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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Helden einer anderen Zeit

    Helden einer anderen Zeit

    Vor 30 Jahren, am 7. Juni 1995, kam es zu einer Sensation: Belarus, das in den postsowjetischen Umbruchsjahren auch mit der neu erlangten fußballerischen Unabhängigkeit zu kämpfen hatte, schlug die Niederlande mit 1:0. Der überraschende Sieg fiel in eine Zeit der massiven politischen Krise in Belarus, deren Auswirkungen bis heute spürbar sind: Der junge Lukaschenko machte sich daran, das politische und letztlich auch das fußballerische System an sich zu reißen.  

    Für das Online-Portal Pozirk gelingt es dem Journalisten Wjatscheslaw Korosten, die Geschichte des Fußballwunders mit der des belarussischen Fußballs und den politischen Umwälzungen in einem packenden Text zu verbinden. 

    Ein für Belarus bis heute unerreichtes Fußballwunder: 1995 gelang ein Sieg über die Nationalmannschaft der Niederlande. / YouTube-Screenshot 

    Mitte der 1990er Jahre war eine Zeit globaler struktureller Umwälzungen für den europäischen Fußball. Die UdSSR und das sozialistische Jugoslawien zerfielen, die kommunistische Tschechoslowakei wurde zweigeteilt. Eine ganze Reihe neuer Staaten stand bei der UEFA Schlange. Sie wollten so schnell wie möglich ihre Mitgliedschaft in trockene Tücher bringen und ihre Nationalmannschaften und Vereine auf internationaler Ebene legalisieren – um dann uneingeschränkt an offiziellen Turnieren teilzunehmen und damit ihre nationale Souveränität zu untermauern. 

    Dies gelang dem belarussischen Fußballverband (ABFF) genau Mitte der 1990er Jahre, und so ging die Nationalmannschaft erstmals unter der Schirmherrschaft der UEFA bei der Qualifikation zur Europameisterschaft 1996 an den Start. Wie erwartet waren die Debütanten aus Belarus nicht herausragend erfolgreich und belegten in ihrer Gruppe nur den vierten Platz. Die ersten Plätze in der Tabelle belegten die Tschechen, die Niederländer und die Norweger, während die Kleinstaaten Luxemburg und Malta auf den untersten Rängen landeten. Dennoch gelang es der belarussischen Mannschaft, in ganz Europa für Aufsehen zu sorgen – mit ihrem Sieg über die Niederlande. 

    In dem Spiel fiel nur ein einziges Tor. Eingefleischte Fans erinnern sich noch deutlich: Pjotr Katschuro passt den Ball zu Sergej Gerasimets, der schiebt ihn am geistesabwesenden Edwin van der Sar vorbei und schießt ihn im spitzen Winkel ins leere Tor. Es war die 27. Minute, die Gastmannschaft hatte über eine Stunde Zeit, um mit den Gastgebern gleichzuziehen. Doch dank der effektiven Taktik von Trainer Sergej Borowski konnten die Belarussen den Vorsprung halten – zur Freude der 37.000 Zuschauer, die sich an diesem Abend im Dynamo-Stadion in Minsk versammelt hatten. 

     
    Die 1:0-Führung für Belarus in der 27. Minute durch Gerasimets (der Moderator flippt auf Belarussisch völlig aus). 

    Sieg am Tag, an dem die weiß-rot-weiße Staatsflagge abgeschafft wurde 

    Als Gerasimets’ Tor fiel, war Belarus noch ein Staat mit Überresten von Demokratie. Ein Jahr zuvor hatte Alexander Lukaschenko die Präsidentschaftswahlen gewonnen, aber er hatte noch nicht die gesamte Macht in seinen Händen konzentriert. Im Grunde wurden damals zwei Schritte in Richtung Absolutismus unternommen: eine Prügelattacke auf die hungerstreikenden oppositionellen Abgeordneten des Obersten Sowjets, die sich gegen das Referendum zur Staatssymbolik, gegen die Einführung der Zweisprachigkeit und die Ausweitung der Befugnisse des Präsidenten ausgesprochen hatten, und natürlich gegen das Referendum selbst. Bis zur Ein-Mann-Herrschaft war es noch ein weiter Weg. 

     

    Die Abgeordneten der BNF traten 1995 aus Protest gegen das von Lukaschenko geplante Referendum in einen Hungerstreik. / Foto © Archiv Tut.by 

    In dieser Volksabstimmung vor 30 Jahren wurden unter anderem die neuen alten Staatssymbole gebilligt – Flagge und Wappen in sowjetischer Tradition. Das Pahonja sowie die weiß-rot-weiße Fahne verloren ihren offiziellen Status – und das just vor dem Spiel gegen die Niederländer. Das Referendum wurde am 14. Mai 1995 abgehalten. Zwei Tage später vollzog Iwan Titenkow, Lukaschenkos Wirtschaftschef, seinen berühmten Loyalitätsakt: Er kletterte persönlich auf das Dach des Regierungsgebäudes, riss die weiß-rot-weiße Flagge herunter, die dort gehisst war, und schnitt sie in Stücke. 

    Am 7. Juni – genau am Tag des Spiels zwischen Belarus und den Niederlanden – unterzeichnete Lukaschenko schließlich ein Dekret über die neue Staatssymbolik. Doch von der Theorie zur Praxis ist es ein weiter Weg, und das Weiß-Rot-Weiß verschwand nicht sofort aus dem offiziellen Gebrauch. So war auch die TV-Übertragung des Fußballspiels an diesem Tag von den weiß-rot-weißen Nationalfarben geprägt. Das ABFF-Emblem auf den Trikots der Spieler war ebenfalls in diesen Farben gehalten, und natürlich fanden sich auf den Tribünen genügend Fans mit der Flagge, die von den Behörden de jure bereits abgeschafft war. 

    Damals war das noch möglich. Zu Repressionen gegen die historischen Symbole ging Lukaschenko erst später über, und ein Vierteljahrhundert später wandert man dafür ins Gefängnis. Heute gilt die rot-weiß-rote Flagge tatsächlich als „extremistisches“ Symbol, was einer der Gründe dafür ist, warum das Staatsfernsehen im Voraus dafür sorgen wird, dass die dem Regime verhassten Farben dem Zuschauer nicht ins Auge fallen. 

    Verfall des belarussischen Fußballs 

    Der Weg, den der belarussische Fußball seither zurückgelegt hat, ist erstaunlich. Die Nationalmannschaft hat es zwar noch nie in die Endrunde einer Welt- oder Europameisterschaft geschafft. Im postsowjetischen Raum ist das aber bisher nicht nur Russland und der Ukraine gelungen, sondern auch Lettland, Georgien und Usbekistan, das sich gerade erst ein Ticket zur Weltmeisterschaft 2026 erspielt hat. 

    Erfolge feierte dafür die Jugendmannschaft. Drei Generationen (2004, 2009 und 2011) stürmten die EM, die Jüngsten gewannen sogar die europäische Bronzemedaille. Das ermöglichte ihnen etwas noch nie Dagewesenes: die Teilnahme an den Olympischen Spielen, die 2012 in London ausgetragen wurden. Auch belarussische Vereine hatten ihre Glanzmomente, allen voran der BATE Baryssau. Zwischen 2008 und 2016 nahm die Mannschaft regelmäßig an den Gruppenrunden in der Champions und Europa League teil. In dieser Zeit wurde in Baryssau ein modernes Stadion gebaut; Real Madrid und FC Barcelona, Chelsea und Arsenal, Juventus und AC Milan, Paris Saint-Germain und LOSC Lille reisten nach Belarus. Bayern München und AS Rom konnte BATE Baryssau auf dem heimischen Platz sogar schlagen. 

    Manche Spieler machten im europäischen Fußball von sich reden. Witali Kutusow wurde mit viel Pomp von BATE Baryssau verabschiedet zum bereits erwähnten AC Mailand eskortiert, Sergej Gurenko ging zu AS Rom, Alexander Gleb spielte für Arsenal und Barcelona. 

    Doch all das ist vorbei. Ganz langsam wurde der belarussische Fußball schlechter und schlechter, es kam zum Verfall. Und heute muss man feststellen: Die Nationalmannschaft ist in der Weltrangliste auf das Ende der ersten Hundert abgerutscht und hegt längst keine Ansprüche mehr weder auf EM noch auf WM; die Vereine träumen nicht mehr von der Champions und Europa League und freuen sich höchstens über einen seltenen Einzug in die Gruppenphase der drittklassigen Conference League; die Spieler werden nicht mehr von den besten westlichen Teams umworben, ein Vertrag irgendwo in Griechenland, Ungarn oder in der zweiten russischen Liga gilt als Erfolg. 

    Auch der Fußball zahlt die politischen Rechnungen 

    Auch der Fußballverband hat in dieser Zeit eine Negativentwicklung durchlaufen, die – wenig überraschend – parallel zur staatlichen verlief. 

    Bis 1999 wurde die Belaruskaja Federazija Futbola (ABFF) von dem demokratisch gewählten Fußballfunktionär Jewgeni Schuntow geleitet. Doch je mehr Lukaschenko seine persönliche Macht ausweitete, desto größer wurde sein Einfluss auf verschiedene Lebensbereiche der Belarussen, und es ist wenig überraschend, dass es eines Tages auch den Fußball traf. Seit über 25 Jahren werden die Chefs des Verbandes de facto auf Geheiß des Herrschers ernannt. Auf den Vorsitzenden des Staatlichen Komitees für Luftfahrt Grigori Fedorow folgte der Staatssekretär des Sicherheitsrates, General Gennadi Newyglas, dann der stellvertretende Ministerpräsident und künftige Leiter der Entwicklungsbank Sergej Rumas, daraufhin der Parlamentsabgeordnete und Artillerieoberst Wladimir Basanow und schließlich der ehemalige Leiter des regionalen Exekutivkomitees von Witebsk Nikolai Scherstnew. 

    Weil die UEFA-Statuten es einem Staat untersagen, sich in die Angelegenheiten der jeweiligen nationalen Verbände einzumischen, stand der belarussische Fußball Ende der 1990er Jahre am Rande der internationalen Isolation. Lukaschenkos Druck auf Schuntow mit dem Ziel seines Rücktritts war so offensichtlich, dass man ein unzweideutiges Signal aus dem Westen sandte: So kann man seine Mitgliedschaft in der UEFA verlieren. Die Situation wurde irgendwie gelöst, man zog die entsprechenden Schlüsse, und nun erfolgt die Entlassung der ABFF-Chefs stets nach demselben unfehlbaren Schema: „auf eigenen Wunsch“. In der Regel beschließen die Wahlgremien des ABFF eine solche von oben verordnete Rotation einstimmig. 

    Genau so wurde just Scherstnew nach nur zwei Jahren im Amt von seinem Posten entfernt – das ist grade mal die Hälfte der offiziell vierjährigen Amtszeit. Unabhängigen Medien zufolge hatte ein verlorener Machtkampf im Apparat gegen den Sportminister Sergej Kowaltschuk zu dem „eigenen Wunsch“ geführt, der am 1. Juni „in Erfüllung“ ging. Gleichzeitig wollte man den regimetreuen Scherstnew nicht vor den Kopf stoßen und versetzte ihn auf den gut bezahlten Posten des stellvertretenden Leiters der Präsidialverwaltung. Medienberichten zufolge soll der Schützling des Ministers Jewgeni Bulaitschik, der Leiter der Abteilung für Sport und Tourismus des Minsker Regionalexekutivkomitees, nun den Vorsitz des ABFF übernehmen. 

    Staatsbeamte, Banker, Luftfahrtexperten, Generäle und Oberstleutnants – das sind die Leute, die seit vielen Jahren für den Fußball zuständig sind. Aus diesem Grund wurde das Haus des Fußballs, in dem der Verband seinen Sitz hat, eine Zeitlang ironisch als „Haus der Offiziere“ bezeichnet. Man kommt kaum umhin, diese Personalpolitik mit den miserablen Ergebnissen der belarussischen Mannschaften in Verbindung zu bringen. 

    Ein vergessener Held 

    Der Sieg der Belarussen über Holland ist so lange her, dass sich vieles radikal verändert hat. So darf Holland beispielsweise offiziell nur noch Niederlande genannt werden. Das Dynamo-Stadion wurde mehrfach umgebaut. Die jüngsten Baumaßnahmen 2018 kosteten umgerechnet fast 200 Millionen Dollar. Doch selbst das reichte offenbar nicht aus, um das Bedürfnis des Landes nach einem angemessenen Stadion für die Nationalmannschaft zu befriedigen, und so bat Lukaschenko niemand geringeres als Xi Jinping um weitere Millionen – für den Bau einer entsprechenden Arena. 

    Der Vorsitzende der Volksrepublik China rückte das Geld heraus. Das Nationalstadion in der Nähe des Wanejew-Platzes in Minsk wurde sechs Jahre lang gebaut und erst kürzlich fertiggestellt. Lukaschenko bezeichnete den Bau als ein „Geschenk aus China“. Am 10. Juni [2025] spielte die belarussische Nationalmannschaft dort zum ersten Mal, und zwar gegen die russische Mannschaft, die für alle Wettbewerbe gesperrt ist [das Spiel ging 4:1 an Russland – dek]. Auch das ist sehr symbolträchtig. 

    In 30 Jahren hat der Dauerherrscher den belarussischen Sport in den Status eines internationalen Parias geführt. Der Fußball bleibt zwar die seltene Ausnahme, die nicht von der Isolation betroffen ist, aber auch er muss die politischen Rechnungen bezahlen. Nach der skandalösen Zwangslandung eines Ryanair-Flugzeugs mit dem Blogger Roman Protassewitsch in Minsk sprach die UEFA ein Verbot aus, offizielle Spiele unter ihrer Schirmherrschaft in Belarus durchzuführen. Und so sind die belarussischen Mannschaften seit nunmehr vier Jahren gezwungen, für ihre Heimspiele Stadien im Ausland anzumieten, beispielsweise in Ungarn, Serbien oder Aserbaidschan. Wie lange das Nationalstadion deshalb faktisch leerstehen wird, kann heute niemand sagen. 

    In den vergangenen Jahren haben die Teilnehmer des Spiels gegen die Niederlande ihre aktive Karriere beendet und sind merklich gealtert. Einige von ihnen ereilte ein tragisches Schicksal, so auch den Helden des legendären Spiels Sergej Gerasimets. Nach dem Ende seiner Spielerkarriere lebte der Ex-Fußballer in St. Petersburg, wo er als Trainer arbeitete. Der gebürtige Kyjiwer mit belarussischem Pass unterstützte während der Ereignisse 2020 offen die Proteste in seiner zweiten Heimat. Er nannte die Ergebnisse bei den Präsidentschaftswahlen eine „Farce“ und empörte sich über die Polizeigewalt auf den Straßen. Am 26. September 2021 starb er überraschend im Alter von 56 Jahren. Die Gründe wurden nie offiziell bekannt gegeben, aber es gab Vermutungen, dass sein Tod mit dem Fußball in Verbindung stehen könnte. An jenem Abend stand Gerasimets’ Mannschaft in St. Petersburg vor einem entscheidenden Spiel, was für den Trainer eine große nervliche Belastung darstellte. 

    Das runde Jubiläum des Sieges über die Niederländer in Belarus könnte aus noch einem anderen Grund von offizieller Seite übergangen werden: aufgrund der unliebsamen staatsbürgerlichen Haltung des Schützen des einzigen, siegreichen Treffers. Wenn dem so wäre, würde es wohl niemanden wundern. 

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  • „Studiert in Belarus!”

    „Studiert in Belarus!”

    Diese Woche finden in Belarus die Abschlussfeiern der wypuskniki, der Schulabgänger, statt. Dann geht es ins Arbeitsleben oder an die Universität. Der Wunsch, einen Studienplatz in der EU zu ergattern, ist groß. Allein an polnischen Universitäten studieren etwa 12.000 junge Belarussen. Die Behörden in Belarus setzen vieles daran, den Aufbruch der Absolventen in Richtung Westen zu verhindern. Gleichzeitig ist auch die russische Regierung bemüht, die jungen Leute für ein Studium in Russland zu gewinnen.  

    Das belarussische Online-Portal Pozirk hat mit Lehrern und Eltern in Belarus gesprochen und zeigt, wie der belarussische Staat mit Propaganda und Druck versucht, die jungen Leute im Land zu halten.  

    Studierende in Belarus sichten ihre Prüfungsergebnisse. / Foto © Tut.by 

    Alexandra (*alle Namen aus Sicherheitsgründen geändert) arbeitet seit 20 Jahren als Lehrerin. Was sie in ihrer Schule erlebt, beschreibt sie als absurd. Ihr zufolge könne man aus dem Nichts Kritik ernten – seitens der Schulverwaltung, der Bildungsabteilung, der Ideologen. So habe eine Ideologie-Beauftragte auf einer Veranstaltung für die Kinder eine Tasse mit einer englischen Aufschrift entdeckt und nach der Veranstaltung eine Szene gemacht. „Warum wir den Kindern ‚fremdsprachige Aufdrucke‘ präsentieren würden, hat sie gezetert“, erzählt Alexandra. Sie erinnert sich, wie vor zwei Jahren das Anschauungsmaterial aus dem Englischraum entfernt wurde, zum Beispiel Ansichtsplakate von London. 

    Unter besonderer Beobachtung stehen Abschlussfeiern. Die Liste der Lieder musste schon früher mit der Zensurbehörde abgestimmt werden, aber „dieses Jahr sind sie noch weiter gegangen und haben beschlossen, dass es bei der Abschlussfeier keinerlei fremdsprachige Lieder mehr geben und dass nur noch Lieder auf Russisch und Belarussisch gesungen werden dürfen. Ist das nicht absurd?“, empört sich die Pädagogin. 

    Marija, die Mutter eines Absolventen, sagte in einem Gespräch mit Pozirk, die Klassenlehrerin fordere die Eltern seit Februar beharrlich auf, ihr zu schreiben, wo die Kinder studieren wollen. „Das macht mich wütend, ich habe beschlossen, aus Prinzip nichts zu sagen. Ja, mein Sohn geht studieren, und zwar nicht im Ausland, sondern in Belarus, aber wieso sollte ich der Schule Rechenschaft ablegen? Er wird sein Zeugnis abholen, und damit ist seine Beziehung mit der Schule beendet. Warum müssen sie wissen, wo er studieren wird? Außerdem bin ich abergläubisch und erzähle nicht gerne von meinen Plänen, sonst werden sie vielleicht nicht wahr“, erzählt Marija. 

    Die Lehrerin Alexandra bestätigt, dass die Schulen für hiesige Universitäten werben, aber „nicht mit Drohungen oder Zwang, sie versuchen es auf die sanfte Tour, indem sie von den Vorteilen eines Studiums in Belarus erzählen“. Die Gymnasiasten aus der Oberstufe müssen sich ihr zufolge aktuelle belarussische Propaganda-Filme ansehen: Tschushoje nebo (dt. Fremder Himmel) und Trudnosti perewoda (dt. Übersetzungsschwierigkeiten). Der erste Film, den die Propaganda-Beauftragten als „investigative Reportage“ präsentieren, soll das harte Los der belarussischen Emigranten zeigen, unter anderem der Studierenden in Polen und Litauen. Der zweite bietet eine Bühne für junge Belarussen, die angeblich aus Unzufriedenheit mit ihrem Studium in Polen, Tschechien und Litauen nach Belarus zurückgekehrt sind. 

    Dieselben Filme werden auch an Universitäten gezeigt, mit anschließenden Treffen zwischen den Studierenden und den Filmemachern. So geschehen im April an der Janka-Kupala-Universität in Hrodna. Die Ankündigung auf der Internetseite des regionalen Fernsehsenders lautet: „Der Film zeigt das wirkliche Leben der Belarussen, die nach den Ereignissen 2020 emigriert sind. In Monologform erzählen sie, mit welchen Schwierigkeiten sie im Ausland konfrontiert wurden und warum sie nach Hause zurückgekehrt sind bzw. zurückkehren wollen. Der Dokumentarfilm soll Jugendlichen dabei helfen, sich eine dezidierte Meinung über die Situation zu bilden.“ 

    Eine Studentin, die an dem Treffen teilnahm, erklärte, der Film sei „ziemlich komplex“, es sei „hart gewesen, ihn zu sehen“. „Zu sehen, wie Gleichaltrige sich für die komplett andere Seite entschieden haben und weggegangen sind. Es war wirklich hart, den Film zu schauen. Er lässt einen mit vielen Einsichten und Emotionen zurück, mit der Erkenntnis, dass jeder seinen eigenen Weg hat. Der Dokumentarfilm Tschushoje nebo zeigt, welche Folgen eine falsche Entscheidung nach sich ziehen kann“, resümiert diese disziplinierte Zuschauerin ideologisch korrekt. Ein Link zu den Filmen findet sich auf vielen Internetseiten belarussischer Schulen. 

    Wer sich im Ausland einschreibt, ruiniert das Rating seiner Schule 

    Pozirk hat mit Shanna gesprochen, deren Sohn gerade die elfte Klasse am Gymnasium abschließt. Auch hier fragt man die Kinder, wo sie studieren wollen. „Außerdem müssen die Eltern der Schule einen merkwürdigen Bericht vorlegen, in dem sie erklären, wo ihr Kind die Sommermonate bis zum Beginn des Schuljahres im September verbringen wird“, erzählt die Mutter des Elftklässlers. Schüler, die sich im Ausland bewerben wollen, verheimlichen das ihr zufolge vor der Schulleitung, aus Angst, man könnte ihnen die Ausreise verweigern. „Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, behaupten sie also, sie würden an die BGU [Staatliche Universität Belarus in Minsk – dek] gehen. In der Klasse meines Sohnes wollen die Kinder in Russland, Japan und Polen studieren, oder an russischen Hochschulen, die Ableger in Belarus haben“, erklärt unsere Gesprächspartnerin. 

    Die Lehrkräfte und die Leitung der Gymnasien raten nicht direkt davon ab, ausländische Universitäten zu besuchen, sondern werben stattdessen dafür, dass Belarus die beste Hochschulbildung und das Niveau anderer Länder ein- und überholt hätte. „Dazu muss man sagen, dass die Schulleitung Mitglied der Belaja Rus ist“, erzählt Shanna. Das ist eigentlich nicht weiter verwunderlich: Im Bildungswesen, und erst recht in Führungspositionen, gibt es nur noch ausgesiebte Kader. „Ein weiteres Totschlagargument der Lehrer und der Schulleitung: Man soll sich nicht im Ausland bewerben, um der Einrichtung und sich selbst nicht zu schaden. Man würde damit das Ansehen des Gymnasiums ruinieren!“, beschwert sich die Mutter des Gymnasiasten. 

    Wie man in das „Russische Haus“ gelockt wird 

    Lehrerin Natalja beobachtet eine Abwanderung der Jugend weniger nach Europa als vielmehr nach Russland. Sie meint, die Programme der Rossotrudnitschestwo arbeiteten aktiv und mit „sanftem Nachdruck“ daran, talentierte junge Belarussen zum Arbeiten in Russland zu bewegen. So sei Natalja zufolge das Russische Haus Homel aktiv dabei, belarussische Schulabgänger abzuwerben. „Rossotrudnitschestwo führt sehr viele Olympiaden, Wettbewerbe und Exkursionen für belarussische Schüler durch. Die Fahrt nach Russland ist kostenlos, die Belohnung der Gewinner der Olympiaden und Wettbewerbe sind Reisen auf die [im Jahr 2014 annektierte] Krym. Die Kinder fahren auch heute noch dahin, trotz des Kriegs in der Ukraine“, berichtet die Pädagogin. 

    Auf der Seite des Russischen Hauses Homel sind in der Tat lauter Bildungsprojekte und Veranstaltungen zu finden. Zum Beispiel Ein Schritt in die Zukunft mit dem Russischen Haus – eine Reihe offener Kurse mit interaktiven Spielen, Tests und Workshops nach dem Atlas der neuen Berufe, der vom Innovationszentrum Skolkowo entwickelt wurde. Das Projekt richtet sich an Schüler der achten und neunten Klassen. Des Weiteren wenden sich die Programme Hallo Russland! und Neue Generation an junge Belarussen. In deren Rahmen sollen sie „russische Großstädte besuchen, die Kultur und Geschichte des Landes kennenlernen, mit Menschen ins Gespräch kommen, an internationalen Foren, Konferenzen, Festivals und Bildungsprojekten teilnehmen“. 

    „Bevorzugt werden engagierte junge Leute ausgewählt, die sich bereits in Studium oder Beruf, bei verschiedenen bedeutenden Veranstaltungen, Olympiaden oder Wettbewerben hervorgetan haben. Alle Reisen sind all-inclusive“, versprechen die Organisatoren. Als Bonus gibt es Exkursionen, Seminare, Konzerte und Festivals. Die Vorteile für belarussische Absolventen: Für ein Studium in Russland benötigen sie kein Visum (in Belarus ist es im Moment sehr schwierig, an europäische Visa zu kommen, selbst studentische); es gibt keine Sprachbarriere. Dafür gibt es eine Quote, nach der belarussische Staatsbürger Anspruch auf ein staatlich gefördertes Studium haben. 2024 waren es 1300 Studierende (genauso viele wie im Vorjahr), die Anspruch auf ein Stipendium und einen Platz im Wohnheim hatten. Zudem gibt es an den russischen Universitäten keine obligatorische Zurteilung der Absolventen. 

    Einfache Rezepte vom Minister 

    Am 17. April äußerte sich Bildungsminister Andrej Iwanez in einem Kommentar gegenüber dem Staatssender Belarus 1 zur Abwanderung junger Menschen ins Ausland. Seiner Meinung nach ist das Rezept dagegen einfach: „Selbstverständlich sollten wir unseren Kindern, unseren Schulkindern und den Eltern unserer Schulkinder von den Errungenschaften unserer Bildung erzählen, denn oft sind wir bescheiden, wir sprechen nicht darüber, wir scheuen uns, sie zu zeigen.“ 

    Der Minister ist außerdem der Meinung, dass die Belarussen in Europa eine minderwertige Ausbildung erhalten würden. So würden Absolventen polnischer Universitäten bei ihrer Rückkehr nach Belarus auf Probleme bei der Anerkennung ihrer Abschlüsse stoßen: Manchmal wären die Curricula oder die Anzahl der Unterrichtsstunden unzureichend. „Eine Überprüfung endete damit, dass nach dem Abschluss an einer polnischen Universität der prozentuale Anteil des absolvierten Programms nur knapp über 50 Prozent unseres Programms betrug. Das können wir schlecht als Hochschulabschluss anerkennen“, sagte Iwanez. Er fügt hinzu, die jungen Leute und deren Eltern würden das Bildungssystem in Belarus mit anderen Augen sehen, sobald ihnen die Fachleute erklären, dass es sich nicht um Voreingenommenheit handelt, sondern schlicht um einen Vergleich der Datenmengen miteinander. 

    „Ständige Kontrollen durchführen …“ 

    Der Werbeslogan „Studiert in Belarus“ hat jedoch einen wesentlichen Haken, der sich mit dieser Regierung nicht beheben lässt: die totale, unbedingte Ideologisierung des Bildungssystems, die der Hauptgrund dafür ist, dass junge Menschen aus dem Land fliehen. „Wenn Sie immer noch Leute beschäftigen, die unsere Vorgehensweisen und unsere Politik, die Staatsideologie, nicht teilen; wenn Sie die Regimeverweigerer von gestern beschäftigen, was sagt das dann über Sie aus? Eine Frage zum Nachdenken und zur dann Entscheiden“, sagte Alexander Lukaschenko bei einem Treffen mit Mitgliedern der Hochschulrektorenkonferenz im Februar 2024. 

    „Es sind Ihre Studenten, die wir benebelt von westlichen Werten 2020 auf den Plätzen gesehen haben. Und der Grundstein für viele der Inhalte, die sie auf die Straßen getrieben haben, wurde leider in unseren Hörsälen gelegt“, wandte er sich an die Rektoren. Lukaschenko beklagte, dass die Jugendorganisationen und Ideologen an den Universitäten schlecht arbeiten würden: „Was ein überbordender Bürokratismus! Das gehört alles verschlankt: die Jugendorganisationen, die Gewerkschaften, die Studentenräte usw.!“ Er rief die BRSM auf, „normale, informelle“ Veranstaltungen durchzuführen. 

    Ein halbes Jahr später unterzeichnete Bildungsminister Iwanez den 40-seitigen didaktisch-methodologischen Brief Merkmale der Organisation der ideologischen und pädagogischen Arbeit in Einrichtungen der allgemeinen Sekundarbildung für das Schuljahr 2024/2025. Vielleicht wurde Lukaschenkos Kritik ja dort berücksichtigt und der „reinste Bürokratismus“ ausgemerzt? Pozirk hat das Dokument analysiert. 

    Eine der ersten Aufgaben lautet, „die bedingungslose Umsetzung des Beschlusses des Vorstands des Bildungsministeriums über die Zusammenarbeit der Bildungseinrichtungen mit den öffentlichen Organisationen der BRSM und der belarussischen Pionierbewegung BRPO zu gewährleisten“, die Qualität der ideologischen und pädagogischen Arbeit mit Studenten und Arbeitskollektiven zu verbessern und dabei besonderes Augenmerk auf die Stärkung der Staatsideologie zu legen. 

    Die Lehrer werden angehalten, die Schüler besser über die Ressourcen eines „konstruktiven Fokus“ zu sensibilisieren und die Lernenden weiter zu einer „respektvollen Haltung gegenüber staatlichen Symbolen“ zu erziehen. Zu diesem Zweck sollen feierliche Veranstaltungen wie das Hissen der Nationalflagge und das Singen der Hymne durchgeführt werden und „eine ständige Kontrolle über den Zustand der staatlichen Symbole in den Bildungseinrichtungen“ erfolgen. Ferner wird vorgeschrieben, die Arbeit an der „Erforschung der Fragen des Genozids am belarussischen Volk während des Großen Vaterländischen Krieges“ fortzusetzen. 

    In den Schulen werden „Fahnengruppen“ gebildet, in denen Schüler die Nationalflagge herein- und heraustragen sollen. In dem Methodenbrief werden die Lehrkräfte außerdem aufgefordert, sich intensiver mit diesen Gruppen zu befassen. Weil die Fahnengruppe „anständig“ aussehen soll, müssen die Lehrer „die notwendige Ausrüstung zur Verfügung stellen: Militäruniform (Paradeform), wenn sie das Recht haben, sie zu tragen, oder Businesskleidung in Schwarz und Weiß“. Verboten sind „kurze Hosen, Kniestrümpfe, Sneakers und andere Sportschuhe“. Alles ganz „normal und informell“, so wie Lukaschenko verlangt hat. 

    Große und kleine Sticheleien 

    2020 hatten sich Studenten vor allem großstädtischer Universitäten dem Protest gegen Wahlfälschungen zugunsten Lukaschenkos und Gewalt gegen die Zivilbevölkerung angeschlossen. Als die Repressionen Massencharakter annahmen, waren viele junge Menschen gezwungen, ins Ausland zu gehen. Als 2022 Russlands umfassende Aggression gegen die Ukraine begann, lösten Gerüchte über eine mögliche Mobilmachung der belarussischen Bevölkerung eine weitere Auswanderungswelle aus. 

    Lukaschenko behauptete mehrfach, die jungen Protestierenden seien „mit westlichen Werten gehirngewaschen“. „Wir werden Maßnahmen gegen diejenigen ergreifen, die dorthin [ins Ausland – dek] gegangen sind, um sich ausbilden zu lassen und einer Gehirnwäsche unterziehen. Ich habe dem Bildungsminister aufgetragen, mit aller Härte vorzugehen. Wenn wir schon säubern, dann richtig. Hast du deinen Abschluss an der EHU [Europäische Geisteswissenschaftliche Universität in Vilnius – dek] gemacht? Dann arbeite halt in Litauen. Mach ruhig, wir kommen schon ohne dich aus“, drohte er im August 2021. 

    Das Thema griff er später mehrmals auf. Seinen Worten folgten Taten: Im ganzen Land waren Polnischkurse, Fremdsprachenschulen und der private Sektor der Vorschul- und weiterführenden Bildung insgesamt von massiven Kontrollen und Schließungen betroffen. Als Reaktion darauf wurden belarussische Universitäten aus dem Bologna-Prozess ausgeschlossen, europäische Universitäten stellten ihre Austauschprogramme ein. 

    2022 sind die Behörden aus dem bilateralen Abkommen mit Polen über die gegenseitige Anerkennung von Hochschulabschlüssen und -graden in Wissenschaft und Kunst ausgestiegen. Damit nicht genug: 2023 wurde die Zurückstellung von der Armee für Männer, die im Ausland studiert haben, aufgehoben. Man fing an, Schulabgänger zu erfassen, die eine Apostille für die Zulassung an ausländischen Universitäten beantragten, und „Präventivmaßnahmen“ mit ihren Eltern durchzuführen. Doch weder die Schreckensfilme über das ärmliche Dasein im Westen noch die „ideologischen Aktionspläne“ mit dem Herumtragen der rot-grünen Fahne haben sich bisher auf die Statistik der Studienanfänger an ausländischen Hochschulen ausgewirkt. 

    Wie drüben 

    Nicht nur in Belarus versucht man, Abiturienten an sich zu binden. In der Republik Moldau hat das Bildungsministerium in diesem Frühjahr die Kampagne In Moldawien studieren gestartet. Doch die Methoden sind alles andere als autoritär. Man setzt auf positive Anreize: Dort wurden 350 Millionen Lei [ca. 17,6 Millionen Euro – dek] in die Infrastruktur der Universitäten investiert, es wurden 93 Millionen Lei [ca. 4,7 Millionen Euro – dek] für die Renovierung von Studierendenwohnheimen ausgegeben; es wurden Bildungsprogramme entwickelt, die an die Berufe der Zukunft angepasst sind, einschließlich künstlicher Intelligenz, Animation, Game Design, Ökonometrie, Phytobiotechnologie. 

    Ziel der Kampagne ist es, dass sich in der Republik Moldau im Jahr 2025 sechs von zehn Absolventen für eine Universität im Inland entscheiden. Die moldauischen Behörden haben offenbar verstanden, dass die Politik der Peitsche junge Menschen nicht aufhalten wird, aber sie vielleicht auf Zuckerbrot reagieren. Genau so schafft man Voraussetzungen für eine bewusste (anstatt die „richtige“) Wahl, die sich der Staat für seine Absolventen wünschen sollte. 

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    Katerina Truchan vom belarussischen Online-Portal Pozirk hat diese Integration der Propaganda-Narrative analysiert.

    Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin bei einem Treffen im Kreml am 13. März 2025. / Foto © president.gov.by
    Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin bei einem Treffen im Kreml am 13. März 2025. / Foto © president.gov.by

    Seit Beginn der vollumfänglichen militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine kopiert die belarussische Propaganda bereitwillig die Manipulationsmethoden der russischen „Journalisten“. Seit nun gut drei Jahren berichtet die Staatspropaganda über den Krieg in der Ukraine durch die russische Brille, reproduziert die Narrative des Kreml und diskreditiert die Ukraine sowie den Westen. Auch der demokratisch eingestellte Teil der belarussischen Bevölkerung wird zur Zielscheibe. 

    So verwenden die Propagandisten den Kreml-Euphemismus „militärische Spezialoperation“ anstelle von „Krieg“, bestehen darauf, dass Russland sich „gegen die Nato verteidigen“ müsse und wiederholen das Mantra von den „Neonazis“. Die Ukraine wird meist als „Marionette des Westens“ dargestellt und ihre Handlungen als „Provokation gegen Russland und Belarus“. 

    Die Propaganda spielt mit den Emotionen, indem sie die Ukrainer grundlos, aber lautstark beschuldigt, der Nazi-Ideologie ergeben zu sein und die grausamsten Verbrechen zu begehen, oder indem sie Angst vor einem drohenden Krieg schürt („Entweder wir sie oder sie uns“). Die Diffamierungen finden Gehör, brennen sich über kurz oder lang ins Unterbewusstsein der Belarussen ein und zeichnen, ungeachtet aller logischen Anfechtungen, ein negatives Bild von den Nachbarn. 

    Die belarussischen Behörden berichten mit unverhohlener Freude über die Einführung neuer Waffentypen in der Armee und befeuern das Thema der Stationierung russischer Atomwaffen im Land.  

    Die Ukraine wird dämonisiert, indem man ihr den „Beschuss der friedlichen Bevölkerung im Donbass“ und den „Genozid der russischsprachigen Bevölkerung“ vorwirft. Die legitim gewählte ukrainische Regierung wird hartnäckig als „Kiewer Regime“ bezeichnet und Präsident Wolodymyr Selensky als illegitim bezeichnet, weil die ukrainischen Behörden keine Wahlen durchführen wollen, solange der Krieg andauert. Die russischen Machthaber, und in der Folge auch die Medien, nahmen dies zum Anlass zu behaupten, Selensky könne nicht länger die Befugnisse eines Staatoberhauptes haben. Dieses Narrativ wurde auch von den belarussischen Propagandisten aufgegriffen. Dass das derzeitige Verschieben der Wahlen im Einklang mit der ukrainischen Verfassung steht, verschweigen sie dabei. 

    Vermeintliche Gefahr und echte Einschüchterung 

    Gleichzeitig bedient sich die belarussische Propaganda eines eigenen Narrativs von der Gefahr eines Angriffs von ukrainischem Staatsgebiet aus, wofür sie das Kalinouski-Regiment verantwortlich zeichnen will. Die Propaganda brandmarkt nicht nur die, die in seinen Reihen die Ukraine verteidigen, sondern suggeriert auch, sie würden einen Angriff auf Belarus vorbereiten. Der Einmarsch des ukrainischen Militärs in die russische Oblast Kursk, um die Truppen des Aggressors zu binden, spielte dieser These in die Hände. In dem Propagandafilm Bessy: kak chotjat sachwatit Belarus (dt. Dämonen: Wie Belarus besetzt werden soll), der 2024 an den Start ging, verbreiten die Propagandisten das Narrativ, die „Söldner“ hätten angeblich vor, Belarus vom Staatsgebiet der Ukraine sowie der europäischen Nachbarländer anzugreifen. 

    Der Streifen besteht aus einer Aneinanderreihung von bedrohlichen blutigen Landkarten, auf denen okkupierte belarussische Territorien dargestellt werden, und aus Bildern vom friedlichen belarussischen Leben, sauberen Städten, ordentlichen Straßen und Auftritten von Alexander Lukaschenko, dem es, wenn man den Propagandisten glauben darf, allein zu verdanken ist, dass im Land noch Frieden herrscht. Die Tatsache, dass derselbe Lukaschenko 2022 Russland sein Territorium für den Angriff auf die Ukraine zur Verfügung gestellt hat und die militärische Aggression des „großen Bruders“ gegen einen souveränen Staat bis heute unterstützt, wird natürlich gekonnt umschifft. 

    Um die Kämpfer des Kalinouski-Regiments zu dämonisieren, benutzt die Propaganda sowohl Kämpfer der Einheit als auch ukrainische Militärangehörige. So zum Beispiel den ehemaligen Soldaten des Regiments Wassil Werameitschik, der aus Vietnam ausgeliefert wurde, oder Maksim Ralko, der bei seiner Rückkehr nach Belarus an der polnischen Grenze festgenommen wurde. Letzterer wurde von den Propagandisten mehrfach vor laufender Kamera gezwungen, die angeblichen Pläne des Kalinouski-Regiments „offenzulegen“, dass sie vorhaben ins belarussische Hoheitsgebiet einzudringen (TV-Sender ONT, 20. November 2024); ein anderes Mal musste er sagen, die Belarussen, die aufseiten der Ukraine kämpfen, seien allesamt Drogenabhängige und Kriminelle (ONT-Sendung vom 6. April 2025). 

    Werameitschik, der auf Ersuchen des belarussischen KGB ausgeliefert wurde, wiederholt in einem Beitrag (25. Januar 2025, Belarus 1) die Thesen der Propaganda über die „Strategie zur Befreiung von Belarus‘“, die angeblich mit Unterstützung der Geheimdienste Litauens, Polens und der Ukraine entwickelt wurde: Dabei soll nach einem Einmarsch vom Gebiet der Ukraine aus die bewaffnete Okkupation eines Teils von Belarus bei Brest und Malorita (Oblast Brest) stattfinden. 

    Derartige Aussagen, die vor den laufenden Kameras der Propagandisten gemacht werden, dürfen weder ernst genommen noch als Tatsachenberichte angesehen werden. Sie werden erzwungen; die Gefangenen befinden sich in einer ausweglosen Lage und sind in der Gefangenschaft nicht nur Druck, sondern auch Folter ausgesetzt. 

    Beispiele von Manipulation und offenkundigen Fakes 

    Bei der Auswahl der Themen für die Manipulation fällt eine gewisse Wahllosigkeit der belarussischen Propaganda auf. Wenn sie die Beiträge ihrer russischen Kollegen reproduziert, gibt sie oft nicht nur zweifelhafte Daten, sondern regelrechte Lügen wieder. 

    Pozirk hat zahlreiche Fakten gesammelt, wie das Ukraine-Thema eingesetzt wird, bei der die belarussische Propaganda zum Sprachrohr für die Verbreitung unverhohlener Lügen der russischen Medien wurde. Oft dienen die Themen dazu, die Ukraine lächerlich zu machen oder in einem schlechten Licht dastehen zu lassen. 

    Im November 2024 berichtete die lokale Propaganda, dass Donald Trump aus der ukrainischen Datenbank Myrotworez (dt. Friedensstifter) entfernt worden sei. Die Nachricht, die zunächst von der offiziellen Sprecherin des russischen Außenministeriums Maria Sacharowa verbreitet wurde, gelangte schließlich auch in die belarussischen Staatsmedien. 

    „Trump hatte versprochen, das Ukraine-Problem innerhalb von 24 Stunden zu lösen: ‚Ich werde anrufen und einen Deal aushandeln.‘ Etwas zu versprechen ist natürlich das Eine. Man kann es Kyjiw befehlen, zumal sie dort Trump bereits eilig von der Liste der Friedensstifter gestrichen haben, auf der die Feinde der Ukraine geführt werden“, sagte Anatoli Sankowitsch von ONT in der Sendung Kontury. Allerdings wurde die Nachricht über Trumps Aufnahme in die Datenbank bereits 2018 von denselben russischen Propagandamedien verbreitet. Das Projekt Myrotworez selbst dementierte das damals, und es konnten keine Spuren eines Eintrags zum amerikanischen Politiker gefunden werden. 

    Die Propaganda versucht, aus der Ukraine einen aggressiven und prinzipienlosen Feind zu machen. 

    Im Dezember letzten Jahres erklärte die belarussische Propaganda, die Ukraine plane eine Ausweitung der Mobilmachung. Zuvor hatten die russischen Propagandamedien darüber berichtet. „Es ist bereits bekannt, dass die Ukraine einen neuen, ausgeweiteten Mobilisierungsplan für 2025 verabschiedet hat. Offenbar will Selensky den Krieg unter Trump fortsetzen, solange genügend Ressourcen zur Verfügung stehen, um die Wahlen möglichst lange hinauszuzögern. Oder er will Trump dazu bringen, ihn in die NATO aufzunehmen, um den Krieg schnell zu beenden und als ‚Sieger über Russland‘ in die Wahlen zu gehen“, sagte die Moderatorin der Sendung Nedelja (dt. Woche) Olga Korschun auf CTV

    Dabei wurde die Mobilmachung und das Kriegsrecht in der Ukraine bereits am 10. November 2024 routinemäßig um weitere 90 Tage bis zum 7. Februar 2025 verlängert. Gleichzeitig wurde im Land über die Möglichkeit einer Herabsetzung des Wehrpflichtalters diskutiert. 

    Die Verunglimpfung der Ukraine, aus der die Propaganda einen aggressiven und prinzipienlosen Feind zu machen versucht, äußerte sich auch darin, dass die belarussischen Staatsmedien, den russischen auf dem Fuße folgend, eine ukrainische Spur beim Absturz des aserbaidschanischen Flugzeugs am 25. Dezember 2024 in der Nähe der kasachischen Stadt Aktau ausmachten (an Bord der Passagiermaschine Embraer-190 der Azerbaijan Airlines, die von Baku nach Grosny unterwegs war, befanden sich 67 Menschen, 38 von ihnen starben). 

    „Der Rumpf der Embraer-190-Maschine von Azerbaijan Airlines weist Einschlagspuren auf. Diese Tatsache macht die Version eines Angriffs durch ukrainische Drohnen wahrscheinlich. Laut Medienberichten war Grosny am selben Morgen von mehreren Drohnen angegriffen worden“, sagte Igor Posnjak, Moderator der Sendung Nowosti. 24 Tschasa (dt. Nachrichten. 24 Stunden) auf CTV

    Wladimir Putin entschuldigte sich zwar bei der aserbaidschanischen Seite, ohne allerdings einzuräumen, dass das Flugzeug von der russischen Luftabwehr getroffen wurde. Unabhängige Experten, deren Stellungnahmen von liberalen russischen Medien veröffentlicht werden, sind sich einig, dass das Flugzeug wahrscheinlich von einer Flugabwehrrakete getroffen wurde und eine Schuld der Ukraine somit praktisch ausgeschlossen ist. 

    Im Januar sagte die belarussische Propaganda ernste Probleme für Europa voraus, wenn der russische Gastransit durch die Ukraine gestoppt würde. Diese Botschaft wird häufig auch von den russischen Medien verbreitet, die davon überzeugt sind, dass ganz Europa ohne russisches Gas einfrieren wird. „Bald wird sich nicht nur das nicht anerkannte Transnistrien, sondern auch die hochentwickelten europäischen Wirtschaften entscheiden müssen, ob sie zu viel bezahlen, mit Holz heizen oder frieren wollen“, behauptete Swetlana Karulskaja, eine russische Mitarbeiterin von ONT

    Es sei angemerkt, dass die Gaspreise wirklich über denen der Vorkriegszeiten liegen, was Europas Wirtschaft belastet, während die Einnahmen der Ukraine geschrumpft sind. Kein einziges Land in Europa ist jedoch ohne Gas geblieben, nachdem der Transit eingestellt worden ist. Die EU hat sich faktisch vom russischen Gas verabschiedet: Während der Anteil 2021 noch bei 40 Prozent gelegen hatte, betrug er 2023 nur noch acht Prozent und 2025 noch fünf. Das russische Unternehmen Gazprom leidet unter dem Verlust des hochprofitablen europäischen Marktes; 2024 schrieb es rote Zahlen, es sind Entlassungen im Gange. 

    Am 19. Februar verbreitete die Staatspropaganda Falschnachrichten über den Ausverkauf von ukrainischen Ländereien weiter. „Rund 30 Prozent des ukrainischen Territoriums gehört nicht mehr Kiew. Es wurde verkauft“, erklärte Olga Dawydowitsch von Perwy informazionny (dt. Erster Informationskanal). Damit reproduzierte sie ein Fake, das 2024 in Russland erfunden wurde: Demnach würden Ausländer massenweise Land in der Ukraine aufkaufen. In Wirklichkeit ist in der Ukraine der Verkauf von Landwirtschaftsflächen an ausländische Investoren per Gesetz verboten. Zu den zehn größten Eigentümern gehören ausschließlich ukrainische Unternehmen. Später im selben Monat beschloss die belarussische Propaganda, über etwaige „kommerzielle Interessen“ der EU in der Ukraine zu berichten und nannte als Quelle für diese Erkenntnisse „ukrainische Telegram-Kanäle“. Doch auch das erwies sich als Fake. 

    Kreml-Drahtzieher hinter „ukrainischen“ Kanälen 

    „Europa, das gerade darüber diskutiert, ob es 30.000 Friedensstifter in die Ukraine schicken soll, verteidigt nicht die Ukraine, sondern seine eigenen kommerziellen Interessen. Als Bezahlung für seine Dienste wird es einen Anteil an ukrainischen Aktiva fordern, wie ukrainische Telegram-Kanäle berichten“, meldete Jekaterina Tichomirowa von Perwy informazionny

    Als Quelle führte sie einen Screenshot aus dem Telegram-Kanal Legitimny (dt. Legitim) an. Noch 2021 hatte der ukrainische Sicherheitsdienst SBU allerdings ein Netz von Kanälen aufgedeckt, hinter denen der russische Geheimdienst steckt. Darunter war auch der besagte Kanal Legitimny, dessen Administratoren zu diesem Zeitpunkt in der selbsternannten Republik Transnistrien saßen. 

    Ende Februar warf die Staatspropaganda Wolodymyr Selensky vor, die Verhandlungen zwischen den USA und Russland mithilfe der „belarussischen Bedrohung“ zu unterminieren. „Die dritte und bizarrste Möglichkeit, die Gespräche scheitern zu lassen, ist der Versuch, Trump davon zu überzeugen, dass Belarus eine potenzielle Bedrohung darstellt“, sagte CTV-Mitarbeiter Andrej Lasutkin. Er argumentierte unter anderem, dass die Ukrainer nach einem Drohnenangriff auf den Sarkophag von Tschernobyl Russland und Belarus beschuldigt, dann ein Fake-News-Video dreht und Selensky ausgerechnet mit dieser Nachricht seine Rede in München beginnen lässt. 

    Es stellte sich allerdings heraus, dass Lasutkin die Version der russischen Propaganda wiederholte, die gleich nach dem Angriff auf das Kernkraftwerk kursiert hatte. Mit einer Nuance: Nicht einmal in den russischen Quellen wird Belarus als verantwortliche oder irgendwie betroffene Partei genannt. Nach Angaben der Ukraine, die sie mit Bildmaterial bestätigt, wurde der Angriff von einer russischen Drohne ausgeführt. Die Löscharbeiten im Kernkraftwerk von Tschernobyl dauerten drei Wochen lang. So verbreiteten belarussische Propagandisten anschließend in wöchentlichen Nachrichtensendungen im ganzen Land glatte Lügen, die in Russland erfunden wurden, um die Wahrnehmung der Menschen von der Ukraine zu manipulieren. 

    Die Ukraine in Dauerschleife 

    In einem Ende 2024 veröffentlichten Bericht (Mapping Belarusian Propaganda, erstellt mit Unterstützung der Friedrich-Ebert-Stiftung) konnten die Autoren Marat Lesnov und Lesya Rudnik zeigen, dass fast die Hälfte des Contents staatsnaher Informationsquellen der Ukraine gewidmet ist. 

    Wie eine Analyse von Pozirk zeigt, wurde die Ukraine auf dem Telegram-Kanal des größten regierungsloyalen Mediums, der Zeitung SB. Belarus Today 10.300 Mal, das „brüderliche“ – so die offizielle Rhetorik in Minsk – Russland etwas mehr als 11.000 Mal, Lukaschenko nur knapp häufiger, nämlich 12.200 Mal, und Belarus 33.200 Mal erwähnt. Für ein Medium, das, wie man meinen würde, vor allem die Innenpolitik im Blick haben sollte, ist die „ukrainische Frage“ ziemlich beliebt. Allein zwischen dem 1. und dem 10. April kam das Thema Ukraine im besagten Telegram-Kanal mehr als 40 Mal auf. 

    Selbst bei Wirtschaftsthemen bleiben Verdrehungen und glatte Lügen nicht aus. So berichtete die SB am 9. April: „Die Ukraine stiehlt belarussisches Eigentum. Aber eines Tages wird sie dafür bezahlen müssen … An fremden Früchten kann man auch ersticken … Erst neulich hat die Ukraine wieder einmal ihr wahres Gesicht gezeigt: Eine Partie beschlagnahmter Düngemittel von Belaruskali wurde im Wert von etwa einer Million Dollar verkauft.“ 

    Dabei war bereits am 6. Februar 2023 bekannt geworden, dass die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft 170 Eisenbahnwaggons mit Mineraldünger im Wert von rund 100 Millionen Hrywnja (zu diesem Zeitpunkt über 2,7 Millionen US-Dollar) beschlagnahmt hatte. Es wurde gesagt, dass die Ladung von Belaruskali und dem russischen Unternehmen Uralkali stammte. Weiterhin hieß es, dass die belarussischen und russischen Kalisalze „in Drittländer transportiert werden sollten, um mit dem Verkauf Millionengewinne zu erzielen“, wobei ein Teil des Erlöses „in Form von Steuern zur Finanzierung des russischen Kriegs gegen die Ukraine“ fließen sollte. Später wurde erklärt, dass die Düngemittel verkauft und das Geld zur Stärkung der ukrainischen Wirtschaft und Verteidigung verwendet werden würde. 

    Von ukrainischer Seite war wiederholt festgestellt worden, dass das belarussische Unternehmen mit seinen Aktivitäten „den Krieg gegen die Ukraine durch finanzielle und wirtschaftliche Beziehungen zu Rüstungsunternehmen der Russischen Föderation und den Besatzungsverwaltungen der selbsternannten DNR und LNR befördern“ würde. Diese Tatsachen verschweigt die belarussische Propaganda, wenn sie über das „wahre Gesicht“ der Ukraine schreibt. 

    Für Lukaschenkos Medien ist die Ukraine insgesamt zu einem der wichtigsten Nachrichtenanlässe geworden. Die Themen Krieg, Korruption, Waffenlieferungen, der Wahlsieg Trumps und seine Äußerungen zur Ukraine helfen der Propaganda, Content zu erzeugen, der Zwietracht, Feindseligkeit und Hass gegenüber dem Nachbarland und seiner Bevölkerung schürt. Das geschieht in Analogie zu den russischen Medien, die schon viel früher mit „Entmenschlichung“ der Ukrainer begonnen haben – noch vor der Krim-Annexion 2014. 

    Um das gewünschte Feindbild einer schwachen, vom Westen abhängigen Ukraine zu schaffen, bedient sich die Propaganda auch der Hilfe von „Experten“, die entweder die Thesen ihrer russischen „Kollegen“ wiederholen oder einfach schlicht russische „Analytiker“ sind. Ihre Arbeit besteht dabei darin, die Situation einseitig zu „analysieren“ und Fakes zu reproduzieren. Auf diese Weise wird das Thema Ukraine in Belarus, in dem es keine unabhängigen Medien mehr gibt und man für „unbequeme“ Themen ins Gefängnis wandern kann, extrem einseitig beleuchtet. Gleichzeitig ist es für Belarussen buchstäblich physisch gefährlich, die Ukraine zu unterstützen. 

    Laut einer Erhebung der Menschenrechtsorganisation Wjasna, die nicht als erschöpfend gelten kann, wurden in Belarus bis zum 24. Februar 2025, also in den drei Jahren der anhaltenden Aggression, insgesamt mindestens 209 Personen, darunter 38 Frauen, wegen Unterstützung der Ukraine verurteilt: 41 Personen aufgrund von Spenden, mindestens 30 – weil sie auf Seiten der Ukraine kämpfen wollten. 

    Media IQ über die Verschmelzung von belarussischer und russischer Propaganda 

    Pawljuk Bykowski, leitender Wissenschaftler des Projekts Media IQ, bezieht sich bei seinem Kommentar gegenüber Pozirk auf die Monitoring-Berichte von Media IQ und seinen Beitrag „A Loss of Media Sovereignty: Synchronisation of Belarusian and Russian Propaganda after 2020“ zur Monographie Russian Policy towards Belarus after 2020: At a Turning Point? 

    „Die Beobachtungen, die Pozirk in seiner Analyse macht, bestätigen weitgehend unsere eigenen“, sagt Bykowski. „2022 verzeichneten wir bei Media IQ eine stetige Synchronisierung der belarussischen und russischen Propagandamaschinen. Wir können aber nicht sagen, dass sich die eine der anderen direkt unterordnet. Es ist eher wie bei einem Trittbrettfahrer: Wenn die Interessen übereinstimmen oder zumindest nicht im Widerspruch zueinander stehen, springt das belarussische Regime bereitwillig auf die Narrative des Kreml auf und verbreitet sie weiter, vor allem im Hinblick auf die ideologische Rechtfertigung des Krieges gegen die Ukraine.“ 

    „Nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen 2020 und den anschließenden Massenprotesten hat sich das offizielle Minsk von dem früher deklarierten Kurs auf Informationsneutralität verabschiedet und ist dazu übergegangen, sich verstärkt in das russische Informationsfeld zu integrieren. Besonders deutlich zeigte sich das in der Berichterstattung zu der vollumfänglichen russischen Invasion in der Ukraine im Jahr 2022. Die belarussischen Staatsmedien haben faktisch der Neutralität den Rücken gekehrt und angefangen, sich der Rhetorik und den Methoden der russischen Propaganda zu bedienen, was aus unserer Sicht eines der Kriterien für Informationssouveränität ist“, betont der Experte. 

    „Nichtsdestotrotz demonstrierte die belarussische Propaganda in einer Reihe von Fällen eine vorsichtige Distanz zum militärischen Bereich, indem sie die Akzente zum Beispiel auf humanitäre Themen setzte oder der Tatsache, dass sich die belarussische Armee nicht an den Kriegshandlungen beteiligt“, merkt er zugleich an. „Das zeigt, dass die belarussische Seite selbst im Rahmen der Synchronisation einzelne eigene Linien verfolgt, die ihren eigenen taktischen Interessen entsprechen.“ 

    „Äußerst wichtig bleibt dabei, wer die Wahrnehmung des Krieges in der Öffentlichkeit prägt. Nach Angaben von Chatham House und iSANS lehnen 94 Prozent der Konsumenten unabhängiger Medien den Krieg ab, während 61 Prozent der Konsumenten staatlicher Medien die russische Aggression unterstützen. Dieser Kontrast zeigt, wie sehr die Informationsquellen zum entscheidenden Faktor für die Einstellung zu Fragen von Frieden und Sicherheit werden“, betont Bykowski.    

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    Nado! Muss sein! – ist einer der zentralen Propaganda-Slogans der sogenannten Präsidentschaftswahlen am 26. Januar 2025 in Belarus. Man sieht die Parole auf riesigen Billboards und Leinwänden im ganzen Land. Aus Sicht des Regimes ist es notwendig, Lukaschenko einmal mehr zum Staatsführer zu krönen. Aber muss die belarussische Gesellschaft dafür in Angst und Schrecken leben? Der zynische Unterton des Slogans ist nur allzu deutlich.  

    Der Herrschaftsapparat tut alles dafür, dass die Wahl-Inszenierung ohne Störungen abläuft – Massenproteste wie im Jahr 2020 soll es schließlich nicht geben. Militär, Miliz und OMON werden im Einsatz sein, Schüler der Oberstufe bekommen Besuch von Ideologen, die die jungen Leute einschwören. Die Demokratiebewegung veranstaltet am Wahltag in Warschau das Festival Die Belarussen haben Besseres verdient, auf dem bekannte Politiker und Aktivisten über ihre Zukunftsvision von Belarus sprechen. Die belarussischen Sicherheitsbehörden warnen Teilnehmer und Streaming-Zuschauer des Festivals schon im Vorfeld, man werde sie dafür strafrechtlich verfolgen.  

    Lukaschenkos Mit-Kandidaten – es sind vier – sind handverlesen, alle Oppositionsparteien wurden längst verboten. Neben dem blassen Alexander Chischnjak, Vorsitzender der unbedeutenden Republikanischen Partei, und dem Dauer-Mitkandidaten Oleg Gaidukewitsch stehen der Stalinist Sergei Syrankow und eine Frau auf dem Wahlzettel: Anna Kanopazkaja. Der Sieger steht heute schon fest. 

    Der Journalist Alexander Klaskowski gibt für das Online-Portal Pozirk Einblicke in ein absurdes Wahltheater.

    Lukaschenko im renovierten Stadion „Traktor” in Minsk / © Foto president.gov.by 

     

    Als Alexander Lukaschenko am 14. November 2024 das frisch sanierte Stadion „Traktor” in Minsk besuchte, prahlte er scheinbar nebenbei mit der Menge an Unterstützungsunterschriften für seine Kandidatur: „Gestern wurde ich informiert, dass zum aktuellen Zeitpunkt mehr als 700.000 Stimmen gesammelt wurden.“ 

    Nonchalant merkte er noch an, er habe ja kaum Zeit für den Wahlkampf, sei er doch ständig im In- und Ausland unterwegs und müsse den erfolgreichen Abschluss der Erntekampagne im Blick behalten. Als ob für einen derart machtbesessenen Menschen wie ihn die Erntekampagne wichtiger sein könnte als der Wahlkampf.  

    Mit stalinscher Bescheidenheit 

    Tatsächlich muss er sich um die Unterschriften keine Sorgen machen. Erstens hat der Herrscher den Schätzungen unabhängiger Experten zufolge ohnehin die Unterstützung von 25-30 Prozent der Bevölkerung, und auf diese Wählerschaft ist Verlass. 

    Zweitens arbeitet die Verwaltungsebene auf vollen Touren. Der Vorsitzende der Oblast Witebsk, Alexander Subbotin, sagte offen im Fernsehen, beim Unterschriftensammeln für Lukaschenko entstehe traditionsgemäß ein Wettbewerbseffekt zwischen den Oblasten. Im Namen der Initiativgruppen des Herrschers werden zahlreiche Kundgebungen organisiert. Und in den Organisationen und Einrichtungen werden die Unterschriften in einer Atmosphäre gesammelt, in der eine Weigerung zu unterschreiben ein Risiko bedeutet.  

    Drittens arbeitet die Zentrale Wahlkommission nach dem Prinzip „wie es euch beliebt“ und verkündet jedes von oben gewünschte Ergebnis. 

    Lukaschenko demonstriert dabei stalinsche Bescheidenheit. Bekanntermaßen gab schon jener „Vater der Völker“ vor, den Kult um seine Person nur mit Mühe zu ertragen und sich ihm gar zu widersetzen. So teilte der belarussische Staatsführer im Stadion mit, er habe die Unterschriftensammlung für seine Person eigentlich schon beenden wollen, aber sein Administrationschef Dimitri Krutoi habe ihn überzeugt, dass man den Menschen die Möglichkeit geben müsse, ihren Anführer zu unterstützen. Gekünstelt gibt sich Lukaschenko besorgt darüber, dass die Leute nicht gerade darauf aus seien, für andere Kandidaten zu unterschreiben. Wie sollen sie das auch wagen, nach den Repressionen gegen diejenigen, die 2020 für alternative Kandidaten unterschrieben hatten. 

    Tatsächlich sind alle „Konkurrenten“ nur Staffage, dennoch gehen die Bürger lieber kein Risiko ein. Natürlich wird man Lukaschenkos Namen nicht als einzigen auf dem Stimmzettel stehen lassen. Zur Zierde werden vier Pseudokandidaten ergänzt, denen man die notwendige Anzahl an Unterschriften für die Nominierung zugesteht. 

    Lukaschenko beim Wahlkampf und Holzhacken zusammen mit seinem weißen Spitz / Screenshot Sendung RTR Belarus, 7.11.2024 

     

    „In Belarus wird keinesfalls eine Frau gewählt“ 

    Mit solchen Sparringspartnern ergibt sich natürlich der reinste Zirkus. Lukaschenko kommentierte den „Ausstieg aus dem Rennen um das Präsidentschaftsamt“ (eine Formulierung der staatlichen Nachrichtenagentur Belta) von Olga Tschemodanowa, Milizoberst der Reserve, und Sergej Bobrikow, Generalmajor der Reserve. Die Staatsmedien spielen mit der Lexik echter Wahlen wie in den USA. Aber was für ein beknacktes Rennen, bei dem das Ergebnis schon vorher feststeht? 

    „Klar stehen sie auf meiner Seite. Sie dachten: ‚Wir wissen, dass der Präsident gewinnen wird, aber wir lassen nicht zu, dass er diskreditiert wird.‘ Als würde ich mich diskreditieren lassen. Doch dann sahen sie: Innerhalb der Organisation hat man nicht so recht Verständnis. Also beschlossen sie: ‚Besser, wir steigen aus‘“, versuchte Lukaschenko, die seltsamen Manöver von Tschemodanowa und Bobrikow zu erklären. 

    Bobrikow selbst, der Vorsitzende des Belarussischen Offiziersverbandes, hatte zuvor erklärt, er sei ausgestiegen, „um die Geschlossenheit innerhalb des Offizierskorps zu wahren, kein Doppeldenk im Militär zu erzeugen und das amtierende Staatsoberhaupt, unseren Anführer zu unterstützen.“ 

    Warum war er überhaupt angetreten? Offenbar hatte er zunächst das eine, kurz darauf das andere Kommando erhalten. Irgendwas werden sich die Polittechnologen schon dabei gedacht haben. Der General ahnt indes möglicherweise gar nicht, dass er die Terminologie reproduziert, die in Orwells Dystopie 1984 den totalen Staat beschreibt: „Doppeldenk“, „Gedankenverbrechen“. 

    Das System hat sich in eine tragikomische Ecke manövriert. Es ist klar, dass es eine Lukaschenko-Wahl ist, ein anderes Ergebnis ist bei diesem Spektakel nicht in Sicht. Doch man muss das Ritual befolgen, den Anschein von Pluralismus und Spannung erwecken. Am Ende – Gelächter im Saal – begründen die Sparringspartner ihren Eintritt und ihren Austritt aus dem Wahlkampf mit demselben Argument: Wir unterstützen Lukaschenko.  

    Es gibt noch weitere vier Anwärter auf das Amt. Nach dem Ausscheiden von Oberst Tschemodanowa aus dem „Rennen“ ergatterte auch die extravagante Anna Kanopazkaja  einen Platz auf dem Stimmzettel. Die Kandidatur von Kanopazkaja, die früher Mitglied der mittlerweile vom Obersten Gerichtshof liquidierten Vereinigten Bürgerpartei war, ist ein Zeichen, dass die Staatsmacht beschlossen hat, auch das Feld der Opposition ein wenig zu bespielen. Vielleicht muss Lukaschenko auch unbedingt eine Frau überholen, als Trost für 2020, als ihm die „Hausfrau” Swetlana Tichanowskaja das Wasser abgrub. 

    Apropos, unter dem Deckmantel der Sorge um das „schwache Geschlecht“ tat sich Lukaschenko während seines Auftritts im Stadion wieder mal mit Sexismus hervor: „In Belarus wird keinesfalls eine Frau gewählt […] In den USA hat der Präsident keinen so weitreichenden Auftrag wie in Russland oder Belarus. Bei uns muss man alles können: alle füttern und tränken… Das ist Schwerstarbeit. Eine Frau darf man nicht so belasten. Das ist hier kein zeremonielles Amt.“ 

    Er beklagte sich auch über die Schwäche der europäischen Staatsoberhäupter: „Die Amerikaner behandeln Scholz doch schon wie den letzten Dreck.“ Mithin äußerte er aber Hoffnung: „Es werden wieder Männer wie de Gaulle auftauchen, ganz sicher. Oder Kohl, so einer wird auch wiederkommen. Auch Chirac war ein ganzer Kerl, einer fürs Volk.“ Über starke Frauen an der Spitze von Regierungen schwieg er. Dabei haben Margaret Thatcher oder Angela Merkel keineswegs nur zeremonielle Funktionen ausgeübt und waren dabei sehr erfolgreich.  

    Lukaschenkos Logik ist hier eine andere, sie resultiert aus dem Gefühl, einzigartig und unersetzlich zu sein. Nachdem er den Mechanismus der echten Wahlen zerschlagen hat, schaut er von oben auf die europäischen Politiker herab, die sich ernsthaft wählen lassen müssen und in der Regel auf zwei Amtszeiten beschränkt sind. Diese verfaulte Demokratie! 

    Wahlwerbung in Minsk / © Foto gazetaby

     

    Dystopie als Propaganda 

    Die aktuelle Wahlkampagne bildet im Grunde die Veränderungen im System Lukaschenko seit 2020 ab. Ja, die Opposition wurde auch früher diskriminiert und kleingehalten, aber ihre Kandidaten wurden noch zur Wahl zugelassen. Doch dann führten die Wahlen fast zum Umsturz. Also wurden Nägel mit Köpfen gemacht. Der schwere Brodem des Totalitären trat immer deutlicher hervor.       

    So wird das Absurde zur Norm. Die drei Wahlsprüche der herrschenden Partei in Orwells Roman 1984 lauten: „Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke.“ Lukaschenkos Propaganda arbeitet tatsächlich im Geiste dieser Dystopie, übertrifft teilweise sogar die künstlerische Vorlage. 

    Ein Beispiel: Das Regime beteiligt sich am Krieg, scharenweise fliegen Shahed-Dronen über das Land, und gleichzeitig inszeniert man Lukaschenko als Garanten eines friedlichen Himmels. Er selbst beteuert blauäugig, Wladimir Putin hätte seine Truppen 2022 nach den Übungen in Belarus wieder in den Fernen Osten verlegt, wenn ihn die bösen Ukrainer nicht provoziert hätten.  

    Lukaschenko und seine Propaganda malen zudem ein Bild, auf dem im Westen (vor allem in Polen und Litauen) die Massen unter dem Joch der Regierungen ächzen, während Belarus, das tatsächlich ein einziges großes Gefängnis ist, als Reich der wahren Freiheit erstrahlt. Schaut nur, sagen sie, wie furchtlos sich die Kandidaten ins Rennen um die Präsidentschaft stürzen!  

    Schließlich schneidet das Regime die Gesellschaft auch von alternativen Informationsquellen ab, vernichtet „aufrührerische“ Literatur: „Unwissenheit ist Stärke“. Im Geiste derselben Dystopie schreiben die Machthaber die Geschichte um, verbreiten ihre eigene Version der Ereignisse von 2020: Ein Teil der Gesellschaft sei geistig umnachtet gewesen, jetzt aber wieder zur Besinnung gekommen. Seht nur, sie schreiben Gnadengesuche. 

    Nado! (Muss sein!): der Propaganda-Slogan der Wahlkampagne von Lukaschenko im Dezember 2024 auf einem Bildschirm in der Capital Mall in Minsk / © Foto gazetaby 

     

    Belta zeigt eine Fotoreportage von einer Kundgebung der Lukaschenko-Initiativgruppe auf dem Gelände des High-Tech-Parks in Minsk. Auch das ist eine Botschaft. 2020 hatten sich hier die IT-Leute aktiv an den Protesten beteiligt, hier waren sie vom OMON verprügelt worden. Nun stehen die Menschen am Zelt mit dem Propaganda-Motto Nado gehorsam Schlange. Wieder ein Nest der Aufständischen zertreten – diese Botschaft sendet die Propaganda. Lukaschenko ruft seine Untergebenen immer wieder dazu auf, wachsam zu bleiben, und erinnert an die Feinde: die offensichtlichen (im Ausland) und die verdeckten (die sich ihm zufolge im Inland „unter der Scheuerleiste“ verstecken).  

    Er wittert in der unterdrückten Gesellschaft noch eine verborgene Bedrohung. Anscheinend hat er nicht begriffen, dass die Ursache dafür nicht in Machenschaften des „kollektiven Westens“ und der „Ausgebüchsten“ liegt, sondern in der Tatsache, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung aus seinem System herausgewachsen ist. Lukaschenko behauptet nach wie vor, er müsse das Volk „füttern und tränken“. Dabei haben Millionen von Belarussen im Jahr 2020 gezeigt, dass sie kein Stallvieh sind.  

    Man kann die Menschen im Land einschüchtern, man kann sie brechen, apathisch machen. Aber wie in einer Dystopie das Bewusstsein der Massen umzuformatieren, das wird wohl nicht gelingen.  

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    Die meisten Journalisten haben Belarus seit Beginn der Repressionen im Jahr 2020 verlassen. Aber bis heute werden Medienschaffende verfolgt und festgenommen – erst kürzlich wurde die Journalistin Wolha Radsiwonawa zu vier Jahren Haft verurteilt. Die offizielle Anschuldigung: Beleidigung des Präsidenten und Diskreditierung des Landes.

    Seit ihrer Flucht nach Litauen, Polen oder Georgien arbeiten viele Medien aus dem Exil heraus. Sie sorgen dafür, dass es weiterhin Informationen darüber gibt, was in Belarus passiert. Wie prekär ist die Lage dieser Medien? Erreichen sie weiterhin ihr Publikum in Belarus? Welche Folgen hat die Verdrängung unabhängiger Medien für die belarussische Gesellschaft? Mit diesen Fragen befasst sich eine neue Studie, Wjatschelslaw Korosten fasst die wichtigsten Antworten für das Online-Medium Pozirk zusammen.

    Zum 1. Dezember 2024 waren in Belarus 1143 Medien registriert, so steht es auf der offiziellen Webseite des Informationsministeriums. 601 davon sind nichtstaatlich. Private Besitzverhältnisse bedeuten heute nicht automatisch einen kritischen Blick auf die Politik der Machthaber – man übt sich in Selbstzensur. Dennoch schrumpft dieser Bereich des Mediensystems im Land am schnellsten. Im September 2020 meldete das Belarusian Investigative Center mit Verweis auf das Informationsministerium noch 1927 Massenmedien, also 40,1 Prozent mehr als heute. Nichtstaatliche Medien gab es damals 1285 – innerhalb von vier Jahren ist diese Zahl also um 53,2 Prozent gesunken, auf weniger als die Hälfte.  

    Es liegt auf der Hand, dass hinter diesen Zahlen die repressive Ausmerzungspolitik der Staatsmacht gegen unabhängige, gesellschaftspolitische Medienformate steckt. Sie wurden als „extremistisch“ eingestuft, was die Fortführung der Arbeit im Land auf einen Schlag unmöglich machte und in vielen Fällen zum Umzug ganzer Redaktionen ins Ausland führte. Journalisten wurden verhaftet und zu Freiheitsstrafen verurteilt, aktuell sitzen 35 hinter Gittern. Personen, die diesen Medien Interviews geben, werden strafrechtlich verfolgt, für das Abonnement nichtstaatlicher Medien (de facto genügt es, sie zu lesen) werden Administrativstrafen verhängt, die in der Regel auch zum Verlust der Arbeitsstelle führen. 

    Die Zahl der Medienvertreter, die das Land verlassen haben, geht in die Hunderte. Daten des Belarussischen Journalistenverbandes (BAJ) zufolge gibt es aktuell 450-500 Emigranten mit diesem Hintergrund, mehr als 30 Redaktionen setzen ihre Arbeit im Ausland fort. Wie geht es ihnen in der Fremde? Vor welchen Herausforderungen stehen sie und wie gehen sie damit um? Welche Perspektiven hat die belarussische Medienbranche unter diesen Bedingungen? 

    BAJ: Ernsthafte professionelle und existenzielle Krise 

    Die Ergebnisse einer BAJ-Studie für 2024 bestätigen den Ernst der Lage. Die Befragung von 211 belarussischen Medienschaffenden in verschiedenen Ländern (Polen, Georgien, Litauen, ein geringer Anteil in Belarus) macht zwei Schmerzpunkte der Berufsgruppe deutlich:

    Erstens wird die Arbeit durch das Risiko der politischen Verfolgung sowie durch die Wahrscheinlichkeit, dass Angehörige Repressionen ausgesetzt werden, behindert. Zweitens generiert die journalistische Tätigkeit kein ausreichendes Einkommen, um im Ausland normal leben zu können. Diese Antworten gaben 67,3 Prozent beziehungsweise 62 Prozent der Befragten. 40 Prozent beklagten zudem eine sehr hohe Arbeitsbelastung.  

    Diese Statistik bestätigen auch die wiederkehrenden Meldungen über die desaströse Lage ganzer Redaktionen. Ende November schlugen Nowy Tschas und Malanka Media Alarm. Beide wählten den üblichen Weg – sie starteten eine Spendensammlung auf der Plattform des Solidaritätsfonds Bysol

    Die Belarussen reagierten zwar auf den Hilferuf, Spenden gehen bisher aber nur langsam ein. Auf diesem Weg wird man die großen Förderer, die mit jedem Jahr weniger werden, wohl kaum völlig ersetzen können. Im Laufe des Jahres machten bereits andere Medien auf ihre finanzielle Notlage aufmerksam: Reform, Plan B, Ex-press. Einige haben aus diesem Grund bereits ihre Arbeit eingestellt: KYKY, die belarussische Redaktion des polnischen Radio Wnet (Радыё Ўнэт), The Village Belarus. Schmerzhaft und nicht ohne Konflikte verläuft auch die Reformierung des Fernsehsenders Belsat, des größten belarussischsprachigen Medienoutlets im Ausland. 

    Zu den professionellen Herausforderungen kommen automatisch auch persönliche hinzu. 49,3 Prozent der Teilnehmenden der BAJ-Umfrage gaben an, psychische Probleme zu haben, 34,6 Prozent andere gesundheitliche Probleme, 33,2 Prozent Schwierigkeiten mit der Legalisierung im Ausland. Für 39,3 Prozent der Befragten erschwert die Sprachbarriere das Leben in der Emigration. „Die Umfrage zeigt, dass Journalistinnen und Journalisten eine ernsthafte professionelle und existenzielle Krise durchmachen“, erklären die Autoren der Studie. „Das liegt nicht nur an den politisch motivierten Repressionen und Risiken der Berufsausübung, der erzwungenen Emigration und der Trennung von Angehörigen und Arbeitskollegen, sondern in vielen Fällen auch am Fehlen einer stabilen Arbeit und Gesundheitsversorgung.“ 

    Die Machthaber nahmen den Medien die Möglichkeit zum Geldverdienen 

    Alexander Lukaschenkos Regime führt seinen Krieg gegen die unabhängigen Medien auf breiter Front. Neben der Stigmatisierung durch den „Extremismus“-Status und Repressionen gegen Mitarbeiter werden die Informationsplattformen auch weitestgehend von ihrem Publikum abgeschnitten.  

    Die Webseiten sind seit Langem blockiert, für das Abonnieren von Social-Media-Kanälen wird man in Belarus verhaftet, dazu werden unablässig Handys kontrolliert. Für finanzielle Unterstützung gibt es im Strafgesetzbuch gleich mehrere Artikel mit schweren, langjährigen Haftstrafen. All das führte dazu, dass man mit journalistischen Medieninhalten kein Geld mehr verdienen kann.  

    Bis 2020 verdienten die unabhängigen Medien nicht schlecht mit Werbung und steckten die konservativen Staatsmedien dabei locker in die Tasche. Werbekunden gingen viel lieber zu den privaten Anbietern, die ein breiteres Publikum hatten und qualitativ hochwertige, kommerziell erfolgreiche Spezialprojekte anbieten konnten. Deshalb konnten die nichtstaatlichen Redaktionen ohne einen Cent aus dem Staatsbudget und trotz Steuerlast finanziell auf eigenen Beinen stehen.  

    Dieser Boden wurde den Medien nun unter den Füßen weggezogen, von Eigeneinnahmen kann keine Rede mehr sein. Der belarussische Werbekunde kann nicht zu einer „extremistischen“ Plattform gehen – das wäre der direkte Weg in den Knast. Durch die Verbote sinkt die Zahl der Lesenden. Der Zugang zu den Informationsquellen ist nur eingeschränkt möglich. Deshalb stützt man sich nun hauptsächlich auf Spenden und Fördergelder.  

    In der demokratischen Welt mit ihren starken horizontalen Beziehungen ist diese Unterstützung gut ausgeprägt. Die Vertreter der Demokratiebewegung kämpfen bei internationalen Treffen ständig um ihren Erhalt. 

    Aber die Zeiten sind schwierig: In der Ukraine herrscht Krieg, in der EU sind auch russische Medienschaffende unterwegs, die vor Putins Repressionen geflüchtet sind. Sie sind auf Unterstützung aus denselben Quellen angewiesen. Auch georgische Journalisten werden womöglich demnächst Hilfe benötigen, wenn die herrschende prorussische Partei die Daumenschrauben weiter anzieht. Eine Kürzung der Unterstützung für belarussische Medien ist in dieser Situation und im fünften Jahr der Emigration also keine Sensation. Aus geopolitischer, strategischer Sicht begehen die internationalen Förderinstitutionen damit jedoch einen großen Fehler.  

    Die belarussische Propaganda übernimmt russische Praxis 

    Der grundlegende Unterschied in der Mediennutzung zwischen Belarus und Russland liegt in der Anfälligkeit der Bevölkerung für Staatspropaganda. In der belarussischen Medienwelt dominierten bis zu den Wahlen 2020 de facto unabhängige Ressourcen (die Auflagen der staatlichen Printmedien wurden durch Zwangsabonnements aufgeblasen, dem Staatsfernsehen glaubten viele nicht). Das erkannten die Machthaber später an, indem sie die Medien zum Sündenbock für die Massenproteste machten. Das Vertrauen in die Propagandisten war gering, da die Belarussen in den Jahrzehnten der Lukaschenko-Herrschaft gelernt hatten, nur dem zu trauen, was sie mit eigenen Augen gesehen hatten, und nicht der agitprop-artigen Fernsehberichterstattung. 

    In Russland arbeitete die Propaganda derweil raffinierter und mit größeren finanziellen Mitteln. Im Bereich der oppositionellen Medien entstanden keine wirklichen Flaggschiffe mit einem Publikum, das mit dem Fernsehpublikum vergleichbar wäre. Es war nicht zuletzt diese Gehirnwäsche der Bevölkerung, die Präsident Wladimir Putin die stabilen Wahlergebnisse brachte, die den Angriffskrieg gegen die Ukraine möglich machten. 

    Nach 2020 bewaffneten sich die belarussischen Machthaber mit der russischen Praxis, das Publikum zu Zombies zu machen. Indem es die unabhängigen Medien zerschlägt und die propagandistischen Medien stärkt, versucht Lukaschenkos Regime, die Bevölkerung zu seiner primitiven Lehre zu bekehren. Wird das gelingen? Bislang sieht es nicht danach aus, aber hier spielt die Zeit eine wichtige Rolle. 

    Ungeachtet aller Bemühungen des Regimes kämpfen die unabhängigen Medien gegen deren Agitprop an. Die Publikumszahlen bleiben beachtlich, die Redaktionen verbreiten ihre Inhalte in verschiedenen Formaten, es entstehen immer neue Youtube-Kanäle, TikTok wird aktiv genutzt. Insgesamt zeigen die Medien im Exil gute Überlebensstrategien in Extremsituationen. Wenn sich aber die Trends fortsetzen, die sich in der BAJ-Umfrage abzeichnen, wird in der Informationsarena über kurz oder lang die Propaganda den Sieg davontragen. Damit würde die belarussische Gesellschaft, die vor vier Jahren den Willen zu demokratischen Veränderungen zeigte, der russischen immer ähnlicher – mit ihrer dominierenden Mentalität von Untergebenen anstelle von Staatsbürgern. 

    Den Medienmanagern sind Grenzen gesetzt 

    Am 30. November behauptete der Chef des staatlichen Rundfunkunternehmens Belteleradiokompanija, Iwan Eismont, das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Medien nehme zu. Die Zahlen, die er nannte, verdienen im Prinzip nicht mehr Vertrauen als jeder andere Propagandainhalt, dennoch haben sie Unterhaltungswert. 

    „Diesen Daten der Soziologen zufolge vertrauen bereits mehr als 50 Prozent der Bevölkerung den staatlichen Medien. Ich ziehe diese gut 50 Prozent nicht in Zweifel, weil wir das schwarz auf weiß auf feindlich gesinnten Plattformen sehen, wir sehen über die letzten Jahre ein großes Vertrauenswachstum“, sagte der Beamte. 

    Damit bestätigt er zumindest zwei Dinge: Erstens gibt er zu, dass bis vor Kurzem die Belarussen den offiziellen Medien nicht vertrauten. Zweitens erklärte er faktisch, dass nach vier Jahren vernichtender Repressionen, trotz Zerschlagung und Verboten, die unabhängigen Medien weiterhin gefragt sind und einen ernsthaften Einfluss auf die öffentliche Meinung in Belarus haben. Wäre es auch nur geringfügig anders, hätte Eismont bereitwillig 70 oder 80 Prozent Unterstützung vermeldet. Man kann es ja doch nicht überprüfen. Aber aus irgendeinem Grund spricht er von „gut die Hälfte”.  

    Aus dieser Perspektive stellt sich die Lage der Medienbranche überhaupt nicht kritisch dar. Eine andere Sache ist, dass es für die unabhängigen Journalisten in ihrer fragilen Lage immer schwieriger wird, mit der privilegierten Staatspropaganda zu konkurrieren. „Die belarussische Medienbranche erlebt eine kritische Zeit und bedarf infrastruktureller Veränderungen, neuer Herangehensweisen und Ressourcen zur Solidarisierung der Berufsgemeinschaften, technologischer und finanzieller Unterstützung“, heißt es in der erwähnten Studie des BAJ. Von so weit unten ist es schwer, positiv in die Zukunft zu blicken.  

    Der Vorsitzende des BAJ, Andrej Bastunez, sagte bei der Präsentation der Studie auf eine Frage von Pozirk, derzeit könne in Bezug auf den belarussischen Journalismus im Exil niemand Prognosen anstellen. Mit Verweis auf Experten meinte er, dass 2025 die Situation etwa auf dem heutigen Niveau bleiben werde, dabei aber eine Kürzung der Mittel um zehn Prozent möglich sei. „Was dann im Jahr 2026 sein wird, weiß man nicht“, sagte Bastunez. 

    Der stellvertretende Vorsitzende des BAJ, Boris Gorezki (belaruss. Barys Harecki), findet Zukunftsprognosen über die unabhängigen Medien ebenfalls schwierig: „Ausgehend von den vorliegenden Daten ist die Prognose unerfreulich. Die Probleme sind groß und bislang gibt es, sagen wir mal, keinen Grund zu der Annahme, dass da plötzlich irgendein Faktor ins Spiel kommt, der das Ruder herumreißt. Positiv betrachtet kann man sagen, dass es immerhin Medienorganisationen wie den BAJ gibt, die diese Probleme wahrnehmen. Und die Programme, die wir aufbauen, setzen direkt bei diesen Problemen an“, unterstrich der Medienmanager.

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  • Das zynische Spiel mit der Migration

    Das zynische Spiel mit der Migration

    Die Lage an der östlichen EU-Grenze ist nach wie vor angespannt. Das Lukaschenko-Regime hatte Mitte 2021 künstlich eine Migrationskrise herbeigeführt. Als Reaktion auf die scharfen Sanktionen, die die EU verhängte, nachdem Minsk eine Ryan Air-Maschine zur Landung in Belarus genötigt hatte, um den Blogger und Aktivisten Roman Protassewitsch festnehmen zu können. Bis heute versuchen Menschen aus Syrien, Afghanistan, aber auch aus Mali, nach Polen oder Litauen zu gelangen. Dabei kommt es immer wieder zu Gewalt, zu sogenannten Pushbacks und zu Toten. Viele verschwinden in den Grenzwäldern.  

    Warum nutzt das Regime in Belarus bis heute Flüchtlinge als politisches Druckmittel? Welche Rolle spielt Russland dabei? Warum hat die EU wenig Interesse, mit Lukaschenko darüber zu verhandeln? Eine Analyse von Waleri Karbalewitsch für das Online-Portal Pozirk

    Polen baut seit Sommer 2021 einen Zaun an der Grenze zu Belarus, um den Zustrom von Migranten zu stoppen / Foto © IMAGO / NurPhoto
    Polen baut seit Sommer 2021 einen Zaun an der Grenze zu Belarus, um den Zustrom von Migranten zu stoppen / Foto © IMAGO / NurPhoto

    Am 2. September kündigte der belarussische Außenminister Maxim Ryshenkow für November eine internationale Konferenz in Minsk an, die sich mit der Bekämpfung der illegalen Migration in der Region beschäftigen sollte. Eingeladen seien „alle Interessierten, inklusive der Nachbarländer, anderer Staaten der EU und der GUS“. Ferner sagte der Minister: „Wir hoffen auf die Teilnahme aller, die an einer Normalisierung der Situation an der Grenze interessiert sind.“ 

    Am 15. November war es so weit. Allerdings: Von westlicher Seite waren nur ein Mitarbeiter der britischen Botschaft sowie der ungarische Botschafter vertreten. Das Problem der illegalen Migration an der Grenze zwischen Belarus und den EU-Staaten ohne Beteiligung der europäischen Nachbarn zu diskutieren, kommt einem Scheitern der Ausgangsidee gleich. 

    Mit vorgespielter Empörung beschuldigt die belarussische Führung nun die westlichen Partner. Dabei hat sie das Problem selbst geschaffen – und sich einen so fragwürdigen Ruf erarbeitet, dass niemand mehr etwas mit ihr zu tun haben will.  

    Die Migrationskrise wurde vom belarussischen Regime künstlich herbeigeführt 

    Zur Erinnerung: Bis 2021 gab es keinerlei Probleme mit illegaler Migration an der Grenze zwischen Belarus und Polen, Litauen und Lettland. Die Migrationskrise wurde vom belarussischen Regime künstlich herbeigeführt. Lukaschenko hat viele Male öffentlich erklärt, er habe als Reaktion auf das feindliche Verhalten des Westens befohlen, Migranten aus dem globalen Süden nicht mehr daran zu hindern, die Grenzen zur EU zu überqueren. 

    Dabei ist unberechtigter Grenzübertritt in jedem Land eine Straftat. Migranten, die zum Beispiel die Grenze zu Polen überqueren, verletzen zwangsläufig zuerst die belarussische Grenze. Wenn die belarussischen Grenzbeamten die Rechtsbrecher nicht aufhalten, dann erfüllen sie ihre Funktion als Grenzschützer nicht. Mehr noch, sie verstoßen selbst gegen das Gesetz, indem sie die Straftat nicht unterbinden. 

    Der Schutz der Staatsgrenze gehört zu den grundlegenden Aufgaben eines Staates. Wenn die Machthaber sich weigern, sie zu erfüllen, zeugt das von einer unzulänglichen Staatsregierung. Der Angriff auf die EU-Außengrenzen mithilfe von Migranten stellt eine Art Spezialoperation gegen die Nachbarn dar. Das offizielle Minsk setzte sich ein Minimal- und ein Maximalziel. Ersteres bestand darin, sich an Europa, allen voran an den angrenzenden Staaten, für ihre Haltung zur innenpolitischen Krise in Belarus zu rächen. Die zweite, maximale Zielsetzung bestand darin, die EU zu Verhandlungen zu zwingen, deren Bedingungen der belarussische Machthaber diktieren wollte. Die Beteiligung der belarussischen Sicherheitskräfte an der Spezialoperation ist reichlich dokumentiert. 

    Es gab Situationen, da liefen Migranten in Kolonnen von mehreren tausend Menschen durch das Grenzgebiet, direkt auf der Fahrbahn, sammelten sich dann an der Grenze und versuchten, sie zu stürmen. Ohne Unterstützung von staatlichen Strukturen wäre das undenkbar gewesen. Selbst Innenminister Iwan Kubrakow räumte ein: „Wir gewährleisten die Absicherung, begleiten die Migranten bei ihren Streifzügen.“  

    Der Transfer der Migranten nach Belarus war bewusst auf Fließband gestellt worden. Nach EU-Informationen landeten im November 2021 wöchentlich mindestens 47 Flugzeuge aus den Staaten des Nahen Ostens in Minsk. Am 26. November des Jahres besuchte Lukaschenko das Transport- und Logistikzentrum nahe des Grenzübergangs Brusgi, wo temporär Migranten untergebracht wurden, um ihnen Geleit zu geben. Auf der improvisierten Kundgebung sagte der Machthaber: „Wenn ihr in den Westen wollt, werden wir euch weder einkesseln noch fangen oder schlagen. Es steht euch frei. Wenn ihr durchkommt, dann geht nur.“ 

    Als Motivation fügte Lukaschenko hinzu, täglich würden es bis zu 200 Menschen erfolgreich über die Grenze schaffen. Er sagte auch, dass Belarus 12,6 Millionen US-Dollar in die Unterstützung der Migranten stecken würde, und rief sie dazu auf, der Regierung jeglichen Hilfsbedarf zu melden. 

    Das Ausmaß der Krise hat sich verringert, aber … 

    In den vergangenen drei Jahren haben sich bezüglich der Situation an der Grenze zwischen Belarus und Polen, Litauen und Lettland einige Veränderungen ergeben. Der Zustrom an Migranten und die Zahl der Durchbruchsversuche im Grenzgebiet haben abgenommen. Heute kommen die Menschen nicht mehr direkt aus dem Nahen Osten nach Belarus, sondern über Russland, die meisten von ihnen haben russische Visa. Die Beteiligung Moskaus am hybriden Krieg gegen Europa mithilfe von illegaler Migration steht außer Zweifel. Etwa dasselbe Muster von Durchbrüchen wurde an der russisch-finnischen Grenze organisiert, nachdem Finnland der NATO beigetreten war. 

    Lukaschenko machte in den letzten Monaten widersprüchliche Aussagen. Einerseits ordnete er an, den Kampf gegen illegale Migranten zu verstärken. Die Silowiki ergriffen tatsächlich einige Maßnahmen, um den illegalen Aufenthalt von Migranten auf belarussischem Boden zu unterbinden. Auf der jüngsten Konferenz verkündete Ryshenkow: „Niemand kann Belarus heute vorwerfen, wir würden nichts tun. Wir tun sehr viel: unzählige Fluchtrouten wurden abgeschnitten, unzählige illegale Migranten wurden aufgegriffen.“ 

    Aber wenn die Machthaber viel tun und die Migranten trotzdem weiterhin unerlaubt die Grenze überqueren, bedeutet das, dass das Regime die Situation im Land nicht unter Kontrolle hat. Gleichzeitig erklärte Lukaschenko abermals, dass er die illegalen Migranten nicht vom Grenzübertritt in die EU abzuhalten gedenke, da Europa gegenüber Belarus eine feindliche Politik verfolge und weiterhin auf Sanktionen bestehe.  

    Das Problem bleibt akut 

    Warum ignorierten nicht nur Politiker, sondern auch Diplomaten der EU-Staaten, nicht zuletzt der direkten Nachbarländer von Belarus, die Konferenz zur Bewältigung der illegalen Migration? Ergänzend sei erwähnt, dass auch an der Eurasischen Sicherheitskonferenz, die am 31. Oktober in Minsk stattfand, keine offiziellen Vertreter der EU (außer Ungarn) teilnahmen. Auch auf die Freilassung eines Teils der politischen Gefangenen in den letzten Monaten reagierte der Westen verhalten. Doch das ist ein humanitäres Thema, es geht um Menschenrechte und betrifft die Interessen der Nachbarstaaten nicht unmittelbar. 

    Die Migranten, die über belarussisches Territorium in die EU kommen, sind hingegen ein schmerzhaftes Problem nicht nur in Polen, Lettland und Litauen, sondern auch in Deutschland. Innerhalb der Staaten haben sie heftige politische Auseinandersetzungen ausgelöst. Zur Eindämmung der illegalen Migration wird viel unternommen, bedeutende Ressourcen werden aufgebracht. An der Grenze werden Schutzzäune errichtet, den Grenztruppen werden Armeeeinheiten an die Seite gestellt, um die Migranten aufzuhalten. Von allen Problemen, die die Beziehungen zwischen Belarus und dem Westen heute belasten, ist die illegale Migration das akuteste. 

    Wenn also die belarussischen Machthaber die Nachbarn nach Minsk einladen, um die Bewältigung der Migrationskrise in der Region zu besprechen, wäre es vor diesem Hintergrund nicht angebracht, zu kommen? Aber nicht einmal die in Minsk vertretenen europäischen Diplomaten nahmen teil. Ryshenkow ließ beleidigt verlauten: „Leider hört man uns nicht an. Manch einer, der im Westen in dieser Richtung arbeitet, will uns gar nicht hören. Wir sind bereit, das Problem grundlegend zu analysieren, Lösungswege zu finden und gemeinsam zu handeln.“ 

    Minsk traut man nicht 

    Warum hört man also nicht zu? Vor allem, weil es im Westen ernsthafte Bedenken bezüglich der Handlungsfähigkeit des belarussischen Staates gibt. Man ist nicht überzeugt, dass Lukaschenko wichtige politische Entscheidungen wirklich eigenständig treffen kann. Entscheidet nicht doch Wladimir Putin alles? Welchen Sinn hat es dann, etwas mit Minsk zu besprechen? 

    Der Angriff auf die EU-Außengrenzen mithilfe von Migranten ist allem Anschein nach ein gemeinsames belarussisch-russisches Projekt, auch wenn die Rolle des Kreml in dieser Spezialoperation nicht wirklich klar ist. Ohne die Zustimmung Moskaus kann Minsk in dieser Sache jedenfalls kaum etwas ändern. Vor allem jedoch glauben die westlichen Nachbarn nicht an die Aufrichtigkeit des offiziellen Minsk und unterstellen ihm Heuchelei. Wenn die belarussischen Machthaber die Migrationskrise künstlich generiert haben, dann sollte es auch in ihrer Macht liegen, sie zu beenden. Es genügt eine Entscheidung Lukaschenkos, um die Grenzkontrollen wiedereinzurichten und alle Fragen obsolet zu machen. Dafür sind weder Konferenzen noch Gespräche auf höchster Ebene nötig. Der belarussische Staat müsste einfach nur seine Grenzschutzfunktion wieder wahrnehmen. 

    Dass sich die EU weigert, selbst ein akutes Problem mit Minsk zu besprechen, ist ein wichtiges Signal. Es zeugt davon, dass es in der Beziehung zwischen dem belarussischen Regime und der Europäischen Union heute eine Mauer, einen eisernen Vorhang gibt. Lukaschenkos Träume und Hoffnungen, dass eine neue Seite aufgeschlagen wird, es einen Neustart gibt, dass er anerkannt und in die Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine einbezogen wird, fallen im Westen auf keinen fruchtbaren Boden. 

    Das Außenministerium springt auf den Propagandazug auf 

    Im Grunde bestätigt bereits der Verlauf der Konferenz die Zweifel hinsichtlich der wahren Interessen des offiziellen Minsk in der Frage der illegalen Migration. Die Aussagen des Außenministers und anderer belarussischer Amtsträger bestätigen die Vermutung, dass es sich um eine reine Propagandaveranstaltung handelte. Die Staatsdiener leugneten jede Beteiligung der Staatsmacht an den Angriffen auf die Grenze, während sie im gleichen Atemzug den Westen aller Todsünden beschuldigten. 

    Innerhalb kürzester Zeit haben in Minsk also zwei internationale Konferenzen stattgefunden, zur eurasischen Sicherheit und zur Bewältigung der Migrationskrise. Und bei beiden handelte es sich um reine Propagandaveranstaltungen. Es gab weder neue Ideen noch Vorschläge. Das Ministerium für auswärtige Angelegenheiten verwandelt sich immer mehr in ein Amt für außenpolitische Propaganda. Wenn der neue Außenamtschef die Aufgabe bekommen hat, die Beziehungen zum Westen aufzutauen, dann ist er bislang krachend gescheitert. Dafür wird die antiwestliche Propaganda immer aggressiver. 

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    „Die Zensur der Kultur ist mittelalterlich”

    Musiker und Künstler, Schriftsteller und Theatermacher waren wesentlich an den Protesten von 2020 in Belarus beteiligt. Viele Kulturschaffende mussten im Zuge der Repressionen das Land verlassen, andere wurden zu vielen Jahren Gefängnis verurteilt. Im Exil hat sich mittlerweile eine lebendige Kulturszene gebildet. Aber wie schafft es die Kultur im Land, unter immer drastischeren Zensurmaßnahmen zu überleben? 

    Sjarhei Budkin kennt sich in der belarussischen Kulturlandschaft bestens aus, er hat viele Jahre als Musikjournalist gearbeitet. Im Exil hat er die Organisation Belarusian Council for Culture mitgegründet, die sich für belarussische Kulturschaffende einsetzt. Mit ihm hat das Online-Medium Pozirk gesprochen.  

    Pozirk: Was für Musik kann man heute in Belarus gefahrlos machen? Geht auch etwas jenseits von Ideologie und Propaganda, oder nur der Stil von Lukaschenkos Schwiegertochter Anna Seluk? 

    Sjarhei Budkin: Es mag so aussehen, als würden in Belarus keine Songs, keine Theaterstücke, keine Gedichte geschrieben, aber so ist es nicht. Trotz allem gibt es selbst unter den aktuellen Rahmenbedingungen Inspiration und Reflexion, das kann man den Menschen nicht wegnehmen, nicht verbieten, nicht verschließen. 

    Eine andere Frage ist, wie all das an die Öffentlichkeit gelangen kann. Hier entstehen aus der Situation heraus unterschiedliche Formen und Formate der kreativen Existenz. So gibt es Wohnungskonzerte (kwartirniki) und Underground-Releases, aber auch Sachen, die vorerst in der Schublade liegen und nirgendwo zu sehen sind. Grundsätzlich kann man sagen, dass das kulturelle Leben in Belarus weitergeht und teilweise sogar sichtbar wird (wer suchet, der findet). Es gibt Live-Konzerte, es gibt richtige Alben, es gibt Events, die Musik und Literatur oder Musik und Film verbinden.  

     
    „Er ist der einzig Wahre auf der ganzen Welt” – ein Propaganda-Schlager, für den Anna Seluk den Text geschrieben hat. 

    Pozirk: Wie schätzen Sie die Situation der Kulturschaffenden ein – derjenigen, die in Belarus geblieben sind und abseits der Öffentlichkeit agieren, und derjenigen, die jetzt im Exil arbeiten? 

    Sjarhej Budkin: Ich bin dafür, zwischen Kreativen keine Trennlinien nach geografischen Gesichtspunkten zu ziehen, da wir ja die Prozesse im belarussischen Kulturbereich im Ganzen betrachten wollen. Diejenigen, die in Belarus geblieben sind, sind einfach anderen Existenzbedingungen ausgesetzt als die, die das Land verlassen haben. 

    Natürlich bedeutet es für alle eine Umorientierung, eine Selbstfindung unter neuen Bedingungen. Es ist fraglich, ob man den Beruf weiter ausüben kann. Die im Ausland sind mit Konkurrenz und Integrationsproblemen konfrontiert. Darauf waren viele nicht vorbereitet. Wir sind jetzt in einer Situation, in der wir uns in unserem Bereich faktisch von Neuem behaupten müssen, unser soziales Kapital ist auf null gesetzt. Gestern hast du noch in einer großen Halle gespielt, konntest in jeder beliebigen Stadt einen Saal füllen, heute spielst du in einer Bar vor fünf Leuten. Das ist sehr traurig, aber gleichzeitig ist man eben gezwungen, neue Formate zu suchen, sowohl in als auch außerhalb von Belarus.  

    Dass die belarussische Kultur auf ein völlig anderes Level zurückgeworfen wurde, steht außer Frage 

    Außerhalb des Landes reden wir da in erster Linie von Kooperationen: Leute aus denselben Bereichen lernen sich durch diese Umstände erst kennen. Wichtig ist, dass Belarussen aus dem In- und Ausland in gemeinsamen Projekten zusammenkommen. Die Ergebnisse werden wir erst mit einigem Abstand vollständig erfassen: Eine gewisse Zeit wird vergehen müssen, bis wir das genauer verstehen.  

    Aber dass die belarussische Kultur auf ein völlig anderes Level zurückgeworfen wurde, steht außer Frage. Ich bin da Optimist und sage, immerhin nicht um Jahrzehnte zurück, auch wenn die Zustände im Bereich der Zensur sicher mittelalterlich sind. 

    Man kann das alles zum Anlass nehmen, die aktuelle Zeit bestmöglich zu nutzen. Es entstehen neue Kontakte, verschiedenste Institutionen, Kraftzentren. Ich hoffe auf ein Institut zur Förderung der belarussischen Musik. Es gibt schon die unabhängige Filmakademie, das Buch-Institut, das Theater-Institut. Positiv betrachtet geschehen also recht interessante Dinge, von denen unsere gesamte Kultur profitieren wird. Aber ich würde noch keine Schlüsse ziehen, das steht alles noch in den Sternen. 

    Wie sieht aktuell die Zensur in Belarus aus? Gibt es noch die offiziellen „schwarzen Listen“? 

    Ich verfolge dieses Thema seit fast 30 Jahren. Als Veranstalter war ich mehrfach damit konfrontiert, aber offiziell wird niemand die Existenz solcher Listen bestätigen. Wenn es sie wirklich gibt, dann sind sie eher Empfehlungen. Niemand will seine Unterschrift daruntersetzen und sie damit legalisieren, da alle wissen, dass das auf jeden Fall ein Verstoß gegen die Verfassung und (auf lange Sicht) ein gesicherter Platz in der Geschichte der Zensur wäre. Aber trotzdem gab es diese Listen immer, und es gibt sie eben auch unter dem aktuellen Regime. Die Frage ist, durch wie viele Filter sie momentan laufen.  

    Es gibt Selbstzensur vonseiten der Veranstalter: Sie haben ja schon Erfahrungen, wer eine Tournee genehmigt bekommt und wer nicht. Es gibt Zensur direkt bei den Künstlern, die selbst wissen, ob sie mit ihrem Werk, ihrem Theaterstück oder ihrem Konzert an die Öffentlichkeit treten können. Und es gibt die unmittelbare ideologische Zensur, die sich auf mehrere Ebenen aufsplitten lässt. 

    Es gibt noch eine zusätzliche Zensur, ein relativ neues Phänomen, auch wenn es schon früher manchmal vorkam: Wenn nämlich der Veranstalter zwar alle genannten Zensurebenen durchlaufen hat, aber trotzdem eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass während der Präsentation, wenige Minuten vorher oder am nächsten Tag alles abgesagt oder einer noch stärkeren Zensur unterworfen wird. Es gibt absolut keine Spielregeln mehr. Als ich noch aktiv Konzerte veranstaltete, kannte ich wenigstens die Regeln. Ich wusste, wen man auf die Bühne lassen konnte und wen nicht. Aber jetzt gibt es keine Regeln mehr, oder sie ändern sich sehr schnell und man behält sie kaum im Blick. Im Vergleich zu früher also nichts Neues, nur brutaler und chaotischer. 

    Sjarhej Budkin leitet die Exil-Organisation Belarusian Council for Culture / Foto © privat 

    Auch ausländische Künstler sind wegen der Sanktionen der Zensur ausgesetzt. Dadurch sind russische Popstars, die oft den Krieg unterstützen und nicht gerade den hochwertigsten Content liefern, das Einzige, was sich die Belarussen kulturell erlauben können. Die Kunst- und Kulturszene ist also ausschließlich russisch. Kann das negative Auswirkungen auf den Geschmack der Leute haben?  

    Dazu reicht ein Blick auf die Webseite kvitki.by [kvitki = Tickets], dort sieht man deutlich, was in der Unterhaltungsindustrie und im Konzertsektor los ist. Schon 2021, als noch ausländische und russische Künstler nach Belarus kamen, die zu den Regimen von Putin und Lukaschenko eine klare Position vertraten, gab es darüber Diskussionen. Einerseits kann man Künstler, die nach Belarus kommen, als Unterstützer des Regimes betrachten. Andererseits können Künstler, die den „Geist der Freiheit“ in sich tragen, die Belarussen damit aufladen, denn es gibt unvorstellbar viele Belarussen, die diese Ideale teilen – demokratische Werte und dergleichen.  

    Es gibt in dieser Frage also keine eindeutige Antwort. Historisch betrachtet, können wir den Rolling Stones vorhalten, dass sie 1967 ein Konzert im kommunistischen Warschau gaben? War das ein Zeugnis ihrer Unterstützung des Imperiums, waren sie deshalb Stalinisten, Befürworter des Kommunismus? Man kann das ziemlich manipulativ in alle Richtungen deuten. Aber zweifellos wissen alle Künstler, die sich gegen den Krieg ausgesprochen haben, dass ihnen damit der Weg nach Belarus versperrt ist. 

    Was das belarussische Publikum angeht, wer Geschmack hat, versucht ihn beizubehalten. Wer keinen Geschmack hat, dem ist sowieso nicht zu helfen, der sieht sich nicht mal gratis etwas an, das Niveau hat. Schwieriges Thema … Den Menschen in Belarus fehlen sicherlich Live-Events, das kann man durch Online-Übertragungen nicht so einfach ersetzen. Deshalb müssen Bildungsprogramme und Netzwerke ausgebaut werden, um für Belarussen Möglichkeiten zu schaffen, wenigstens für kurze Zeit aus dem Land zu kommen, frische Luft zu atmen, Inspiration zu bekommen und dann motivierter an die Arbeit zu gehen. 

    Wie beurteilen Sie die Situation der Kreativen im Exil? Welche Tendenzen sehen Sie? 

    Das müsste man jährlich abfragen und auswerten, weil sich die Situation stetig verändert. Was wir im Verlauf der letzten drei Jahre beobachten konnten: 2021 mussten wir die völlige Zerschlagung des Kultursektors mitansehen, die Zerstörung des Nationaltheaters, den Stopp jeglicher schöpferischer Arbeit, die Auflösung von Kulturvereinen. Aber ein, zwei Jahre später lebten die Belarussen an neuen Orten im Ausland wieder auf. Der Sektor hat sich selbst regeneriert, und 2023 gab es schon etwa 200 neue Kulturorganisationen, gegründet von Belarussen im In- und Ausland. 

    Kultur entsteht nicht aus Direktiven, sondern aus dem Herzen 

    Vereine, die aufgelöst wurden, gingen ins Ausland und gründeten sich dort was Neues. Dafür gibt es viele Beispiele. Wer geblieben ist, hat andere Formen der Existenz gefunden. Diese Fähigkeit, aus eigener Kraft wieder auf die Beine zu kommen, ist typisch für unsere Leute und etwas sehr Inspirierendes. In Polen wurden ganze Marken neu oder wiedererschaffen – Verlage oder Festivals. Es gibt fünf große Festivals, die nicht nur auf Belarussen ausgerichtet sind, sondern die Begegnung zwischen Polen und Belarussen fördern. Die Theaterszene haben die Kupalaucy im Griff, auch wenn der Abstieg vom Nationaltheater zu so einem Provisorium nicht so leicht ist.  

    Diese Beobachtungen zeigen: So sehr man auch vergiftet, planiert, verbietet, vernichtet – es wächst doch wieder nach, was Lebendiges. Kultur entsteht nicht aus Direktiven, sondern aus dem Herzen. Solange die Menschen dafür kämpfen, ihren Beruf auszuüben, sich auszudrücken, irgendwie Wege zur Selbstverwirklichung zu finden – solange werden wir viele interessante und herausragende Projekte erleben, die es ohne die Ereignisse von 2020 vielleicht nie gegeben hätte. 

    Ihre Prognose ist also positiv? 

    Ich versuche, bei dieser positiven Sicht zu bleiben, obwohl die Kehrseite all dessen vermutlich Armut ist. Die Menschen sind in alle Welt verstreut, sie sind unvorbereitet, stehen vor Fragen der Legalisierung, der Wohnungssuche, all das hinterlässt Spuren. Aber ich bemühe mich, optimistisch zu bleiben, und letztlich beweisen viele Menschen tatkräftig, dass man auch ohne Staat und große Unterstützung, für Geld, für das andere nicht mal vom Stuhl aufstehen, Großartiges leisten kann.  

    Was wird aus der Kulturszene in Belarus, wenn das Regime an der Macht bleibt? 

    Wir haben Polen als Beispiel vor Augen: Das Land besaß mehr als 150 Jahre keine Eigenstaatlichkeit, aber die Menschen konnten Kultur und Sprache bewahren. Bei uns sind gerade mal vier Jahre vergangen, das ist im Vergleich gar nicht so schlimm. Alles hängt von jedem Einzelnen ab. Jeder kann individuell einen Beitrag leisten, um die Kultur zu bewahren und sie weiterzugeben, indem er zum Beispiel seinen Kindern belarussische Lieder vorsingt oder belarussische Bücher und Alben kauft, die es ja nach wie vor gibt. 

    Was macht einen belarussischen Künstler heute aus, wie gestaltet sich sein Schaffen? 

    Für mich gibt es ungefähr drei Kategorien von Künstlern. Die erste Kategorie arbeitet ausschließlich für ein Publikum, das sich im Ausland, im Umfeld der Diaspora gebildet hat, und das reicht ihnen, sie wollen nicht mehr. 

    Die zweite Kategorie betrachtet das belarussische Publikum als Fundament und versucht, es um russisch-, ukrainisch- oder auch polnischsprachiges Publikum zu erweitern. Sie bemühen sich, in diesen Sprachen Lieder zu schreiben oder mit Künstlern aus diesen Ländern zu kooperieren. Die dritte Kategorie arbeitet ausschließlich für den westlichen Markt und positioniert sich nicht als belarussische Künstler, sie haben ein breiteres Publikum. Jeder dieser drei Wege ist sinnvoll.  

     
    Der Song Ja wychashu von Alexander Pomidoroff in Erinnerung der Proteste von 2020. 

    Als der Musiker Alexander Pomidoroff kürzlich erkrankte, musste er seine Landsleute um Unterstützung bitten. Wie machen die belarussischen Künstler ihre Kunst heute zu Geld (über Konzerte hinaus)?  

    Wer Musik macht, die gehört wird und durch die Verwertung entsprechend vergütet wird, hat finanzielle Erträge. Die Anzahl der Wiedergaben kann man auf Plattformen wie Spotify einsehen, das bildet den kommerziellen Erfolg ab. Konzerteinnahmen sind nur für wenige Künstler eine zentrale Einnahmequelle, zum Beispiel Max Korzh oder Molchat Doma.  

    Nebeneinkünfte sind keine Seltenheit. Das ist so gut wie überall in Europa so. Es gibt immer kommerziell erfolgreiche Künstler und es gibt einen Underground, der nicht von seinem Schaffen leben kann oder nur sehr bescheiden, wenn das eine bewusste Haltung ist. Die meisten Künstler, Musiker und Regisseure gehen der Kunst parallel zu einer Hauptarbeit nach. Daran ist nichts Ungewöhnliches, nicht alle können ausschließlich von ihrer kreativen Tätigkeit leben. 


     

    Pozirk-Hintergrundinformationen: 

    Nach Angaben des Belarussischen PEN befanden sich am 31.10.2024 mindestens 168 Kulturschaffende aus politischen Gründen in Haft.  

    Die Staatsführung versucht, „feindliche“ Künstler aus den Medien zu entfernen: Im September wurden beispielsweise auf Antrag der Staatsanwaltschaft der Oblast Homel alle Titel von Tor Band aus der App Yandex Music entfernt. 2022 waren die Songs der Band zu „extremistischem Material“ erklärt worden.   

    Am 31. Oktober 2023 verurteilte das Gebietsgericht Homel den Sänger und Gitarristen von Tor Band, Dmitri Golowatsch, zu neun Jahren Freiheitsentzug unter verschärften Bedingungen, den Drummer Jewgeni Burlo zu acht Jahren und den Bassisten Andrej Jaremtschik zu siebeneinhalb Jahren. 

    Vorher wurden bereits Litesound (Teilnehmende des Eurovision Song Contest 2012), Krumkač, Irdorath und andere Bands politisch verfolgt. 

    Im Jahr 2023 wurden 605 Kulturschaffende aufgrund von 1097 angeblichen Gesetzesverstößen rechtlich belangt. 

    Am 13. Oktober 2024 äußerte Kulturminister Anatoli Markewitsch, der im November 2020 ohne einschlägige Berufserfahrung ins Amt berufen worden war, die „destruktiven Elemente“ im Kulturbereich seien nun „ausgemerzt“. „Wir alle sind heute Kämpfer an der Kulturfront, mobilisiert für den geistigen Kampf um Belarus. Die Zeit hat uns erwählt. Vom Minister, vom Klubvorsitzenden und von der Leiterin der Dorfbibliothek hängt der Erfolg im Kampf um die Köpfe und Seelen unserer Mitbürger ab“, zitierten staatliche Medien den Minister. „Bereinigt von destruktiven Elementen“ könne die Kulturgemeinschaft, so der Kulturminister, „ihre Kräfte auf die Lösung der wichtigsten Aufgabe konzentrieren – auf die Erziehung würdiger Staatsbürger und Patrioten.“  

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  • Der Herrscher hat es eilig

    Der Herrscher hat es eilig

    Am 26. Januar 2025 sollen Präsidentschaftswahlen in Belarus stattfinden. Oppositionsparteien sind längst verboten, Gegenkandidaten wird es also kaum geben. Nach wie vor werden fast täglich Menschen festgenommen und weggesperrt, öffentlicher Widerstand und Protest sind de facto unmöglich. Es wird also keine Wahl sein, sondern die Inszenierung einer Wahl, bei der sich Alexander Lukaschenko abermals zum Sieger küren wird. Dennoch sind solche Ereignisse Stresstests für autoritäre Systeme.  

    Der Journalist Alexander Klaskowski erklärt in seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk, warum es die Machthaber eilig haben, die Wahlshow über die Bühne zu bringen.  

    Am 9. Oktober 2024 wurde Alexander Lukaschenko von Wladimir Putin in Moskau mit dem Andreas-Orden ausgezeichnet / Foto © president.gov.by
    Am 9. Oktober 2024 wurde Alexander Lukaschenko von Wladimir Putin in Moskau mit dem Andreas-Orden ausgezeichnet / Foto © president.gov.by

    Das war ganz bestimmt keine spontane Entscheidung. Man konnte sehen, dass der Herrscher seine Wahlkampagne bereits begonnen hatte. Indem er etwa die lokalen Erntefeste abklapperte, die Dаshynki, bei denen er die Dorfleute mit Lob überschüttete und ihnen alle möglichen Versprechungen machte. Auch die so schwierige Gruppe der Jugend hatte er im Blick: Er trat vor Studenten in Witebsk und Minsk auf. Gleichzeitig ging die groß angelegte Propagandashow Marathon der Einheit an den Start. 

    Zuvor hatte BYPOL, eine Initiative ehemaliger Silowiki, unter Berufung auf Insiderinformationen berichtet, dass die Wahlen für den 23. Februar angesetzt seien. Das mag zwar der Fall gewesen sein, aber „um seine Feinde zu ärgern“ beschloss Lukaschenko, den Termin auf Januar vorzuverlegen. Obwohl seine Amtszeit erst am 20. Juli 2025 abläuft. Der Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission Igor Karpenko erklärte diese „Phasenverschiebung“ auf der jüngsten Sitzung des Repräsentantenhauses damit, dass es für den Präsidenten einfacher sei, die neue fünfjährige Amtszeit zu planen, wenn er schon am Jahresanfang gewählt werde. 

    Das klingt ganz schön an den Haaren herbeigezogen. Ja, vielleicht wenn die Wahlen echte Wahlen wären und jemand Neues mit neuen Ideen an die Macht käme. Aber de facto geht es bloß darum, eine weitere Amtszeit für den alten Herrscher abzusegnen. Genauso bemüht klang auch Karpenkos Erklärung, die Präsidentschaftswahlen hätten ja auch 2006 schon einige Monate früher stattgefunden. „Die Praxis, Wahlen vor Ablauf der Amtszeit des Präsidenten abzuhalten, gibt es in etlichen Ländern, zum Beispiel in Kirgisistan, Usbekistan …“, führte er weiter aus. Klar, so wird es sein, Lukaschenko wird sich das in Kirgistan abgeschaut haben. 

    Dass die Wahlen 2006 vorgezogen wurden, war immerhin nachvollziehbar. Damals konnte sich die Opposition auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen, Aljaxandar Milinkewitsch, dessen Umfragewerte rasant stiegen. Deswegen wollte das Regime seine Kampagne unterminieren und die Konkurrenz im Keim ersticken. Aus heutiger Sicht wirken diese Zeiten wie eine blühende Demokratie. Jetzt sind in Belarus alle Schrauben so fest angezogen, das politische Feld so gründlich gesäubert, dass von einem oppositionellen Kandidaten nicht einmal mehr die Rede sein kann. 

    Also wozu dann die Eile? 

    Trauma des Jahres 2020? 

    Mir scheint, einer der Hauptgründe für Lukaschenkos Vorgehen ist das Trauma des Jahres 2020. Ja, die Opposition ist entweder zerschlagen, eingesperrt oder ins Ausland vertrieben. Aber der Diktator sieht trotzdem überall feindliche Intrigen. So instruierte er Ende September seine Funktionäre: „Glaubt ja nicht, dass wir reinen Tisch gemacht haben, wie manche sagen. Die, die wir erwischen wollten, sind abgehauen. Ist ihr gutes Recht, sollen sie doch. Aber wir müssen wachsam bleiben.“ Also lieber beeilen, bevor die Feinde noch hinterrücks einen Plan aushecken. Lieber noch schnell eine Machtspritze, damit es sich wieder ruhig schlafen lässt. 

    Damit wird formal ein neues Kapitel aufgeschlagen. Die Propaganda wird verkünden: 2020 ist Geschichte! Vielleicht gibt es dann auch einen Hoffnungsschimmer, dass der Westen sich allmählich mit der Realität abfindet, der politischen Emigration weniger Aufmerksamkeit schenkt und Swetlana Tichanowskaja an Bedeutung verliert. 

    Und noch ein Grund für den Termin im Winter: Viele Kommentatoren weisen darauf hin, dass es in der kalten Jahreszeit schwieriger sei zu protestieren. Im kalten März 2006 und im Dezember 2010 waren die Plätze trotzdem voller Menschen. Natürlich gibt es Angenehmeres, als in der Kälte draußen rumzustehen. Aber auch, wenn die Feinde des Regimes überhaupt keine Proteste planen (die Hauptstrategie der demokratischen Kräfte besteht heute darin, die Belarussen aufzufordern, gegen alle zu stimmen) – Vorsicht ist besser als Nachsicht. 

    Überhitzte Wirtschaft?  

    Die Wirtschaft ist im Aufschwung, die Einkommen steigen. Das liegt jedoch in erster Linie an der Konjunktur: daran, dass Wladimir Putin sich die Beihilfe seines Verbündeten im Krieg einiges kosten lässt. Viele belarussische Waren werden von der russischen Militärindustrie nachgefragt und wegen der westlichen Sanktionen teuer gehandelt. Manches spricht jedoch dafür, dass der Krieg relativ schnell zu Ende sein könnte. Zumindest die heiße Phase. Und dann wird diese Konjunktur höchstwahrscheinlich einbrechen. Außerdem werden die Belarussen auf dem russischen Markt von den Chinesen bedrängt. 

    Zweitens behaupten unabhängige Ökonomen, dass in der belarussischen Wirtschaft das Ungleichgewicht zunimmt. Vor allem die drakonischen Preisregulierungen könnten schmerzhafte Folgen haben. Hinter den vorzeitigen Wahlen könnten also auch wirtschaftliche Erwägungen stehen. Denken wir nur mal daran, wie das Land nach den Wahlen im Dezember 2010 von einer Hyperinflation heimgesucht wurde und der Rubel plötzlich nur noch ein Drittel wert war. Damals hatte Lukaschenko seine Wahlernte mit großzügig gedrucktem, aber wertlosem Geld eingefahren. Vielleicht will er das Eisen schmieden, solange es heiß ist, bevor sich die überhitzte Wirtschaft in Rauch auflöst. 

    Die Zeit des Diktators geht so oder so zu Ende 

    Ja, theoretisch wissen wir nicht, ob Lukaschenko überhaupt eine weitere Amtszeit anstrebt. Aber praktisch besteht daran kein Zweifel (es sei denn, es passiert etwas sehr Unerwartetes). Für die Einführung eines theoretischen Nachfolgers reicht die Zeit nicht mehr. Lukaschenko findet für sich auch keinen würdigen Nachfolger. Und er hat Angst, das Zepter abzugeben. 

    Der Kreml hat ihm offenbar seinen Segen für eine neue Amtszeit gegeben und dies symbolisch mit einem Orden illustriert. Moskau hat überhaupt kein Interesse daran, auf der Zielgeraden das Pferd zu wechseln. Für den Fall, dass Friedensgespräche über die Ukraine geführt werden sollten, säße der belarussische Herrscher außerdem gern mit einer frischen Krone am Tisch.  

    Gleichzeitig sind Kriege eine ziemlich unberechenbare Angelegenheit. Lukaschenko mag denken: Wer weiß schon, was diese Ukrainer im Schilde führen. Gestern sind sie in die Region Kursk einmarschiert, morgen greifen sie vielleicht die Ölraffinerie von Mozyr an – und so weiter und so fort. Dann kann man die Wahlen vergessen. 

    Und da ist noch etwas: Gerade hat das gemeinsame Gremium der Verteidigungsministerien von Russland und Belarus in Minsk eine strategische Übung namens Sapad-2025 (dt. Westen-2025) beschlossen. Was dahintersteckt, können wir nur vermuten. Erinnern wir uns: Im Februar 2022 waren die russischen Truppen unter genauso einem Vorwand gemeinsamer Manöver nach Belarus versetzt worden, um Kyjiw anzugreifen. Was, wenn Moskau das wiederholen will? Eine solche Aussicht ist für einen Wahlkampf ebenfalls wenig förderlich. Kurzum, es ist auch der Nebel des Krieges, der Lukaschenko dazu drängt, die Wahlen vorzuverlegen. 

    Und zu guter Letzt wissen wir nicht, wie es um seine Gesundheit wirklich steht. Klar ist nur: Er wird nicht jünger. Vielleicht ist das ebenfalls ein Faktor. Der Gedanke, dass die Zeit des Diktators auf die eine oder andere Weise sowieso zu Ende geht, wärmt die Herzen seiner politischen Gegner. Denn während Lukaschenko für die Konservierung des bestehenden Systems steht, gibt es nach ihm zumindest eine Chance auf Veränderung. 

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  • Zurück in die Zukunft

    Zurück in die Zukunft

    „Im heutigen Belarus fungiert die Geschichte als eines der wichtigsten Elemente der Staatsideologie”, sagt Waleri Karbalewitsch. In seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk zeigt der Politikwissenschaftler, wie das Lukaschenko-Regime historische Narrative einsetzt und umdeutet, um zusätzlich zu einer neuen Wirklichkeit eine eigene Erinnerungskultur zu formen. 

    Lukaschenkos Vision der belarussischen Geschichte, versinnbildlicht im neuen Nationalen Historischen Museum / Collage dekoder, Architekturentwurf © belta.by, Foto © Sergei Savostyanov/ Itar Tass/ Imago 

    Bei einem Besuch im Agrogorodok Parochonsk (Rajon Pinsk) kam Alexander Lukaschenko am 4. Oktober plötzlich auf das Thema Geschichte zu sprechen. Dabei überhöhte er die Bedeutung der Geschichte ins Unermessliche, als wäre sie für die belarussische Gesellschaft geradezu überlebenswichtig. 

    Er sagte: „Die [im Westen] wollen, dass wir die Geschichte vergessen. Aber unsere Geschichte ist voller Helden. Es genügt nicht, sich nur zu erinnern, stolz müssen wir sein. Und das sind wir auch. <…> Sie wollen uns also umkodieren, neu formatieren. Sie wollen uns zu anderen machen – zu Iwans, die ihre Herkunft nicht mehr kennen. Damit verfolgen sie Schritt für Schritt das Ziel: uns wieder unterwerfen, uns in die Knie zwingen. Sie wollen uns zwingen zu tun, was sie brauchen, um auf unsere Kosten zu leben.“ 

    Lukaschenko meint also, der Westen wolle mithilfe der Geschichte Belarus unterwerfen und unterdrücken. Hier drängen sich gleich mehrere Fragezeichen auf: Wo? Wann? Wie? Bisher war hauptsächlich von militärischer Bedrohung durch den Westen zu hören. Haben die Westler jetzt die Methoden geändert? Offenbar geschieht das so heimlich, dass es niemandem auffällt. Und nur mit dem Scharfsinn eines Alexander Grigorjewitsch gelingt es einem, zur Wahrheit durchzudringen, das Unsichtbare zu sehen. 

    Erinnerungspolitik als grelle Illustration 

    Als Reaktion auf die arglistigen Machenschaften des Westens verfolgen die belarussischen Machthaber ihre eigene Erinnerungspolitik. Dieser Prozess weist einige Besonderheiten auf:  

    1. Vor allem fungiert das historische Gedächtnis als wichtigstes Element der Staatsideologie, manchmal sogar als ihr Ersatz. Denn das Regime kann keine klare Ideologie anbieten, die nämlich Narrative für die Zukunft erfordern würde. Deswegen appelliert es an die Vergangenheit. Eine heldenhafte Vergangenheit als Ersatz für eine strahlende Zukunft – das ist die Botschaft an die Gesellschaft. 

    2. Die Erinnerungspolitik in belarussischer Auslegung ist eine grelle Illustration, zitiert wunderbar die bekannte These des sowjetischen Historikers Michail Pokrowski, Geschichte sei über die Vergangenheit gestülpte Politik.  

    In allen Staaten nutzen Regierungen und Politiker historische Narrative, um ihren politischen Kurs zu legitimieren. Zumindest jene Narrative, die an Schulen unterrichtet werden oder in der Kunst Ausdruck finden (Geschichte als Wissenschaft klammern wir mal aus). Der russische Publizist Alexander Rubzow schrieb: „Sobald sich die Macht an die Geschichte heranmacht, dann wird Geschichte nicht mehr erforscht, sondern verwaltet wie eine begrenzte Ressource.“ 

    Tatsächlich wirkt das bei uns oft allzu künstlich. Die Machthaber glauben, sie müssen permanent vom Sieg im Großen Vaterländischen Krieg sprechen, vom „Genozid am belarussischen Volk“ erzählen – und dann wird das Volk Lukaschenko lieben. Ob das funktioniert, ist fraglich. 

    Welche Aspekte der Geschichte hervorgehoben werden, ist ein Indikator für Tendenzen des politischen Lebens, die starken Schwankungen unterliegen. Ein Beispiel dafür: Bis vor Kurzem war Kastus Kalinouski vielleicht die einzige Figur aus der belarussischen Geschichte, die weder Gesellschaft noch Politik spaltete. Er war bei Nationalisten und Kommunisten gleichermaßen anerkannt, gehörte auch in der Sowjetzeit zu den belarussischen Nationalhelden. Er hätte ein Symbol der belarussischen Einheit sein können. Das Regime machte jedoch auch aus ihm ein Symbol der Spaltung. 

    Im November 2019 wurde zur feierlichen Umbettung von Kalinouskis sterblichen Überresten eine belarussische Delegation nach Vilnius entsandt, an deren Spitze Vizepremier Igor Petrischenko stand. Bei der offiziellen Zeremonie sagte er, Kalinouskis Wirken sei eng verbunden mit der Entwicklung der National- und Kulturbewegung zu einem Kampf für die belarussische Staatlichkeit und für einen eigenen, vom Volk regierten Staat. Damit ist klar, dass Kalinosuki ein belarussischer Nationalheld ist.  

    Und es wurde noch besser: „Die Parole der Aufständischen um Kastus Kalinouski war wohlgemerkt: ‚Wen liebst du? – Ich liebe Belarus‘. Das Vermächtnis der Kämpfer hat nicht an Aktualität verloren und findet seine Fortsetzung in der obersten Devise unseres Landes: ‚Für ein starkes und blühendes Belarus‘“. Das lässt sich wohl herunterbrechen auf: Lukaschenko ist ideologisch ein Nachfolger Kalinouskis! 

    Am 17. November 2019 sagte der Herrscher höchstselbst in einem Wahllokal auf die Frage von Journalisten, was er von Kalinouski halte: „Er wirkte in unserer Region, war einer von uns, wenn Sie so wollen – ein Staatsbürger. Das ist nicht zu leugnen.“ Es dauerte gar nicht lange, und alles war anders. Am 2. Juli 2022 hielt Lukaschenko bei Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag eine Rede, in der er über den Aufstand von 1863 sagte, das belarussische Volk habe gegen die polnischen Aufständischen gekämpft, die von den belarussischen Bauern gefangen und dem Zaren ausgeliefert worden seien, weil sie nicht wieder unter die polnische Knute wollten.  

    Anders gesagt: Die Aufstände gegen Russland auf belarussischem Territorium gelten nun offiziell als polnische Aufstände, zudem hätten sie sich nicht nur gegen das zaristische Imperium gerichtet, sondern auch gegen Belarus. Dazu zählt eben auch der Aufstand unter Kalinouskis Führung. 

    Was ist da passiert? Der politische Wind hat sich gedreht. Seit 2020 schreibt sich das Regime fest in Russlands ideologischen Kontext ein und verzichtet im Umgang mit der eigenen Geschichte auf ein nationales Narrativ. Die Staatsideologie passt sich an die veränderten, momentanen Bedürfnisse der herrschenden Riege an, deren politisches Überleben auf dem Spiel steht. 

    Großteil der Geschichte einfach abgehackt 

    3. Historische Inhalte werden der Gesellschaft sehr aggressiv vermittelt, als einzige Wahrheit. Jegliche alternativen Ideen sind verboten und werden strafrechtlich verfolgt. Bücher, die Kritik an der Sowjetunion enthalten, werden für extremistisch erklärt.  

    Das Thema des „Genozids am belarussischen Volk“ wird bezeichnenderweise von der Generalstaatsanwaltschaft bearbeitet. Auf Grundlage ihres Materials werden Schulbücher zu diesem Thema herausgegeben. Gleichzeitig führt diese Behörde Strafverfahren wegen Leugnung des Genozids durch. Die Propagandamaschine funktioniert also nicht ohne politische Repressionen gegen Andersdenkende. Den Gegner mundtot zu machen, ist eine Bedingung für den Erfolg.  

    4. Eine eigenwillige Geschichtsinterpretation wird auch zur Entwicklung eines Lukaschenko-Kults aktiv eingesetzt. So hielt der Mythos in die Lehrbücher Einzug, die Präsidentschaftswahlen 1994 seien der wahre Beginn der belarussischen Staatlichkeit und gar der belarussischen Geschichte. So wird Lukaschenko zum „Gründervater“ der belarussischen Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit erklärt. Um diesen Mythos zu stärken, werden andere bedeutende Ereignisse der reichen belarussischen Geschichte kleingehalten, Nationalhelden Stück um Stück abgewertet. 

    Bereits 2005 ließ Lukaschenko nach Franzisk Skaryna und Pjotr Mascherow benannte Straßen im Zentrum von Minsk umbenennen. Nun ist Kalinouski an der Reihe. Die Entfernung seines Namens aus der belarussischen Geschichte ist nicht nur ein Tribut an die Ideologie des Russki Mir. Lukaschenko soll einfach keine Konkurrenz haben. 

    Um die Bedeutung der eigenen Person aufzuzeigen, nutzt Lukaschenko auch selbst den Blick in die Geschichte. Im September 2024 sagte er bei einer Feierstunde zum Tag der Nationalen Einheit: „1919 <…> war die Stimme der neu gegründeten Belarussischen Sowjetrepublik noch nicht recht zu hören. Vielleicht, weil es keine Einheit gab. <…> Alle möglichen Nazmeny, nationalen Minderheiten, stritten sich um die Macht. <…> Hätten wir damals schon eine starke Hand und Einigkeit gehabt, dann hätten wir standgehalten. Und die Katastrophe mit dem Vertrag von Riga wäre nie passiert …“ 

    Nun ja, Sie verstehen, es gab keine „starke Hand“. Übersetzt in einfache Sprache: Hätte es damals eine Diktatur gegeben, so wie heute mit Lukaschenko an der Spitze, dann wäre das Land in Ordnung. Das ganze Unglück von Belarus basiert darauf, dass es damals noch keinen Lukaschenko gab, dass er leider erst jetzt aufgetaucht ist. (Anmerkung in Klammern: In 30 Jahren konnte niemand dem Herrscher vermitteln, dass Nazmeny für Nationale Minderheiten steht, und nicht – wie er denkt – für Nationalisten.) 

    5. Historische Mythen, die dem Nationalbewusstsein zugrunde liegen, sollen normalerweise zeigen, dass der jeweilige Staat eine tiefverwurzelte Tradition hat. Je tiefer, desto besser. Der national orientierte Teil der belarussischen Intelligenzija betrachtete das Großfürstentum Litauen als historisches Fundament für den belarussischen Staat.  

    Die Erinnerungspolitik, die die Regierung der Gesellschaft anbietet, umfasst allerdings nur einen sehr kleinen Ausschnitt der Geschichte. Im Grunde beschränkt sie sich auf die Zeit von 1941 bis 1945. Die restliche tausendjährige Geschichte von Belarus wird ausgeklammert, man kennt sie, interessieret sich aber kaum dafür. Man versucht, die gesamte heutige Politik durch das Prisma des Zweiten Weltkriegs zu interpretieren.  

    Nach der imperialen Pfeife 

    6. Die gesamte belarussische Geschichte wird nun als Teil der russischen betrachtet. Für die Mittelschule wird ein Lehrbuch zur gemeinsamen Geschichte des Unionsstaates erarbeitet, zudem wird eine Reihe mit dem Titel „Russland und Belarus: Seiten gemeinsamer Geschichte“ herausgegeben und es wurde das Label „Bibliothek des Unionsstaates“ ersonnen. 

    Anders ausgedrückt: So wie die sowjetischen Schüler die Geschichte Russlands als „Geschichte der UdSSR“ lernten, so lernen die heutigen belarussischen Schüler die Geschichte Russlands unter dem Titel „Geschichte des Unionsstaates“. Die belarussische Geschichte aus nationaler Perspektive wird entsprechend verschwinden. 

    Die Erfahrung anderer Länder zeigt, dass die Herausbildung einer jungen Nation auf einem strikten ideologischen Bruch mit dem Imperium und dem kolonialen Erbe (in unserem Fall dem russischen und sowjetischen) basieren muss.  

    In Belarus läuft heute alles umgekehrt. Nationale belarussische ethnokulturelle Symbole und Elemente werden verworfen. Mehr noch, die weiß-rot-weiße Flagge, das Pahonja-Wappen, die Rada BNR werden zu nazistischen Symbolen erklärt. Die Regierung formt die belarussische Identität auf Grundlage russischer Geschichtsnarrative. Zu allen anderen Abhängigkeiten der Republik Belarus von Russland (wirtschaftlich, politisch, militärisch) kommen nun noch ideologische und soziokulturelle Abhängigkeiten hinzu. 

    In diesem Zusammenhang sagte der polnische Historiker belarussischer Herkunft, Oleg Łatyszonek: „Lukaschenko ist mit keinem anderen Diktator der Weltgeschichte vergleichbar. Mir ist kein Diktator bekannt, der kein Patriot war. Das waren immer Nationalisten, alle wollten ihre Nation aufwerten. Aber hier haben wir den ersten, der seine Nation vernichtet.“ 

    7. Die Geschichte wird aktiv zur Herleitung einer antipolnischen Politik genutzt. Polen wird das Bild eines äußeren Feindes zugeschrieben. Lukaschenko versucht, mit antipolnischen Narrativen weniger eine nationale, als vielmehr eine regionale Identität zu etablieren. Der gesamte Nationalismus im postsowjetischen Raum war antirussisch geprägt. Der ehemalige ukrainische Präsident Leonid Kutschma schrieb ein Buch mit dem Titel „Die Ukraine ist nicht Russland“. Lukaschenko hingegen versucht, den belarussischen Pseudonationalismus als antipolnisch festzuschreiben. 

    Auch der neue Feiertag – der „Tag der Nationalen Einheit“ am 17. September – hat eine klar antipolnische Ausrichtung. Die Staatspropaganda spielt aktiv mit historischen Traumata der Zwischenkriegszeit, als der Westen von Belarus zu Polen gehörte. Das polnische Thema scheint auch in der offiziellen Kampagne gegen „Nazismus“ auf. In Dokumenten der Sicherheitsorgane, zum Beispiel in der Anklageschrift gegen den Vorstand der geächteten Bund der Polen in Belarus, werden die Soldaten der Armia Krajowa mit den Nationalsozialisten gleichgestellt.  

    So wird die Geschichte in unverwechselbarer belarussischer Interpretation zu einer Dienstmagd der Politik. 

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    Die Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik

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    Belarus und das Großfürstentum Litauen

    Kastus Kalinouski

    Schöne neue Welt

  • Schöne neue Welt

    Schöne neue Welt

    „Die Erzeugung einer neuen Wirklichkeit ist unter Lukaschenkos Regime nichts Neues”, schreibt die belarussische Journalistin Katerina Truchan. Aber seit den Ereignissen im Jahr 2020 ergreife sie stärker denn je alle Lebensbereiche der belarussischen Gesellschaft. „Jede einzelne Amtshandlung zielt nicht nur darauf ab, jegliches Andersdenken auszumerzen, sondern auch ein neues Denken auszubilden, das einer Regierung die Stange hält, die keine mehr ist.” 

    In ihrem Beitrag für das belarussische Online-Portal Pozirk zeigt Truchan, mit welchen ideologischen Baupfeilern der Machtapparat diese neue Wirklichkeit in Belarus errichten will.  

    Die Flagge der Republik Belarus auf einer Ziegelsteinwand / Foto © xVivacityImagesx Panthermedia/IMAGO

    Architektonischer und anderer Patriotismus 

    Vor zwei Wochen wurden Alexander Lukaschenko die Pläne für das neue Nationale Historische Museum präsentiert. Im Fall einer Umsetzung entsteht in Minsk das nächste Gebäude, das die „Zeit nach 2020“ symbolisiert: billiger Pseudopatriotismus, der das Antlitz vieler Städte bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Das neue Museumsgebäude, das den Plänen zufolge die Umrisse von Belarus aufweisen soll (was ohnehin nur von oben zu sehen sein wird), sowie der Park der Nationalen Einheit rundherum sind nur ein kleiner Teil der Hinterlassenschaften in Glas und Beton der Regime-Vertreter. 

    2020 reagierten die Wahlverlierer auf die weiß-rot-weißen Flaggen mit Massen von geschmacklos und häufig verfehlt eingesetzten rot-grünen Fahnen. Später wurden sie auf Hausmauern gemalt und so zahlreich an Gebäuden aufgehängt, dass es jeden Tag aussieht, als wäre Nationalfeiertag. Anscheinend versucht das Regime mit so primitiven Methoden, sein Revier zu markieren. 

    „Genozid am belarussischen Volk“ 

    Gleichzeitig wurden die Lehrbücher umgeschrieben. Kurz nach der Niederschlagung der Proteste von 2020 begannen die Machthaber, den „Genozid am belarussischen Volk während des Großen Vaterländischen Krieges“ hochzufahren. Zuständig (und höchst aktiv) ist die Generalstaatsanwaltschaft. Im Jahr 2021 begann ein entsprechendes Strafverfahren, das in Schauprozesse gegen Kriegsverbrecher münden sollte. Im Januar 2022 unterstützte Lukaschenko dieses Strafverfahren mit einem neuen Gesetz, das die öffentliche Leugnung des Genozids unter Strafe stellte. Im Grunde legte die Generalstaatsanwaltschaft die einzige staatlich anerkannte Interpretation der nationalsozialistischen Verbrechen fest, und das Gesetz sorgte für strafrechtliche Panzerung: Von dieser Interpretation abzuweichen, ist von nun an verboten.   

    Das Thema Genozid sickerte aus der Staatsanwaltschaft sogleich in den Alltag durch: in die Lehrbücher, in die Propagandasender, die ersten Angeklagten kamen posthum vor Gericht, gegen andere wurden neue Verfahren eingeleitet. Mehrere Eltern von Schulanfängern in Minsk teilten Pozirk mit, dass die ideologische Bearbeitung der nächsten Generation gleich am ersten Tag beginne: sechs- und siebenjährigen Kindern wird vom Genozid erzählt. 

    „Für meinen Mann und mich war das ein Schock. Wir waren zwar darauf vorbereitet, dass unser Kind diesen ideologischen Quatsch mit nach Hause bringen wird, aber doch nicht schon in der ersten Klasse! Früher kam das erst in höheren Schulstufen. Wir haben auch ein noch ein größeres Kind, aber die Größeren erreichen sie nicht mehr so leicht, deshalb bemühen sich die Lehrer in dieser Klassenstufe gar nicht so sehr“, erzählte Pozirk eine Minskerin, deren Kind die erste Klasse eines Gymnasiums besucht.  

    Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass die Regierung, statt der Bevölkerung die Wahrheit zu sagen und die Archive zu öffnen, den Genozid weitgehend dazu benutzt, ein Bild von „Volksfeinden” zu malen: Schuld sind natürlich die Vorfahren jener, die die heute so „feindselige” EU gegründet haben, sowie die Polen und die Ukrainer.  

    Auch vor banalen Lügen schrecken die Machthaber nicht zurück. Zum Beispiel die Geschichte mit den Ausgrabungen bei Homel, wo die Staatsanwaltschaft im Wald von Schtschekotowskoje Opfer des Genozids „gefunden“ und 2022 feierlich umgebettet hat. Historiker sind sich einig, dass an diesem Ort in den 1930er Jahren NKWD-Mitarbeiter sowjetische Bürger erschossen haben, zu diesem Ergebnis kamen Archäologen bereits 1995. Stellt man die Behauptungen der Generalstaatsanwaltschaft heute infrage, kann man allerdings strafrechtlich belangt werden. Sehr praktisch, nicht? 

    In den Jahren 2024-25 sollen per Erlass Lukaschenkos in allen Gebietshauptstädten Gedenktafeln für die Opfer des Genozids angebracht werden, den Kindern bringt man weiterhin Halbwahrheiten bei, die Propaganda wird sich immer ihre Feinde finden. Die Opfer des stalinistischen Roten Terrors werden noch stärker in Vergessenheit geraten. Die Gedenkstätte in Kurapaty befindet sich heute in einem Zustand fast völliger Verwahrlosung, immer wieder kommt es zu Vandalismus, und selbst wenn sich jemand finden würde, der wieder für Ordnung sorgt – das Risiko ist beträchtlich. Die wenigen Aktivisten, die noch in Belarus und mutig genug sind, diesen Ort zu besuchen, bleiben aus verständlichen Gründen lieber unter dem Radar. 

    Mit Begeisterung werden auch die Lehrbücher umgeschrieben, im Lehrbuch der elften Klasse werden die Ereignisse von 2020 als „Putschversuch“ bezeichnet. Zudem werden ab dem neuen Schuljahr in vielen Klassen monatlich Informationsstunden zum Thema „Genozid am belarussischen Volk“ stattfinden. Dafür wurden 2023 Lehrbücher mit dem Titel „Der Genozid am belarussischen Volk im Großen Vaterländischen Krieg“ herausgegeben. Seit 2023 sind entsprechende Handreichungen für die erste bis vierte Klasse, die fünfte bis neunte sowie zehnte bis elfte Klasse erschienen. 

    „Tag der nationalen Einheit“ 

    Die Idee zu einem solchen Feiertag wurde zum ersten Mal bei der Allbelarussischen Volksversammlung 2021 erwähnt. Er wurde per Erlass eingeführt und ist heute einer der Grundpfeiler der belarussischen Propaganda. 

    2024 gab der Dekan der Belarussischen Staatlichen Universität, Alex Beljajew, im Vorfeld der Feierlichkeiten in einem Interview mit der staatlichen Nachrichtenagentur BelTA eindeutig zu verstehen, wozu Lukaschenko einen solchen Feiertag benötige: Die Vereinigung des Westlichen Belarus mit der BSSR sei nach 1949 in der Sowjetunion nicht gefeiert worden, da die Volksrepublik Polen zum sozialistischen Lager gehörte und man sie nicht unnötig an diese schwierige Phase der polnisch-sowjetischen Beziehungen erinnern habe wollen. 

    „Aber nach 2020 sahen wir, dass diese Nachbarn, mit denen wir befreundet sein wollten, ihrerseits keine Hemmungen hatten, unser Verhältnis zu trüben. Gerade Polen scheute keine Mühen, in Belarus Meinungsmacher auszubilden, die sogenannte fünfte Kolonne“, sagte der Dekan. Und so sei es aus ideologischer Sicht erforderlich gewesen, den 17. September als Feiertag zu fixieren. Dieser Tag wird in Belarus mit ideologischem Pomp gefeiert, im typischen Modus des „freiwilligen Zwangs”. Ob daraus je ein Nationalfeiertag wird, steht in den Sternen. 

    „Extremismus“ und „Terrorismus“ 

    Die juristische Willkür ist beinah schon seit Lukaschenkos Amtsantritt eine besondere Spezialität seines Regimes. Der revolutionäre Geist von 2020, der noch immer in der Luft liegt, das Fehlen von unabhängigen Medien, Menschenrechtsorganisationen, von unabhängigen Gerichten, einer Anwaltskammer sowie sonstige Folgen der repressiven Diktatur – all das sorgte für Bedingungen im Land, unter denen jeder und jede zum Extremisten oder Terroristen erklärt werden kann, je nach ideologischer Gefahr für das Regime (, die von ihm ausgeht). 

    Die Tatsache, dass absolut alle unabhängigen Medien, Blogger und Gruppen in sozialen Netzwerken als extremistisch eingestuft wurden, führte dazu, dass man in Belarus immer weniger Zugang zu Informationen hat – es ist entweder zu riskant (wenn man entsprechende Quellen nutzt) oder sinnlos (wenn man versucht, sich anhand von regierungstreuen Quellen zu informieren). Dadurch ist die Bevölkerung aus dem Kontext gerissen, und die Machthaber nutzen diese unfreiwillige Ahnungslosigkeit und die Abwesenheit von Regimekritik jeglicher Art aus und tun, was sie wollen.  

    Ein zusätzlicher Schlag gegen die Gesellschaft ist die Suche nach missliebigen Autoren nicht nur unter den Lebenden, sondern auch unter den Toten. Pozirk liegen Informationen vor, dass landesweit in allen Bibliotheken die Ausmusterung „unerwünschter“ Bücher im Gange ist. Sie werden auf die Liste „extremistischer Materialien” gesetzt, vor potenziellen Lesern versteckt. Es ist nicht erlaubt, die Bücher einfach vom Markt zu nehmen und in den Bibliotheken zu belassen. Dabei sind die Bibliotheken selbst zu treuen Handlangern des Regimes geworden, hier finden ständig einschlägige Veranstaltungen statt, organisiert von den Kultur- und Ideologiereferaten der Stadt- und Gebietsverwaltungen. 

    Abhängigkeit von Russland 

    Belarus kriecht nicht nur, wenn es um Wirtschaft geht, unter Russlands Fittiche. Nach 2020 ist Belarus aufgrund von Lukaschenkos Rolle in Russlands Krieg gegen die Ukraine ein grauer Fleck auf der Europakarte geworden. Genau wie Russland. Vereint durch gemeinsame Miseren und Hürden beschleunigten die beiden Staaten ihren Integrationsprozess, der davor jahrelang nicht vom Fleck gekommen war, und bastelten an ihrer Immunität gegen Sanktionen und andere Einschränkungen. 

    Ergebnis ist eine umfassende Importsubstitution, von Kultur und sozialen Netzwerken bis zu einheitlichen Lehrbüchern zur Geschichte des Unionsstaates. In Belarus schaut man russische Serien auf russischen Streamingportalen, russische „Stars“, die den Loyalitätsfilter passiert haben und den Krieg gutheißen, gehen hier auf Tournee; häufig sind es russische Blogger und Influencer, an denen sich die belarussische Jugend orientiert. 

    Wohin die kulturelle Verschmelzung der beiden Staaten führt, in denen ein Nobelpreis schlimmer ist als ein Verbrechen, wird sich zeigen. 

    „Die Tendenz ist schlimm, aber ich würde den Kopf nicht hängen lassen“ 

    Der Historiker und Politologe Alexander Friedman formulierte in einem Kommentar für Pozirk, dass es schwierig sei, die Zukunft vorauszusagen und zu erkennen, was den Machthabern gelingen werde und was nicht. 

    Bezüglich der vom Lukaschenko-Regime angeschobenen ideologischen Prozesse zählt der Historiker einige Faktoren auf, die ausschlaggebend für die Zukunft sind: die Intensität, mit der die Machthaber diese Prozesse voranbringen, und der Zeitraum, über den sie andauern. Derzeit spreche alles für eine hohe Intensität mit großem Kraftaufwand. Friedman wies auch auf die Vielfalt der Methoden hin; das Regime sei auch in den Sozialen Netzwerken und in der Jugendarbeit aktiv. Dabei werde häufig eine russische Perspektive befördert, auch im historischen Kontext. „Sie stützen sich auf sowjetische Narrative und Mythen, die die ältere Generation, die die Sowjetunion noch erlebt hat, sehr gut kennt, die Jungen hingegen nicht mehr wirklich”, betont Friedman. 

    Dabei unterstreicht er, dass jetzt zwar ein Kampf um die Geschichte stattfinde, die Leute in Belarus, die mit diesen offiziellen Konzepten gefüttert würden, aber nach wie vor alternative Informationsquellen im Internet nutzen können, auch ohne unbedingt Fremdsprachen zu beherrschen. „Das erschwert die Arbeit der Propagandamaschine erheblich. Wenn sie diese Verbindungen kappen – also das Internet oder die westlichen Sozialen Netzwerke blockieren, könnten sie ihre Narrative leichter durchsetzen. Solang sie das nicht tun, ist es schwieriger“, sagt der Experte. 

    Dabei denkt Friedman nicht, dass das Regime damit Erfolg haben wird. Ein gutes Beispiel sei die Sowjetunion, in der der Bevölkerung sehr vieles aufgezwungen wurde, historische Bewertungen inklusive, und trotzdem habe das oftmals keine tiefen Spuren hinterlassen. Einen Grund dafür sieht der Historiker darin, dass in der UdSSR Geschichte nicht unterrichtet worden sei, um Vergangenheitsbewältigung zu betreiben und besser zu verstehen, was passiert ist, sondern wie emotionales Beiwerk, das „ziemlich schnell kommt und geht“. Von einem tiefen Verständnis wie in Deutschland, wo der Nationalsozialismus und seine Verbrechen über Generationen reflektiert würden, sei man meilenweit entfernt gewesen. 

    Darüber hinaus interessieren die Themen, die das Regime anbietet, vor allem die jungen Belarussen kaum: „Der Zweite Weltkrieg und alles, was damit zu tun hat – das waren schreckliche Verbrechen, ohne Frage. Der 17. September ist weniger eindeutig, liegt aber auch sehr lange zurück. Für die junge Generation ist das alles sehr weit weg und schwer nachvollziehbar. Das waren Zeiten, in denen wenig an ihre heutige Realität erinnert.“ 

    Friedman glaubt nicht, dass das Regime mit den Geschichten durchkommt, die es der Gesellschaft und insbesondere der Jugend aufdrängen will: „Das geht eher ‚zum einen Ohr rein, zum anderen wieder raus‘.“ Sein Resümee: „Die Tendenz ist natürlich schlimm, aber ich würde den Kopf nicht hängen lassen.“ 

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