, dass diese Paragraphen in unterschiedlicher Häufigkeit dazu verwendet werden, Häftlinge zu bestrafen, die der Gefängnisleitung Probleme bereiten, – und politische Insassen. Auf Mochnatkin trifft beides zu.

    Artikel 318 und 319

    Der durch die Moskauer Proteste berühmt gewordene Artikel 318 (Gewalt gegen Staatsvertreter) ist eine der gängigen Rechtsnormen, um die Haftstrafen nach oben zu schrauben. Jedes Jahr werden aufgrund dieses Artikels mindestens 6000 Verfahren eingeleitet, aber wie viele Angeklagte tatsächlich auf seiner Grundlage einsitzen, ist schwer zu sagen – keine der von Projekt angefragten Behörden gibt entsprechende Zahlen heraus. Auch Artikel 319 kann dazu dienen, die ursprüngliche Haftzeit zu verlängern, zu der ein Gefangener zunächst verurteilt wurde. 

    Artikel 321

    Doch die gerissenste Erfindung des russischen Strafsystems ist Artikel 321: Störung der Arbeit von Anstalten, die die Isolation von der Gesellschaft gewährleisten. Er wird ausschließlich in Strafkolonien angewendet. Meistens werden die Insassen nach Absatz 2 verurteilt: Anwendung von Gewalt gegen einen Mitarbeiter der Haft- oder Isolationsanstalt. Die Höchststrafe wird mit fünf Jahren angesetzt. In den öffentlichen Urteilen aufgrund von Artikel 321 sind Strafen zwischen einem und drei Jahren die Regel.

    Artikel 321 und der Fall Mochnatkin

    Mochnatkin wurde zwei Mal wegen Störung der Arbeit der Kolonie angeklagt: Beim ersten Mal – nach dem Vorfall mit der Wirbelsäule – verlängerte sich seine Haftstrafe um zweieinhalb Jahre.

    Das zweite Verfahren auf Grundlage von Artikel 321 wurde im November 2018 eingeleitet: Er hatte sich gegen Mitarbeiter der Kolonie zur Wehr gesetzt, die ihn aus dem Gefängniskrankenhaus ins Gericht bringen wollten. Von diesem zweiten Verfahren erfuhr er knapp einen Monat vor seiner Entlassung aus der vorherigen Haftstrafe: Sie wäre am 30. November abgelaufen, aber das Gericht ordnete aufgrund des neuen Verfahrens eine zweimonatige Vorbeugehaft an und ließ ihn im Gefängnis. 

    Mochnatkins verletzte Wirbelsäule nach der Operation im Jahr 2016 / Foto © Facebook
    Mochnatkins verletzte Wirbelsäule nach der Operation im Jahr 2016 / Foto © Facebook

    Menschenrechtsaktivisten setzten sich für Mochnatkin ein. Der Pressedienst des russischen Strafvollzugs FSIN reagierte auf den öffentlichen Aufschrei mit der Erklärung, Mochnatkin habe die Überstellung „selbst sabotiert“, indem er „bestimmte Anforderungen durch Panik, Geschrei und Kraftausdrücke verletzt“ habe.

    Am 14. Dezember 2018 hob das Gericht den Arrest unerwartet auf. Mochnatkin kam frei. Nach der Entlassung verschlechterte sich sein Zustand zusehends – innerhalb eines Jahres lag er drei Mal im Krankenhaus, war auf Schmerzmittel angewiesen und konnte aufgrund der Schmerzen kaum schlafen. 

    Wenn er sich besser fühlte, nahm er an Protestaktionen teil: Im Juli 2019 spazierte er über den Boulevard-Ring, um die oppositionellen Kandidaten bei den Wahlen in Moskau zu unterstützen. Am 10. August 2019 war er bei der Kundgebung auf dem Sacharow-Prospekt.

    Strafkodex des Schweigens 

    Nicht alle Gefangenen haben zumindest diese Art der öffentlichen Unterstützung. Ein gewöhnlicher Häftling, der in Konflikt mit der Lagerverwaltung steht, hat nur eine rechtliche Möglichkeit: Er kann eine Beschwerde gegen die Handlungen der Vollzugsbeamten schreiben (sie kann entweder über einen Anwalt oder nahestehende Personen übermittelt werden – was als der sicherste Weg gilt –, oder über das Strafvollzugs-System des FSIN selbst). Wenn der Häftling über Misshandlung oder Folter klagt, leitet das Ermittlungskomitee eine Untersuchung ein. Wenn die Untersuchung den Verdacht nicht bestätigt, kann das Ermittlungskomitee ein Strafverfahren gegen den Häftling selbst eröffnen – nach Paragraph 306, wegen Falschaussage. Das kann zwei bis drei Jahre Haft bedeuten – eine weitere Möglichkeit, einen widerspenstigen Häftling zu bestrafen.

    Freisprüche gibt es in solchen Fällen praktisch keine, aber manchmal wird die Anklage wegen Verjährung fallengelassen. Für die ersten zwei Absätze beträgt die Frist zwei Jahre.

    Aufgrund des zweiten Verfahrens wegen Artikel 321 – als er sich geweigert hatte, aus dem Krankenhaus ins Gericht zu fahren – drohten Mochnatkin weitere fünf Jahre Haft. Unser Treffen fand 2019, nur wenige Tage vor der nächsten Gerichtssitzung in Archangelsk statt. Mochnatkin ist nicht hingefahren: Die Rückenschmerzen sind zu stark, er kann kaum laufen.

    „Eine neue Haftstrafe kann ich nicht ausschließen“, antwortet Mochnatkin müde auf meine Frage nach der Zukunft. Zum Ende des Gesprächs hin spricht er immer leiser, macht lange Pausen. „Am Anfang hatte ich viel Kraft, aber die habe ich wohl aufgebraucht. Jetzt habe ich keine Kraft mehr. Aber ich muss weitermachen – ich verteidige ja nicht irgendjemanden, sondern mich selbst, ich muss Druck auf diese [FSIN-Mitarbeiter] ausüben, Gegenerklärungen zu den Straftaten schreiben. Wenn sich der Angeklagte nicht selbst rausholt, dann tut es niemand.“ 

    Anmerkung von dekoder: Das letzte offene Verfahren gegen Mochnatkin wurde schließlich wegen seines schlechten Gesundheitszustands und wegen „Formfehlern“ eingestellt. Nachdem er im Dezember 2019 noch zwei Mal operiert worden war, starb Sergej Mochnatkin am 28. Mai 2020 in Moskau.

    Weitere Themen

    „Viele der Mütter und Kinder sehen sich nie wieder”

    Video #9: Putin über Serebrennikow, Mathilde, Felgengauer, Dmitrijew

    „Wie es ausgeht, weiß keiner”

    Foltervideo: Einmaliger Störfall?

    Ojub Titijew – die Geschichte eines Menschenrechtlers

    Warum der Fall Golunow alles zum Kochen brachte

  • Wir sind dann mal weg …

    Wir sind dann mal weg …

    Wie viele Russen das Land verlassen, wohin und weshalb sie gehen. Das Onlinemedium Projekt hat verschiedene Zahlen aufbereitet und verglichen.

    Im Oktober 2018 hat Wladimir Putin ein neues Konzept zur Migrationspolitik unterzeichnet. Es gilt als Versuch, Landsleute aus dem Ausland zur Rückkehr nach Russland zu bewegen. Gründe, besorgt zu sein, hat die Regierung sehr wohl: Das Jahr 2017 ist in der Statistik durch einen drastischen Anstieg der Auswandererzahl gekennzeichnet: 377.000 Personen, die das Land verlassen haben, hat das russische Amt für Statistik Rosstat in diesem Jahr verzeichnet. In dem Zeitraum vergleichbarer Messwerte [2012 bis 2017] ist das ein Rekordwert. Gegenüber 2012 hat sich die Zahl der Ausgewanderten fast verdoppelt.

    Anmerkung von dekoder: Die russische Statistikbehörde Rosstat modifizierte in den vergangenen Jahren mehrmals die Methodik bei der Erfassung von Migrantenzahlen, zuletzt 2011. Damals entschied Rosstat, auch Arbeitsmigranten in die Statistik aufzunehmen. Diese kommen vor allem aus Zentralasien und dem Kaukasus nach Russland. Streng genommen handelt es sich bei dieser Gruppe nicht um Emigranten, sondern um sogenannte Gastarbeiter, die in ihre Heimatländer zurückkehren.

    Gestiegen ist nicht nur die Gesamtzahl der Emigranten [inklusive der Arbeitsmigranten, die von der offiziellen Statistik ebenfalls erfasst werden. Streng genommen sind diese aber keine Emigranten, sie kehren lediglich in ihre Heimatländer zurück – dek]. Auch die Zahl derjenigen, die das Land in Richtung fernes Ausland verlassen haben, ist angestiegen. 
    Bezogen auf russische Staatsangehörige ist die Situation die gleiche. 2017 sind fast doppelt so viele russische Staatsangehörige ausgewandert wie noch 2012. Allein im Laufe der dritten Amtszeit von Präsident Putin sind 1,7 Millionen aus Russland fortgezogen, das sind zunächst einmal nur die Berechnungen von Rosstat.



    Quelle: Rosstat (1, 2) / zitiert nach Projekt

    Ein Vergleich mit Statistiken anderer Länder über zugezogene Menschen aus Russland zeigt aber: Die Angaben von Rosstat sind um ein Vielfaches zu niedrig. Aktuelle Daten (zuletzt zu 2017) sind nur für einige Länder verfügbar. Sie besagen Folgendes: Das Ministerium für Heimatschutz der Vereinigten Staaten zählte sechs Mal mehr zugezogene Russen als Rosstat. Am stärksten weichen die Angaben von Rosstat von den Daten aus Tschechien und Ungarn ab, sie liegen dort beim Zwölf- beziehungsweise Vierzehnfachen. Insgesamt ergibt sich, dass in 24 Ländern der OECD, aus denen für 2016 Angaben zu Ankommenden aus Russland vorliegen, sechsmal mehr Menschen Russland verlassen haben, als bei Rosstat angegeben sind.
    Bei der russischen Statistikbehörde werden die Unstimmigkeiten eingeräumt; nicht alle Emigranten würden registriert: „Viele lassen sich nicht von den Meldelisten streichen und fallen dadurch nicht in die Kategorie Emigranten. Diese Menschen sind in Russland gemeldet, leben aber in Wirklichkeit in anderen Ländern.“

    Differenz: Rosstat vs. Statistikbehörden der jeweiligen Länder (2016)

    Quelle: Rosstat / OECD / Eurostat etc. / zitiert nach Projekt

    Der Begriff „Russische Welt“ [Russki Mir] hat sich unter Putin zu einem politischen Statement gewandelt: In den Reden des Präsidenten und seiner Umgebung – besonders bei Patriarch Kirill – ist der Begriff oft zu hören. Eben diese Russische Welt, deren Eindringen man in vielen Ländern fürchtet, könnte eine ganz andere Bedeutung bekommen: Unsere Studie zeigt, wie groß weltweit die Zahl derer ist, die sich als [ethnische] Russen oder als Bürger Russlands wahrnehmen.
    Russland lag bei der Zahl der „Verluste“ 2017 weltweit auf Rang drei: Über die Welt verstreut leben 10,6 Millionen Menschen, die Russland verlassen haben. Das sind sieben Prozent der Bevölkerung Russlands im Jahr 2017 und vier Prozent aller Emigranten weltweit.

    Top-10 der Herkunftsländer von Migranten weltweit

    Quelle: UN (2017) / zitiert nach Projekt

    Laut Rosstat hat die Einwohnerzahl Russlands im Jahr 2018 zum ersten Mal seit 2008 abgenommen. Sie beträgt mit der völkerrechtlich zur Ukraine gehörenden Krim 146.793.700 Menschen. Laut UN gibt es derzeit mehr als 250 Millionen Migranten weltweit. 



    Quelle: UN / zitiert nach Projekt

    Der Anstieg der Migrantenzahlen ist ein globaler Trend. Die Globalisierung hat in den letzten Jahrzehnten in den meisten Ländern zu einer drastischen Zunahme der Auswandererzahlen geführt.

    Die Russische Welt ist sehr viel größer, als sich berechnen ließe. Diejenigen, die sich den ethnischen Russen zurechnen, aber nicht mehr die Staatsangehörigkeit der Russischen Föderation besitzen, tauchen in den Statistiken nicht auf. Auch jene Nachkommen von Emigranten, die sich durch die Sprache eine nationale Identität bewahrt haben, gelangen nicht in die Statistiken. Es gibt weltweit sehr viel mehr Russen (im weiteren Sinne), als sich durch die Emigrationsstatistiken nachvollziehen lässt. Ihre Gesamtzahl ist nicht bekannt, Zahlen gibt es nur für einige Länder. 
    Im Jahr 2017 haben beispielsweise in den USA 2,6 Millionen Menschen eine russische Herkunft angegeben. Als Herkunft gilt hier die ethnische Zugehörigkeit einer Person, ihre Wurzeln, ihr Geburtsort oder der ihrer Vorfahren. Die Anzahl solcher Personen ist in den letzten Jahren rückläufig: 2010 hatte sie noch 2,9 Millionen betragen. Eine entgegengesetzte Tendenz ist hinsichtlich des Gebrauchs des Russischen zu beobachten. Wenn 2010 noch 854.000 Menschen Russisch als die Sprache angaben, die zu Hause gesprochen wird, waren es 2017 bereits 936.000. 2018 landete das Russische in den USA auf Platz neun der zu Hause gesprochenen Sprachen.

    Russische Migranten in Deutschland

    Ein weiteres Land, das bei Russen begehrt ist, ist Deutschland. Hier wird keine Statistik darüber geführt, wie viele Menschen sich als aus Russland stammend wahrnehmen. Berechnungen ergeben aber, dass es in Deutschland unter den 19 Millionen Menschen ausländischer Herkunft 1,4 Millionen mit Wurzeln in Russland gibt. Das bedeutet, dass diese Menschen selbst oder ihre Vorfahren aus Russland nach Deutschland gekommen sind. Dazu zählen Menschen, die entweder als Ausländer in Deutschland leben, oder solche, die bereits die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten haben.
    Was die Sprache betrifft, so wird in Deutschland in 14 Prozent aller Haushalte, in denen die Hauptsprache nicht Deutsch ist, Russisch gesprochen. Nach Berechnungen von Projekt sprechen im Schnitt 1,1 Millionen Menschen in Deutschland vorwiegend Russisch zu Hause. Nach dem Türkischen liegt das Russische bei den nichtdeutschen Sprachen, die in Deutschland zu Hause gesprochen werden, auf dem zweiten Platz.

    Gründe für die Emigration

    2016 hat das Lewada-Zentrum eine Umfrage zu den Gründen durchgeführt, die die Menschen an Emigration denken lassen. Die meisten nannten bessere Lebens- und Alltagsbedingungen im Ausland und klagten über die instabile Wirtschaftslage in Russland. Die übrigen wollten ihren Kindern eine anständige und hoffnungsvolle Zukunft sichern oder Russland wegen fehlenden Schutzes vor Behördenwillkür verlassen. Ein nicht geringer Anteil der Befragten begründete den Auswanderungswunsch mit der Möglichkeit, im Ausland eine bessere medizinische Versorgung zu erhalten. Weitere Gründe waren die Geschäftsbedingungen für Unternehmen in Russland, die politischen Zustände und fehlende Möglichkeiten für beruflichen Aufstieg.

    Warum kommen die Menschen auf die Idee, aus Russland zu emigrieren?


    Anteil der Respondenten, die angegeben haben, über eine Emigration nachgedacht zu haben. Quelle: Lewada (2016) / zitiert nach Projekt

    Die stärkste Tendenz zur Emigration haben laut Rosstat in Russland junge Menschen. Die meisten Emigranten sind zwischen 20 und 34 Jahre alt. Dabei bevorzugen die Jüngeren die Länder des fernen Auslands als Ziel, dorthin zieht es Menschen zwischen 20 und 24. In die Länder der GUS gehen meist jene, die über 30 sind.

    Auswanderer russischer Staatsangehöriger nach Altersklassen


    Quelle: Rosstat (2015, 2016, 2017) / zitiert nach Projekt

    Schaut man sich in den Rosstat-Statistiken die russischen Staatsangehörigen an, ist die Situation eine andere. Die meisten Auswanderer sind zwischen 25 und 34. Die Hälfte jener, die aus Russland ins ferne Ausland fortziehen, hatte noch keine Familie gegründet und war niemals verheiratet gewesen. Das erhöht die Chancen, in einem anderen Land Wurzeln zu schlagen.

    Auch der Brain Drain nimmt an Fahrt auf: 2017 hatten 22 Prozent der Emigranten, zu denen Rosstat Bildungsdaten vorliegen, eine abgeschlossene höhere Bildung, unter anderem auch akademische Grade. Die Zahl der Emigranten mit Hochschulbildung wächst mit jedem Jahr, von 17 Prozent 2012 auf heute 22 Prozent. Vor der Änderung der Methodik, mit der Emigranten durch Rosstat registriert werden, war ein ähnlicher Anstieg zu beobachten gewesen – von 28 Prozent 2008 auf 34 Prozent 2011. 

    Die meisten Arbeitsmigranten aus Ländern der GUS haben keine höhere Bildung, und das führte im Weiteren in den Statistiken zu einem sinkenden Anteil der Emigranten mit höherer Bildung.

    Im Jahr 2017 sind Russen mit Hochschulbildung meist nach Deutschland, in die USA, nach Israel und in die Volksrepublik China gegangen. Diese Länder des fernen Auslands hatten auch im vergangenen Jahrzehnt in Bezug auf russische Einwanderer mit höherer Bildung an der Spitze gelegen: Auf dem ersten Platz lag Deutschland, dann die USA, Israel, China und Kanada.



    Quelle: Rosstat / zitiert nach Projekt

    Nicht nur Menschen mit höherer Bildung emigrieren aus Russland, sondern auch solche mit viel Geld. Den Daten der Studie Global Wealth Migration Review 2018 der Consultingfirma New World Wealth zufolge liegt Russland bei der Zahl der Dollarmillionäre, die das Land 2017 verlassen haben, an sechster Stelle. Diesen Angaben zufolge sind rund 3000 Millionäre aus Russland fortgezogen, vor allem in die USA, nach Zypern, Großbritannien, Portugal und in die Länder der Karibik. Und diese Zahl umfasst nur jene, die das Land tatsächlich hinter sich gelassen haben. In der Studie sind dies Personen, die sich über ein halbes Jahr im Ankunftsland aufgehalten haben.

    Es entfliehen nicht nur jene dem Land, denen es gut geht: Auch Asylanträge, die wegen Problemen in der Heimat gestellt werden, sind eine Erscheinungsform von Emigration. Die Demografin Julia Florinskaja erläutert, dass aufgrund der politischen Situation derzeit unter den Asylsuchenden vermehrt Oppositionelle zu finden sind, die strafrechtlich verfolgt werden, sowie Menschen mit „nicht traditioneller“ sexueller Orientierung. Insgesamt sind 2017 in den 28 Ländern der EU rund 12.700 Asylanträge von russischen Staatsangehörigen eingegangen. Was die Zahl der gestellten Anträge angeht, liegt Deutschland an der Spitze, gefolgt von Frankreich, Polen, Österreich und Finnland.

    Russen suchen nicht nur in Europa Asyl: Weitere 2700 Anträge wurden 2017 in den USA gestellt. Während die Gesamtzahlen für die EU-Staaten seit 2014 zurückgehen, stellen in den USA Jahr für Jahr mehr Russen einen Asylantrag. 2000 waren es noch 856, 2014 wurde dann die Tausendermarke überschritten und bis 2016 hatte sich die Zahl noch einmal verdoppelt.  

    Top-10 der EU-Länder, in denen Menschen aus Russland 2017 Asyl beantragt haben


    Quelle: Eurostat (2017) / zitiert nach Projekt

    Weitere Themen

    Aus der Filmfabrik

    Entlaufene Zukunft

    Journalisten in der Provinzfalle

    Karriere in Uniform

    Die unbemerkten Flüchtlinge

    Stabilisierung