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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Cancel Russia aus dem Kreml

    Cancel Russia aus dem Kreml

    Die russische Sängerin Monetochka und der Rapper Noize MC sind für den Friedensnobelpreis 2025 nominiert. Eine Gruppe norwegischer Professoren hat die Kandidaturen im Dezember 2024 eingebracht: Mit ihren Stimmen, so die Begründung, würden die beiden Musiker eine Generation vertreten, die für humanistische Werte einstehe.  

    Monetochka und Noize sind zwei von hunderten (wenn nicht tausenden) russischsprachigen Musikern, die Russland wegen dessen Krieges gegen die Ukraine den Rücken gekehrt haben. Heute leben sie überall in der Welt verstreut, nehmen neue Songs auf, gehen auf Tour und sammeln Spenden für die Ukraine. Ihr künstlerischer Protest gegen Putins Russland bildet eine neue Gegenkultur, die hunderttausende Exilierte vereint. Ihre Kreativität verschafft ihnen darüber hinaus auch Resonanz bei den Nicht-Russischsprachigen. 

    Was hat der Kreml mit Konzertverboten, Stigmatisierung als „Agenten“ und Massenexodus der Kreativen verloren? Was und wer bildet heute die russische Musikkultur? Und wie kann ihre Zukunft aussehen? In einem Parforceritt durch die neuere Musikgeschichte Russlands geht der Journalist Pawel Kanygin diesen Fragen für Prodolshenije Sledujet nach.   

    Erinnern Sie sich an Namen wie Ivan Urgant und Ivan Dorn? Bis vor Kurzem wurden diese noch ständig im Fernsehen gezeigt. Jetzt werden Sie in Russland keinen dieser Ivans mehr zu sehen bekommen. Einer entpuppte sich als Ukrainer, der andere sympathisiert mit der Ukraine. So einfach ist das. 

    Der Gedanke mutet heute seltsam an, aber bis vor Kurzem war die russische Musikindustrie wirklich offen, sowohl gegenüber ihren „Nachbarn“ als auch gegenüber „Einflüssen aus dem Ausland“, wie die heutigen Abgeordneten sagen würden. Und erstaunlicherweise hat ihr diese Offenheit absolut nicht geschadet. Im Gegenteil: Bevor der Krieg begann, war in Russland eine moderne, wettbewerbsfähige Musikkultur herangereift. Man interessierte sich im Ausland für unsere Musik, nahm sie zum Vorbild, lernte von uns! 

    Mit dem Verlust der Musik hat Russland auch an Soft Power verloren. Musiker haben über alle Grenzen hinweg einen gemeinsamen kulturellen Raum geschaffen, der Russland mit seinen Nachbarn verband – bis der Staat kam und alles zerstörte. 

     
    IC3PEAK: Alles soll brennen  

    Vom Stillstand zur Moderne 

    In den vergangenen gut dreißig Jahren hat sich die russische Musikszene mehrfach komplett neuformiert. Auch wenn die sowjetische Musik westliche Trends aufnahm, geschah dies nur äußerst langsam. Während in den 1960er und 1970er Jahren auf der ganzen Welt die Rockmusik ihren Höhepunkt erreichte, erlangte der Rock in der Sowjetunion erst Ende der 1970er Jahre allgemeine Anerkennung, und zu Stars wurden seine Vertreter überhaupt erst nach Beginn der Perestroika. Bis dahin war der Rock unter sowjetischen Behörden nicht wohlgelitten, die Musiker verdienten ihr täglich Brot in Fabriken, und der legendäre Viktor Zoi verdingte sich als Heizer. 

    Das hatte zur Folge, dass die Musikindustrie nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Fall des Eisernen Vorhangs den Westen aktiv einzuholen versuchte – was ihr bis etwa Mitte der 2010er Jahre tatsächlich gelang: Vergleicht man die einzelnen Genres, so hatte sich die russische Musik dem Westen bis zu diesem Zeitpunkt maximal angenähert

    Zum wichtigsten Genre entwickelte sich der Rap. Vergleicht man den russischen und den amerikanischen Rap der Nullerjahre, so könnte man meinen, es handele sich nicht nur um unterschiedliche Genres, sondern um zwei völlig unterschiedliche Phänomene. Zwischen Mnogotochie und Jay-Z bestehen nicht sehr viele Gemeinsamkeiten. Vergleicht man jedoch den russischen und den amerikanischen Rap Ende der 2010er Jahre, lassen sich kaum noch Unterschiede feststellen. In Russland wurde alles übernommen: nicht nur der Stil, sondern auch etwa die Form der Battles. Dabei erwiesen sich die Nachahmer als äußerst talentiert und brachten ihren ganz eigenen Sound ein. Zu den größten Stars des russischen Rap gehörten Noize, Oxxxymiron, Kasta und natürlich das elektronische Hip-Hop Duo AIGEL. 

     

    Über 130 Millionen Aufrufe für Tatarin von  AIGEL

    Die gleiche Entwicklung lässt sich bei dem russischen Rock beobachten. In den Nullerjahren war es üblich, die russische mit der westlichen Rockszene zu vergleichen und die kleinen Unterschiede hervorzuheben: Viele behaupteten zum Beispiel – und behaupten bis heute -, der russische Rock sei lyrischer und textbasierter.  

    Doch schon Mitte der 2010er Jahre änderte sich die Situation grundlegend. Seit Radiosender und Fernsehen an Bedeutung verloren und es immer mehr Möglichkeiten gab, Musik über das Internet zu verbreiten, veränderte sich die russischsprachige Rockmusik. In Russland entwickelte sich eine einflussreiche und vielfältige Post-Punk-Szene. Im englischen Sprachraum lassen sich leicht Diskussionen finden, in denen Bands wie Molchat Doma oder Buerak besprochen werden. Plötzlich stellte sich heraus, dass russischsprachiger Rock nicht zwangsweise Kino, Grebenschtschikow oder DDT war. Der moderne Rock klang anders und sprach nicht nur russischsprachige Hörer an.  

     

    Die belarussische Band Molchat Doma ist nach der Protestwelle 2020 in die USA emigriert 

    Ebenso veränderte sich auch die Popmusik. Aus heutiger Sicht muten die Hits der Nullerjahre seltsam an. Man mag es kaum glauben, dass die Menschen sich damals mit Genuss Lieder wie „Schokoladny sajaz“ [dt. Der Schokoladenhase] anhörten. Aber mit der Zeit klang die Popmusik immer besser. Das lag vor allem an der Entstehung neuer Kanäle für den Musikvertrieb sowie an der schwindenden Rolle der Produzenten. Mit dem Aufkommen von Online-Plattformen in den 2010er Jahren und dem zunehmenden Einfluss sozialer Netzwerke wurden diese immer unwichtiger. Nun mussten Musiker nicht mehr um ihre Gunst werben, um im Radio oder einem der Musiksender im Fernsehen gespielt zu werdenю Sie konnten ihre Hörer selbst im Internet finden.  

    Streben hin zum russischen Markt

    Die moderne russische Musikszene – also die vor dem Krieg – setzte sich aus vielen einzelnen Teilen zusammen. Es gab immer noch Künstler, die sich in der Sowjetunion einen Namen gemacht hatten. Es gab diejenigen, die man erst in den 1990er Jahren wahrgenommen hatte. Die Projekte der Musikproduzenten aus den Nullerjahren wirkten fort. Und natürlich erschienen neue Interpreten im Internet, die anfänglich niemand ernst nahm. 

    Die russische Musikindustrie nahm nicht nur Einflüsse aus dem Westen auf, eine große Rolle spielten auch die direkten Nachbarn. Russland als größtes Land der zerfallenen Sowjetunion bot einen riesigen Markt für Musiker. Es ist daher nicht erstaunlich, dass Künstler aus den ehemaligen Sowjetrepubliken auf Russisch sangen. So wurde die russische Musikindustrie zu einem großen Schmelztiegel.  

    Einige Künstler waren so feste Bestandteile des russischen Marktes, dass den Hörern womöglich gar nicht klar war, dass sie aus einem anderen Land stammten – beispielsweise der Rapper T-Fest aus der Ukraine, die Bands NEMIGA, LSP sowie die Sängerin Palina aus Belarus, Kaspiski grus aus Aserbaidschan. In den Hitparaden waren immer wieder Titel ukrainischer Interpreten zu hören – von Verka Serdyuchka und Vera Breshneva bis hin zu Ivan Dorn, Max Barskich, der Band Griby und der Band Poshlaya Molly, die in Russland wahrscheinlich von allen die meisten Nachahmer hat. 

     

    Poshlaya Molly – Mishka  

    Auch die Labels achteten nicht darauf, woher die Künstler kamen. So wurde der Belarusse Max Korzh über das russische Lable Kasty berühmt und der kasachische Rapper Skryptonite über Gazgolder. Für die Musiker war die russische Sprache der Schlüssel zu einem großen Markt, und das nutzten sie. Für Russland bedeutete das eine gewaltige Soft Power. Doch hat unser Land es nie gelernt, diese zu seinem Vorteil zu nutzen. Gewalt scheint unserer Staatsmacht immer noch der schnellere und einfachere Weg zu sein. 

    Staat vs. Business

    In den Nullerjahren kümmerte sich die Politik kaum um die Musik, doch in den 2010er Jahren gerieten die Musikschaffenden in den Fokus der Staatsgewalt. Sowohl Abgeordnete als auch dafür bezahlte Personen des öffentlichen Lebens setzten sich wiederholt für ein Verbot von Liedern und Künstlern ein, zahlreiche Konzerte wurden gesprengt.  

    Erinnern wir uns an die Skandale im Zuge des Eurovision Song Contests, als die Abgeordneten der Staatsduma ernsthaft darüber diskutierten, wer uns vertreten dürfe: 2020 wurde bekannt gegeben, dass die Gruppe Little Big für Russland antreten würde. Die Band veröffentlichte damals den Videoclip Uno und wenige Monate später S*ck My D*ck 2020. Natürlich konnte der Freak-Abgeordnete Witali Milonow das nicht unkommentiert lassen: „Das ist absolut abscheuliche Musik für Perverse“, erklärte er und fügte hinzu, dass der Clip nichts mit Kunst und Ironie zu tun habe und nur „absolute Scheusale“ ansprechen könne. 

    Als 2021 die in Tadschikistan geborene Manizha für Russland zum Wettbewerb fuhr, rief die Abgeordnete Jelena Drapeko dazu auf, den Auftritt der Sängerin unter russischer Flagge zu verhindern. Komischerweise forderte sie auch, nicht Manizha zum Wettbewerb zu schicken, sondern Little Big. Milonow war also dagegen, Drapeko dafür, und niemand wird jemals die Logik hinter ihren Positionen verstehen. 

     

    Gemessen in YouTube-Aufrufen, ist Skibidi wohl der größte musikalische Kulturexport der jüngsten russischen Geschichte.  

    Der Krieg setzte all diesen Streitigkeiten ein Ende. Der Frontmann der Band Little Big, Ilja Prusikin, verurteilte die russische Aggression. Wenige Monate nach Beginn des Krieges reiste die Band in die USA aus, und weitere sechs Monate später wurde ihr Frontmann zum „ausländischen Agenten“ erklärt. Auch Manizha tritt nicht mehr in Russland auf. Ebenso wie viele ukrainische Künstler natürlich. 

     

    Manizha tritt in Russland nicht mehr auf, 2024 hat sie jedoch in Moskau einen Antikriegs-Clip aufgenommen. 

    Was ist nun aus der russischen Musikindustrie geworden? Monetochka singt über die Emigration. Pornofilmy touren mit Liedern über das Putin-Regime um die Welt. Auf der anderen Seite schreien Musiker, die ehemals über Mephedron sangen, nun „Russland, Russland“ bei ihren Konzerten und versuchen zugleich, nicht die Aufmerksamkeit von Jekaterina Misulina auf sich zu ziehen.  

     

    Monetochka: Das war in Russland, also ist es lange her.  

    Staatlich verordnete Kultur 

    Und hier stellt sich die Frage: Wie kann es sein, dass der Staat nicht selbst begreift, dass sich die Interessen des Landes gerade über die Kultur auf internationaler Ebene viel effektiver vorantreiben lassen als mit Hilfe von Waffengewalt? Ich denke, die Machthaber begreifen das sehr wohl, nur tun sie dies auf ihre ganz eigene Weise: 

    Auf der ganzen Welt wurden unter der Ägide von Rossotrudnitschestwo sogenannte „russische Häuser“ eröffnet. Ihre Aufgabe besteht eben darin, die russische Kultur zu verbeiten. Aber was verstehen ihre Führungskräfte unter russischer Kultur? Ein paar dutzend Schriftsteller, ein Dutzend Komponisten und exakt zwei Regisseure, das war’s. Die russischen Häuser verfügen über einen Telegram-Kanal, der dies sehr deutlich veranschaulicht: Die Ukraine wurde [Stand: 01.10.2024] in 252 Beiträgen erwähnt, Puschkin in 234, Putin in 220. Michail Bulgakow und Joseph Brodsky dagegen jeweils nur sechsmal, und Nabokow wird überhaupt nicht erwähnt.  

    Aber die russische Kultur wird vom Westen gecancelt, nicht dass Sie durcheinanderkommen! 

    Der russische Staat behandelt die Kultur wie eine heilige Kuh und glaubt aus irgendeinem Grund, sie permanent retten zu müssen. Lew Tolstoi ist in der Vorstellung der Staatsbeamten und Propagandisten anscheinend so unbedeutend, dass er einfach verschwände, würde Margarita Simonjan ihn nicht verteidigen. Und wenn wir nicht unablässig über Pjotr Tschaikowski reden, werden seine Werke nirgends mehr aufgeführt werden. Dabei sind es die USA, in denen am Unabhängigkeitstag die Ouvertüre „1812“ erklingt. Kann sich irgendjemand erinnern, wann dieses Werk in Russland zum letzten Mal bei einer großen öffentlichen Veranstaltung zu hören war? Unsere Hymne ist die sowjetische und das Einzige, was bei offiziellen wie inoffiziellen Veranstaltungen gespielt wird, vielleicht noch gefolgt von einem Lied von Schaman. Und das sollen wir dann also als russische Musikkultur betrachten? 

    Banale Geschmacklosigkeit  

    Während unsere, und nicht nur unsere, Musiker, ohne es zu wollen, gezeigt haben, dass Russland über eine lebendige, moderne Musikkultur verfügt, die in der Welt wahrgenommen wird, gaben sich unsere Beamten alle Mühe, sich selbst und alle um sie herum zu konservieren. Dabei geht es nicht nur um den fanatischen Hang zur antiwestlichen Rhetorik, eine große Rolle spielt wahrscheinlich ganz banale Geschmacklosigkeit. Hören Sie sich einmal das Ende des Stücks Spolna an, das von Katya Lel gesungen wird. Wissen Sie, wer es geschrieben hat? Die Pressesprecherin des Außenministeriums, Maria Sacharowa. Damit ist klar, dass solche Menschen Schaman aufrichtig für einen außergewöhnlichen Komponisten halten können. 

     

    „Mit einer Tüte überm Kopf / und Elektroden am Arm / sitzt mein Russland im Knast / aber glaub mir: Das geht vorbei!“ Eto proidjot (dt. Es geht vorbei) ist eine der vielen russischen Protesthymnen. 

    Doch was ist mit der echten russischen Musik? Wird sie wirklich in diesem Sumpf untergehen? Wenn ich darüber nachdenke, kommt mir ein banaler Gedanke in den Sinn: Die Wendepunkte in der russischen Geschichte gingen immer mit einem gewaltigen Aufschwung der Kultur, insbesondere der Protestkultur einher. So fiel das silberne Zeitalter der russischen Poesie mit dem Untergang des Russischen Reichs und der Gründung der Sowjetunion zusammen. Der Russische Rock lieferte den Soundtrack zur Perestroika und zum Zerfall der Sowjetunion. Das heißt nicht, dass ich unserem Land eine neue schwere Prüfung prophezeien möchte, aber diese ganze herangereifte coole Musikkultur der Kriegsära lässt sich da ohne Umstände einreihen. 

     
    Schwanensee ist heute ein Code für Aufruhr und Umsturz / Video: Noize MC Kooperatiw „Lebedinoje osero“ 

    Die Stimme unserer Musiker ist lauter als die der Politiker. Keine Propaganda wird sie übertönen – und das ist vielleicht der Grund, warum die Herrschenden solche Angst vor ihnen haben. Vielleicht haben sich die russischen Staatsbeamten deshalb die ganze Zeit über so vehement gegen die Soft Power der russischen Musikkultur gewehrt, weil diese weder lenk- noch kontrollierbar ist. Sie lässt sich nicht dazu benutzen, eine „Russische Welt“ zu konstruieren, sie baut und gestaltet ihre eigene unvorhersehbare, aber kluge und menschliche Welt. Eine, in der sich Menschen wie Putin, Sacharowa und Misulina sehr unwohl fühlen werden. 

    Es wird sich zeigen, wer letztlich stärker ist. Das aktuelle Konstrukt „Putins Russland“ oder die niemals vollständig erklärbare Urgewalt der Musik. 

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  • Zukunft verboten

    Zukunft verboten

    Krieg, Sanktionen und inzwischen auch ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen den russischen Präsidenten – eine Frage, die derzeit oft gestellt wird, ist: Wie stabil ist das System Putin? Um diese Frage zu beantworten, lohnt zunächst der Blick in die Politikwissenschaft: Demnach hängt die Stabilität eines politischen Systems auch von dessen Legitimität ab, und diese wiederum vom Legitimitätsglauben, also dem Glauben an die Rechtmäßigkeit von Herrschaftsbeziehungen. Ein langlebiger Legitimitätsglaube ist nach Möglichkeit widerspruchsfrei und bietet bestenfalls eine Zukunftsvision. Beides ist im Putinismus nicht der Fall – darauf weisen zahlreiche Analysten schon seit dem Machtantritt des russischen Präsidenten hin. Was hält das System Putin dann zusammen? Was muss passieren, damit die Macht des Autokraten ins Wanken gerät? Und wie sehen mögliche Szenarien für die Zukunft aus?

    Zu diesen und anderen Fragen spricht der Journalist Pawel Kanygin mit der Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulmann auf dem YouTube-Kanal Prodolshenije Sledujet (dt. Fortsetzung folgt).

    Pawel Kanygin: Putin und der chinesische Präsident haben sich in Moskau getroffen zu Gesprächen, die für Russland nicht viel gebracht haben dürften. Wie sehen Sie das, Ekaterina, stimmt es, dass dieses Treffen eher China und seinen Ambitionen als Gegenspieler der USA genützt hat? Welche Rolle fällt in dieser Konstellation Russland zu? Wird Russland zu Chinas kleinem Bruder? Oder zum Satelliten?

    Ekaterina Schulmann: Ganz offensichtlich ist dieser Besuch aus China für die russische Seite momentan innenpolitisch extrem wichtig. Gerade erst hat der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen den Präsidenten und die Ombudsfrau für Kinderrechte erlassen. Das war eine derart unerwartete, schockierende Nachricht für den Politikbetrieb im Land, dass die Propagandamaschine gar nicht wusste, wie sie sie vermitteln soll. Also wurde beschlossen, dieses Thema einfach auszusparen, weil die Wörter „Putin“ und „Haftbefehl“ in einem Satz ja dann doch zu beschämend sind. Der einzige Ausweg war, diese Nachricht mit irgendeiner anderen zu übertrumpfen: damit, dass das chinesische Staatsoberhaupt nach Russland kommt, unserem Tatverdächtigen die Hand schüttelt, ihn zu sich einlädt … So gibt er den russischen Staatsbürgern und, noch wichtiger, den Eliten zu verstehen, dass dieser Haftbefehl nicht so schlimm ist, dass er nicht in die internationale Isolation führt, sonst wäre ja nicht der Kollege aus China angereist und hätte wohlwollend eine Gegeneinladung ausgesprochen. Insofern ist der situative und kurzfristige Nutzen sehr groß.         

    Was meinen Sie, was bedeutet dieser Haftbefehl konkret für die Eliten? Sie nannten ihn beschämend, kommt das so an? Ist es eher beschämend oder eher etwas, das man ignorieren kann?

    Das ist überhaupt kein Widerspruch: Wenn man etwas Verletzendes zu Ihnen sagt, und Sie wissen keine Antwort darauf, dann können Sie es auch ignorieren. Natürlich wissen wir nicht so genau, was sich bei Einzelnen im Kopf abspielt, aber ausgehend von dem Wertesystem, das in diesen Kreisen herrscht, ist für sie der Internationale Strafgerichtshof irgendeine Unterabteilung des Washington-Obkom. Sie glauben, dass diese Richter Anrufe mit Anweisungen bekommen, wie und was sie genau zu tun haben, und es dann so machen.

    Gedankengänge: kurz und gerade, wie Bahnschwellen

    Die Idee einer unabhängigen Rechtsprechung und die Idee internationaler und supranationaler Organe sind unmöglich in die Köpfe der postsowjetischen Menschen hineinzukriegen. Sie sind nicht in der Lage und werden nie in der Lage sein, zu verstehen, was das ist. Daher denken sie eindimensional: Es gibt einen Internationalen Strafgerichtshof. Klar, dass über den die Amerikaner bestimmen, weil die Amerikaner die Herren über das ganze Universum sind. Dieser Internationale Strafgerichtshof hat bisher sechs Haftbefehle gegen amtierende oder ehemalige Staatsoberhäupter verhängt. Das waren alles Chefs von Staaten, die man nicht anders nennen kann als failed States. Gleichzeitig, denkt unsere Elite, haben die amerikanischen Präsidenten bombardiert, abgeschlachtet, geplündert und Unschuldige in Guantanamo gefoltert, so viel sie wollten, und keiner hat sich darüber beschwert. Und warum? In deren Logik: Weil die amerikanischen Präsidenten stark und mächtig sind und alle sie fürchten. Wer sind folglich die, die solche Haftbefehle bekommen? Die, die nicht stark und mächtig sind, die, die keiner fürchtet. Ist das gut?

    Ich kann es natürlich auch nicht hundertprozentig wissen, aber soweit man diese Leute nach jahrelanger Beobachtung durchschauen kann, sehen ungefähr so ihre Gedankengänge aus. Nicht lang, nicht komplex, ziemlich kurz und gerade, wie Bahnschwellen.   

    Heißt das, Putin verliert in ihren Augen quasi seine Legitimität, seinen Status als anerkannter und unhinterfragter Führer

    Na ja, nicht gleich die ganze Legitimität, die verliert man nicht so schnell. Es gibt kein einzelnes Ereignis, abgesehen vom physischen Tod, das die Macht des Präsidenten auslöschen würde. Das müsste schon eine ganze Kette solcher „bedauerlicher Missverständnisse“ und „zufälliger Pannen“ sein. Diese Kette hat schon relativ viele Glieder. Aber man weiß nie, welcher Strohhalm dem Kamel das Kreuz bricht. 

    Aber was muss passieren, damit die Macht des Autokraten ins Wanken gerät? Wie viele solcher Strohhalme müssen sich ansammeln, und was für welche?

    Das lässt sich mit der Stabilität einer Bank vergleichen. Bei keiner Bank ist das ganze Geld, das die Kunden eingezahlt haben. Es liegt nicht physisch dort. Die Kunden lassen ihr Geld auf dem Konto, weil sie überzeugt sind, dass das besser ist, als das Geld zu Hause aufzubewahren. Wenn eine Gruppe von Kunden sich dessen nicht mehr so sicher ist und ihr Geld abhebt, sehen das die anderen und heben ebenfalls ihr Geld ab – und die Bank geht pleite. Sie ist also so lange stabil, solange die Kunden ihr vertrauen, und das tun sie, solange sie vertrauen. Das ist ein bisschen mystisch. 

    Welcher Strohhalm bricht dem Kamel das Kreuz

    Legitimität ist in der Politikwissenschaft einer der umfangreichsten und schwierigsten Begriffe, weil er ein irrationales Element enthält. In Wirklichkeit weiß niemand, warum die einen Leute Befehle erteilen und die anderen ihnen folgen. Erklärungen dazu gibt es viele, aber wenn man ehrlich ist, dann stehen im Zentrum dieses Phänomens einige Rätsel. Also, der Wahrheit am nächsten kommt, dass die Macht Macht ist, solange die Menschen rundherum glauben, dass sie es ist. Genauso, wie eine Bank nicht alles Geld hat, das eingezahlt wurde, gibt es keinen Leader, der so viel Macht hat, dass er alles umsetzen könnte, was er eigentlich umsetzen müsste. Er kann es nur mithilfe anderer Menschen, aber nur, wenn die ihn tatsächlich für den Leader halten.

    Ich kann Ihnen nicht sagen, wie viele Strohhalme es braucht, um unserem Kamel das Kreuz zu brechen. Wir können nur erkennen, welches Ereignis sich als Strohhalm auf seinen Rücken legt, und welches ein Leckerbissen für ihn ist. Denn es gibt Phänomene und Ereignisse, die diese Legitimität füttern, und solche, die ihr schaden. Dieser Haftbefehl schadet ihr natürlich. Der Besuch aus China ist Futter. Was könnte hier eine Kettenreaktion auslösen? Wer wird der Kunde sein, der sagt: „Leute, wir sollten mal los. Hebt euer Geld ab, gleich wird das alles den Bach runtergehen.“ Was das sein wird, wissen wir nicht. 

    Wir haben viele historische Beispiele, wie in sehr autoritären und strengen Systemen Massenproteste angefangen haben. Das passiert nicht dann, wenn das System besonders böse Bösartigkeiten macht. Die wirken oft erst recht systemstärkend, weil sie die Menschen einschüchtern und keiner mehr Widerstand wagt. Aber die Kombination, der Eindruck einer Schwäche in der Führungsriege und gleichzeitig eine spezielle Gemeinheit, irgendeine Schweinerei, die manchmal gar nicht so groß sein muss – das kann so ein Trigger sein. 

    Was sind die offensichtlichen Strohhalme? Misserfolge aller Art an der Front zum Beispiel. Aber wie wir sehen, kann man sich aus Charkiw zurückziehen, aus Cherson, ohne dass groß etwas passiert. Doch eine Anhäufung derartiger Ereignisse, vielleicht wenn sie in einer kurzen Zeitspanne dicht aufeinander folgen, könnte vielleicht zu dem führen, was in Tolstois Krieg und Frieden beschrieben wird: Da schreit irgendein Soldat: „Das war’s, Leute!“ und rennt los, und alle rennen hinterher. 

    Die Empörung, die Unzufriedenheit mit der Situation muss also vom Volk ausgehen und nicht von den Eliten?

    Nein, im Gegenteil, so habe ich das nicht gemeint. In einer Autokratie ist natürlich die Position der Elite das Entscheidende. Solange sie dafür ist, den Status quo zu bewahren, wird sich dieser auch halten. 

    Am Beginn muss eine Schwäche stehen

    Andererseits ist gerade im Nachhinein oft schwer erkennbar, wer als Erster Alarm geschlagen hat, denn sobald die Staatsmacht zu schwächeln beginnt, fangen sofort die Proteste an. Wenn dann ein neues Regime kommt, sagt es, wir sind auf einer Welle des Volkszorns gekommen, das Volk hat den Tyrannen gestürzt, und nicht: Die Elite hat beschlossen, den Kopf des gealterten Diktators zu opfern, um sich die Verlängerung ihrer Position zu sichern. Das klingt nicht so schön, und für die Geschichtsbücher ist es auch nichts, deswegen, noch einmal, entsteht im Nachhinein der Eindruck, dem Volk sei die Geduld gerissen. Aber am Beginn muss eine Schwäche stehen, und erst danach kommen die Konsequenzen.  

    Wie lange kann man die Idee der [politischen – dek] Mobilisierung, der Geschlossenheit, der belagerten Festung noch bemühen? Dass die Eliten sich dicht um ihren Leader drängen müssen, weil sie im Westen geprügelt werden und Russland ihnen ein sicherer Hafen ist. 

    Das ist momentan tatsächlich das Schlüsselnarrativ, aber es mobilisiert nicht. Die Mobilisierung der Gesellschaft konnte nicht gelingen, weil unser politisches System seit 20 Jahren auf Entpolitisierung setzt, auf die Trennung von Bevölkerung und Regierung, auf die Verdrängung der Menschen aus der Politik, auf die Verfolgung jeglicher Vereinigungen, jeglicher sozialer Verbindungen. Warum wurden die NGOs so terrorisiert? Warum wurde die Zivilgesellschaft verfolgt? Warum Nawalnys Strukturen zerschlagen? Weil das eigenständige, netzartige Zusammenschlüsse waren, die von unten wuchsen. Das durfte nicht sein, Zusammenhalt darf es nur im Staat geben, nicht in der Gesellschaft. Das hilft beim Machterhalt, wie man sieht, auf sehr lange Zeit. Aber wenn man dann so gescheit ist, eine Situation zu schaffen, in der man eine Mobilisierung braucht, dann sieht man, dass die gar nicht mehr möglich ist.  

    Solange das Geld dafür da ist

    Unsere [Regenten – dek] haben das bereits verstanden und versuchen es auch nicht mehr. Stattdessen verkaufen sie genau diese Geschichte: Im Westen werdet ihr alle geprügelt und herabgewürdigt, haltet euch fern. Bleibt hier, wir tun euch nichts, und ihr verdient gutes Geld. Den Staatsbürgern sagen sie: Wir zahlen euch komplett alles, das Leben, den Tod, den Wehrdienst, die Kinder. Das ist dieser scheußlich klingende neue Gesellschaftsvertrag „Geld gegen Fleisch“ wie er in der Rede [Putins an die Föderationsversammlung – dek] artikuliert wurde: Ihr liefert uns lebende Ware, wir geben euch Geld. Und zwar so viel Geld, wie ihr noch nie gesehen habt. Bisher funktioniert das durchaus. Oder es heißt: Hier verdient ihr besser und schneller, mehr als im Westen, wir werden neue Gebiete erschließen, es wird Infrastrukturprojekte geben. Und, das wird zwar nicht ausgesprochen, schwingt aber irgendwie mit: Wir hören auf, euch wegen Korruption zu belangen, wir werden euch beschützen, und ihr werdet innerhalb Russlands und der freundlich gesinnten Länder absolut frei sein. Geht nur nicht in den Westen, da sind schlechte Menschen, Transparenz, Strafverfolgungen, allerlei unangenehme öffentliche Diskussionen. Das könnt ihr alles nicht brauchen.

    So ist also das Narrativ: Das ist ein Krieg, oder vielmehr eine Konfrontation mit dem Westen, die ewig und unüberwindlich ist. Wir sind zwei unterschiedliche Zivilisationen, daran wird sich nie etwas ändern. Aber das sei gut so, der richtige, natürliche Lauf der Dinge. Und wer betroffen ist, dem zahlen wir Geld, und dann wird es euch sogar besser gehen – was wolltet ihr denn mit diesem Verwandten, den keiner braucht? Geld ist doch viel besser. Also, so lautet das Angebot, der Gesellschaftsvertrag. Überzeugend? Absolut! Wie lange das anhalten kann? Da würde ich gern eine ganz einfache, plumpe Antwort geben: Solange das Geld dafür da ist. 

    Putin beschreibt Russland oder stellt es zumindest in öffentlichen Reden einerseits als mächtigen Staat dar, als Supermacht, und andererseits als Opfer des Westens. Was ist das für ein Doppeldenk? 
           
    Soweit ich das verstehe, ist das so gemeint: Ja, wir sind mächtig, reich und moralisch überlegen, und deswegen greift uns der Westen ständig an und wird uns immer angreifen, weil wir von Natur aus einander Feind sind. Aber wir sind so stark, dass er uns nie endgültig besiegen und in die Knie zwingen wird. Wir stehen immer wieder auf. Ohne dass wir uns je zur vollen Größe aufgerichtet hätten, sind wir so mächtig, dass der ganze kollektive Westen mit vereinten Kräften es nicht schafft, uns zu besiegen. Das ist, wie mir scheint, eine sehr vorteilhafte Darstellung des Geschehens, weil man niemanden besiegen und sich nirgendwo hinbewegen muss. Man kann jederzeit hinausgehen und sagen: Wir haben erfolgreich unsere einzigartige Zivilisation verteidigt, unsere Werte, sie konnten uns nicht versklaven, sie konnten uns nicht spalten. Seht nur, wir leben hier genauso wie vorher. Außerdem kann man sein eigenes An-der-Macht-Sein ebenfalls als permanenten Sieg hinstellen.  

    Die Rhetorik ist bei uns voller Angriffe, gleichzeitig geht es ständig darum, dass wir Opfer sind. Sind wir nun Opfer, oder sind wir am Gewinnen? Welches Bild entsteht in den Köpfen der Menschen, die sich das im Fernsehen anschauen? Und das mit dem sowjetischen Doppeldenk habe ich nicht grundlos gesagt — steht Putins Doppeldenk nicht in dessen Tradition?

    Der sowjetische Doppeldenk bestand darin, dass die Leute das Eine dachten, das Andere sagten und etwas Drittes taten. Und der postsowjetische Mensch, also die Generation, zu der ja unsere ganze Führungsriege noch gehört, kann nicht verstehen, dass es zwischen diesen drei Bereichen eine gewisse Beziehung geben muss. Wenn ihm vorgeworfen wird, dass er pausenlos lügt, dann versteht er nicht, was damit gemeint ist, weil er glaubt, dass das alle Menschen so machen. Die Verbindung zwischen Gedanken, Handlungen und Worten ist für ihn nicht klar, weil er in einer grundlegend anderen Kultur sozialisiert wurde, in der man sagt, was von einem erwartet wird, sich seinen Teil denkt und das tut, was einem je nach Situation nützt. Man hat also keine Prinzipien, keine Überzeugungen, kein irgendwie standfestes Denken. 

    Die unverfälschtesten Vertreter dieses Typus sind bei uns jene, die der Generation der sowjetischen Boomer angehören, geboren in den 1950er Jahren. Warum gerade die? Sie waren 1991 ungefähr 40, also bereits erwachsene Menschen, die fest im Leben stehen. Sie haben das gesamte Programm der sowjetischen Bildung durchlaufen und wurden bereits von Sowjetmenschen unterrichtet. Das ist eine sehr spezifische Generation, ihr wurde jede lebendige Verbindung zum vorherigen, vorsowjetischen Russland gänzlich abgeschnitten. Sie wuchsen vor dem Informationszeitalter auf, es gab für sie in vielerlei Hinsicht keine Möglichkeiten, sich auf eigene Faust weiterzubilden. Das sind die Leute, die uns regieren. Doppeldenk und dreifache Divergenz sind für sie absolut charakteristisch. 

    Keine Prinzipien, keine Überzeugungen, kein irgendwie standfestes Denken

    Was Sie angesprochen haben, das ist der öffentliche Diskurs, den die Menschen momentan vorgesetzt bekommen, in dem Russland Opfer und Sieger zugleich ist. Das erscheint tatsächlich unlogisch, aber ein öffentliches Narrativ dieser Art muss gar nicht mit Fakten überzeugen, sondern es muss emotional überzeugen. Das heißt, die Menschen wollen eine gemeinsame Emotion spüren, und die besteht darin, dass wir Angst haben und gleichzeitig stolz sind: Uns greifen alle an, aber wir leisten Widerstand, der niemals brechen wird. 

    Aber was Zukunftsaussichten angeht – das ist der größte Schwachpunkt. Anstelle der Zukunft gähnt die totale Leere, da ist nichts. Im öffentlichen Diskurs fällt nie ein Wort darüber, wie herrlich unser Leben sein wird, wenn wir siegen. Oder höchstens, dass wir die „Nazi-Regierung“ stürzen werden und das ukrainische Volk endlich aufwachen und erkennen wird, dass es in Wirklichkeit Teil des russischen Volkes sei. Und dann würden Russland und die Ukraine zusammen ein neues geopolitisches Zentrum bilden. Oder, dass wir uns mit China zusammentun und gemeinsam die USA besiegen, und dann … Es gibt dieses Bild der sogenannten multipolaren Welt, was immer das sein mag. Aber eine Vorstellung davon, wie toll diese multipolare Welt aussehen wird? Na gut, nun haben wir also die Hegemonie der USA gebrochen – und jetzt? Was kommt da noch so Großartiges auf uns zu?

    Anstelle der Zukunft gähnt die totale Leere

    Das ist ein ziemlich wichtiger Punkt, weil in der Öffentlichkeit oder überhaupt in der Politik oft das Fehlende wichtiger ist als das Vorhandene. Was nicht passiert ist, zählt oft mehr, als das, was passiert ist. Es lohnt sich, auf diese Lücken zu achten, sie sagen sehr viel aus. 

    Das Fehlen einer Zukunftsvision scheint mir sehr bedeutend. Meine Arbeitshypothese ist: Am effektivsten erreicht die aktuelle Propaganda Menschen derselben Alterskategorie wie unsere Regierung. Das sehen wir in allen Umfragen, bei jedem Thema. Das Alter ist der wichtigste Faktor, der die Meinung bestimmt, egal wozu. Vielleicht richtet sich dieser Diskurs an Menschen, die kein Bild der Zukunft entwerfen können, weil sie wissen, dass sie nicht mehr lange leben werden. Primitiv ausgedrückt. Daher brauchen sie auch kein solches Bild. Anders kann ich mir das nämlich nicht erklären. Die Sowjetmacht hat ein strahlendes Bild der Zukunft gemalt, Nazideutschland hat eine strahlende Zukunft versprochen, Mussolini hatte seine Idee vom neuen Rom, und in China gibt es die Idee der blühenden Gesellschaft. Egal, ob dieses Bild nun mehr oder weniger Details enthält, es kann auch nur ganz allgemein sein – aber es muss vorhanden sein. Bei uns hat man das Gefühl, es herrsche ein Verbot, als würden alle Sätze sofort unterbunden, in denen ein Verb im Futur vorkommt. 

    Aber was wird mit den Kindern passieren, mit den Jugendlichen, die man jetzt mit aller Kraft zu militarisieren und indoktrinieren versucht und denen man diese neo-sowjetische „Ideologie“ einimpfen will?

    Entgegen der landläufigen Annahme ist das, was Autoritarismus von Totalitarismus unterscheidet, nicht die Intensität der Repressionen. Schulbildung mit dem Ziel, die Kinder zu ideologisieren, ist aber ein Merkmal des Totalitarismus.

    Wohin kann das führen? Noch sind wir in der heißen Phase eines Konflikts, von dem noch keiner erschöpft ist. Daher braucht es keine langen Erklärungen. Man kann sagen, wir wurden angegriffen, wir wehren uns. Bisher ist das Fehlen einer halbwegs einprägsamen, halbwegs zusammenhängenden ideologischen Botschaft kein Problem. Aber wenn man sich zehn Jahre halten und eine ganze Generation von Schülern von der ersten bis zur zehnten Klasse indoktrinieren will, dann wird man allein mit der Geschichte, dass der Westen immer schon gegen uns war, nicht weit kommen. Da braucht es schon so etwas wie den sowjetischen Diskurs. 

    Der sowjetische Diskurs war etwas Ganzes, er war vielseitig und harmonisch zugleich. Er hatte eine philosophische Komponente für die Gebildeten – den Marxismus. Er hatte einen Teil, den wir heute Memes nennen würden — einprägsame, bunte Bilder und Sprüche, die jeder in der Sowjetunion kannte. Dazwischen gab es eine große Menge unterschiedlicher ideologischer Produktion – Malerei, Lieder, das Ballett Der helle Weg, allerlei Bücher, Gedichte, Prosa. Der sowjetische Mensch war komplett von Ideologie umgeben, er verwendete sie, war durchdrungen von ihr. 

    Durchdrungen von der Ideologie

    Wir haben bisher nichts Vergleichbares. So etwas können Sie erzeugen, wenn Sie a) die Zeit dafür haben und b) ein solches Monopol auf den öffentlichen Raum haben, so dass die Menschen, die lesen, schreiben, singen, malen oder tanzen wollen, gar keine andere Wahl haben, als zu Ihnen zu kommen und dieses ideologische Produkt zu schaffen. Bei uns ist die Situation noch anders: Wie viel Zeit wir haben, wissen wir nicht. Von der Zeit hängt hier tatsächlich vieles ab. Ein solches Monopol wie in der Sowjetunion besteht bisher auch nicht, weil die Menschen, die ihre kreativen intellektuellen Erzeugnisse verkaufen wollen, trotz allem die Wahl haben. Sie können sie irgendwo anders verkaufen oder angesichts der unklaren Lage erst mal gar nicht verkaufen und sagen: „Wisst ihr was, ich werde mir nicht gleich ein Z auf die Stirn malen, ich warte mal ab.“

    Noch gelingt es also nicht, die Jugend für diese neue Vergangenheit zu begeistern und an das sowjetische Gepäck anzuknüpfen? 

    In der Tat, wenn wir uns die Umfragen ansehen, dann sehen wir, dass jede Generation, die jünger als 65 ist, sich immer weiter vom [vorgegebenen – dek] normativen Ideal entfernt, dem offiziellen Diskurs immer weniger zustimmt. Die Gruppe der 18- bis 24-Jährigen ist in dieser Hinsicht am schlimmsten. Sie sind für den Staat vollends verloren, daher versucht er, sie lieber schnell zu vertreiben oder umzubringen oder in die Emigration zu zwingen, weil er sie nicht brauchen kann: Sie nehmen nicht an, was er ihnen beibringen will. Aber wir haben zehn Jahre mit einer relativ hohen Geburtenrate hinter uns, in den „goldenen Putinjahren“, als die Geburtenrate höher war als davor und danach. Das war der Zeitraum zwischen 2004 und 2014, zehn Jahre, in denen die Menschen daran glaubten, dass das Leben besser geworden ist, und etwas mehr Kinder bekamen … Wir haben also gar nicht so wenig Jugendliche: Die Älteren werden bald 18, die Jüngeren wurden gerade eingeschult, die 2016 Geborenen zum Beispiel. Während bei den 18- bis 24-Jährigen nichts mehr zu machen ist, kann man es mit diesen sehr wohl noch versuchen. Wenn man die irgendwie indoktriniert und dafür diese zehn Jahre zur Verfügung hat, dann hat man in zehn Jahren eine beträchtliche Zahl junger Leute, die, so der Plan, diesem Kurs treu sind. Und im Unterschied zur geburtenschwachen Kohorte der 1990er Jahre, mit der man jetzt [in der Ukraine – dek] zu kämpfen versucht, werden sich mit denen vielleicht sogar besser Kriege führen lassen. Und das ist eine Perspektive, die man angesichts der aktuellen Ereignisse nicht aus den Augen verlieren sollte, das wäre gefährlich.   

    „Im Unterschied zur geburtenschwachen Kohorte der 1990er Jahre, mit der man jetzt zu kämpfen versucht, werden sich mit den Jüngeren vielleicht sogar besser Kriege führen lassen.Und das ist eine Perspektive, die man angesichts der aktuellen Ereignisse nicht aus den Augen verlieren sollte, das wäre gefährlich.“ / Foto © Riccky 1409/Wikimedia unter CC BY-Sa 4.0

    Aber da muss man erstmal die nächsten zehn Jahre durchhalten. Grob geschätzt hat Putins Regime und Putin selbst … na ja, zehn, fünfzehn Jahre vielleicht noch. Was und wer kann die Nachfolge antreten? Wie kann die nächste Regierung aussehen, das nächste Regime, das in zehn, fünfzehn Jahren an die Macht kommt? Oder gehen wir immer noch davon aus, dass alles beim Alten bleibt?

    Alles, was wir als Antwort auf diese Frage tun können, ist mögliche Szenarien beschreiben und sie dann nach Wahrscheinlichkeit ordnen. Das Wahrscheinlichste ist immer das Trendszenario: Was auch immer Sie prognostizieren, am ehesten bleibt alles ungefähr wie bisher. Wie beim Wetter, in 85 Prozent der Fälle bleibt es morgen ungefähr so wie heute. Aber wenn das in 100 Prozent der Fälle so wäre, dann gäbe es keine Jahreszeiten. Genauso ist es hier: Unser Trendszenario ist so lange das Wahrscheinlichste, bis etwas Anderes passiert. Und dann löst sich der ganze Trend in Luft auf.  

    Ganz unwahrscheinlich ist dieses Szenario nicht

    Er verschwindet nicht gänzlich, das Vergangene wirkt immer auf die Zukunft, aber trotzdem. Sehen wir uns also dieses Trendszenario genauer an. Angenommen, das aktuelle politische Regime zieht diese – manchmal militärische, manchmal nicht-militärische – Konfrontation noch zehn Jahre in die Länge. Oder eigentlich noch zwei Amtszeiten des Präsidenten, sechs plus sechs. In dieser Zeit schaffen wir eine neue, vom Westen isolierte Wirtschaft, die zum Osten hin offen ist, bilden mit China irgendeine Art gemeinsamen Wirtschaftsraum, bauen neue Pipelines, neue Straßen, unsere Städte in Sibirien erleben einen Aufschwung, weil durch sie der ganze Verkehr läuft. Wir kämpfen irgendwie auf niedriger Flamme gegen die Ukraine oder ringen um eine Trennlinie. Na, wir machen aus uns eine Art Riesen-Donbass und haben diese acht Jahre, die zwischen 2014 und 2022 lagen, nun eben von 2024 bis irgendwann nach 2030. Inzwischen isolieren wir den Informationsfluss endgültig, etablieren die Plattform Rutube, schalten YouTube aus, transponieren alle auf unsere eigenen Plattformen, und die russische Bevölkerung vergisst mit der Zeit, dass es eine andere Medienrealität gibt, dass es Hollywoodfilme gibt, andere Lieder, andere Informationen, eine andere Literatur. Wir konsumieren das Eigene. In dieser Zeit perfektionieren wir auch unsere Gespräche über das Wichtige, erschaffen irgendeinen Ideologen, der uns eine Ideologie produziert, und folgen dieser in unserer Erziehung.         
       
    Unter Bedingungen der Isolation und womöglich ohne die Gelegenheit zu sehen, wie es auch anders ginge, erziehen wir zehn Jahre lang die Kinder, die wir geboren haben, als wir noch Geld hatten. Und dann, dann haben wir eine junge Generation, die wir einsetzen können, dazu noch die aus China bezogenen Ressourcen – und damit ziehen wir wieder in den Krieg. In dem wir sehr viel mehr Erfolg haben. In der Ukraine passiert in der Zwischenzeit aus irgendeinem Grund gar nichts, der Westen ist wie immer von allem müde, und da installieren wir in Kyjiw unsere prorussische Regierung. Des Weiteren kann man dann schon die Macht auf ein glänzendes Nachfolgeteam übertragen, das den dreifachen Staat aus Russland, Belarus und der Ukraine regiert. Na, wie gefällt Ihnen dieses Bild?

    Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, Ekaterina. Das will ich, wenn ich ehrlich bin, nicht mehr erleben.

    Das, was ich hier beschrieben habe, ist das Wunschszenario derjenigen, die jetzt an der Macht sind. Sie sehen hier Merkmale eines Trendszenarios – es soll alles so weitergehen, es soll uns nichts passieren, die Front soll standhalten, die Öleinnahmen nicht versiegen … Und wir bereiten uns in dieser Zeit, in dieser Pause der Geschichte, auf den nächsten rüstungsindustriellen und militärischen Kraftakt vor. Das heißt, hier haben wir ein Element eines Trendszenarios, das, ich wiederhole, sehr oft vorkommt, weil große Systeme, große soziale Körper diese Kraft der Trägheit besitzen und sich gewissermaßen selbst in die Zukunft fortschreiben. Aber es gibt auch Elemente, die sozusagen der Phantasie angehören, die davon ausgehen, dass die ganze Außenwelt einfach einschläft, während wir uns hier vorbereiten, und sich außer uns niemand wappnet.   

    Ich muss sagen, ganz unwahrscheinlich ist dieses Szenario nicht. Sie können sich wahrscheinlich genauso gut wie ich eine Konstellation der Ereignisse vorstellen, in der genau das passiert. Warum auch nicht? Noch einmal, alles, was wir tun können, ist, unsere Szenarien nach Wahrscheinlichkeit zu ordnen. 

    Am Ende [des Interviews] fragen wir immer alle: Wann sehen wir uns persönlich? In Russland, natürlich. Das heißt, Sie nennen uns ein Jahr, einen Monat oder vielleicht sogar ein genaues Datum und einen Ort, und wir gucken mal, ob wir das hinbekommen.

    Okay, also, nach dem Krieg um 18:00, ja? Meine vagen Schätzungen haben zwar nicht wirklich Hand und Fuß, aber trotzdem … Ich würde sagen, ab 2024 … Da fängt der Boden schon an nachzugeben, da sinken wir schon ein. Deswegen, lieber Pawel … Also, 2024 ist natürlich sehr mutig. Sagen wir, 2025, irgendwann im März. In der Redaktion der Novaya Gazeta … 

    Einverstanden, Potapow-Gasse Nummer drei. Vielen Dank, liebe Ekaterina, es war mir ein Vergnügen.    

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