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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Wer nicht Freund ist, ist Feind

    Wer nicht Freund ist, ist Feind

    Das politische System in Russland wird schnell auf Putin reduziert. Dabei sollte man eher von einem System Putin ausgehen. Dieses System hat seine Besonderheiten gerade auch, was die Opposition betrifft. Im Grunde gibt es ein „hierarchisches Gebilde aus der dominanten Regierungspartei Einiges Russland und drei weiteren Parteien, die sich mit ihrem nachgeordneten Platz im System weitgehend arrangierten“. Die kommunistische KPRF, die rechtspopulistische LDPR und die Partei Gerechtes Russland werden deswegen als „Systemopposition“ bezeichnet. 

    Als Nicht-System-Opposition gelten dagegen politische Parteien und Bewegungen, die meist nicht an Wahlen teilnehmen dürfen und damit de facto aus dem politischen System ausgeschlossen bleiben. Dazu gehört etwa auch das Team Alexej Nawalnys.

    Ein Moskauer Gericht hat am gestrigen Mittwoch, 9. Juni, die Organisationen Nawalnys für „extremistisch“ erklärt. Dies bedeutet auch, dass sich jeder strafbar macht, der für sie arbeitet und sie unterstützt. Nawalnys Wahlkampf-Chef Leonid Wolkow erklärte bereits zuvor, dass die Struktur der Organisation damit zerstört sei, und dass man nun andere Maßnahmen überlegen müsse.

    Der FBK ist nicht das einzige Beispiel: Seit den Protesten im Januar/Februar und im Vorfeld der Dumawahl im September haben die Repressionen gegen kritische Stimmen deutlich zugenommen: Es trifft die Nicht-System-Opposition, die Zivilgesellschaft genauso wie Medien. Unlängst wurden drei deutsche NGOs zu „unerwünschten Organisationen“ erklärt, was ihre Arbeit in Russland unmöglich macht. Schon zuvor wurden mehrere russische Organisationen ebenfalls als „unerwünscht” eingestuft, etwa Otkrytaja Rossija, die Organisation von Michail Chodorkowski. 
    Parallel dazu verstärkt der Gesetzgeber die Internetzensur. Es wurden Geldstrafen gegen Soziale Medien wie Facebook, Twitter und TikTok verhängt – wegen Verbreitung von „Aufrufen zu illegalen Massendemonstrationen“ – und Twitter wurde gedrosselt. Auch unabhängige Online-Medien geraten zunehmend unter Druck: Meduza und VTimes gelten als „ausländische Agenten“, gegen einzelne Journalisten und Medien wurden Strafverfahren eingeleitet, etwa gegen vier Redaktionsmitglieder des Magazins Doxa. 

    Da immer mehr Organisationen so die Grundlagen ihrer Arbeit entzogen wurden, fragt Politologin Tatjana Stanowaja auf Projekt, ob man unter solchen Bedingungen überhaupt noch von einer Nicht-System-Opposition sprechen kann, inwiefern sich diese Art von Opposition derzeit ändert und welche Instrumente ihr bleiben.

    Noch nie in den 21 Jahren unter Putins Herrschaft stellte sich die Frage nach der „Belarussifizierung“ der russischen Politik so akut wie heute – etwas, das noch vor ein paar Jahren undenkbar schien.

    Heute scheint es, als liege im politischen Kampf gegen die Opposition der Vorteil ausschließlich auf Seiten der Machthaber. Der Kreml (als Sammelbegriff für die oberste Führung des Landes) hat der Nicht-System-Opposition nicht nur unüberwindbare Hürden in den Weg gestellt, er hat sich auch rundum abgesichert: Es wurden inzwischen derart viele Verbotsgesetze erlassen, dass jeder beliebige Oppositionelle und jede oppositionelle Organisation – ganz nach Lust und Laune der Silowiki – als „ausländischer Agent“, „unerwünschte Organisationen“, als „extremistisch“, als „NGO, die in die Persönlichkeitsrechte der Bürger eingreift“ gehandelt werden kann. Wenn alle Stricke reißen, dann können sie auch einfach zu einer kriminellen oder betrügerischen Vereinigung erklärt werden. 

    Die „Belarussifizierung“ der russischen Politik

    Jemanden von den Wahlen auszuschließen und Protestaktionen zu verbieten ist ebenfalls ein Kinderspiel – da geht es nicht einmal um gesetzliche Hürden, sondern um die beachtliche Willkür der Anwendung von Gesetzen. Das Gesetz ist kein Wert mehr an sich, sondern das Privileg einiger Weniger. 

    Den Leadern der Nicht-System-Opposition bleibt praktisch keine andere Wahl als die politische Emigration. Zahlreiche Aktivisten aus Nawalnys Team waren unter Androhung von Strafverfolgung gezwungen, Russland zu verlassen [so etwa auch der Wahlkampfchef Leonid Wolkow – dek]. 

    Jemanden von den Wahlen auszuschließen ist ein Kinderspiel – da geht es nicht einmal um gesetzliche Hürden, sondern um die beachtliche Willkür der Anwendung von Gesetzen

    Die gesamte inländische Infrastruktur, von den Regionalteams (wenn es um den FBK geht) bis hin zu einzelnen Abteilungen (im Fall von Otkrytaja Rossija), ist faktisch aufgelöst, die Mitarbeiter ins Nichts entlassen. 
    Michail Chodorkowski, der Gründer von Otkrytaja Rossija, hat das Problem kürzlich klar benannt: „Ich sehe momentan keinen Sinn darin, sich unter einen Panzer zu legen.“ 
    All das erzeugt ein tiefes Gefühl von einem Ende, von der endgültigen Niederschlagung der Nicht-System-Opposition, die nach ihrer „Kriminalisierung“ (Ende 2020/Anfang 2021) jetzt schlicht als Klasse liquidiert wurde. Was nun?

    Den Leadern der Nicht-System-Opposition bleibt praktisch keine andere Wahl als die politische Emigration

    Wenn wir von der Opposition in einem breiteren Sinn sprechen, gibt es mindestens drei Haupttrends, mit denen wir es in nächster Zeit zu tun haben werden. 

    Der erste Trend: Opposition wird zu „Anti-Regime“ gemacht

    Der erste Trend: Mit Beginn des Jahres 2021 hat der Begriff „Nicht-System-Opposition“ ausgedient und wird abgelöst von einem „Anti-Regime-Verhalten“. 

    Die ehemalige Nicht-System-Opposition hat keine vollwertigen (das heißt sich noch in Freiheit und im Land befindenden) Organisationen, Leader, Strategien, Finanzressourcen oder Mitarbeiter mehr. Ebenso rasant verliert sie ihre Informationskanäle, den Zugang zu einer breiten Leser- und Zuschauerschaft. Die Regierung ist gerade dabei, die Regulierung des Internets insgesamt und der sozialen Medien insbesondere radikal zu überdenken. In allernächster Zukunft wird die Kontrolle der „illegalen“, sprich: politisch unliebsamen Informationsinhalte im Internet massiv verschärft werden. Die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor überprüft das gesamte System der Beziehungen zu ausländischen IT-Konzernen (z. B. Drosselung von Twitter, Drohungen gegenüber Google, Druck auf YouTube usw.), indem sie fordert, „falsche“ Inhalte und Videos zu entfernen und „richtige“ voranzubringen. 
    Das Überwachungsorgan verfügt außerdem über alle Instrumente, um Internetseiten zu sperren, das Löschen von Publikationen zu erzwingen und diejenigen, die sich widersetzen, zu verfolgen. Hierzu können wir auch die jüngsten Änderungen zum Gesetz über die „aufklärerische Tätigkeit“ zählen, die ein klarer Angriff sowohl auf die russische Wissenschaft und Bildung als auch auf jede öffentliche oppositionelle Aktivität sind.

    Die Unterdrückung wird radikal ausgeweitet

    Viele meinen, die aktuelle Kampagne der Regierung zur Zerschlagung der Nicht-System-Opposition würde sich nur gegen den FBK und Chodorkowskis Otkrytaja Rossija richten, aber die Absichten der Machthaber gehen weit darüber hinaus. Die Unterdrückung wird radikal ausgeweitet, zur Zielscheibe wird alles, was die Macht als eine Form von Anti-Regime-Verhalten empfindet, ob individuell oder institutionell. 

    Das Anti-Regime-Verhalten

    Ein solches Verhalten hat keine Organisationen, keine Leader, keine vollwertige Koordination, doch es lassen sich drei Grundformen unterscheiden. Die erste ist die öffentliche Kritik: Posts, Likes, Retweets und kritische Äußerungen – das betrifft sowohl Privatpersonen als auch einzelne Medien, Journalisten, Experten, Kulturschaffende sowie natürlich Politiker und Menschenrechtler. 

    Die zweite ist die Teilnahme an politischem Protest, seien es Kundgebungen oder beliebige Veranstaltung eines Anti-Regime-Oppositionellen. 
    Die dritte – und vermutlich schwerwiegendste – ist die Ablehnung bestimmter „politischer Werte“: die „Beleidigung“ von Kriegsveteranen, „Respektlosigkeit gegenüber der Macht“ (die sich selbst zu einer „geistigen Klammer“ gemacht hat), Vergleiche der UdSSR mit Nazideutschland. 
    Die gesamte Politik des russischen Staates zur Unterdrückung der Nicht-System-Opposition wird auf diese Weise in eine großangelegte, allumfassende, in der Regel entpersonifizierte Kampagne gegen alle Formen von Anti-Regime-Stimmungen transformiert.

    Politisch motivierter Absicherungswahn

    Man könnte meinen, das, was geschieht, sei eine sorgfältig durchdachte Strategie des kollektiven Kreml, fünf Schritte im Voraus geplant und mit allen abgestimmt. Aber das ist längst nicht der Fall: Die Linie der Unterdrückung ist chaotisch, oft undurchschaubar, sie wird realisiert von Akteuren, die sich gegenseitig bekriegen und weder einen einheitlichen Plan noch eine Schaltzentrale haben. Der Trend zur Unterdrückung erwächst aus einem bestimmten Milieu, aus der allgemeinen Stimmung gegen alles Unkontrollierte, aus einem politisch motivierten Absicherungswahn, der zu einer Vielzahl voneinander unabhängiger Rachefeldzüge führt. Der Kampf gegen Anti-Regimler kann in diesem Fall sowohl Ursache, Selbstzweck oder auch ein Mittel sein, Unternehmensinteressen durchzusetzen.

    Zweiter Trend: Neue Formen des Anti-Putin-Protests

    Der zweite Trend ist, dass der Anti-Putin-Protest andere Formen annehmen wird. Aktuell stehen den ehemaligen Aktivisten der Nicht-System-Opposition drei Hauptstrategien zur Verfügung: in den Untergrund gehen, wo sie harte Gefängnisstrafen riskieren und praktisch keinen Zugang zum Informationsraum haben; in die System-Opposition wechseln; ihre politischen Ziele regionalisieren. 

    In den Untergrund

    Das Verschwinden im Untergrund wird vermutlich nur eine marginale und periphere Bewegung sein – einfach aus der Unmöglichkeit heraus, gefahrlos zu agieren. Aber auch die beiden anderen Optionen scheinen nur begrenzt möglich. 

    Wechsel in die System-Opposition

    Zwar sind die regionalen Abteilungen der Systemparteien zum Teil nicht weniger radikal als Nawalnys Teams und könnten versuchen, ihren Platz in den legalen Parteistrukturen zu finden. Doch das Gesetz zur Einschränkung des passiven Wahlrechts für alle, die in der Vergangenheit irgendwie mit dem „extremistischen“ FBK zu tun hatten, könnte den Wechsel in die Systemopposition erschweren. Sergej Iwanenko, stellvertretender Vorsitzender von Jabloko, hat zwar angekündigt, seine Partei sei bereit, ehemalige Mitarbeiter und Koordinatoren der Nawalny-Teams in ihren Reihen aufzunehmen. Doch selbst diejenigen, die bereit sind, in die Systemopposition zu wechseln, riskieren eine Absage: zu toxisch sind alle Nawalny-Aktivisten geworden, zu große Schwierigkeiten könnte ihre Aufnahme für die Systempartei bedeuten.

    Das Problem ist nicht einmal die Zulassung oder Nichtzulassung bei den Wahlen (definitiv nicht), sondern das Risiko einer strafrechtlichen Verfolgung. Dabei ist klar, dass der FBK zwar zerschlagen, aber die Leute noch da sind – und dass viele von ihnen, wenn sie den politischen Kampf fortsetzen wollen, ganz neu werden anfangen müssen, mit individuellen Projekten und einem Fokus auf regionalen statt föderalen Themen. 

    Zunehmende Bedeutung des regionalen Protests

    Das könnte wiederum bedeuten, dass die regionale Protestaktivität, die Anzahl der lokalen Aktionen und Proteste [die sich nicht explizit gegen Putin, sondern gegen einzelne Regionalchefs richten – dek] zunehmen wird. Diese Regionalisierung des Protests ist tatsächlich kein geringes Problem für die Machthaber im Kreml – die Untergrabung der Legitimität des Gouverneurs-Korps ist eine der effektivsten Formen im Kampf gegen das Regime insgesamt.

    Dritter Trend: Radikalisierung und Mini-Nawalnys

    Der dritte Trend ist schließlich das Zusammenschrumpfen des Systemfeldes und die Radikalisierung der Peripherie der Systemopposition. Im Grunde ist dieser Prozess bereits im Gange, man muss sich nur anschauen, wie bereitwillig manche Kandidaten der Systemopposition die Vorteile des „Smart-Votings“ 2019 in Moskau oder bei den Kommunalwahlen im September 2020 für sich genutzt haben. Nawalnys Sympathisanten sowie die oppositionellen und putinkritisch eingestellten Aktivisten der Systemopposition (allen voran bei Jabloko und in der KPRF) – bereiten ihren Parteispitzen mittlerweile ernsthaft Kopfzerbrechen. Jabloko sah sich gezwungen, eine umfassende Parteireform durchzuführen und alle auszusieben, die zu stark in Richtung der Nicht-System-Opposition „abweichen“. Die KPRF hat bei ihrem letzten Parteitag die Kompetenzen aller „Unzuverlässigen“ begrenzt, die vom Regime als Nawalny-Anhänger eingestuft werden. Der Kreml hatte [die KPRF] in aller Schärfe vor die Entscheidung gestellt: Entweder sie würde sich von dem politisch gefährlichen Ballast befreien oder sie bekommt Probleme bei den Wahlen (und nicht nur bei den Wahlen).

    Auf diese Weise zwingt das Regime die Parteien der Systemopposition, sich noch stärker zum System und zu Putin zu bekennen, die „gemeinsamen Werte“ noch eifriger zu verfechten – das Feld der Systemparteien wird enger und loyaler. Das provoziert eine Zunahme von oppositionellen Stimmungen, inneren Zwist und Konflikte: Bei weitem nicht alle – zumal in den Regionen – sind bereit, diesen Kurs des Kompromisslertums mitzutragen, selbst wenn das die einzige Überlebenschance ist.

    Einer der interessantesten Prozesse ist derzeit das Entstehen einer neuen Generation von vielversprechenden und talentierten charismatischen Politikern, die auf föderaler Ebene noch wenig bekannt sind, die aber sowohl ihren Systemparteien als auch dem Kreml die Stirn bieten. Eines der schillerndsten Beispiele ist der bereits in Ungnade gefallene Saratower Abgeordnete Nikolaj Bondarenko, dem auf YouTube über anderthalb Millionen Menschen folgen.

    Was tun mit der innersystemischen Anti-Regime-Opposition? Das ist kein geringes Problem für den Kreml. Sie aus dem systemischen Feld zu verbannen, wäre nur eine halbherzige Maßnahme, sie alle einbuchten können die „Kuratoren“ auch nicht (noch lässt der FSB die Systemopposition in Ruhe). Man wird punktuell und individuell vorgehen müssen, aber eine einheitliche Strategie gibt es nicht und kann es in dieser Situation nicht geben, in der es im ganzen Land vor individuellen FBKs und Mini-Nawalnys nur so wimmelt.

    Auch Medien werden als „Opposition“ aufgefasst

    Das Besondere an der gegenwärtigen Situation, in der die Regierung die putinkritische Opposition de facto zerschlagen hat, ist, dass der Begriff der Opposition extrem breit aufgefasst wird. In den Augen der Machthaber übernehmen auch die Medien eine indirekt oppositionelle Rolle: unabhängige Online-Portale, Echo Moskwy, Doshd – Medien, die sich besonders für die Hardliner der Silowiki in Nichts von Nawalny und seinem FBK unterscheiden. Das bedeutet, dass die unabhängigen Medien, aber auch Massenmedien mit einer unabhängigen Informationspolitik, zunehmend politische Bedeutung zugeschrieben bekommen und zur offenen Zielscheibe für die Repressionswalze werden, die die Überreste der Anti-Regime-Aktivität dem Erdoden gleichmacht.

    Unabhängige Medien bekommen zunehmend politische Bedeutung zugeschrieben

    Nichtsdestoweniger, allem Druck, Repressionen und Niederschlagungen zum Trotz, bleiben der oppositionellen politischen Aktivität noch einige Instrumente: 

    Informationskampagnen

    Zum einen sind das Informationskampagnen, die trotz aller Versuche der Machthaber, die Kontrolle über das Internet zu verschärfen, aus dem Ausland und unter Umgehung der Sperren durchgeführt werden können. Es ist unwahrscheinlich, dass das massenhaft vorkommen wird; aber dieser Kanal bleibt bestehen, zumal sich die Frage nach einer totalen und undurchdringlichen Zensur des Internets nach chinesischem Vorbild momentan nicht stellt. 

    Radikalisierung

    Zweitens ist da die Radikalisierung der Systempolitiker – hauptsächlich auf regionaler Ebene, aber mit Aussicht auf Ausweitung auf die landesweite Ebene. Wir werden vermutlich Zeuge des Entstehens einer ganzen Reihe von neuen lokalen politischen Projekten, deren Erfolg begrenzt sein wird. Die Menschen werden überall nach Einsatzmöglichkeiten für ihre bereits erworbenen politischen Kompetenzen suchen und der Kreml wird dann regelmäßig lokale politische Brände löschen müssen.

    Protestaktionen

    Drittens bleiben schließlich die Protestaktionen. Die Möglichkeiten von Nawalnys Team sind heute radikal eingeschränkt, wenn sie nicht sogar bei Null liegen; und andere Leader auf föderaler Ebene gibt es nicht. Doch der stärkste Motor für Massenproteste wird nicht die Opposition, sondern werden die Machthaber selbst sein – ihre Fehler waren es in der Regel, die als Trigger für vieltausendköpfige Aktionen gewirkt haben, so zum Beispiel 2019 in Moskau, 2020 in Chabarowsk und noch im Januar und Februar 2021 rund um die Verhaftung Nawalnys
    Ja, es gibt das Problem der fehlenden Koordination auf föderaler Ebene, aber wie das Beispiel Belarus zeigt, braucht eine Massenprotestbewegung nicht zwingend Anführer.

    Der stärkste Motor für Massenproteste wird nicht die Opposition, sondern werden die Machthaber selbst sein

    In diesem Sinne könnten die Wahlen im September zu einer ernsten Herausforderung für die Machthaber werden. Um sie schmerzlos zu überstehen, wird es nicht ausreichen, Nawalny einzusperren, den FBK zu vernichten und Otkrytaja Rossija zu schließen. 

    Nach der Zerschlagung der Opposition ist die Hauptgefahr für die Macht die Macht, die in Ermangelung einer Opposition unausweichlich noch gröbere und gefährlichere Fehler machen wird, als wenn es eine Opposition gäbe.

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  • „Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit“

    „Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit“

    Nawalnys Stiftung FBK soll zur „extremistischen“ Organisation erklärt werden, das Exilmedium Meduza wurde auf die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ gesetzt. Journalisten, Menschenrechtler, auch Wissenschaftler, die an den Protesten für Nawalny im Januar und Februar teilgenommen haben, berichten in den vergangenen Tagen über Hausbesuche von Sicherheitskräften. Diese und weitere Nachrichten zeigen, dass sich die innenpolitische Lage in Russland derzeit zuspitzt, der Druck auf die Zivilgesellschaft und unabhängige Medien wächst. 

    Die Repressionen, aber auch das Schweigen in breiten Teilen der Gesellschaft, beides fließt ein in den unten stehenden Text von Andrej Loschak. Sein Text auf dem Online-Medium Projekt zeugt von verlorener Hoffnung und großer Verzweiflung, und auch davon, welch existenzieller Nerv derzeit in einem bestimmten Segment der russischen Gesellschaft getroffen ist und blankliegt. 
    Implizit wirft sein engagiertes Meinungsstück auch die offene Frage auf, wie objektiv Journalismus unter solchen Bedingungen noch sein kann, darf und muss. 

    Was mit Alexej Nawalny und seinen Anhängern passiert, ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Da werden friedliche, gesetzestreue, unschuldige Menschen geächtet. Sie sind einem regelrechten Staatsterror ausgesetzt, der immer mehr Schwung aufnimmt. Endlose Lügen und Hasstiraden auf staatlichen Sendern und kremltreuen Müllkippen, fabrizierte Anklagen, Hausdurchsuchungen mit Beschlagnahmung (Diebstahl) von technischen Geräten, Geldstrafen, Geldstrafen, Geldstrafen, Festnahmen und Haftstrafen aufgrund völlig irrwitziger Beschuldigungen, strafrechtliche Verfolgung von Verwandten von „Volksfeinden“ (Nawalnys Bruder Oleg, Iwan Shdanows 66-jähriger Vater Juri et cetera), schließlich der Mordanschlag auf Alexej Nawalny, seine anschließende Verhaftung und erst vor Kurzem der Schlussakkord: der Vorwurf des Extremismus gegen seinen Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) und gegen alle, die damit zu tun haben.         

    Aus rechtlicher Sicht ist das ein klarer Fall von Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe (so ähnlich klingt das in Artikel 282 des Strafgesetzbuchs, den die Opritschniki so lieben). Doch der Vorwurf des Extremismus bricht einfach so über den FBK herein, aus heiterem Himmel. Nicht einmal Beweise wurden vorgelegt. Die Leiter des Fonds fragten nach und bekamen zur Antwort: Sagen wir nicht, ist ein Staatsgeheimnis. 
    Ich spreche über Nawalnys Anhänger immer in der dritten Person, obwohl das natürlich geheuchelt  ist – ich muss „wir“ sagen.
    In meinem Fall wäre es treffender zu sagen „Anhänger von Nawalnys Freilassung“, aber das sind jetzt unwichtige Details. Natürlich bin ich Anhänger dieses Menschen, der im postsowjetischen Russland als erster eine richtige Heldentat in der öffentlichen Politik vollbracht hat. Ich bin Anhänger dieses Menschen, den der Staat zu töten versucht. Ich bin Anhänger dieses Menschen, der gegen Korruption kämpft und ehrlichen Herzens ein besseres Leben für seine beraubten Mitbürger will. Und der immer noch daran glaubt, dass seine Mitbürger dieses bessere Leben verdienen, auch wenn fast die Hälfte von ihnen die Repressionen gegen ihn unterstützen.      

    Ich bin Anhänger dieses Menschen, den der Staat zu töten versucht

    Ich bin Anhänger dieses Menschen, der mit verzweifeltem Mut, aber ausschließlich legalen Methoden gegen einen um die Macht kämpft, der alles hat: uneingeschränkte Macht, Opritschniki, Gerichte, diensteifrige Oligarchen, ein Milliardenbudget, das er nach Lust und Laune verschleudert, wo er es für nötig hält. Sein Gegner hat alles, Nawalny hat nur uns – 400.000 „Extremisten“. Na, und ein mitfühlendes Ausland, das aber trotzdem nicht helfen kann – und auch nicht helfen soll. Da gebe ich den Propagandisten recht: Das ist eine innere Angelegenheit. Solange die Bevölkerung nicht verstanden hat, wie wichtig die Absetzbarkeit der Staatsmacht und Wahlen sind, wird sich hier sowieso nichts ändern.     

     Da gebe ich den Propagandisten recht: Das ist eine innere Angelegenheit

    Wir, Nawalnys Anhänger, wollen nichts anderes, als dass unsere Kandidaten zu Wahlen zugelassen (und rechtzeitig vorher aus der Haft entlassen) werden. Unsere Kandidatinnen – es sind übrigens viele Frauen dabei – wollen bei Wahlen um die Macht kämpfen, die seit 21 Jahren in denselben Händen liegt. Breshnew hat kürzer regiert. In den Programmen und Reden unserer Kandidaten ist nichts Illegales oder Misanthropes. Sie gefallen Ihnen nicht? Ihr gutes Recht. Aber unser Recht ist es, die zu wählen, die wir wählen wollen, und nicht die, die der amtierende Präsident genehmigt hat. Was genau soll daran extremistisch sein? Eigentlich heißt so etwas einfach „Politik“.    

    Mein Hauptinteresse gilt nicht den Machthabern und ihren Opritschniki. Was die betrifft, ist alles klar. 
    Mich interessiert, was diese 146 Millionen denken, die da abwartend rumstehen.
    Ich schaue immer genau, welche Prominenten diese endlosen Petitionen für Nawalny unterschreiben. Tschchartischwili, Makarewitsch, Achedshakowa, Chamatowa, Swjaginzew … Gerade mal zehn bis fünfzehn Personen. Bei den jungen Stars sind es auch immer dieselben – Face, Noize MC, Oxxxymiron, Sascha Bortitsch, Semjon Treskunow, und das war’s dann auch schon. Das sind natürlich alles sehr ehrenwerte und für die russische Kultur sehr bedeutende Leute, aber wo ist der Rest? Warum stehen unter den Protestbriefen immer dieselben Namen? Worauf wartet ihr denn, ihr Meister der Kultur? Auf Erschießungen?   
    An den Protesten 2011 und 2012 waren viel mehr Leute beteiligt – auch aus dem Kulturbetrieb. Die Proteste richteten sich damals gegen Wahlfälschungen und Putins dritte Amtszeit. Seitdem hat Putin so viel Mist gebaut, dass die Gründe für die „Proteste mit weißen Bändchen“ dagegen direkt lächerlich wirken. Dritte Amtszeit? Ha-ha-ha. Jetzt sitzt er lebenslänglich da oben, abgesichert durch die Verfassung. Leben wir besser? Irgendwie nicht wirklich. Niemand hofft mehr auf irgendetwas, viele legen sich nach und nach eine zweite Staatsbürgerschaft zu, die Kinder schickt man ins Ausland, aber trotzdem sitzt man still und wartet ab.    

    Wo ist der Rest?

    Vor der Präsidentschaftswahl 2018 hatten wir eine wenn auch geringe, so doch eine Chance, die Geschichte zu verändern. Erstmals in der Geschichte Russlands gelang es einem oppositionellen Kandidaten abseits des Systems, im ganzen Land ein Netz aufzubauen und eine richtige Wahlkampagne zu starten, an der vor allem die Jugend aktiv teilnahm (worüber ich die Doku-Serie Wosrast nesoglassija gedreht habe). Aber leider hat die absolute Mehrheit der Erwachsenen diese Geschichte ausschließlich aus der Distanz verfolgt.      
    Chancen zum Zusammenschluss gaben uns Nawalny und sein Team dann auch bei der Wahl zur Moskauer Stadtduma 2019 und erst kürzlich bei Nawalnys Rückkehr nach Russland. Da begibt sich ein Mensch freiwillig in die Höhle des Löwen – um unseretwillen und zu unserer Rettung – und wird am Flughafen von ein paar tausend Fans in Empfang genommen. Ich glaube, der Entschluss, ihn „hardcore“ einzusperren, wurde genau in diesem Moment gefasst. Am 23. Januar gingen in Moskau rund 40.000 Menschen auf die Straße. Das ist weniger als 0,3 Prozent der Bevölkerung der Hauptstadt – hochgerechnet auf das ganze Land sind es etwa 400.000. Bei so einem wahnsinns-staatsbürgerlichen Aktivitätspegel hätten sie Nawalny gleich direkt auf der Gangway des Flugzeugs erschießen können, oder auch zerstückeln, wie die Saudis es vor nicht allzu langer Zeit mit einem Oppositionellen gemacht haben. Kriminelle Macht respektiert nur Gewalt. 
    0,3 Prozent – ist das euer Ernst?

    Niemand hofft mehr auf irgendetwas, viele legen sich nach und nach eine zweite Staatsbürgerschaft zu, die Kinder schickt man ins Ausland, aber trotzdem sitzt man still und wartet ab

    Diesen Dezember sind die Proteste mit weißen Bändchen zehn Jahre her. Schon damals schrien wir „Putin ist ein Dieb!“ und „Weg mit Putin!“, wohlwissend, dass uns in den nächsten zwölf Jahren mit diesem Mann nichts Gutes bevorstand. Im darauffolgenden Jahr wurden die Proteste niedergeschlagen und die Menschen verkrochen sich in den Schlupfwinkeln ihres Privatlebens. Lang genug war der Widerstand tot, bis es Nawalny und seinem Team gelang, ihm neues Leben einzuhauchen. Putin beschloss, Nawalny und seine Anhänger zu vernichten. Die Folge ist, dass die Situation heute so aussieht: Wenn Sie Nawalny nicht unterstützen oder sich raushalten (was ein und dasselbe ist), unterstützen Sie nicht nur die Tötung eines unschuldigen Menschen und die Diskriminierung von Hunderttausenden. Sie unterstützen auch den Status quo des herrschenden Regimes. Somit unterstützen Sie Korruption, die Unabsetzbarkeit des Präsidenten, fehlende Rechtsprechung, Verarmung der Bevölkerung, politische Morde, die übelsten Regime der Welt – von Belarus bis Myanmar, Monatsgehälter von 150 bis 200 Dollar, Inflation, Braindrain, Investitionsflucht, Kapitalflucht, häusliche Gewalt, Homophobie, Verschuldung der Bevölkerung, schrumpfende demografische Entwicklung, Krieg gegen die Ukraine, internationale Isolierung, die Rehabilitierung des Stalinismus, Ramsan Kadyrows Terror, den durchgedrehten Duma-Drucker, Lüge und Hate Speech der Propaganda, Militarisierung, das stetig wachsende Budget für die heimische Polizei, die schrittweise Abschaltung des Internets, Zensur nicht nur in den Medien, sondern auch in Kultur und Wissenschaft und so weiter und so fort.        

    Vor allem aber unterstützen Sie Perspektivlosigkeit. 
          
    Davon sprechen jetzt alle. Wir leben in der trübsinnigen Matrix eines alternden KGB-Offiziers, der für immer im 20. Jahrhundert feststeckt und das ganze Land mit hineinzieht. Mit ideologischen Einstellungen aus den 1970er Jahren und einer Moral aus den Neunzigern. Das habe ich ganz deutlich gespürt, als ich den Film Fuck this Job über die Geschichte des TVSenders Doshd sah. Da gibt es am Anfang eine Szene aus dem Jahr 2011, in der Präsident Medwedew den Sender besucht. Ich war beeindruckt, wie fähig und modern er wirkt, in die Zukunft gerichtet und sogar leise Hoffnungen weckend. Alles zeigt sich im Kontrast, wie es so schön heißt. In was für einen Abgrund der Verzweiflung müssen wir da in den letzten zehn Jahren gestürzt sein, um in Medwedew einen zukunftsweisenden Politiker zu sehen!  
    Meine tiefe Überzeugung ist: Wenn die Leute, die diese Hoffnungslosigkeit satthaben – und das sind nicht 400.000, sondern zig Millionen –, lernen würden sich zusammenzuschließen, dann würden wir in einem anderen Land leben.  
    Bis vor Kurzem hätten Nawalny und der FBK uns diese Gelegenheit gegeben, aber anscheinend haben wir versch… Alexej wird im Gefängnis erledigt, der FBK steht am Rande der Zerstörung, und mit hoher Wahrscheinlichkeit beginnt demnächst die größte Hexenjagd seit der McCarthy-Ära. Ich weiß, dass Täter-Opfer-Umkehr ein schlechter Motivator ist, aber ich kann's mir nicht verkneifen: Dass wir an diesen Punkt gelangt sind, ist nicht allein Putins Schuld. Wissen Sie, wie viele Menschen einen Dauerauftrag für monatliche Spenden an den FBK haben? 19.700 Personen – bei so viel Unterstützung wird meine Generation die glänzende Zukunft Russlands definitiv nicht mehr erleben. In U-Haft landen könnten diese 19.700 Leute dafür umso schneller.  

    Wenn die Leute, die diese Hoffnungslosigkeit satthaben, lernen würden sich zusammenzuschließen, dann würden wir in einem anderen Land leben

    Um nicht endgültig Grabesstimmung zu verbreiten, schließe ich mit einem Zitat aus der letzten Rede des unermüdlichen Optimisten Nawalny – denn im Unterschied zu mir und Putin weiß Alexej wie man Hoffnung sät: „Es ist sehr wichtig – einfach keine Angst vor Leuten zu haben, die die Wahrheit suchen, und sie vielleicht sogar irgendwie zu unterstützen: direkt oder indirekt. Oder vielleicht nicht einmal zu unterstützen, aber wenigstens diese Lügerei nicht auch noch zu fördern, zu diesen Märchen nicht auch noch beizutragen, die Welt rundherum nicht zu verschlimmern. Das birgt natürlich ein kleines Risiko, aber erstens ist es klein, und zweitens, wie ein ausgezeichneter Philosoph der Gegenwart namens Rick Sanchez sagte: ‚Leben ist Risiko. Und wenn du nichts riskierst, dann bist du wohl einfach ein schwammiger Haufen zufällig angeordneter Moleküle, die mit dem Strom des Universums mitschwimmen‘.“    

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  • Covid-19: Augen zu und durch

    Covid-19: Augen zu und durch

    Herdenimmunität schon im August? Glaubt man russischen Politikern, dann werden bis dahin 70 Prozent der Menschen in Russland geimpft und die Einschränkungen aufgehoben sein. Dabei liegt die Impfquote derzeit bei nur rund fünf Prozent, die Mehrheit der Russen (62 Prozent) will sich laut Umfragen nicht gegen Covid-19 impfen lassen.

    Wie kommt dann ein solcher offizieller Optimismus zustande? Die für den Gesundheitsschutz zuständige Behörde Rospotrebnadsor glaubt etwa, dass es in Russland keine dritte Welle geben wird: Die Immunitätsrate steige, sowohl durch die Geimpften als auch durch diejenigen, die schon infiziert waren. Die Anzahl der Letzteren beziffert der unabhängige Demograf Alexej Rakscha auf rund 35 Prozent. Was jedoch mit einer so hohen Durchseuchung einhergeht: Von April 2020 bis April 2021 beträgt die Übersterblichkeit laut Rakscha rund eine halbe Million Menschen, fast alle Todesfälle stehen im Zusammenhang mit Covid-19. Auch andere Forscher, wie der Tübinger Datenwissenschaftler Dmitry Kobak, kommen auf ähnliche Zahlen

    Die Übersterblichkeit ist damit in Russland so hoch wie in kaum einem anderen Land der Welt. Halbherzig beschlossene und kaum durchgesetzte Corona-Einschränkungen werden oft als Grund dafür genannt, aber auch das marode Gesundheitssystem: Gemessen am Bruttoinlandsprodukt beträgt der Anteil der Gesundheitsausgaben in Russland vier bis fünf Prozent, in Deutschland liegt er bei etwa zwölf Prozent. 

    Auch das Onlinemedium Projekt hat sich auf die Suche nach den Gründen für die hohe Übersterblichkeit gemacht – und eine erschreckende Bilanz des Corona-Jahres 2020 gezogen. dekoder bringt die Analyse mit den Daten der Übersterblichkeit von Dmitry Kobak.

    „Man ging davon aus, dass wir zu nichts taugen, niemand sind und nichts können. Aber wir konnten. Und zwar besser als andere Länder.“ Mit diesen Worten zog Wladimir Putin eine in seinen Augen erfolgreiche Bilanz aus einem Jahr Kampf gegen Corona.

    Mitte Februar 2021, als er das sagte, lagen die Sterberaten für das Jahr 2020 in Russland und anderen Ländern bereits vor. Den Zahlen nach war Russland weltweit einer der Außenseiter in diesem Kampf: Im vergangenen Jahr starben in Russland 2.124.000 Menschen. Das sind 20 Prozent beziehungsweise 321.000 Menschen mehr, als es ohne Coronavirus gewesen wären. Es starben doppelt so viele wie nach offiziellen Angaben an dem Virus gestorben sind.

    Quelle: Dmitry Kobak/Github

    Woran sind all diese Menschen gestorben? 

    Rosstat hat mit dem Ausbruch der Epidemie im April 2020 aufgehört, die Zahlen zu den Todesursachen zu veröffentlichen, obwohl die früher monatlich herausgegeben wurden. Wir können uns also nur auf offizielle Aussagen verlassen. Laut Vizeregierungschefin Tatjana Golikowa hängt die Übersterblichkeit zu 81 Prozent mit dem Coronavirus zusammen – demzufolge hätte das Virus also mindestens 260.000 Opfer gefordert.

    Wo sind die meisten Menschen gestorben? 

    Anfang 2020 schränkte Ramsan Kadyrow als einer der ersten regionalen Regierungschefs die Einreise in die Tschetschenische Republik ein und verhängte eine strikte Quarantäne. Doch die kaukasischen Traditionen waren stärker.

    Bereits im Mai waren traditionelle Hochzeitsfeiern wieder erlaubt, obwohl Großveranstaltungen offiziell verboten blieben. Und im September, als die Zahlen in Russland erneut stiegen und sich die zweite Coronawelle anbahnte, vergnügte sich Kadyrow persönlich auf der Hochzeit seines Neffen. Die zahlreichen Gäste trugen, wie Kadyrow selbst, keine Schutzmasken. Drei Wochen später besuchte das tschetschenische Oberhaupt im Kreise seiner Vertrauten und des tschetschenischen Mufti die Beisetzung des an Covid verstorbenen Dumaabgeordneten Wachi Agajew – wieder ohne Masken oder Einhaltung der Abstandsregeln.

    Ganz ähnlich sah es in Dagestan aus. Im Juli, kurz nachdem die Einschränkungen gelockert worden waren, hielt man in der Republik eine Flottenparade ab. „Gerade erst hat man im städtischen Krankenhaus von Machatschkala eine Abteilung mit 750 Betten geschlossen. Gleich morgen früh wird sie wieder aufgemacht“, schrieb Israfil Israfilow, Assistent des Chefarztes, nach der Parade auf seinem Telegram-Kanal.

    Tschetschenien war 2020 bei der relativen Übersterblichkeit der (traurige) Spitzenreiter unter den russischen Regionen. Zu den am schlimmsten betroffenen Gebieten gehören außerdem andere nordkaukasische Regionen, aber auch einige dichtbevölkerte Regionen im europäischen Teil Russlands und Sibirien. Auf den hinteren Plätzen rangieren abgelegene und dünn besiedelte Gebiete: Burjatien und Magadan oder die Halbinsel Tschukotka im äußersten Nordosten Russlands.

     

    Relative Übersterblichkeit: Sterbedaten in Russland 2020 verglichen mit prognostizierten Werten auf Grundlage von Sterbedaten der Vorjahre (Angaben in Prozent), Quelle: Dmitry Kobak (Berens Lab, Universität Tübingen). Mehr zur Methodik auch in den Russland-Analysen.

    Warum haben ausgerechnet diese Regionen so viele Verluste zu beklagen?

    Auf dem Höhepunkt der Pandemie fehlte es vor allem an Einsatzkräften und Betten: „Wir haben genug Krankenwagen, aber niemanden, der sie fahren kann“, konstatierte Dimitri Asarow, Gouverneur der Oblast Samara, im November 2020 ratlos.

    Im Oktober waren in Samara drei Mal so viele Notrufe eingegangen wie im September; die Menschen beklagten, dass sie über 24 Stunden auf einen Krankenwagen warten müssen.

    Die Regionen waren unterschiedlich gut für eine Pandemie gewappnet: Die Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen ging teilweise um das Zwei- oder Mehrfache auseinander. So standen Anfang 2020 in Inguschetien und Tschetschenien [in Tschetschenien lag die relative Übersterblichkeit nach den Daten von Dmitry Kobak bei rund 47 Prozent, in Inguschetien bei rund 32 Prozent, s. Grafik oben – dek]  44 bis 55 Krankenhausbetten pro 10.000 Einwohner zur Verfügung, während es auf der Halbinsel Sachalin und in Magadan [wo die relative Übersterblichkeit äußerst gering ist, s. Grafik – dek] über 100 waren.

    Am Ende waren genau die Regionen, die am Anfang der Epidemie am schlechtesten mit medizinischem Personal und Krankenhausbetten ausgestattet waren, die mit den meisten Opfern.

    So hatte zum Beispiel die Oblast Samara Anfang 2020 bei der Verfügbarkeit von examiniertem Krankenpflegepersonal auf Platz 63 von 85 russischen Regionen gelegen, bei der Anzahl der Betten pro Einwohner auf Platz 72. [Die relative Übersterblichkeit der Oblast Samara liegt nach den Daten von Dmitry Kobak bei rund 27 Prozent, s. Grafik – dek]. 
    Tatarstan [eine Region mit einer hohen relativen Übersterblichkeit von rund 28 Prozent, entsprechend der Daten von Dmitry Kobak, s. Grafik – dek], rangierte vor der Epidemie auf Platz 81 bei der Anzahl der Betten. Und der Spitzenreiter Tschetschenien hatte sowohl bei der personellen Ausstattung der Notdienste als auch bei den Krankenhausbetten pro Einwohner Platz 83 von 85 eingenommen.

    Der Abbau von stationären Kapazitäten wurde in Russland in den 2000er und 2010er Jahren durchgeführt und war gewollt: Das Gesundheitsministerium war der Meinung, dass „moderne Behandlungsmethoden es heute ermöglichen, dem Patienten ambulant die gleiche Hilfe zukommen zu lassen, die früher eine langwierige stationäre Behandlung erfordert hatte“. Dabei waren in abgelegenen Regionen mit geringer Bevölkerungsdichte die Normen für die Anzahl der Krankenhausbetten höher als in zentralen Regionen. In der Folge standen dichtbevölkerte Gebiete in Zentral- und Südrussland, der Wolga-Region und im Nordkaukasus zu Beginn der Corona-Epidemie schlechter da als die Randgebiete des Landes. Die Regierung musste handeln.

    Warum halfen die zusätzlichen Mittel nicht?

    Die Zentralregierung versuchte die Regionen bei der Vorbereitung auf die Epidemie zu unterstützen. Eine der ersten Maßnahmen im Frühjahr 2020 war die Bereitstellung von Geldern für die Ausstattung der Krankenhäuser: insgesamt 65 Milliarden Rubel [damals rund 800 Millionen Euro – dek] für Instandsetzung, medizinische Geräte, Umrüstung von Abteilungen zu Corona-Zentren und die Einrichtung von „Coronabetten“. Später wurden noch einmal 9 Milliarden Rubel [damals rund 110 Millionen Euro – dek] allein für die Ausstattung mit Betten bereitgestellt.

    Das Problem war, dass das meiste Geld längst nicht diejenigen Regionen bekamen, die am schlechtesten dastanden. Die Höhe der Subventionen richtete sich nach der Einwohnerzahl – und so landeten die größten Summen in den Regionen Moskau, Sankt Petersburg und Krasnodar.

    Dabei hätten die föderalen und regionalen Behörden ausreichend Zeit gehabt, den Problemregionen gezielt zusätzliche Mittel für Extrabetten zur Verfügung zu stellen. Im Frühjahr und Frühsommer traf die Epidemie nur eine Handvoll meist zentraler Regionen. Aber die Entscheidungsträger auf allen Ebenen orientierten sich bei der Ressourcenverteilung an den damals geltenden Normen – ein Bett pro eintausend Einwohner in den Millionenstädten und 0,5 Betten in Städten mit geringerer Einwohnerzahl. Es wurde schnell klar, dass das ein Fehler war – die Betten reichten nicht aus.

    In der sibirischen Oblast Omsk wurden im verhältnismäßig ruhigen Juli zum Teil nicht einmal Intensivpatienten stationär behandelt. So verweigerte man einer älteren Frau aus Omsk innerhalb von vier Tagen drei Mal die Aufnahme ins Krankenhaus. Erst nach weiteren zwei Tagen brachte man sie in die Klinik, wo sie schließlich verstarb. In jenem Monat überstieg die Sterblichkeit das Mittel der letzten Jahre um 28 Prozent, genau so ein Zuwachs hielt sich auch in den Monaten August und September.

    All das brachte allerdings weder die Behörden der Oblast Omsk noch das Gesundheitsministerium dazu, die Anzahl der Betten aufzustocken; das geschah erst im Oktober. In der Folge gehörte Omsk zu den am schwersten vom Coronavirus betroffenen Regionen.

    Obwohl die allgemeine Sterblichkeit im Juli in jeder dritten Region die offiziellen Werte der vorhergehenden Jahre um zehn Prozent überstieg, sahen sich die Behörden durch den langsamen Anstieg der Patientenzahlen dazu veranlasst, die Betten, die während der ersten Welle eingerichtet oder umgerüstet worden waren, massenweise wieder umzufunktionieren. Das führte dazu, dass die Ausstattung mit Coronabetten auf dem niedrigsten Stand im ganzen Zeitraum der Pandemie war, als die zweite Welle das Land traf.

    Die Patientenzahlen stiegen so rasant, dass man mit den Betten nicht mehr hinterherkam. So wuchs zwischen dem 14. September und dem 24. Dezember die Zahl der Neuerkrankten um das 6-fache an, während sich die Anzahl der Betten lediglich um das 2,2-fache erhöhte.

    Wie die Regierung die Bekämpfung der Pandemie den Regionen überließ

    Seit Mitte September stieg die Zahl der Neuinfizierten in Russland täglich an. Anfang Oktober kamen aus den Regionen massenhaft Klagen über mangelnde medizinische Hilfe – keine Krankenwagen, stundenlange Wartezeiten vor den Polikliniken, keine stationären Aufnahmen. Die Angehörigen eines 48-jährigen Mannes aus Nowosibirsk erzählten, dass sie eine Woche lang auf eine Blutuntersuchung oder einen Arzt gewartet hätten und dann zwei Tage lang vergeblich versuchten, einen Krankenwagen zu rufen. Der Mann starb im Krankenhaus, einen Tag nach seiner Einweisung.

    Einer der Gründe für die Probleme im Herbst war vermutlich, dass die Regierung die Gouverneure Anfang November dazu verpflichtete, nicht etwa über die Anzahl der Hospitalisierungen oder Todesfälle wöchentlich Bericht zu erstatten, sondern über die Anzahl der freien stationären Betten. Das Niveau durfte 20 Prozent nicht unterschreiten. Wie man diese Vorgaben erreicht – ob man mehr Betten schafft oder weniger Patienten aufnimmt –, blieb den Regionen selbst überlassen. Bald häuften sich Klagen, dass man in den Regionen sogar Schwerkranke abweisen würde, zum Beispiel weil noch CT-Untersuchungsergebnisse fehlen würden.

    In Pensa standen die Menschen zu Dutzenden Schlange, um sich die Lunge röntgen zu lassen

    Auch in die Polikliniken, die nach dem Willen der Regierung alle Nicht-Intensivpatienten aufnehmen sollten, war kein Reinkommen. In Pensa standen die Menschen zu Dutzenden Schlange, um sich die Lunge röntgen zu lassen. Warten musste man draußen. Genau so sah es in Kasan, Nishni Nowgorod, Samara und in anderen Großstädten aus.

    Am 26. Oktober entschied das Gesundheitsministerium, dass mittelschwer erkrankte Patienten zu Hause behandelt werden dürfen. Aber auch das brachte nicht viel: Die Ressourcen in den Krankenhäusern waren schnell erschöpft, und bei der Regierungsversammlung am 16. November konstatierte Gesundheitsminister Michail Muraschko, dass in mehr als der Hälfte der Regionen die Stationen zu 90 Prozent ausgelastet seien. Nach wie vor reichte der Platz nicht einmal für die Intensivpatienten.

    Was war mit der Quarantäne?

    Es wäre logisch anzunehmen, dass man der zweiten großen Corona-Welle im Herbst aktiv mit Quarantänemaßnahmen begegnet wäre. Aber während sich die Lage stetig verschlechterte (im November und Dezember gab es täglich dreimal mehr Neuinfizierte als im Mai, auf Krankenwagen wartete man teilweise mehrere Tage), wurden weder landesweit noch in den einzelnen Regionen Beschränkungen ähnlich dem Lockdown im Frühjahr eingeführt.

    In vielen Regionen waren die Maßnahmen eher halbherzig: Die Gastronomie durfte tagsüber öffnen, in Vergnügungszentren wurden Kinderspielzimmer geschlossen, älteren Menschen wurde empfohlen, zu Hause zu bleiben. Aber da es kaum Kontrollen gab, hielt sich auch kaum jemand an die Empfehlungen.

    Paradoxerweise waren die Einschränkungen in den Ballungszentren oft weniger streng als in dünner besiedelten Gebieten. So wurde beispielsweise in Kysyl im südlichen Sibirien, einer Stadt mit 119.000 Einwohnern, im Sommer der öffentliche Nahverkehr eingestellt, während man in den Großstädten auf solch drastische Maßnahmen verzichtete. In Omsk [die achtgrößte Stadt Russlands mit rund 1,2 Millionen Einwohnern – dek] wurde das Tragen von Mund- und Nasenschutz erst zum 1. November verpflichtend, und selbst diese Maßnahme bezeichnete Gouverneur Alexander Burkow noch als „durchaus harte, ja sogar harsche Entscheidung“.

    Einschränkungen in den Ballungszentren waren oft weniger streng als in dünner besiedelten Gebieten

    Ähnlich sah es im Bildungssektor aus. Während in Tschita in Südostsibirien die Schulen in den Distanzunterricht wechselten, gingen in Sankt Petersburg, Pensa [rund 550 Kilometer Luftlinie entfernt von Moskau – dek], Tschetschenien, Tatarstan und Dagestan die Kinder weiter zur Schule, nur vereinzelt gab es kurzzeitige Quarantänemaßnahmen.

    Die Entscheidung der Gouverneure gegen den Lockdown wurde von der Landesregierung und Präsident Putin gestützt. Ende Oktober rief Putin beim Forum Rossija Sowjot die Regionen dazu auf, „gerechtfertigte, punktuelle Lösungen“ zu finden, die es erlauben „die größtmögliche Sicherheit der Menschen sowie einen kontinuierlichen Arbeitsbetrieb von Unternehmen und Organisationen zu gewährleisten“.

    Abgesehen von dem Ressourcendefizit und der hohen Bevölkerungsdichte haben die Regionen mit der höchsten Übersterblichkeit aber noch etwas anderes gemeinsam: eine extrem niedrige offizielle Zahl von Corona-Toten. Demzufolge hat das Coronavirus in Tatarstan, Mordowien, der Oblast Pensa und Tschetschenien praktisch keine Opfer gefordert – offiziell war das Virus dort lediglich für fünf bis sieben Prozent der gesamten Übersterblichkeit verantwortlich. Liegt dieser Wert in den Regionen unter zehn Prozent, dann, so sagt Gesundheitsexpertin Gusel Ulumbekowa, sei dies ein Zeichen dafür, dass diese offiziellen Daten „statistische Fehler“ enthalten.    

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  • Die große Vertuschung

    Die große Vertuschung

    Vergangene Woche hat das russische unabhängige Online-Magazin Projekt eine umfangreiche Recherche veröffentlicht – die allein schon deswegen als Sensation gelten kann, weil sie auch ein Thema berührt, das tabu ist, (oft) selbst in unabhängigen russischen Medien: Putins Privatleben. Projekt zeigt auf, dass eine gewisse Petersburger Millionärin namens Swetlana Kriwonogich Anteile an der russischen Staatsbank Rossija hält – und ihr außerdem Immobilien im Millionenwert gehören. Swetlana Kriwonogich ist in einer Petersburger Kommunalka großgeworden – wie kam sie an so viel Geld? In der umfangreichen Recherche, die nicht nur den unklaren Eigentumsverhältnissen und Verstrickungen in Putins engstem Umfeld nachgeht, kommt Projekt zu dem Schluss, dass Kriwonogich die Geliebte Putins war, mit der er wahrscheinlich auch eine gemeinsame Tochter hat, die 17-jährige Jelisaweta.

    Das unabhängige Medium Projekt machte schon mehrfach mit investigativen Recherchen auf sich aufmerksam, etwa über den Putin-Vertrauten Jewgeni Prigoshin. Projekt-Gründer Roman Badanin, der mit Andrej Sacharow auch die aktuellen Recherchen zur Bank Rossija unternahm, ist einer der bekanntesten Investigativjournalisten Russlands. Ehe er Projekt gründete, war er in der Chefredaktion von RBC. RBC hatte auch über Putins Tochter Jekaterina Tichonowa berichtet, mutmaßlich eine der Recherchen, die das Ende der damaligen RBC-Redaktion bedeuteten.
    Warum die aktuellen Projekt-Recherchen nicht einfach Stoff für Boulevardmedien sind (junge Geliebte! Uneheliche Tochter!), sondern was sie vor allem aufdecken, das macht die Projekt-Redaktion nochmal in einem eigenen Editorial deutlich, das dekoder in deutscher Übersetzung bringt: „Die 20-jährige Vertuschungsoperation hat das Land Milliarden Dollar und viele Leben gekostet“, heißt es darin. 
    Auf Echo Moskwy wiederum kommentiert der Journalist Anton Orech: „In jedem demokratischen Land würde eine solche Recherche einen grandiosen Skandal auslösen und die Reputation eines Politikers schädigen. […] In Russland geht es andersherum: […] Das Volk erregt sich nicht nur nicht, es beneidet die Korrupten und Beamten. Und wenn es so ist, dann sind solche Enthüllungen nur für deren Autoren eine ernste Gefahr.“

    Jeder Herrscher hat eine Idée fixe, ein Konzept, das zu einem gewissen Grad die meisten seiner Handlungen in der Innen- und Außenpolitik, in der Wirtschaft und in der Kultur erklärt. Die Liste dieser Konzepte war über mehrere Jahrhunderte ziemlich übersichtlich: der Kampf um Ideologien, die Erschaffung oder Wiedererrichtung eines Imperiums, Revanche, das Sich-von-den-Knien-Erheben, der Wunsch, Weltschiedsrichter oder -Gendarm zu spielen, und noch ein paar mehr. Alle diese Konzepte wurden einzeln oder in Kombination wiederholt auch Wladimir Putin zugeschrieben, der – wenn nicht persönlich, dann in Form des Putin-Regimes (also einschließlich der Regierungszeit Dimitri Medwedews) – Russland seit nunmehr 20 Jahren regiert. 
    Wenn man alles zusammennimmt, was Putin-kritische Experten über ihn sagen, kommt ungefähr Folgendes heraus: Putin will das Sowjetimperium mit den Methoden des KGB wiederherstellen, weil er wie ein Geheimdienstler denkt, aber er befürwortet Privateigentum, weil es das Stehlen ermöglicht. 
    Politikexperten aus den Reihen seiner Befürworter sagen etwas Ähnliches, nur mit anderen Vorzeichen, nämlich: Er hat alle dazu gebracht, Russland zu respektieren, weil er unser Land liebt und sich um seine Bürger kümmert.

    Jetzt sieht es allerdings so aus, als hätten all diese Konzepte zu nichts geführt und als hätte die komplette Politikwissenschaft ausgerechnet in Putins Fall mächtig danebengelegen.

    Vertuschen und Verschleiern

    Die zentrale Idee, die den russischen Präsidenten die vergangenen 20 Jahre hindurch leitet, besteht darin, seine Vergangenheit und Gegenwart hinter hochtrabenden Worten zu verstecken, zu vertuschen und zu verschleiern. Und aus dieser Idee erwächst alles Übrige: die Konfrontation mit anderen Ländern, eine Wirtschaft, die sich an seinen Freunden orientiert, die geistigen Klammern, YUKOS, die Vergiftung Nawalnys und so weiter, bis hin zu absurden Kleinigkeiten wie erhöhten Absätzen und Fotos mit freiem Oberkörper.

    Es ist unangenehm, das zuzugeben, aber auch wir Journalisten sind darauf hereingefallen. 20 Jahre lang hat die russische Wirtschafts- und Politikpresse versucht, in den Handlungen des Staatsoberhaupts diesen oder jenen höheren Sinn zu sehen – ob gut oder schlecht, auf jeden Fall hoch. Selbst dann, wenn das, was wir sahen und wussten, danach schrie, dass alles viel simpler ist. Jetzt ist es an der Zeit, das zu korrigieren. Und das kommt dabei raus:

    Das moralische Image des Präsidenten hält keiner Kritik stand, und in einem Land, wo es so etwas wie politische Reputation und faire Wahlen gibt, wäre es für ihn schwer geworden, 20 Jahre an der Macht zu bleiben. All diese Jahre lief unter Einbeziehung tausender Staatsdiener und Privatpersonen eine Vertuschungsoperation: fiktive Posten für die Frauen des Präsidenten, geheime Residenzen und andere unrechtmäßig erworbene Besitztümer, versteckt vor der Öffentlichkeit mit Hilfe von Staatsmedien, Geheimdiensten, dem Katasteramt und einer Vielzahl anderer Menschen, die genau dafür ihren Lohn bekommen.

    Geheime Residenzen und andere unrechtmäßig erworbene Besitztümer

    Der Präsident und sein innerster Kreis waren seit den 1990er Jahren in zweifelhafte Geschäfte verwickelt, die sie zu Milliardären gemacht haben. Vereinfacht ausgedrückt: die Bank Rossija ist die Bank von Wladimir Putin, und die Vermögenswerte, die auf Freunde, Verwandte und andere Figuranten laufen – Juri Kowaltschuk, Pjotr Kolbin, Sergej Roldugin, Michail Schelomow und so weiter –, gehören ebenfalls Putin.

    Vereinfacht ausgedrückt: die Bank Rossija ist die Bank von Wladimir Putin

    Die Verbindungen des amtierenden russischen Präsidenten und seines direkten Umfelds zur kriminellen Welt sind viel umfassender und lohnender als der breiten Öffentlichkeit bekannt. In den 1990er Jahren haben Putin und Staatsbeamte aus seinem nächsten Umfeld unmittelbar für Personen gearbeitet, die Morde verübt und andere Verbrechen begangen haben. Diese Verbindungen sind bis in die 2000er Jahre erhalten geblieben, auch wenn sich ihr Charakter verändert hat.

    Diese Liste ist zweifelsfrei unvollständig – denn jetzt, unter Putin, sind ganze Abschnitte der neuesten Geschichte Russlands der Öffentlichkeit unzugänglich. Aber sie werden mit Sicherheit später fortgeschrieben werden, nach Putin. Die Geschichte seiner Machtergreifung und der „Zucker von Rjasan“, die politischen Morde und Attentate, die in den 2000er Jahren mit dem grausamen Tod des investigativen Journalisten Juri Schtschekotschichin und des Hüters von Putins Geheimnissen Roman Zepow begannen, und die sich bis zur jüngsten Vergiftung Nawalnys fortsetzen. All das, was für die Presse bis vor Kurzem noch unbewiesene Spekulation war, erscheint nach der Veröffentlichung unserer Untersuchungen als nicht mehr ganz so abwegig.

    Diese 20-jährige Vertuschungsoperation hat das Land Milliarden Dollar und viele Leben gekostet, doch sie ist nicht vorbei

    Ohne Zweifel wird irgendwann alles ans Licht kommen. Doch vorerst geht die Vertuschungsoperation weiter: Das staatliche Katasteramt löscht die Namen von Staatsbediensteten und Präsidentenfreunden aus den Eigentumsregistern; die Banken, die offiziell Juri Kowaltschuk oder Arkadi Rotenberg gehören, werden mit staatlichen Geldern vollgepumpt, damit Aktionärinnen wie Swetlana Kriwonogich ihr Dasein nicht in Armut fristen müssen; die Rechtsschutzorgane und Gerichte verfolgen die, die versuchen die Wahrheit ans Licht zu bringen, und einzelne Wahrheitssuchende werden von Kämpfern der aus Staatsgeldern finanzierten, tschetschenischen Einheit Sewer ermordet. Selbst das Stadtarchiv Sankt Petersburg hat einen Teil der Dokumente über die Arbeit des Komitees für Außenbeziehungen der Stadt, das damals unter Putins Leitung stand, aus dem Fundus entnommen.

    Diese 20-jährige Vertuschungsoperation hat das Land Milliarden Dollar und viele Leben gekostet. Doch sie ist nicht vorbei, der Mechanismus arbeitet wie geschmiert und die neue Version des Immunitätsgesetzes für Ex-Präsidenten verlängert sie faktisch auf ewig. Doppelleben und Doppelmoral, doppelte Buchführung und doppeltes Recht, drohen sowohl die Regierung als auch die Gesellschaft zu korrumpieren und zu Putins wichtigstem politischen Erbe und Vermächtnis zu werden.

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  • Eine toxische Angelegenheit

    Eine toxische Angelegenheit

    Alexej Nawalny liegt im Koma, seine Pressesprecherin Kira Jarmysch geht davon aus, dass er vergiftet wurde. Er wäre nicht der erste russische Oppositionspolitiker, dem dies geschieht. In einem redaktionellen Statement listet Projekt ähnliche Fälle auf – in denen nie ein Täter identifiziert, Ermittlungen gar nicht erst aufgenommen oder nie abgeschlossen wurden.

    Politik in Russland ist eine toxische Angelegenheit, oft auch im Wortsinne. Was auch immer der Grund für Alexej Nawalnys Vergiftung war, wer auch immer dahinter stehen mag: Es ist wichtig, dass die Umstände umgehend, sorgfältig und unvoreingenommen aufgeklärt werden. So sollte es sein, doch in der Realität bleiben die vielfältigen Gewaltakte gegen Vertreter der politischen Opposition und gegen Bürgeraktivisten zu oft folgenlos. Das ist einer der Hauptgründe dafür, dass die Toleranz gegenüber politischer Gewalt in Russland extrem hoch ist, und derzeit deutet nichts darauf hin, dass sie sinken wird. 

    Nawalny wurde im Flugzeug übel, als er am 20. August morgens von Tomsk Richtung Moskau flog. Wie seine Sprecherin Kira Jarmysch berichtete, die Nawalny auf der Reise begleitet hatte, hat er während des Flugs nichts zu sich genommen, er hatte nur zuvor eine Tasse Tee im Flughafencafé getrunken. Das Flugzeug landete in Omsk zwischen, Nawalny wurde im bewusstlosen Zustand auf die Intensivstation des örtlichen Krankenhaus gebracht und dort künstlich beatmet. Er liegt im Koma, die Ärzte in Omsk bewerten seinen Zustand als ernst, aber stabil. Wie Kira Jarmysch mitteilt, ist aus Sicht der Ärzte eine Verlegung in eine andere Klinik derzeit unmöglich. Nawalnys Kollegen glauben, dass der Gründer des Fonds für Korruptionsbekämpfung mit Absicht vergiftet wurde. Sie nehmen an, dass der Giftstoff im Tee gewesen sein könnte. Die Ärzte halten eine Vergiftung für möglich, eine abschließende Diagnose gibt es bislang allerdings nicht.

    Das ist nicht die erste ernsthafte Attacke auf Nawalnys Gesundheit. Es ist bezeichnend und auf jeden Fall äußerst gefährlich, dass der Grad der Gewalt zunimmt.

    Im Frühjahr 2017 hatte man Nawalny Seljonka ins Gesicht gespritzt (womöglich gemischt mit Säure). Die Folgen der schweren Verätzungen im Auge mussten lange behandelt werden. Der Angreifer ist untergetaucht, ob er gestellt und bestraft wurde, ist nicht bekannt. 
    Im Sommer 2019 wurde Nawalny während einer Haftstrafe, die er aufgrund einer Ordnungswidrigkeit absaß, mit einer starken allergischen Reaktion in ein Krankenhaus eingeliefert, obwohl er nie zuvor unter Allergien gelitten hatte. Der Allergieauslöser wurde nicht gefunden. (In derselben Zelle hatte zuvor auch Nawalnys Mitstreiter Leonid Wolkow gesessen, bei ihm zeigten sich unmittelbar nach Freilassung ebenfalls Anzeichen einer plötzlichen starken Allergie.)

    Vergiftungen von politischen und anderen Aktivisten mit ähnlichen Symptomen wie bei Nawalny sind leider auch keine Seltenheit mehr. [Mediazona-Herausgeber und Pussy Riot-Aktivist – dek] Pjotr Wersilow kam 2018 mit Anzeichen einer schweren Vergiftung ins Krankenhaus, er wurde schließlich zur Behandlung nach Deutschland ausgeflogen. Er hat bereits geäußert, dass ihn das, was mit Nawalny geschehen ist, an seine eigene Geschichte erinnert. Wersilow hatte die Vergiftung damals in Verbindung gebracht zu seinen Recherchen zum Mord an russischen Journalisten in der Zentralafrikanischen Republik. Der Giftagent wurde nicht gestellt. Der stellvertretende Vorsitzende von Open Russia, Wladimir Kara-Mursa junior, wurde zweifach mit ungeklärten Substanzen vergiftet – 2015 und 2017. Er selbst sprach von einem Mordversuch an ihm, aus Rache für seinen Einsatz für den Magnitski-Akt in den USA und in Europa. 
    Die Journalistin Anna Politkowskaja hatte 2004 im Flugzeug einen Tee getrunken und wurde daraufhin mit Vergiftungserscheinungen ins Krankenhaus eingeliefert. Sie war damals auf dem Weg nach Beslan, zu der von den Terroristen besetzten Schule. Kollegen der 2006 ermordeten Politkowskaja sehen ebenfalls Ähnlichkeiten zwischen den Vergiftungserscheinungen bei der Journalistin damals und bei Nawalny heute. 

    In keinem der Vergiftungsfälle wurde je ein Täter identifiziert, Ermittlungen wurden quasi gar nicht aufgenommen oder nie abgeschlossen.

    Die Regelmäßigkeit solcher Vergiftungen und die Straffreiheit der Täter ist beängstigend. Durch die Häufigkeit und die ständig wachsende Gefahrenlage sinkt in der Gesellschaft die Sensibilität für derartige Verbrechen. Gewalt gegen Regierungsgegner oder lediglich unzufriedene Bürger wird zur Routine. Zweifellos festigt sich auch bei denen, die missliebige Personen auf die ein oder andere Art „bestrafen“ wollen, das Gefühl, dass ihnen alles erlaubt ist. Im Fall von Nawalny gibt es von solchen Leuten potentiell sehr viele, angefangen bei den Protagonisten seiner Korruptions-Enthüllungen (darunter sind auch hochrangige Silowiki und Vertreter der Elite) bis hin zu inoffiziellen Helfern der Staatsmacht, die so auf ihre Art mit „Bedrohungen für die Stabilität“ des Regimes umgehen. 

    Ein Attentat auf einen Staatsvertreter oder eine Person des öffentlichen Lebens (Artikel 277 des Strafrechts der Russischen Föderation) wird in Russland hart bestraft: 12 bis 20 Jahre Freiheitsentzug (die in dem Paragraphen ebenfalls vorgesehene Todesstrafe wird nicht angewendet). Aber solche Fälle sind eine Seltenheit. Nach Angaben der Rechtsdienststelle am Obersten Gericht wurden in den vergangenen zehn Jahren nach diesem Paragraphen drei Menschen verurteilt.

    Nawalnys Kollegen haben sich bereits an das Ermittlungskomitee gewendet mit der Forderung, ein Verfahren nach Paragraph 277 Strafgesetzbuch zu eröffnen. Wie die Strafverfolgungsbehörde darauf reagierte, ist bislang nicht bekannt – außer, dass im Omsker Krankenhaus ziemlich viele Vertreter der unterschiedlichsten staatlichen Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden versammelt sind. Indes sind das Hinauszögern der Untersuchung, die Imitation von Ermittlungen, das Abbremsen des ganzen Falls das schlimmste Signal, das die Regierung der Gesellschaft jetzt geben kann. Jetzt, da es um den Anführer der russischen Opposition geht – dessen Namen sein größter Rivale – Wladimir Putin – lieber gar nicht erst laut ausspricht. Es ist zynisch darüber zu diskutieren, wem eine Vergiftung Nawalnys nutzen könnte, aber eine gründliche und professionelle Untersuchung des Vorgangs würde zweifellos auch der Regierung nutzen. 

    Ja, die Politik ist eine toxische Angelegenheit, aber der politische Kampf darf niemals in politischen Terror ausarten, wenn der Staat nicht selbst zu einem Terrorstaat werden soll.

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  • „Nur nicht Lukaschenko!“

    „Nur nicht Lukaschenko!“

    Knapp zwei Wochen vor der Präsidentschaftswahl in Belarus am 9. August 2020 protestieren Tausende in belarussische Städten. Sie folgen dem Aufruf von Swetlana Tichanowskaja. Ihr Mann, der bekannte Blogger Sergej Tichanowski, sitzt derzeit in Haft. Tichanowski sei unter fadenscheinigen Vorwürfen verhaftet worden, sagt seine Frau. Zuvor hatte er bekanntgeben, bei der Präsidentschaftswahl kandidieren zu wollen. 

    Tichanowski ist nicht der einzige Kandidat, der unter Amtsinhaber Alexander Lukaschenko im Vorfeld der Wahl ins Gefängnis wanderte. So hat Tichanowskaja kurzerhand die Kandidatur ihres Mannes übernommen und ein Bündnis gebildet mit Veronika Zepkalo – deren Mann Waleri von der Wahlkommission nicht zugelassen wurde und sich inzwischen mit zwei Kindern nach Moskau abgesetzt hat – und Maria Kolesnikowa. Letztere hatte den Wahlkampf des Ex-Bankiers Babariko organisiert – bis der aussichtsreiche Kandidat wegen Vorwürfen der „Geldwäsche und Korruption“ im Juni 2020 ebenfalls in Haft kam. Tichanowskaja verspricht im Fall eines Sieges die Freilassung aller politischen Gefangenen – sowie freie und faire Neuwahlen. Die OSZE etwa hatte bereits die vier vergangenen Präsidentschaftswahlen in Belarus wegen Betrugs und Einschüchterungen nicht anerkannt. 

    Egal wer – Hauptsache, nicht Lukaschenko: Nach Jahren der organisierten Alternativlosigkeit dreht sich derzeit die Wählerstimmung in Belarus. Warum ausgerechnet jetzt? Eine Analyse von Dimitri Nawoscha.

    Swetlana Tichanowskaja (Mitte) ist die einzige verbliebene unabhängige Kandidatin / © Pressestelle Viktor Babariko
    Swetlana Tichanowskaja (Mitte) ist die einzige verbliebene unabhängige Kandidatin / © Pressestelle Viktor Babariko

    Maidan, Orange Revolution und anderes mehr. Wenn von den Ereignissen in Belarus die Rede ist, wird allenthalben zu oberflächlichen Analogien gegriffen. Besonders häufig macht das Präsident Alexander Lukaschenko, der im Schnitt jeden zweiten Tag an den Maidan erinnert. Diese Analogien sind jedoch ungenau.

    Vielmehr ähnelt alles dem Abgang der Sowjets. Lukaschenko hat nämlich ein eben solches Sowjetsystem errichtet, mit Planwirtschaft, mit unfreien Wahlen und Medien, mit Paternalismus und sogar mit den Symbolen der Belarussischen Sowjetrepublik BSSR (Flagge, Wappen und Hymne), die er 1996 wieder eingeführt hat. Im Grunde ist Belarus von den Kommunisten direkt zu Lukaschenko übergegangen. Jenes Jahrzehnt [die 1990er Jahre], das Russland zufiel, sodass wenigstens irgendeine Art Zivilgesellschaft, Parteien und Institutionen entstehen konnte, hatten die Belarussen nicht. Angesichts der Unterdrückung haben sie sich nur langsam herausgebildet; jeglicher Keim wurde zertrampelt und mit der Wurzel ausgerissen. Repressionen gegen die Opposition (auch gegen Herausforderer Lukaschenkos bei den Wahlen) – von gewaltsam aufgelösten Demonstrationen und Gefängnisstrafen bis hin zu Exmatrikulationen und Entlassungen – haben die Oppositionellen zu Dissidenten sowjetischer Art degradiert. 

    Im Unterschied zur UdSSR sind die Grenzen in Belarus offen, und für einen belarussischen Aktivisten oder eine Person des öffentlichen Lebens führt der Weg aus den Repressionen typischerweise nach Europa. Jenen, die nicht bereit sind auszuwandern, bleibt innere Emigration und Anpassung.

    Zwangsweise entpolitisiert

    Die belarussische Gesellschaft wurde zwangsweise entpolitisiert. 2020 ist das verbrannte Feld plötzlich wieder aufgeblüht: Der belarussische Autoritarismus ist über das Internet gestolpert.

    Am uninteressantesten und leichtesten vorauszusagen ist bei den belarussischen Wahlen gewöhnlich ihr Ausgang: In der Nacht zum 10. August wird Lidija Jermoschina, Vorsitzende der belarussischen Zentralen Wahlkommission und langjährige Mitstreiterin Lukaschenkos, sich anschicken, einen weiteren Wahlsieg Alexander Lukaschenkos mit einem Ergebnis im Bereich von 75 bis 85 Prozent zu verkünden (und die Regierung scheint eindeutig auf solche Werte abzuzielen – koste es, was es wolle). Doch dieser Prozess ist jetzt ziemlich spannend geworden.

    Um das nötige Ergebnis zu erzielen, kommen eine Reihe primitiver, aber reibungsloser Mechanismen zum Einsatz, etwa die vorzeitige Stimmabgabe (mit der man sich jetzt auch in Russland vertraut macht – wie auch mit vielen anderen in Belarus eingeübten autoritären Praktiken). Hinzu kommen das Verbot von Wählerbefragungen und die Untergrabung der Institution der Wahlbeobachter: Die dürfen im Wahllokal fast gar nichts mehr, die Stimmauszählung etwa bekommen sie nicht zu sehen.

    Nichtzulassung von Kandidaten und Repressalien

    Lukaschenko steht ein großes Repertoire bewährter Mechanismen zur Verfügung, um das Feld möglicher Herausforderer zu bereinigen: Nichtzulassung von Kandidaten und Repressalien aller Art. Bei den Wahlen sind nacheinander Nikolaj Statkewitsch, Sergej Tichanowski, Viktor Babariko, Waleri Zepkalo entweder nicht zugelassen worden oder ihre Registrierung als Kandidat ist widerrufen worden. Ersterer gehört zu den langjährigen dissidentischen Oppositionellen. Die anderen drei – ein Blogger, ein Banker und ein ehemaliger Bürokrat – sind erst kürzlich in die Politik gegangen und haben umgehend die seit Langem angestauten Hoffnungen der Menschen auf einen Wandel absorbiert.

    Lukaschenko war gezwungen, in kürzester Zeit alle vorhandenen Mechanismen zugleich in Gang zu setzen, um das vom Regime geplante Szenario zu wiederholen, das den Titel trägt: „Das politische Schwergewicht fährt einen triumphalen Sieg gegen die Liliputaner der Opposition ein“. Es wurden sämtliche Hebel in Bewegung gesetzt: der KGB, das Ermittlungskomitee [belarussische Strafverfolgungsbehörde – dek], die Propaganda, alle erdenklichen Aufsichtsbehörden und die vielen Sondereinheiten der Miliz, und hunderttausende Unterschriften für Herausforderer, die ohne viel Federlesen im Papierkorb landen.

    Drei der genannten vier Kandidaten sitzen jetzt hinter Gittern (Statkewitsch, Tichanowski, Barbariko); Zepkalo wird vom Innenministerium überprüft [inzwischen hat er zusammen mit seinen beiden Kindern das Land verlassen – dek]. Gegen mehr als 40 Personen, die während des Wahlkampfes festgenommen wurden, laufen Strafverfahren. Über tausend Personen sind während der im ganzen Land aufflammenden Protestaktionen wegen Ordnungswidrigkeiten verhaftet worden.

    Repressions-Quote eiligst abgearbeitet

    Die gewöhnlich für rund fünf Jahre geltende Repressions-Quote, wurde eiligst innerhalb von zwei Monaten abgearbeitet. Das bedeutet sogar für eine so eingespielte Polizeimaschinerie Turbulenzen und verhindert, dass alles zumindest den Anschein von Rechtmäßigkeit bewahrt.

    Jede Hausdurchsuchung und Verhaftung, jedes Strafverfahren hat anscheinend einem taktischen Ziel gedient: Lukaschenkos Herausforderer sollten aus dem Weg geräumt werden – und überhaupt alle Menschen, die in der Lage sind, Straßenproteste zu konsolidieren und ihnen eine Stoßrichtung zu geben. Doch die strategische Aufgabe bleibt ungelöst: Es ist nämlich nicht so, dass diese Maßnahmen den Rückhalt für Lukaschenko in der Gesellschaft stärken würde, eher umgekehrt. 

    Die einzige bislang „überlebende“ unabhängige Kandidatin ist Swetlana Tichanowskaja, die Frau des Bloggers Sergej Tichanowski, eine ganz normale Mutter und Hausfrau. 

    Als sie zu den Wahlen zugelassen wurde, war das für die Regierung Anlass zum Hohn, dass „bei uns eine Frau nicht gewählt wird“ (als Lukaschenko das sagte, hat er ganz bestimmt daran geglaubt). 

    Ihr Team ist zerschlagen und über diverse Gefängnisse verteilt. Nachdem aber die anderen Kandidaten von den Wahlen ausgeschlossen wurden, verkündete Tichanowskaja, dass sich deren Wahlkampfteams mit ihr zusammengeschlossen haben – und zwar ohne dass jemand untergebuttert würde: Tichanowskaja hat vor, im Falle eines Sieges sofort Neuwahlen anzusetzen, bei denen jeder Anwärter zugelassen werde (den derzeitigen „elektoralen Prozess“ erkennt sie nicht als Wahlen an). 

    Es ist nicht so, dass diese Maßnahmen den Rückhalt für Lukaschenko in der Gesellschaft stärken würden, eher umgekehrt

    „Wer, wenn nicht Lukaschenko?“ Es liegt auf der Hand, dass die Ausschaltung jedes seiner Herausforderer die Antwort auf diese Frage erschweren soll. Doch stattdessen hat Lukaschenko den Verfechtern eines Wandels die Antwort darauf nur leichter gemacht: „Wer auch immer, nur nicht Lukaschenko!“

    Bislang ist weiterhin unklar, was die Zentrale Wahlkommission daran hindern sollte, die traditionellen 75 bis 85 Prozent herzustellen. Doch diese Ziffern sind das Einzige, dessen sich Lukaschenko sicher sein kann. Mehr Gewissheiten hat er nicht.

    In früheren Jahren haben Gefängnisstrafen, zerschlagene Demonstrationen und andere Formen der Repression dafür gesorgt, dass in der belarussischen Gesellschaft schnell wieder Angst und Apathie herrschten, oder – wie die belarussischen Machthaber diesen Zustand bezeichnen – die „verfassungsgemäße Ordnung“. Jetzt nimmt das Engagement und die Politisierung der Belarussen jedoch zu. Was hat sich in der Gesellschaft getan?

    Aus dem künstlichen politischen Koma erwacht

    Das verbreitete Narrativ „sie ist aufgewacht“ vereinfacht die Dinge. Natürlich haben Viele keineswegs geschlafen und ihnen war seit langem bewusst, dass mit dem autoritären Regime etwas nicht stimmt. Belarus hält prozentual den Weltrekord bei der Anzahl an Schengen-Visa in der Bevölkerung – wobei viele in Europa keine neuen Eindrücke suchen, sondern zum Studium oder zur Arbeit dorthin fahren. Es handelt sich um eine urbane Bevölkerung – entgegen aller Stereotypen. Nach Angaben der UNO leben 78 Prozent der belarussischen Bevölkerung in Städten; das übertrifft sämtliche Werte in den Nachbarländern; nur neun Prozent der Bevölkerung sind in der Landwirtschaft beschäftigt. Der Zugang zum Internet ist stark verbreitet (über 80 Prozent), auch unter Personen im Rentenalter.

    Die Entpolitisierung dieser Bevölkerungsgruppe, die Lukaschenko gegenüber keine Hochachtung hegt oder ihm gegenüber deutlich negativ eingestellt ist, jedoch nicht zu Dissidenten werden wollte, war erzwungen. Um die Metapher des Schlafs fortzuführen: Dieser fortschrittliche Teil der Gesellschaft wurde in ein künstliches Koma versetzt.

    Spirale des Schweigens gebrochen

    Als die Gesellschaft mit dem Beginn des Wahlkampfes aus dem Koma erwachte, geschah das in der Tat abrupt und für alle unerwartet. Der Grund war, dass man sich plötzlich bewusst wurde, dass es eine klare Mehrheit gibt, die Veränderungen will. Das ist ein interessanter Umstand, zu dem die Psychologen, die sich mit der Macht der vermeintlichen Mehrheit oder mit der Schweigespirale befassen, vieles erzählen können. Wenn die Spirale des Schweigens gebrochen wird, kann man zusehen, wie sich Konformismus und das Gefühl der Machtlosigkeit verflüchtigen.

    Als Reaktion auf das repressive Vorgehen der Behörden kam es zu Straßenprotesten. Darauf folgten weitere Repressionen, was wiederum eine neue Welle von Protestaktionen auslöste, die jetzt noch massiver ausfiel. Eine derartige geographische Ausbreitung von Protesten hat es in Belarus noch nie gegeben: In 20 Städten kam es zu Verhaftungen und Gerichtsverfahren. Die Protestwelle [nach der Nicht-Zulassung einzelner Oppositionskandidaten am 14. Juli – dek] wurde zwar unterdrückt, wobei Minsk nahezu unter Kriegsrecht gestellt wurde (im Stadtzentrum wurden zwei Tage lang Straßen abgesperrt, U-Bahneingänge geschlossen, das Internet blockiert und es wurden mit äußerster Härte Verhaftungen vorgenommen). Sie war aber auch von ersten Versuchen eines gewaltsamen Widerstandes gegen die OMON geprägt. So etwas hatte man in Belarus seit den 1990er Jahren nicht mehr gesehen.

    Zustrom Unzufriedener

    Wie kam es zu diesem Zustrom Unzufriedener, durch den das Blatt sich gewendet hat? Einer der wichtigsten Gründe ist sicher der immer rapidere Niedergang der Wirtschaft. Die Mankos des belarussischen Modells vom Sowjetstaatsplan wurden eine gewisse Zeit lang durch versteckte oder offene Subventionen aus Russland sowie durch Anleihen aus Europa und China verschleiert. Diese Mängel lassen sich jetzt nicht mehr verhehlen. Das belarussische Bruttoinlandsprodukt ist heute geringer als vor zwölf Jahren. Die Auslandsverschuldung ist um fast das Dreifache gestiegen (und das zu hohen Zinsen, die belarussischen Euro-Obligationen sind auf „Trash-Niveau“). Unter Lukaschenko gibt es keinerlei Aussichten auf Reformen oder eine Umkehr dieser Tendenzen.

    Die versprochene ‚Ruhe und Sicherheit‘ hat sich als Fiktion herausgestellt

    Ein anderer offensichtlicher Grund war, dass Lukaschenko die Corona-Epidemie ignoriert oder gar verlacht hatte. Dadurch ist Belarus jetzt in Europa das Land mit den zweithöchsten Fallzahlen pro Million Einwohner. Und das laut den offiziellen Statistiken, die, wie es aussieht, nach unten „korrigiert“ wurden. Die Dysfunktionalität der Regierung ist für einen zu großen Teil der Bürger spürbar geworden; die versprochene „Ruhe und Sicherheit“ hat sich als Fiktion herausgestellt.

    Interessant ist auch, dass es die gleichen Mechanismen sind, die früher die Diktatur gestärkt haben, die nun dem tektonischen sozialen Umbruch diese Kraft und Geschwindigkeit verleihen. Zum einen ist da die langjährige Unterdrückung unabhängiger Medien. Sie hat eine massive Nachfrage nach unzensierten Informationen und Meinungen erzeugt, die jetzt von YouTube– und Telegram-Kanälen befriedigt wird. Letzten Endes ist deren Nutzung nicht mehr nur eine Frage des Geschmacks, sondern auch ganz banal des physischen Überlebens. Das belarussische Agitprop hat das ganze Frühjahr über Lukaschenko folgend den Leuten weiszumachen versucht, dass das Coronavirus „nicht schlimmer als eine Grippe“ und überhaupt eine „Psychose“ sei. Und nach dem Unfall, durch den das Wasser in Minsker Leitungen vergiftet wurde, wurde behauptet, dass es trotzdem trinkbar sei. YouTube und Telegram sind in Belarus noch populärer als in Russland und haben letztlich die Wirksamkeit der Propaganda drastisch reduziert. Daher konzentriert sich die repressive Maschinerie auf Blogger: Bereits sieben Blogger sitzen wegen fingierter Strafverfahren in Haft und noch mehr wegen Ordnungswidrigkeitsverfahren; zwei Blogger versuchen sich der Verfolgung zu entziehen und konnten ins Ausland fliehen.

    Die gleichen Mechanismen, die früher die Diktatur gestärkt haben, verleihen nun dem tektonischen sozialen Umbruch diese Kraft und Geschwindigkeit

    Der zweite Faktor ist das zwar nicht formale, doch faktische Verbot von unabhängigen Umfragen. Das hat jahrelang die schwindende reale Unterstützung für das Regime verschleiert. Und so haben die Beliebtheitswerte der Präsidentschaftskandidaten, die auf den größten Internetportalen veröffentlicht wurden, den Herausforderern wieder Hoffnung gemacht: Lukaschenko hatte dort nur rund drei Prozent. Sie sind zu einem nationalen Meme geworden. Allerdings sind nun auch diese Umfragen verboten. Es gibt keine anderen unabhängigen Zahlen. Lukaschenko selbst hat sie unmöglich gemacht. Und ganz gleich, welche Ergebnisse die Zentrale Wahlkommission schließlich zusammenrechnen mag – eine Mehrheit wird diesen Ziffern keinen Glauben schenken.

    Als drittes ist die Hürde von 100.000 Unterschriften zu nennen, die eine Voraussetzung für die Nominierung eines Präsidentschaftskandidaten sind und die man in sehr kurzer Zeit zusammentragen muss. Früher hatte diese Praxis Lukaschenko ermöglicht, sich seine Herausforderer quasi auszuwählen. Jetzt ist dieses Werkzeug detoniert, dank der Mobilisierung von Wählern, die Veränderung wollen: Es haben sich in vielen Städten kilometerlange Schlangen von Menschen gebildet, die für einen der Herausforderer unterschreiben wollen.

    Die Menschen haben mit eigenen Augen gesehen, wie viele es sind. Selbst in verschlafenen Kreisstädten.

    Empörung und Solidarität statt Angst

    Der neue gesellschaftliche Konsens sorgt für eine Gegenreaktion auf die unverhältnismäßige, fast barbarische Gewalt, die chaotischen Festnahmen und die absurden Strafverfahren. Anstelle der gewohnten Angst zeigen sich Empörung und Solidarität. Früher bedeutete fehlende Loyalität den Verlust des Einkommens und eine Marginalisierung. Jetzt verliert man zwar immer noch sein Einkommen, aber man gehört zur Mehrheit und das eigene Handeln wird rundum gutgeheißen. Das ist eine für Belarus neue Situation.

    Lukaschenko setzt auf Charisma und Silowiki

    Lukaschenko hofft auf sein Charisma, dem er einst seinen Aufstieg verdankte, und hat seine Reisen in die belarussischen Regionen verstärkt. Zugleich überschüttete er die Wähler mit der doppelten Menge an Versprechen, etwas zu erhöhen, umzusetzen, sicherzustellen oder zu lösen. Zudem ist er in Bezug auf Russland aktiver geworden, das sich bei ihm zugleich zum wichtigsten Schreckbild („die russischen Oligarchen wollen Belarus destabilisieren“, „die Strippenzieher von Gazprom und weiter oben“, „Bedrohung für die Unabhängigkeit“) wie auch zur wichtigsten Hoffnung entwickelt (zwei Besuche bei Wladimir Putin innerhalb einer Woche, sein schmeichlerisches „Ich bin in die Hauptstadt der Heimat gefahren“). 

    Am meisten achtet er jedoch auf den Block der Silowiki. Die Hälfte seiner Treffen, die im Fernsehen gezeigt werden, sind mit Leuten in Uniform. Und auch der vor einem Monat neu ernannte Ministerpräsident Roman Golowtschenko ist ein Silowik. Beim KGB und bei den Inlandstruppen sind sämtliche Urlaube gestrichen worden, bei den Silowiki wurde ein spezielles Regime der Dienstausübung ausgerufen und sogar die Militärdoktrin der belarussischen Armee ist eilig um einen Passus über die Bekämpfung innerer Gefahren erweitert worden.

    Ich habe selbst in der belarussischen Armee gedient und eine recht gute Vorstellung davon, wie sie zerfällt. Ich glaube nicht, dass es dem Präsidenten irgendwie helfen würde, Rekruten in einen Kampf gegen jene hineinzuziehen, die mit ihm nicht einverstanden sind. Eher im Gegenteil. Der KGB, die OMON und die anderen Spezialeinheiten aber sind unter Hochdruck tätig – obwohl jeder ihrer Schläge gegen Unzufriedene einen Schlag gegen Lukaschenkos Umfragewerte bedeuten könnte. Nach Einschätzung von Experten liegt Belarus hinsichtlich der Zahl an Sicherheitskräften pro 100.000 Einwohnern weltweit mit an der Spitze. In Minsk hat es zwar nie Barrikaden gegeben, dafür aber mehr als genug Spezialgeräte, um Barrikaden zu durchbrechen. Hätte es in der späten UdSSR eine derartige Unterdrückungsmaschinerie gegeben und die entsprechende Bereitschaft, diese einzusetzen, hätte sich der Kommunismus wohl noch ein paar Jahre länger über Wasser halten können.

    Lukaschenko könnte wohl dazu in der Lage sein.

    Falls seine neuen Versprechungen nicht verfangen (und so wird es kommen), dann wird er sich nur und ausschließlich auf Gewalt stützen können.
    Allerdings hängt die gesamte jahrelang gehegte und gehätschelte Maschinerie der Silowiki jetzt schon in der Luft. Ihr fehlt jede Stütze.

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  • „Für jeden Russen eine Medaille“

    „Für jeden Russen eine Medaille“

    Es regnet Auszeichnungen, noch mehr als zu Zeiten der Sowjetunion: Eine Recherche von Projekt darüber, wer in Russland heute eigentlich alles wofür ausgezeichnet wird. Warum das oft keiner weiß. Und was das mit Land und Gesellschaft eigentlich macht.

    Am 21. Mai 2015 wurden im Katharinensaal des Kreml staatliche Auszeichnungen verliehen. Als erster trat der verdiente Physiker Jewgeni Welichow vor, der Präsident des Kurtschatow-Instituts; er wurde mit dem Orden Für Verdienste am Vaterland 1. Klasse ausgezeichnet. Danach erhielten aus den Händen Putins der hundertjährige Volkskünstler Wladimir Seldin und Außenminister Sergej Lawrow den gleichen Orden. In dem Beschluss über die Auszeichnungen fanden sich noch über 200 weitere Namen. Allerdings wurden nicht alle öffentlich verliehen, die meisten erhielten ihre Auszeichnung ohne großes Aufsehen. Darunter war der 25-jährige Iwan Setschin, der stellvertretende Leiter der Abteilung Offshore-Projekte von Rosneft und Sohn von Igor Setschin, dem Chef desselben Unternehmens. Setschin der Jüngere erhielt den Orden Für Verdienste am Vaterland 2. Klasse.

    Hochdekorierte Kinder hochrangiger Staatsbeamter

    Setschin ist keineswegs das einzige Kind eines hochrangigen Staatsbeamten oder staatlichen Managers, das hoch dekoriert wurde und nicht einmal das jüngste. Übertroffen wurde er von Aischat Kadyrowa, der 21-jährigen Tochter Ramsan Kadyrows: Die erhielt am 7. März 2020 aus den Händen ihres Vaters die Medaille Für Verdienste vor der Tschetschenischen Republik – für ihre Teilnahme an der Paris Fashion Week.

    Die Auszeichnung von Verwandten ist übrigens nicht die wichtigste Besonderheit der heutigen, überaus verwickelten Auszeichnungspolitik in Russland.

    Nach dem Zerfall der UdSSR hatte das sowjetische Ehrungssystem seine Wirkung eingebüßt: Das neue Land brauchte neue Helden. 1994 erging ein Erlass, der die Grundlage für das jetzige System von Auszeichnungen schuf. Darin waren 29 Orden, Medaillen und Ehrenabzeichen sowie eine Reihe beruflicher Ehrentitel aufgeführt. Die höchste Auszeichnung war der Helden-Stern Russlands. Ein Merkmal der Epoche des „freien Marktes“ bestand darin, dass in dem neuen System keinerlei sowjetische Orden und Medaillen für berufliche Erfolge auftauchten.
    Mehrmals gab es Abänderungen in dem Erlass für Ehrentitel. 2013 hat Putin eine zweite höchste Auszeichnung eingeführt: den Held der Arbeit. Insgesamt übertrifft Russland mit seinen unterdessen 102 staatlichen Auszeichnungen sogar die späte UdSSR (95 Auszeichnungen).

     

    Überaus verwickelte Auszeichnungspolitik

    Von 1948 bis 1991 sind 660 Personen zu Helden der UdSSR geworden. Das heutige Russland hat in nur 30 Jahren rund 1100 Helden hervorgebracht.

    Putin selbst trägt nicht sonderlich viele Orden. Von den hochrangigen hat er nur den Orden der Ehre erhalten. Daneben hat er drei präsidentielle Belobigungen von Jelzin, einen Ehren-Pallasch [eine Säbelart – dek] der Marine und einen Verdienstorden der Republik Dagestan. Sehr viel zahlreicher sind hingegen seine ausländischen, religiösen und gesellschaftlichen Auszeichnungen, unter anderem aus Europa. Die hat Putin vor 2009 erhalten. Nachdem sich die Beziehungen zum Westen abgekühlt haben, überwiegen in der Liste der Staaten, die Putin Auszeichnungen verliehen, ehemalige Sowjetrepubliken sowie asiatische und afrikanische Länder. 

    Großes Geheimnis

    Heute ist es oft unmöglich zu erfahren, wer wofür ausgezeichnet wurde. Die Erlasse sind unter Verschluss und Angaben zu den Helden werden nirgends veröffentlicht. Geheime Auszeichnungen wurden zur Norm, seit Russland in eine Anzahl militärischer Konflikte eingriff und die heftige Konfrontation mit dem Westen begann. Mit Hilfe geheimer Erlasse werden oft Auszeichnungen für nicht erklärte Kriege gestiftet, für Militärs, Vertreter der Bürokratie und Journalisten, die im Sinne des Staates arbeiten. Im Mai 2014 hatten über 300 Journalisten der staatlichen Fernsehsender Orden und Medaillen verliehen bekommen „für ihre Professionalität und die objektive Berichterstattung über die Ereignisse auf der Krim“. Doch ein Erlass über die Auszeichnungen ist nicht auffindbar.

    Auf dem Höhepunkt des Krim-Frühlings tauchte auch eine spezielle behördliche Auszeichnung des Verteidigungsministeriums auf, die Verdienstmedaille für die Rückholung der Krim. Auf der Webseite der Firma, die mit dem Entwurf der Medaille befasst war, erschien eine Mitteilung über einen Eilauftrag für die Medaille und deren Beschreibung. Bald schon hatten ukrainische User sozialer Netzwerke auf der Rückseite der Medaille ein Datum für den Beginn der Krim-Operation entdeckt, nämlich den 20. Februar, und zwar noch lange vor dem Referendum über die Rückholung der Krim. Nach vielzähligen Berichten zu diesem Thema wurden die Anordnung des Ministeriums und die Webseite mit der Beschreibung der Medaille entfernt.

    Als erste erhielten Militärs und das ernannte Oberhaupt der Republik [Krim] Sergej Aksjonow die Verdienstmedaille für die Rückholung der Krim. Später kam die Medaille in den freien Verkauf, sie kann jetzt zusammen mit einer Urkunde für rund 500 Rubel erstanden werden.

    Per Geheimerlass zum Helden erklärt

    Putin verleiht zudem Auszeichnungen für Kriege, an denen Russland, seinen eigenen Worten zufolge, gar nicht beteiligt ist. In dieser Atmosphäre äußerster Geheimhaltung erweisen sich Sammler als diejenigen, die am besten informiert sind. Es ist zwar verboten, staatliche Auszeichnungen zu verkaufen, doch es geschieht trotzdem. Und anhand der Ordnungsnummern lassen sich Rückschlüsse ziehen. So belegen 60.000 Kampfauszeichnungen, die innerhalb kurzer Zeit verliehen wurden, dass Krieg geführt wird – selbst wenn im Fernsehen kein Wort darüber verloren wird. Die Sammler verzeichnen eine Reihe solcher Momente: Anfang der 2000er Jahre (Tschetschenienkrieg), 2014 (die Ereignisse in der Ukraine) und seit 2016 der Einsatz in Syrien.

    Geradezu ausgeschüttet wurden Auszeichnungen an Kämpfer privater militärischer Einheiten anlässlich des Krieges in Syrien. Am 9. Dezember 2016 fand zu Ehren des Tages der Helden des Vaterlandes im Kreml ein Empfang statt. Auf einer der Fotografien erkannten Journalisten Dimitri Utkin (den Kommandeur einer Einheit, die als TschWK Wagner bekannt wurde) – anhand seiner Rekrutierungsnummer. Seit 2015 sind Wagnerianer an militärischen Einsätzen in Syrien und sogar in Libyen und anderen afrikanischen Staaten beteiligt. Utkin hatte vier Tapferkeitsorden an der Brust. Auf dem gleichen Foto wurde Andrej Troschew identifiziert, mit einem frischen Stern als Held Russlands am Revers. Troschew ist Direktor eines privaten Militär- und Sicherheitsunternehmens. Zum Helden wurde er durch die Eroberung von Palmyra 2016, per Geheimerlass.

    Den derzeitigen Ansatz bei Auszeichnungen beschreibt Andrej Chasin, Mitglied von Einiges Russland und Berater des Chefs der Präsidialadministration, in einer öffentlichen Vorlesung: „Kein Auszeichnungssystem ist objektiv. Es wird nie wirklich alle auszeichnen, die es verdient haben – und auch nicht ausschließlich diejenigen, die es verdient haben. Das System muss so geartet sein, dass die Menschen angesichts eines äußeren Symbols der Tapferkeit oder der Verdienste verstehen, dass derjenige, der es trägt, mit riesiger Wahrscheinlichkeit etwas Wichtiges und Notwendiges getan hat.“ In den meisten Fällen ist dieses Wichtige und Notwendige schlicht die Loyalität gegenüber dem Regime.

    Auszeichnung als Dankeschön

    Die Erlasse über eine Auszeichnung enthalten verschwommene Formulierungen: „für mehrjährige Gesetzgebungstätigkeit“, „für Verdienste um Staat und Volk durch heldenhafte Taten“. In Wirklichkeit aber wissen die Ausgezeichneten selbst, dass es sich wohl aller Wahrscheinlichkeit nach um ein Dankeschön handelt. Oft werden die Auszeichnungen sofort nach Ereignissen verliehen, die für das Regime wichtig sind.
    Peinlich wurde es, als der stellvertretende Leiter der Präsidialadministration Sergej Kirijenko den Heldenstern Russlands erhielt – unmittelbar nach der Präsidentschaftswahl 2018 und womöglich dafür, dass dabei für Putin ein sehr gutes Ergebnis gewährleistet worden war. Die Regierung hatte auf eine offizielle Bekanntmachung dieser Auszeichnung verzichtet. Allerdings erfuhr die Zeitung Kommersant davon. Bald nach der Veröffentlichung verlor Sergej Jakowlew, Chefredakteur des Kommersant, seinen Posten.

    Überhaupt sind erfolgreiche Wahlen ein hervorragender Anlass, loyale Weggefährten auszuzeichnen. Der Anfang war 2008 gemacht, als Putin einigen Männern aus der Politikwissenschaft, Anführern kremlfreundlicher Jugendorganisationen und den Leitern dreier landesweiter Fernsehkanäle Auszeichnungen verlieh. Nach Angaben des Kommersant geschah das aus Dankbarkeit für deren Beitrag im Wahlkampf von Einiges Russland und des von Putin nominierten Präsidentschaftskandidaten Dimitri Medwedew.

    Vorsitzende von Wahlkommissionen erhielten von jetzt an regelmäßig Orden und Medaillen. 2012 wurde Wladimir Tschurow, dem damaligen Leiter der Zentralen Wahlkommission, der Alexander-Newski-Orden verliehen, per Geheimerlass. Einige Monate zuvor war Tschurow zu jener Person geworden, die im Internet am heftigsten diskutiert wurde: Nach den massiven Wahlfälschungen hatten sämtliche Vertreter der Opposition seinen Rücktritt gefordert.

    Auch die neue Zentrale Wahlkommission wurde vielfach ausgezeichnet Nach der Wahl von 2018, bei denen die Nichtzulassung von Alexej Nawalny für einen Skandal gesorgt hatte, verlieh der frisch wiedergewählte Präsident Putin der Leiterin der Wahlkommission, Ella Pamfilowa, den Orden Für Verdienste um das Vaterland 3. Klasse. 

    Neue Stagnation

    Betrachtet man die Gesamtzahl der Auszeichnungen – und hierzu gehören neben den staatlichen auch regionale und behördliche Auszeichnungen –, so hat Russland die Sowjetunion bei weitem überholt. Und zusammen mit den religiösen und gesellschaftlichen Ehrenzeichen geht die Zahl in die Hunderte.

    Der Historiker Alexander Spiwak bezeichnet das heutige System der Auszeichnungen als Chimäre. Das sowjetische System hatte sich über Jahrzehnte hinweg herausgebildet und war gegen Ende der UdSSR recht vernünftig organisiert. Im heutigen Russland hingegen hängen die Kriterien, nach denen die Helden bestimmt werden, nicht selten einfach vom Willen der Chefetage ab.

    Das wichtigste Prinzip, durch das das System in Russland dem sowjetischen ähnelt, sind die unerlässlichen Auszeichnungen für jene, die dem ersten Mann im Staate Dienste erweisen. 

    Im Naturschutzgebiet von Sawidowo, wo die sowjetische Nomenklatura gern Erholung suchte, arbeiteten unter Breshnew zwei bemerkenswerte Menschen, der Generalleutnant Iwan Kolodjaschny und der Jäger Wassili Schtscherbakow. Neben ihrem Arbeitsort verband die beiden, dass sie vollwertige Träger des Ordens waren, der in der Sowjetunion am seltensten verliehen wurde, nämlich des Ordens Für den Dienst am Vaterland in den Streitkräften der UdSSR. Das ließ sich einfach erklären: Kolodjaschny und Schtscherbakow kümmerten sich darum, dass die sowjetische Führungsspitze und ausländische Delegationen in Sawidowo jagen konnten. „Sie haben einfach die Wildschweine und Elche getrieben, und schon hatten sie die Brust voller Orden“, scherzt Historiker Spiwak.

    Eine derart zweckgebundene Haltung zu Auszeichnungen erfährt jetzt auch in den Regionen eine Blüte. Die Gouverneure können die Auszeichnungen nach eigenem Gutdünken verleihen, ohne sich mit der Zentralregierung abzusprechen.

    Gold mit Rubinbesatz

    Die Region mit dem größten Reichtum an Auszeichnungen – im direkten wie im übertragenen Sinne – ist die Republik Tschetschenien. Die höchsten Auszeichnungen in Tschetschenien – die Achmat Kadyrow-Orden und -Medaillen – sind aus Gold gefertigt und mit Brillanten, Smaragden und Rubinen verziert.

    Der größte Ordensträger in Tschetschenien ist das Republikoberhaupt selbst. Seine erste staatliche Auszeichnung hat Kadyrow mit 28 Jahren erhalten – gleich den höchsten Ehrentitel des Landes: Putin heftete ihm den Heldenstern an die Brust. Auch sein Vater Achmat Kadyrow wurde zum Helden erklärt – posthum.

    Darüber hinaus ist Kadyrow der Jüngere Träger zahlreicher tschetschenischer Orden und Medaillen. Nach vorsichtigsten Schätzungen trägt er mindestens 39 Auszeichnungen.

    In Tschetschenien gibt es zudem eine paradox anmutende Auszeichnung, nämlich die Medaille Für die Verteidigung der Menschenrechte. Sie wurde 2007 gestiftet und als erstes Ibragim Dsubairajew verliehen, dem stellvertretenden Apparatsleiter des Menschenrechtsbeauftragten in der Republik Tschetschenien. Dsubairajew hat Memorial und ähnlich ausgerichtete Organisationen 2009 beschuldigt, sie würden sich „zu Menschenrechts- und Informationsterroristen wandeln“. Er hat der von Unbekannten ermordeten Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa vorgeworfen, sie wolle die positiven Veränderungen in der Republik nicht wahrnehmen und lasse sich bei ihrer Tätigkeit ausschließlich von PR-Überlegungen leiten. Unter denjenigen, die mit dieser Medaille ausgezeichnet wurden, heißen mindestens drei Personen Kadyrow mit Nachnamen. Es sind Ramsan Kadyrow selbst, dessen Frau Medni und Islam Kadyrow, Bürgermeister von Grosny und ein Neffe dritten Grades von Ramsan Kadyrow. Er hat die Medaille 2013 erhalten; 2019 veröffentlichte die staatliche Rundfunkanstalt Grosny ein Video, das Islam Kadyrow zeigt, wie er Menschen mit einem Elektroschocker malträtiert, um von ihnen Geständnisse zu erzwingen.

    Ministerium verleiht Einmal-Medaillen

    Bei der Verleihung behördlicher Auszeichnungen hat es eine vollständige Rückkehr zur sowjetischen Praxis gegeben. Es gibt sehr viele dieser Auszeichnungen und viele von ihnen existieren allein zu dem Zweck, sie an einem Gedenktag an Staatsbeamte zu verleihen. 

    Dabei nimmt das Verteidigungsministerium traditionell den Spitzenplatz ein. Das geht so weit, dass sogar „Einmal“-Medaillen des Verteidigungsministeriums geschaffen wurden, etwa für den Panzerbiathlon 2014 oder die Teilnahme an einer Siegesparade.

    Die Behörden zeichnen nicht nur ihre eigenen Mitarbeiter aus, sondern es ergeben sich mitunter erstaunliche Konstellationen: Die Weltraumbehörde Roskosmos etwa zeichnete einen Mönch des Dreifaltigkeits-Klosters von Sergijew Possad, der in der Sternenstadt die Raumschiffbesatzungen segnet, mit dem Gagarin-Ehrenzeichen aus („für den aktiven Beitrag zur Umsetzung des Föderalen Weltraumprogramms“). Und der Kosmonautik-Verband verlieh Priestern, die in Baikonur arbeiten den Titel eines Verdienten Erforschers.

    * * *

    Heute kann jeder Bürger Russlands eine Medaille erhalten. Im staatlichen russischen Fernsehen wurde ein Werbeclip mit dem Slogan „75 Jahre Tag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg. Für jeden Russen eine kostenlose Gedenkmedaille“ geschaltet. In dem Video ist eine Medaille mit Staatssymbolen zu sehen, dem äußeren Anschein nach aus billigen Legierungen. Die Behauptung, dass die Medaille jedem Bürger kostenlos übergeben wird, ist zumindest ungenau. Die Lieferanten berechnen mindesten 299 Rubel [rund 3,80 Euro – dek] „für Zusatzoptionen“ sowie „für Verpackung und Lieferung“. Auch eine Firma mit dem schönen Namen Kaiserliche Münzstätte macht Geschäfte mit dem Kriegsgedenken. Nutznießer dieser Geschäfte ist letztendlich Dimitri Sobnin, der König des russischen „Sofashoppings“, der über seine Sendungen alles Mögliche verkauft, von der Ikone bis zur Ausstattung für die Datscha.

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  • Fall Safronow – „Journalismus ist kein Verbrechen“

    Fall Safronow – „Journalismus ist kein Verbrechen“

    Unabhängige journalistische Arbeit war in Russland schon immer gefährlich: In den 1990er Jahren wurden Dutzende Journalisten während der Ausübung ihres Berufs getötet, seit etwa 2003 pendelt das Land in der Rangliste der Pressefreiheit beständig um die Marke 145 von rund 180. In den vergangenen Jahren haben die Einschränkungen für die Arbeit von Journalisten sukzessive zugenommen, in dieser Woche hat der Druck auf Pressevertreter einen neuen Höhepunkt erreicht.

    Gleich drei Fälle versetzen derzeit die Redaktionen unabhängiger Medien in Alarmstimmung: Am Montag wurde die Journalistin Swetlana Prokopjewa wegen angeblicher Rechtfertigung von Terrorismus zu umgerechnet rund 6000 Euro Strafe verurteilt. Am selben Tag wurde auch eine Untersuchung gegen Pjotr Wersilow eingeleitet, den Herausgeber von Mediazona und Aktivisten von Pussy Riot: weil er die Behörden nicht über seine kanadische Staatsbürgerschaft informiert hatte. Nun sorgt der Fall Safronow für Aufsehen: Der ehemalige Journalist soll Landesverrat begangen haben, ihm drohen bis zu 20 Jahre Haft.

    In einer Atmosphäre der Zensur, Einschüchterung und Verfolgung wendet sich die Redaktion von Projekt mit einem Editorial an ihre Leser: Was sind die eigentlichen Gründe für die Verhaftung von Iwan Safronow, und was kann man überhaupt noch tun gegen die fortschreitende Einschränkung der Pressefreiheit?

    Journalismus ist kein Verbrechen, sondern Arbeit für das Wohl der Gesellschaft. Doch die russischen Behörden sehen das anders: Eine erneute Bestätigung dafür ist die Verhaftung des ehemaligen Kommersant– und Vedomosti-Journalisten Iwan Safronow. Er wird des Landesverrats verdächtigt. In einem Land, in dem die Behörden vom Syndrom der Belagerten Festung infiziert sind und in jedem denkenden Menschen einen Feind und Spion sehen, ist die erschreckende Häufung von Strafverfahren gegen Journalisten nur folgerichtig. Aber eine Gesellschaft, die sich der Bedeutung echter journalistischer Arbeit bewusst ist, kann die Behörden – manchmal – dazu zwingen, nachzugeben.

    Symptomatische Unstimmigkeit

    Über den Gegenstand des Verfahrens gegen Safronow ist bisher vor allem aus den Berichten von Silowiki oder anonymen Quellen aus den Strafverfolgungsbehörden etwas bekannt. Es geht um Artikel 275 des Strafgesetzbuches: Landesverrat, bis zu 20 Jahre Haft. „Safronow hat Aufträge eines der Nachrichtendienste der NATO erfüllt, er hat einem ihrer Vertreter Informationen übergeben, die Teil des Staatsgeheimnisses über die militärtechnische Zusammenarbeit, Verteidigung und Sicherheit der Russischen Föderation sind“, erklärte der FSB (zitiert nach: TASS). [Die russische Raumfahrtbehörde – dek] Roskosmos, wo Safronow in den vergangenen zwei Monaten als Berater des Generaldirektors Dimitri Rogosin tätig war, hat bereits erklärt, dass die Vorwürfe gegen Safronow nicht in Zusammenhang mit seiner Arbeit in dem Staatsunternehmen stehen. Präsidentensprecher Dimitri Peskow sagte, die Verhaftung habe – „soweit der Kreml weiß“ (zitiert nach: RIA) – auch nichts mit Safronows journalistischer Arbeit zu tun. Diese Unstimmigkeit ist symptomatisch.

    Safronow ist in seinem beruflichen Umfeld ein anerkannter Experte auf den Gebieten Rüstungsindustrie, Raumfahrt und Waffenexporte. Auch sein Vater Iwan Safronow senior war Militärexperte und arbeitete für Kommersant; er verstarb 2007 unter merkwürdigen Umständen, laut offizieller Version beging er Selbstmord. 

    Heikles Themenfeld

    Dies ist ein heikles Themenfeld: 2019 hat Safronow mit seinem Kommersant-Artikel über die Exportpläne russischer Su-35-Kampfflugzeuge nach Ägypten einen Skandal provoziert. Der Artikel wurde von der Website genommen, Kommersant drohte eine Klage wegen des Verrats von Staatsgeheimnissen, Rosoboronexport [ein staatliches Unternehmen für den Export von Rüstungsgütern – dek] dementierte den Vertrag, das US-Außenministerium drohte Ägypten mit Sanktionen. Journalisten, die mit Safronow zusammengearbeitet haben, halten die Vorwürfe des Landesverrats für absurd und bezeichnen ihn als ehrlichen und prinzipientreuen Mann, als Patrioten seines Landes und seiner Sache.

    Die russischen Behörden haben jedoch ihre eigenen Vorstellungen von Patriotismus und auch von Journalismus: Sie trauen den Bürgern nicht – und insbesondere nicht den Journalisten. In Reportagen über heikle Themen, in Recherchen zu Korruption und in kritischen Kolumnen sehen sie Bedrohung, Provokation und Rechtfertigung von Terrorismus. Der Spionagewahn hat die gesamte Vertikale von der Spitze an befallen: So sagte Nikolaj Patruschew, Sekretär des Sicherheitsrats, im Juni erneut, dass „der Westen (und allen voran die USA und die NATO) Russland als Feind betrachtet, […] regelmäßig die kontrollierten Medien und das Internet nutzt, um die Führung unseres Landes, die Institutionen der Staatsmacht und die patriotischen politischen Leader zu diskreditieren […] Ständig werden die Aktivitäten zur Destabilisierung der soziopolitischen Lage in unserem Land intensiviert“. In einer solchen Atmosphäre laufen Journalisten Gefahr, als Erste getroffen zu werden – zumal der Staat viele Möglichkeiten hat, Druck auszuüben und einzuschüchtern.

    Landesverrat bietet sich vor diesem Hintergrund an als passender Artikel aus dem Strafgesetzbuch. Die Definition von Landesverrat ist sehr weit gefasst, die Ermittlungen finden in der Regel genauso unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt wie der Gerichtsprozess selbst. Die Argumente der Verteidigung und die Aussagen der Angeklagten können der Öffentlichkeit vorenthalten bleiben, wenn Anwälte zu Stillschweigen verpflichtet werden. 

    Niemand mag Spione und Verräter

    Landesverrat ist auch ethisch ein toxischer Artikel: Niemand mag Spione und Verräter, und ob es Beweise für ihr Verbrechen gibt – wer weiß das schon. Für normale Menschen wird es schwierig sein, sich mit dem mutmaßlichen Landesverräter zu solidarisieren: Landesverrat erscheint ihnen als etwas, das unendlich weit von ihrem Leben entfernt ist, als etwas aus der Welt der Diplomaten, großer Wissenschaftler oder hoher Militärs.
    In Wirklichkeit kann aber jeder einfache Mensch des Landesverrats beschuldigt werden.

    Denken Sie an den Fall Swetlana Dawydowa – eine Hausfrau aus Wjasma. 2015 wurde sie des Landesverrats angeklagt, weil sie die ukrainische Botschaft angerufen hatte und darüber berichtete, dass ein Standort des Militärgeheimdienstes GRU neben ihrer Wohnung teilweise verlassen sei. Dawydowa vermutete, dass das Militär in die Ukraine geschickt worden ist. 
    Denken Sie an den Fall Oxana Sewastidi, eine Verkäuferin aus Sotschi: 2008 hatte sie eine Textnachricht über Züge voll mit russischer Militärausrüstung an einen Bekannten in Georgien geschickt – und ist dafür zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Sewastidi wurde vom Präsidenten begnadigt, und der Fall Dawydowa wurde mangels eines Straftatbestands eingestellt. In beiden Fällen reagierten die Behörden erst nach umfassenden öffentlichen Protesten, provoziert durch die Absurdität der Anschuldigungen.
     
    Wie die Geschichte des Journalisten Iwan Golunow aus dem vergangenen Jahr zeigt, ist eine massive öffentliche Resonanz auf absurde Ermittlungsverfahren eine der wenigen wirksamen Möglichkeiten für den Widerstand gegen die Walze der Herrschaftsmaschine, die sowohl unbequeme Journalisten als auch normale Menschen überrollen kann. Im Sommer 2019 wurde Golunow nach einer Reihe von Artikeln zum Thema Korruption des versuchten Drogenhandels beschuldigt. Viele Menschen sind damals für den Journalisten eingetreten. Wenige Tage später wurde die Anklage fallen gelassen, mehrere an der Konstruktion des Strafverfahrens beteiligte Vollzugsbeamte wurden entlassen. Jetzt verhandelt ein Moskauer Gericht den Fall derjenigen, die Golunow Drogen untergejubelt haben.
     
    Kurz nach der Nachricht von der Verhaftung Safronows gab es in Moskau Einzelpikets zu seiner Unterstützung, die Protestierenden wurden fast sofort verhaftet. Doch bisher scheinen nur Journalisten unter ihnen zu sein.

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  • Wahlfälschung auf Rekordniveau

    Wahlfälschung auf Rekordniveau

    Knapp 78 Prozent stimmten für die Änderung der russischen Verfassung, die es Putin erlaubt bis 2036 im Amt zu bleiben – bei einer Wahlbeteiligung von über 65 Prozent. So die offiziellen Zahlen. 

    Wahlanalysten wie Sergej Schpilkin halten dieses Ergebnis für grob übertrieben und sprechen von den massivsten Wahlfälschungen in der Geschichte der Russischen Föderation. Sie verweisen dabei auf Anomalien, die sich auch in unserer Karte zur Abstimmung nachvollziehen lassen.

    Schpilkin, der seit vielen Jahren russische Wahlen mit statistischen Methoden untersucht, erklärt auf Projekt, wie er zu dieser Einschätzung kommt und gibt einen Überblick über die Geschichte russischer Wahl-Anomalien seit 2000.

    Die Zahlen der Zentralen Wahlkommission sind zu großen Teilen das Ergebnis von Manipulation und Fälschung. Die wirkliche Zustimmung zur Verfassungsänderung ist deutlich niedriger. Das zeigt eine detaillierte Analyse der Abstimmungsstatistik. Demnach lag die tatsächliche Wahlbeteiligung bei etwa 44 Prozent [offiziell: 67,97 Prozent – dek], für die Verfassungsänderung haben rund 65 Prozent gestimmt [offiziell: 77,92 Prozent – dek]. Das sind etwa 31 Millionen Menschen – oder 29 Prozent aller Wahlberechtigten in Russland. Die neue Verfassung ist keine Verfassung der Mehrheit.

    Russische Wahlen von 2000 bis 2020

    Um die Ergebnisse der Abstimmung von 2020 einzuordnen, ist ein Blick in die russische Wahlgeschichte hilfreich. Die Präsidentschafts- und Dumawahlen der 2000er Jahre in Russland folgen aus Sicht der Wahlstatistik einer Gesetzmäßigkeit, die von aktuellen politischen Aufgaben bestimmt ist. Die Abstimmung über die Verfassungsänderung fügt sich in diese Reihe. Die Einzigartigkeit dieser Prozedur ist auch Routine: Keine der Wahlkampagnen verlief nach ein und denselben Regeln. Die mehrtägige Abstimmung in Zelten, auf Baumstümpfen und in Kofferräumen – das ist bloß eine von vielen Regeländerungen, wie auch die Abschaffung der Mindestwahlbeteiligung, das Verbot von Wahlbündnissen und zahlreiche weitere Änderungen der Wahlgesetze, die in den vergangenen Jahren je nach politischer Konjunktur verabschiedet wurden.

    Wie man die Grafiken liest

    Links: Die Stimmlokale sind nach Wahlbeteiligung gruppiert (X-Achse), die Y-Achse zeigt die summierte Anzahl der Stimmen für die verschiedenen Kandidaten in Wahllokalen mit der jeweiligen Wahlbeteiligung.

    Schraffierte Fläche: Unterschied zwischen der Stimmverteilung für den Kandidaten der Staatsmacht (A-Kandidat) und der Stimmverteilung für alle anderen Kandidaten (inklusive der ungültigen Stimmzettel). Ist der Unterschied ein Ergebnis von Stimmhinzufügung, so entspricht die Fläche der Anzahl der hinzugefügten Stimmen. Ist der Unterschied ein Ergebnis anderer Handlungen (Vernichtung von Stimmen für einen Konkurrenten oder Umschreibung zugunsten des A-Kandidaten etc.), so gibt die Fläche einen Hinweis über das Ausmaß der Manipulationen.

    Rechts: Jeder Punkt markiert das Ergebnis für einen Kandidaten in einem bestimmten Stimmlokal – je nach Wahlbeteiligung (X-Achse) und prozentualem Ergebnis des Kandidaten (Y-Achse).

    Präsidentschaftswahl 2000: Im Koordinatensystem Wahlbeteiligung/-ergebnis (rechts) verteilen sich die Ergebnisse des A-Kandidaten (Wladimir Putin) in den Wahllokalen um das offizielle Gesamtergebnis (schwarzes Kreuz) herum zu einer kompakten Wolke („Kern“). Die Stimmverteilung für den A-Kandidaten (links) entspricht in ihrer Form nahezu der Verteilung bei den anderen Kandidaten.


    Dumawahl 2003: Die Wahlergebnis-Wolke (rechts) von Einiges Russland (A-Kandidat) bildet einen „Kometenschweif“ in Richtung höherer Wahlbeteiligung und -ergebnisse. Das offizielle Gesamtergebnis (schwarzes Kreuz) rutscht dabei vom Zentrum der Wolke an deren Rand. Ab einem bestimmten Prozentsatz weicht die Verteilung der Stimmen für Einiges Russland nach Wahlbeteiligung von dem Muster anderer Parteien nach oben ab. Ein solches Bild ergibt sich bei einer Hinzugabe von zusätzlichen Stimmen für den A-Kandidaten in einigen Wahlbezirken. Im Ergebnis gehen die entsprechenden Punkte des A-Kandidaten im linken Diagramm nach rechts (die Wahlbeteiligung steigt) und nach oben (Wahlergebnis des A-Kandidaten steigt). Die Anzahl der hinzugefügten Stimmen kann anhand der schraffierten Fläche geschätzt werden. Diese Differenz entspricht in etwa vier von 23 Millionen Stimmen, die offiziell für Einiges Russland abgegeben wurden.


    Präsidentschaftswahl 2004: Der Kometenschweif wächst und nimmt Form an. Zu erkennen ist eine erhöhte Konzentration von „schönen“ Wahlbeteiligungen, die mehrfach runden Fünf-Prozent-Schritten folgen. In der linken Grafik sieht man das an den Zacken, die zu Ehren des damaligen Vorsitzenden der Zentralen Wahlkommission Tschurow-Säge [oder Zacken-Bart] genannt wurden. Die Anzahl der vermutlich hinzugefügten (anormalen) Stimmen für den A-Kandidaten (Wladimir Putin) erreicht acht Millionen. Das Auftauchen der Tschurow-Säge scheint einen wichtigen Wendepunkt in der Entwicklung des Wahlsystems zu markieren: Die Entstehung einer zentralisierten Nachfrage nach einem „schönen“ Wahlergebnis. Seither hat uns dieses Phänomen bei allen Wahlen auf Staatsebene begleitet.


    Dumawahl 2007: Der Kometenschweif wächst noch mehr an; die nach derselben Methode ermittelte Anzahl der anormalen Stimmen für Einiges Russland erreicht zwölf Millionen.


    Präsidentschaftswahl 2008: Die Anzahl der anormalen Stimmen übersteigt 14 Millionen, die Tschurow-Säge zeigt sich nicht nur bei der Wahlbeteiligung, sondern auch beim Wahlergebnis des A-Kandidaten (Dimitri Medwedew). Der Kometenschweif ist kariert. Bei dieser Kampagne wurden auch zum ersten Mal massiv Stimmen von Wählern in Moskau manipuliert (die Anzahl der anormalen Stimmen beträgt dort etwa eine Million).


    Dumawahl 2011: Bis vor Kurzem teilte sich dieser Urnengang den Titel für die  ungewöhnlichste Wahl auf Staatsebene mit der Präsidentschaftswahl von 2008. Die Anzahl der anormalen Stimmen übersteigt erneut 14 Millionen. Nachdem die Tschurow-Säge in der Öffentlichkeit zum Thema wurde, taucht sie in der Verteilung der Wahlbeteiligung nur noch geschwächt auf. Umso mehr nimmt sie aber in der Verteilung des Wahlergebnisses von Einiges Russland zu (horizontale Linien im Kometenschweif).


    Präsidentschaftswahl 2012: Nach den Massenprotesten im Herbst/Winter 2011 nimmt das Ausmaß der administrativen Manipulationen leicht ab. Die Anzahl der anormalen Stimmen geht um das Anderthalbfache zurück. Seit diesem Moment gibt es in Moskau fast keinen Wahlbetrug mehr.


    Dumawahl 2016: Das Phänomen des „zweihöckrigen Russlands“ taucht auf. Die Hälfte der Stimmen für Einiges Russland wird nicht im wichtigsten Kern der Wahllokale erzielt, sondern im Kometenschweif. Infolgedessen bekommt Einiges Russland 50 Prozent seiner Stimmen aus Wahllokalen, in denen [nur] 23 Prozent aller Wähler in Russland registriert sind. Das Gesamtergebnis der Wahl rückt weit aus der Hauptwolke heraus.


    Präsidentschaftswahl 2018: Die Manipulation von Stimmen wurde erneut runtergeschraubt, die Anzahl der anormalen Stimmen verringerte sich erneut, auf zehn Millionen.


    Anomalien bei der Verfassungsabstimmung 2020

    Die Volksabstimmung von 2020 fand nach neuen Regeln statt, weswegen man im Prinzip ein neues statistisches Bild hätte erwarten können. Allerdings erwies sich das Bild als vertraut, wobei alles bisher Gesehene sogar noch übertroffen wurde.

    Nach dem Gesamtbild und den Berichten vor Ort zu urteilen, wurde die einwöchige Abstimmung einfach als bequeme Möglichkeit genutzt, um unkontrolliert Ja-Stimmen hinzuzufügen.

    Auf den Diagrammen der Verteilung der Wahllokale nach Wahlbeteiligung und Stimmergebnis sind klar zwei Gruppen von Wahllokalen zu erkennen: die Kerne, bei denen die Wahlbeteiligung bei rund 43 Prozent und der Anteil der Ja-Stimmen bei etwa 65 Prozent liegt, und die Schweife, bei denen die Wahlbeteiligung mindestens 60 Prozent beträgt und der Anteil der Ja-Stimmen sich bei steigender Wahlbeteiligung 100 Prozent annähert. Die in Fünf-Prozent-Schritten ablesbare karierte Struktur des Schweifs zeigt, dass die Wahlbeteiligung und das Resultat in vielen Wahllokalen auf „schöne“ Zielergebnisse getrimmt wurden. Und tatsächlich zeigt das linke Diagramm der Stimmverteilungen eine starke Tschurow-Säge in Fünf-Prozent-Schritten.

    Nach Berechnungen von Dimitri Kobak übertrifft die Summe dieser Sägen den bisherigen Rekord von 2008 fast um das doppelte. Auf der Ebene der Regionen sind weitere Ungereimtheiten sichtbar: einheitliche, wie am Reißbrett entstandene Ergebnisse in den unterschiedlichsten Regionen, vom Moskauer Gebiet über die Region Stawropol bis nach Tatarstan, unglaubliche Wahlbeteiligungen und Ja-Stimmen in den nordkaukasischen Republiken und vieles mehr.
     
    Erstmals in der Geschichte landesweiter Wahlen war der Kern (gemessen an der Anzahl der Stimmberechtigten) kleiner als der Schweif. Wenn man (mit etwas Spielraum) die Grenze zwischen Kern und Schweif bei 57 Prozent Wahlbeteiligung ansetzt, dann entfallen auf den Kern etwa 34 Prozent der Wahlberechtigten und auf den Schweif etwa 66 Prozent. Die Ergebnisse der Abstimmung ergeben somit im Kern eine Wahlbeteiligung von 44 Prozent und eine Zustimmungsrate von 65 Prozent und im Schweif eine Wahlbeteiligung von 80 Prozent mit 82 Prozent Ja-Stimmen für die Verfassungsänderung.

    Wenn man annimmt, dass die reale Wahlbeteiligung und das reale Stimmverhältnis von Ja- und Nein-Stimmen denen im Kern entsprechen, dann beträgt die Anzahl derer, die für die Verfassungsänderungen gestimmt haben (abzüglich der elektronischen und der ausländischen Wählerstimmen) 0,44 x 0,65 x 108,4 Millionen Wahlberechtigte – also ungefähr 31 Millionen Menschen, was gut mit der Einschätzung von etwa 29 Millionen „normalen“ Stimmen zusammenpasst (linkes Diagramm).

    Wie in den Regionen gefälscht wurde

    Nach neun Jahren kehrten die Fälschungen nach Moskau zurück. In den Bereich des Schweifs über 57 Prozent Wahlbeteiligung fielen 26 Prozent aller (Offline-)Wahllokale der Stadt, die dort 41 Prozent aller Ja-Stimmen brachten.


    Sankt Petersburg zeigt eine unglaubliche Wahlbeteiligung – das Ergebnis massenhafter Fälschungen. Vom ursprünglichen Kern bleibt lediglich ein blasser Schatten im Bereich von 30–50 Prozent Wahlbeteiligung. Von der Künstlichkeit der Ergebnisse zeugen auch die kleinen, unnatürlich dichten Cluster von Wahllokalen im Schweif, die sich als Resultat amateurhafter Fälschungen auf der Ebene der übergeordneten Wahlkreise bilden. 


    Ein Beispiel für partielle Wahlfälschung ist die Lipezker Oblast, wo sowohl Kern als auch Schweif erhalten sind.


    Die Oblast Tscheljabinsk ist offenbar ein Beispiel für administrative Mobilisierung ohne direkte Wahlfälschungen: Der Kern ist breit verstreut, doch das Verhältnis zwischen den Ja- und Nein-Stimmen variiert kaum in Abhängigkeit von der Wahlbeteiligung außer bei den allergrößten Werten.


    Die Oblast Irkutsk ist ein Beispiel für eine Region, die quasi frei von Wahlfälschungen ist: Fast alle Wähler stimmten in Wahllokalen ab, die im Kern liegen.


    Weitere Regionen lassen sich in unserer Infografik erkunden:

     

     

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    QR-Codes zur Kontrolle der Wahlbeteiligung

    Infografik: Abstimmung zur Verfassungsänderung 2020

    Warum gehen wir nicht auf die Straße?

    Administrative Ressource

    Ist was faul an der Kurve?

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    Video #32: Verfassung gegen Gay-Eltern

  • Warum gehen wir nicht auf die Straße?

    Warum gehen wir nicht auf die Straße?

    Am 1. Juli haben Russlands Wahlberechtigte über die Verfassungsänderung abgestimmt. Mit einem Häkchen – bei Ja oder Nein – sollten sie über 206 Änderungen abstimmen: darunter etwa die Ehe als Institution zwischen Mann und Frau, und die Nullsetzung der Amtszeiten Putins. Offiziell wegen der Corona-Pandemie waren diesmal auch Wahllokale an „einem Ort unter freiem Himmel“ erlaubt, es lief eine mehrtägige „Vorab-Abstimmung“, noch vor dem eigentlichen Abstimmungstag, dem 1. Juli, und in zwei Regionen konnten Stimmen auch online abgegeben werden. So gab es Wahllokale in Kofferräumen und auf Baumstümpfen, Wahlurnen wurden in Hausflure getragen. 
    Die unabhängige Wahlbeobachtungsorganisation Golos kritisierte, dass weder eine freie Wahl noch eine unabhängige Wahlbeobachtung unter diesen Umständen wirklich möglich sei – außerdem sei kaum nachprüfbar, wer sowohl online als auch offline abgestimmt hat. Schließlich gab die Zentrale Wahlkommission ZIK ein Zwischenergebnis von über 70 Prozent Zustimmung bereits vor Schließung der letzten Wahllokale bekannt – was in Russland unüblich ist und als Manipulation kritisiert wurde. Analysten wie Sergej Schpilkin sprechen von den größten Wahlfälschungen und -anomalien in der Geschichte der Russischen Föderation. Das ungewöhnliche Prozedere werten manche Beobachter als Testlauf für die Dumawahl 2021.
    Das Vorgehen und auch das Ergebnis (knapp 78 Prozent Zustimmung) hält die Redaktion des unabhängigen Online-Mediums Projekt für eine moralische Niederlage – nicht nur des Systems, sondern auch der Bürger, die jetzt nicht auf die Straße gehen. Ein Kommentar.

    Die radikale Umschreibung der Verfassung durch den Kreml im Jahr 2020, die es Putin erlaubt, noch länger im Amt zu bleiben, droht als eines der schlimmsten Ereignisse für die Zivilgesellschaft in die Geschichte einzugehen. Unterschieden sich die Menschen schon vor der Corona-Epidemie in ihren Überzeugungen, so hat Corona sie auch noch physisch voneinander entfernt. Am Ende blieb jeder Kritiker allein mit sich und seinem Wahlzettel.

    Die Kampagne zur Verfassungsänderung begann noch vor dem Ausbruch von COVID-19 in Russland, nahm aber so schnell Fahrt auf, als stünde das Virus schon vor der Tür. Das sorgte bei einigen für Irritation: Anfangs schien es, als wolle Putin die Macht gar nicht bei sich konzentrieren, sondern sie sogar mit dem Parlament teilen. Doch schon bald wurde klar, dass die neue Version des Grundgesetzes kein Konzept von Checks and Balances festschrieb, sondern dass stets Putin das Machtzentrum sein würde, und das nicht nur im Amt des Präsidenten. 

    Das alles kam nicht überraschend: Experten hatten schon lange damit gerechnet, dass der Mensch, der de facto seit 20 Jahren an der Macht war, diese nicht plötzlich aufgeben würde. Die Frage war bloß, wie konkret er das bewerkstelligen würde. Die Verfassungsänderung war also in dieser Hinsicht einzig ein Moment der Ehrlichkeit: Genau, so wird es sein.

    Unverhohlene Offenheit: Genau, so wird es sein

    Diese unverhohlene Offenheit und die Perspektive noch viele Jahre in Putins Russland – im wahrsten Sinne des Wortes – zu leben, hätten zum Anlass für Proteste werden können. Trotz der Augenwischerei mit der Rentenanpassung, „dem staatsbildenden Volk“ oder dem Verbot der Geschichtsklitterung. Hätten, wurden sie aber nicht. Genauso wenig wie es am 24. September 2011 zu Protesten kam, als der damalige Präsident Dimitri Medwedew den Wiedereinzug Wladimir Putins in den Kreml verkündete, der seine nächste, damals erst dritte Amtszeit antrat. Es dauerte noch mehr als zwei Monate bis Tausende Menschen auf die Straße gingen – dafür brauchte es erst die massiven Fälschungen bei der Dumawahl im Winter, und später bei der offiziellen Präsidentschaftswahl im März 2012. Zunächst vereinte die Menschen die Forderung nach fairen Wahlen, nach einer Anerkennung ihrer Stimme. Darin trafen und solidarisierten sich die Anführer der Opposition (der rechten wie der linken, und der Menschenrechtsbewegung).

    Als 2020 Putins Amtszeiten auf Null gesetzt wurden, gab es keinen Zusammenschluss der Opposition. Keine allgemeine Strategie des Widerstands: Sollte man gegen die Verfassungsänderung stimmen oder die Abstimmung boykottieren? „Jelzins“ Verfassung von 1993, die die Regierungszeit einer Person zwar sehr dehnbar, aber wenigstens überhaupt begrenzte, fand keine überzeugenden Verteidiger, deren Stimme laut genug gewesen wäre. 

    Die Verfassung war für die meisten bloß ein Stück Papier mit irgendeiner Erklärung, pathetisches Geschwurbel

    Aber vermutlich hätten sie auch kein Publikum gefunden. Wie Umfragen des Lewada-Zentrums belegen, war die Verfassung für die meisten bloß ein Stück Papier mit irgendeiner Erklärung, pathetisches Geschwurbel, aber sicher kein gesetzgebendes Dokument mit direkter Auswirkung auf das politische System. Wenn sie also weder Wahrheit noch Gewicht hat und man sie verdrehen kann, wie es gerade passt, braucht man sie auch nicht zu verteidigen (so unter anderem die Meinung von Alexej Nawalny). Dennoch sahen viele den Vorschlag, die Verfassung durch ein paar Sozialleistungen zu ergänzen, als eine Chance an, endlich einmal etwas „Nützliches“ für die einfachen Leute zu tun. (Dass diese Leistungen längst in anderen Gesetzen festgeschrieben sind, wissen die wenigsten.) Doch obwohl die Mehrheit die „Sozialreformen“ unterstützte, befürworteten nicht einmal alle Putin-Anhänger die Nullsetzung der Amtszeiten. Die Gesellschaft teilte sich in zwei gleich große Lager.

    Gespaltene Gesellschaft

    Diese unerwartete Spaltung hat sich jedoch kein einziger russischer Oppositionspolitiker zu Nutze gemacht, weder von der systemischen noch der nichtsystemischen. Das kann man in Teilen mit politischem Pragmatismus erklären: Es war klar, dass der Kreml unbedingt, koste es, was es wolle, eine hohe Beteiligung und hohe Zustimmungsraten für die Änderungen erreichen möchte, und so konnte die Opposition nicht ernsthaft mit einem Scheitern der Abstimmung rechnen (und selbst der Erfolg eines Boykotts ließe sich nur schwer mit verlässlichen Zahlen belegen). 

    Aber es gab auch ein ethisches Problem: Man konnte nicht zu Protestaktionen aufrufen (die während der Pandemie verboten sind), aber selbst ein Aufruf, zur Abstimmung zu gehen [und mit Nein zu stimmen – dek], hätte so ausgesehen, als würde man das Risiko einer Ansteckung mit dem Coronavirus einfach ignorieren – das konnte sich nur Putin selbst erlauben, als er die Russen am 30. Juni zur Teilnahme an der Abstimmung aufforderte.

    Fernseherverpackung dient als Wahlurne

    Eine weitere Rolle spielte sicher auch die Komik des Abstimmungsprozesses selbst: Diese ganzen Wahllokale in Kofferräumen, auf Hockern und Bänken mit Urnen aus Pappkarton. Es ist schwer den Feind in Form einer Fernseherverpackung [als Wahlurne – dek] ernst zu nehmen.

    „Und wie gefällt euch das Wählen auf dem Fußballfeld so?“ – Tweet des Wahlkampfstabs von Alexej Nawalny vom 25. Juni 2020

    Es gab viele Witze, aber auch Beschwerden über vielfältige Verstöße im Verlauf der Abstimmung: So berichtet die Wahlbeobachtungsorganisation Golos über fast 700 mutmaßliche Verstöße. Das Hautproblem: Wählernötigung. Doch das passiert de facto bei allen wichtigen Wahlen. Diesmal gab es eine massenhafte fast einwöchige Vorab-Abstimmung, auch online, wo eine ebenso massenhafte, unabhängige Beobachtung unmöglich war. Allein dieses Format der „Willensbekundung“ ließ nicht groß hoffen auf wirklich ehrliche Wahlen, vor allem in den Regionen. Dass, wer wollte, zwei, drei, ja sogar vier Mal abstimmen konnte – für sich selbst, die Oma und für die ganze Sippe – das war schon in den ersten Tagen dieser Vorab-Abstimmung klar. Schon allein die Umstände ihrer Durchführung boten die Möglichkeit zu manipulieren – ja, zwangen einen schon fast dazu. Das an sich demoralisiert schon: Was für einen Unterschied macht es, wie man abstimmt und ob man überhaupt abstimmt, wenn die ganze Abstimmung im Grunde zum reinsten Chaos geworden ist, das auch noch von den Behörden verwaltet wird?

    Moralisches Versagen

    Verärgerte Bürger, die davon noch nicht völlig paralysiert und apathisch geworden waren, fanden sich vor ihren Notebooks, ihrem Facebook, wieder, allein mit ebenso verstörten Menschen, und stellten einander immer wieder ein- und dieselbe Frage: Was tun?

    Klar, man kann sich jetzt über die 20 bis 30 Prozent an Nein-Stimmen freuen. Aber gleichzeitig gibt es 70 bis 80 Prozent an Ja-Stimmen [das derzeitige Ergebnis ist 77,92 Prozent Ja-Stimmen und 21,27 Nein-Stimmen – dek]. Ungefähr so viel, wie der Kreml erreiche wollte. Man kann versuchen Trost zu finden in Debatten über die Kurzlebigkeit der neuen Putinschen Verfassung. Aber es ist nicht gesagt, dass sie kürzer wirkt als die Erinnerung an das moralische Versagen im Sommer 2020.
    Am Abend des 1. Juli kamen nicht mehr als 300 Leute [zu einer Protestaktion gegen die Abstimmung – dek] zum Puschkin-Denkmal in Moskau, in Petersburg waren es noch weniger.
    Übrigens: Auch am 4. Dezember 2011 konnte keiner voraussehen, dass schon binnen weniger Tage Zehntausende auf die Straße gehen würden.

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