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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Ein neues Jalta auf den Trümmern Syriens?

    Ein neues Jalta auf den Trümmern Syriens?

    Die USA konnten bei der Bekämpfung des IS zwar Teilerfolge verbuchen, jedoch keine Lösung des Konflikts herbeiführen. Russland seinerseits bereitet mit ungewöhnlicher Offenheit Militäraktionen in Syrien vor und führt sie inzwischen auch durch. Das deutet auf Strategien hin, die über den lokalen Konflikt hinausreichen. Pawel Felgengauer, ein auf Außenpolitik und Streitkräfte spezialisierter Analytiker der Novaya Gazeta, stellt die Frage: Was steht hinter dem sogenannten Putin-Plan? Hofft der Kreml, auf den Trümmern Syriens und auf dem Rücken derer, die vor dem Chaos fliehen, eine Neudefinition der Einflusssphären durchzusetzen, ähnlich den Ergebnissen der Konferenz von Jalta?

    Der Aufbau eines russischen Truppenkontingents in Syrien ist die erstaunlichste militärische Geheimoperation dieser Art der letzten 60 Jahre. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums waren Russland bzw. die UdSSR zwischen 1945 und 2000 an 46 lokalen Konflikten verschiedener Art beteiligt, was mit wenigen Ausnahmen in aller Stille, ohne jede Verlautbarung abgewickelt wurde. Nach Syrien wurden jetzt den gewagtesten Schätzungen zufolge ein paar hundert Marine-Infanteristen, Vertragssoldaten und Experten, einiges neues Militärgerät und vielleicht an die zehn Flugzeuge und Hubschrauber entsendet, und diesmal hat man allerhand Informationen durchsickern lassen bzw. in die ganze Welt herausposaunt, als würden dort schon kampfbereite Divisionen stehen.

    Ganz anders im Februar und März 2014, als mehrere zehntausend Mann und mehrere hundert Stück Militärgerät auf die Krim gebracht wurden, und es kein ununterbrochenes Durchsickern und keine Enthüllungen gab; die Leute rätselten herum, was das dort für Männchen seien, während Wladimir Putin bestritt, dass es sich um die eigene Armee handelte. Offizielle Personen in Russland leugnen für gewöhnlich jegliche Beteiligung an irgendwelchen regionalen Kriegen und wiederholen mit versteinerten Mienen die Geschichte von den mehreren tausend Fahrzeugen oder anderem Militärgerät und den Hunderten von Waggons voller Munition, die von den Volksmilizen als Trophäen erbeutet worden seien.

    Heute erklären eben jene offiziellen Personen in Bezug auf Syrien ausweichend: Es soll dort wohl tatsächlich Soldaten, Experten und Militärberater geben, aber „bislang“ sind sie nicht im Einsatz, und die Waffen und die Munition – die schicken wir aufgrund früherer Verträge, was wir auch weiterhin tun werden. Zum russischen Luftwaffenstützpunkt in Latakia erklärt man im Generalstab: „Momentan existiert ein solcher nicht, aber in Zukunft ist alles möglich“, und falls die Syrer uns darum bitten, können wir ihnen Truppen schicken.

    Moskau versucht also, mit allen Mitteln den Anschein zu erwecken, es bereite in Syrien einen konzentrierten offensiven Truppeneinsatz vor, der dem für das Regime von Präsident Baschar al-Assad und seine schiitischen Verbündeten unglücklichen Verlauf des Bürgerkriegs eine entscheidende Wende geben soll. Es ist gut möglich, dass einige der zahlreichen Informationslecks, durch die die Nachrichten über die russische Militärpräsenz in Syrien gesickert sind, eigens organisiert oder gesponsert wurden – als Teil des informationellen Versorgungsprogramms eines dreisten strategischen Manövers, das den langjährigen syrischen Verbündeten retten und zugleich im Hinblick auf den Westen das allgemeine Konfrontationsniveau senken soll.

    Konturen einer Koalition

    Seit Juni ist Moskau dabei, für den sogenannten Putin-Plan für den Nahen Osten zu werben: die Bildung einer breiten Koalition zum Kampf gegen den in Russland verbotenen Islamischen Staat (IS). Diese Koalition soll laut Putin die bewaffneten Streitkräfte der Assad-Regierung und die irakische Armee einbeziehen, außerdem „alle, die bereit sind, einen wirklichen Beitrag zum Kampf gegen den Terror zu leisten oder dies bereits tun“, also kurdische Milizen, Kämpfer der radikal-schiitischen libanesischen Hisbollah, die schon seit mehreren Jahren an Assads Seite kämpft, sowie in Syrien und im Irak agierende Gruppierungen der iranischen Wächter der islamischen Revolution.

    Im August versuchte Sergej Lawrow bei einem Gespräch mit dem US-Außenminister John Kerry und seinen arabischen Kollegen in Doha (Katar) für den Plan einer Anti-IS-Koalition zu werben, doch ohne Erfolg. Die sunnitischen Regime einschließlich Saudi-Arabiens und der Türkei wollen keinerlei Beziehungen mit Assad aufnehmen, den sie des Massenmordes an der sunnitischen Bevölkerung in Syrien beschuldigen. Putins Plan drohte zu versanden, und die Rede vor der UN-Vollversammlung am 28. September, auf der eine breite Koalition gegen den IS Hauptthema werden sollte, hätte unbemerkt bleiben können und die amerikanischen Behörden hätten den Besuch ignorieren können – u. U.auch  durch die Ausstellung eines beschränkten Sondervisums wie bei Valentina Matwijenko, zumal der offiziellen Delegation auch Alexej Puschkow angehört, gegen den die USA individuelle Sanktionen verhängt haben.

    Inzwischen hat sich die Situation entscheidend verändert. Die Nachrichten über einen möglichen Ausbau der russischen Militärpräsenz in Syrien haben heftige Meinungsverschiedenheiten innerhalb der US-amerikanischen Regierung ausgelöst, und bislang setzt sich der Standpunkt von Außenminister Kerry durch, den auch Obama unterstützt: Mit den Russen ist dringend Verständigung zu suchen. Nun wird der Putin-Besuch in New York tatsächlich alles andere als eine Routinevisite.

    Amerika in der Sackgasse

    Die US-amerikanische Strategie im Kampf gegen den IS gründet sich seit mehr als einem Jahr auf Luftangriffe der koalierten westlichen und arabischen Luftstreitkräfte, die den zerstreuten Bodentruppen diverser politischer, ethnischer und religiöser Färbung helfen sollen, den Gegner zu stoppen und zu zerschlagen. Die syrischen, irakischen und iranischen Luftstreitkräfte bombardieren den IS zusätzlich, unabhängig von der amerikanischen Koalition. Dem IS mit vereinten Kräften Einhalt zu gebieten ist im Großen und Ganzen geglückt.

    Die intensive Rund-um-die-Uhr-Beobachtung, Luft- und kosmische, optische und Radaraufklärung sowie die ständigen gezielten Angriffe bringen dem IS Verluste bei, die auch die höchste Führung der Terrorgruppe betreffen. War das Kriegführen in den Wüsten des Nahen Ostens bei Luftüberlegenheit des Gegners schon früher, zu Zeiten Erwin Rommels oder Moshe Dajans, nicht einfach, so ist es heute, wo die Angriffe hochpräzise geworden sind, extrem schwierig. Der IS bekommt längst keine bedeutenden Angriffstruppen mehr zusammen, ist nicht mehr in der Lage, Feuermittel zu massieren. Es besteht keine reale Gefahr, dass der IS „bis nach Mekka, Medina oder Jerusalem“ vorrückt, wovon Putin kürzlich in Duschanbe sprach. Die IS-Milizen verteidigen erbittert die bereits eingenommenen Städte, aber ein Angriff hat nur dann Erfolg, wenn die irakischen oder die Assadschen Truppen aus irgendeinem Grund das Weite suchen.

    In den vom IS eroberten Gebieten im Osten Syriens und im Nordwesten des Iraks wird die Terrorgruppe von den dort lebenden arabischen Sunniten unterstützt, zumindest wollen diese nicht von kurdischen Truppen befreit werden und ebenso wenig von iranischen, libanesischen, irakischen oder syrischen Schiiten oder Alawiten. Die kurdischen Einheiten (Peschmerga) halten eine enge operativ-taktische Verbindung zu den amerikanischen bzw. alliierten Luftstreitkräften und haben es geschafft, den IS in Nordsyrien und im Nordirak entscheidend zurückzudrängen, doch vor Gegenden mit überwiegend arabisch-sunnitischer Bevölkerung machten sie Halt. Mit den irakischen schiitischen Volksmilizen kooperieren die amerikanischen Luftstreitkräfte unmittelbar auf dem Gefechtsfeld zwar nicht, da die Iraner mit ihnen zusammen kämpfen, doch im Großen und Ganzen koordinieren sie die Aktionen. Die irakischen Schiiten haben den IS aus Bagdad abgedrängt, doch in die sunnitischen Gebiete des Iraks eindringen konnten sie nicht. Mit den syrischen Regierungstruppen kooperieren die US-Luftstreitkräfte in Syrien überhaupt nicht. Assads Truppen und seine Verbündeten haben sich in den letzten Monaten zurückgezogen und Niederlagen eingesteckt.

    Die US-amerikanische Politik in der Region befindet sich offenkundig in einer Sackgasse, Obama wirft man zu Hause Unentschlossenheit und strategische Unüberlegtheit vor. In dieser Situation war das dreiste Vorgehen der russischen Führung taktisch erfolgreich: Kerry rief mehrfach bei Lawrow an, um herauszufinden, welche Absichten die Russen in Syrien verfolgen, dann telefonierte Pentagon-Chef Ashton Carter beinahe eine Stunde lang mit Sergej Schoigu. Die persönliche Unterredung mit Schoigu war die erste seit seinem Amtsantritt [im Februar – dek] und nach der Ukrainekrise und der allgemeinen Verschlechterung der Beziehungen der erste Kontakt überhaupt zwischen den Verteidigungsministern der beiden Länder seit mehr als einem Jahr. Carter und Schoigu vereinbarten, die Gespräche fortzusetzen, um eventuelle künftige Schläge gegen den IS von russischer und amerikanischer Seite abzustimmen und etwaigen amerikanisch-russischen Streitigkeiten vorzubeugen, die sich aus den russischen Waffenlieferungen samt der Entsendung von Experten und Militärberatern ergeben könnten. Aus dem Verteidigungsministerium verlautete, beide Seiten seien „in den meisten erörterten Fragen der gleichen oder ähnlicher Meinung“.

    Kerry erklärte in London, Amerika sei froh, wenn Russland sich dem Kampf gegen den IS anschließe, Assad müsse gehen, aber über den konkreten Zeitpunkt und die Bedingungen bzw. die „Modalitäten“ seines Abgangs könne man sich verständigen. Obama bestehe, so Kerry, auf einer politischen Lösung des Syrienproblems, und es wäre großartig, wenn das Assad-Regime Verhandlungen aufnehmen würde und wenn Russland oder der Iran „oder sonst jemand“ dabei behilflich wäre. In Moskau trafen sich der US-amerikanische Botschafter John Tefft und der stellvertretende Leiter des russischen Außenministeriums Michail Bogdanow, um das Syrienproblem zu erörtern. Weiteren Informationen zufolge hat in Moskau außerdem ein Treffen zwischen russischen und ausländischen Spionen, also dem CIA und dem russischen Auslandsgeheimdienst SWR, zum Datenaustausch über den IS stattgefunden.

    Der Boden für einen Besuch Putins in den USA scheint bereitet. Dieser Tage in Duschanbe hat Putin auf dem Gipfel der Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit (OVKS), soweit man das beurteilen kann, die Hauptthesen seiner bevorstehenden Rede vor der UN-Vollversammlung vorgetragen: Alle sollten jetzt geopolitische Ambitionen außen vor lassen, sich Doppelmoral sparen, der breiten Koalition gegen den IS beitreten und gemeinsam Assad als natürliche Alternative zum islamistischen Übel unterstützen. Die zukünftige breite Koalition müsse ein Mandat des UN-Sicherheitsrates erhalten, das die Anwendung militärischer Gewalt gegen den IS in Syrien und im Irak gestattet, und dann könne sich auch Russland an den Operationen beteiligen. Auf der Basis dieses frischgebackenen Kampfbündnisses kann man dann auf Beruhigung des mit den USA und dem Westen bestehenden Konflikts wegen der Ukraine hoffen, was die Aufhebung der Sanktionen impliziert. Putin schlägt weiter vor: „eine vollständige Bestandsaufnahme der euroatlantischen Probleme und Differenzen“, die Schaffung eines Systems „gleichberechtigter und unteilbarer Sicherheit“, die Einhaltung der Grundprinzipien des internationalen Rechts sowie „die Verankerung gesetzlicher Bestimmungen, nach denen die Begünstigung staats- und verfassungsfeindlicher Umstürze und die Förderung radikaler und extremistischer Kräfte unzulässig ist“. Das heißt, die verfeindeten Parteien sollen „juristisch bindende Garantien“ geben, friss Vogel oder stirb, damit es nie wieder irgendwelche Maidans oder Farbrevolutionen gibt.

    Ein neues Jalta?

    Hier wird offenbar eine Art neues Abkommen für die zukünftige euroatlantische Ordnung vorgeschlagen, quasi ein neues Jalta: Jalta 2.0. Im Jahr 1945, beim ersten Jalta, Jalta 1.0, legten die Staatschefs der UdSSR, der USA und Großbritanniens die Grundprinzipien der Nachkriegsordnung fest, wobei sie den Kontinent im Wesentlichen in Einflusszonen aufteilten. In den USA und in Europa, vor allem in Mittel- und Osteuropa (der ehemaligen sowjetischen Zone), gilt Jalta 1.0 als eines der Schandkapitel der Geschichte und wird dort in einer Reihe mit der Aufteilung der Tschechoslowakei in München 1938 und dem Ribbentrop-Molotow-Pakt von 1939 gesehen. In der Russischen Föderation fällt die Bewertung anders aus: Im Februar, beim 70. Jahrestag von Jalta 1.0, sprach der Duma-Präsident Sergej Naryschkin vom Gipfel der Diplomatie und von „ehrenhaften Entscheidungen“ und von garantiertem Frieden in Europa „beinahe bis zum Ende des 20. Jahrhunderts“.

    Jalta 2.0 in der einen oder anderen Form, mit klaren Regeln für das zwischenstaatliche Verhalten, mit festgeschriebenen und garantierten Interessenssphären – das ist ein lang gehegter Kremltraum, der heute erreichbar scheint, dank dem IS, dank den Tausenden syrischen Flüchtlingen in Europa, aus denen Millionen werden können, wenn der Konflikt im Nahen Osten sich weiter ausbreitet. Um dem ersehnten Ziel näherzurücken, wurden die Kampfhandlungen im Donbass ohne irgendeine Aussicht auf weitere Offensivaktionen eingefroren. Natürlich ist die Ukraine als solche strategisch ungleich wichtiger als Syrien, doch ausgerechnet dieses scheint nun eine potentielle Brücke zur Beilegung aller Differenzen. Dafür ist Moskau bereit, sich an einem fernen Krieg zu beteiligen, zumal, wenn es gelingt, das Assad-Regime zu retten, und sei es auch ohne Baschar al-Assad selbst.

    Zu Beginn der 80er Jahre wurden sowjetische Kampftruppen nach Syrien gebracht – an die 9000 Militärangehörige. Zahlreiche Militärberater und Experten nahmen im Libanon gemeinsam mit Syrern an Kämpfen gegen Israelis und Amerikaner teil: Mehrere Dutzend Offiziere und drei Generäle kamen ums Leben, Hunderte Menschen wurden verletzt. Eine solche Truppe in Gefechtsbereitschaft zu versetzen wäre heute schwierig, zudem wäre sie nicht zu unterhalten. Es spielt keine Rolle mehr, ob gewollt oder nicht, geheim ist die Aufstellung von russischen Truppen und Material in Syrien nicht, und die Versorgungs- bzw. Nachschubwege können behindert oder gänzlich gesperrt werden. Kerry und Obama wollen heute, wie schon in der Vergangenheit, auf keinen Fall in eine militärische Eskalation im Nahen Osten verwickelt werden und sind bereit, russische Hilfe anzunehmen, jedoch ausschließlich gegen den IS. Etwaige Angriffe auf die syrische Opposition werden dazu führen, dass vom Weißen Haus ein Vergeltungsschlag gefordert wird, und zwar sowohl in Washington als auch in den arabischen Hauptstädten. Selbst wenn die von Putin angestrebte breite Koalition zusammenkommt, werden der Westen, die USA, die Araber und die Türken versuchen, die Aktionen Russlands in diesem Rahmen streng auf die Konfrontation mit dem IS zu beschränken.

    Um das Assad-Regime zu retten, braucht man nicht 6 Flugzeuge und 500 bis 1000 weitere Soldaten, sondern 100.000 – und tausend Stück Militärgerät mit Hunderten Flugzeugen und Hubschraubern. Vor gut zwei Jahren sind an die 5000 hervorragend ausgebildete und bewaffnete Kämpfer der Hisbollah zur Unterstützung Assads nach Syrien und zum Einsatz gekommen, dazu an die 15.000 Freiwillige aus dem Iran und dem Irak. Im April 2014 erklärte der Hisbollahführer Scheich Hassan Nasrallah: „Die Gefahr, dass das syrische Regime fällt, ist vorüber, und auch eine Teilung Syriens droht inzwischen nicht mehr.“ Damit war die Hisbollah allerdings gründlich im Irrtum: Die syrischen Kämpfer haben sie aufgerieben, und die Teilung Syriens ist keine Gefahr mehr, sondern Realität. Die syrischen Alawiten – das ist die schiitische Strömung, zu der Assads Familie gehört und die zusammen mit den syrischen Christen die Spitze der Armee und Geheimdienste bildet – kämpfen weiter, doch sind das weniger als 25 % der Bevölkerung. Die Kurden (9 %) arbeiten mit den Regierungskräften zusammen, aber die Sunniten – das sind 60 % der Bevölkerung – bilden den Grundstock des Widerstands. Das Land und seine Wirtschaft sind durch den seit viereinhalb Jahren andauernden Bürgerkrieg zerstört. Die Regierung Assads hat keinerlei Kontrolle mehr über die Ölförderung. Von 21 Millionen Syrern sind 7,6 Millionen Binnenvertriebene, 4 Millionen sind aus dem Land geflohen, mehr als 300.000 Menschen wurden nach Schätzungen der UNO getötet.

    Einige hundert oder selbst zweitausend russische Soldaten, Militärberater und Experten werden daran nichts Wesentliches ändern, und die Luftangriffe von ein paar russischen Su-25-Kampfjets werden dem Krieg keine entscheidende Wende geben. In der Nähe des neuen russischen Stützpunkts in Latakia werden die Assadschen Truppen von der im März gegründeten Allianz Armee der Eroberung zerschlagen, die sich zum großen Teil aus verschiedenen Islamisten zusammensetzt, aber mit allen Kräften der Opposition zusammenarbeitet und sich dem IS entgegenstellt. Die säkularen Kräfte der Opposition – die Freie Syrische Armee (FSA), die sich aus ehemaligen Assadschen Offizieren und sunnitischen Soldaten gebildet hat, dominiert unter den Oppositionskräften südlich von Damaskus, und in der bevölkerungsmäßig zweitgrößten Stadt Aleppo hat sich in diesem Sommer eine Einheitsfront gebildet, die etwa zur Hälfte aus Islamisten und mit der FSA verbundenen Kämpfern besteht.

    Im Sommer hat die Armee der Eroberung die Stadt Idlib und die gleichnamige, an Latakia angrenzende Provinz eingenommen. Kürzlich tauchten Informationen über möglicherweise mit russischer Hilfe durchgeführte Luftangriffe der Regierungstruppen auf Palmyra auf, wo sich der IS verschanzt hat, außerdem auf die Stadt Idlib. Ein Kommandeur der Eroberungsarmee hatte auf Twitter die „ungläubigen Russen“ eingeladen, nach Syrien zu kommen: „Wir haben hier Tausende Chattabs für euch.“ (Emir Ibn al-Chattab war ein bekannter Feldkommandant arabischer Herkunft in Tschetschenien, der 2002 bei einer Geheimdienstoperation getötet wurde.) Das Vorgehen Russlands in Syrien ist außerordentlich riskant. Bislang läuft alles leidlich, aber aus Jalta 2.0 wird wohl kaum etwas werden, und Syrien wird für das vergleichsweise kleine russische Kontingent bald zu einer glühenden Pfanne: Die Verluste werden schmerzlich, und das Assad-Regime zu retten wird auch nicht gelingen.

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  • Albrights Un-Worte

    Albrights Un-Worte

    Das Internet wimmelt vor Gerüchten und Legenden, Halbwahrheiten und kruden Theorien – auch und gerade in Russland. Manche von ihnen werden zum regelrechten Politikum: etwa, dass die ehemalige Außenministerin der USA, Madeleine Albright, gesagt haben soll, Russland besitze Sibiriens Bodenschätze zu Unrecht. Die Journalistin Julija Latynina geht der Frage nach, wie es zu der beeindruckenden Karriere dieses Zitats kam, durch die es in eine der wichtigsten Fernsehsendungen des Landes gelangte. Wenn es denn eines war.

    Yes! Lange habe ich darauf gewartet, dass sie das auch offiziell sagen – und jetzt ist es passiert.

    Der Sekretär des Sicherheitsrats der Russischen Föderation Nikolaj Patruschew erklärte in einem Interview mit der Zeitung Kommersant, die USA „hätten es sehr gerne, wenn Russland überhaupt nicht existierte“, „weil wir über sehr große Reichtümer verfügen. Und die Amerikaner glauben, dass sie illegal und unverdient in unserem Besitz seien, da wir sie, ihrer Meinung nach, nicht so verwenden, wie wir sie verwenden sollten. Sie erinnern sich sicherlich an die Äußerung der ehemaligen Außenministerin der USA, Madeleine Albright, dass weder der Ferne Osten noch Sibirien Russland gehöre.“

    Die Entstehungsgeschichte dieser Äußerung ist überaus interessant. Das erste Mal taucht sie, soweit ich das recherchieren konnte, im Juni 2005 als Zitat in einem Internetforum auf. Damals schrieb eine gewisse Nataly1001 im Blog „Seltsame politische Situation“ vom 07.06.05 des Forums forum.germany.ru Folgendes:

    „Da meine Arbeit mit dem Internet zu tun hat, lese ich regelmäßig die aktuellen Nachrichten und dort habe ich in der letzten Zeit eine sonderbare politische Tendenz beobachtet. Von den russischen Medien wurde recht oft das Thema der nationalen Sicherheit aufgekocht … Zu hören war die Äußerung der früheren US-Außenministerin Frau Albright: 'Solange ein Territorium wie Sibirien von diesem einem Land beherrscht wird, kann von einer weltweiten Gerechtigkeit keine Rede sein. Wäre es ein anderes Land, sähe die Sache freilich anders aus! …' Ehrlich gesagt, auch wenn diese Äußerung die Meinung einer Privatperson und ehemaligen amerikanischen Politikerin wiedergibt, sie gibt zu denken….“

    Nataly1001 trug alle Merkmale eines Kreml-Trolls. Nach der Veröffentlichung dieses Artikels entbrannte eine heftige Diskussion. Die Skeptiker forderten Quellenangaben, ihnen wurde entgegnet: „Lest bitte Zbigniew Brzeziński.“

    Die Skeptiker gaben sich damit nicht zufrieden. „Wenn besonders betont wird, dass ein bedeutender Politiker so etwas gesagt hat, lässt das Zweifel daran aufkommen, dass er es tatsächlich so gesagt hat, und deshalb fordern wir einen Beleg, na, und aus dem können dann Schlüsse gezogen werden.“

    Die Trolle antworteten: „Beweise wofür? Es ist doch klar, dass sich die westlichen Politiker allesamt von Äußerungen dieser Art distanzieren werden!“

    Kurz gesagt: Zwei Dutzend Seiten des Forums wurden gefüllt mit Verwünschungen an die Adresse von Albright, Quellenangaben existierten allerdings auch danach nicht.

    Damit war die Sache in der Welt. Die Äußerung von „Madeleine Albright“ war nun eingeführt, jetzt konnte man den Prozess zu ihrer Legitimierung auf eine neue Ebene bringen.

    Am 14. Juli 2005, einen Monat nach ihrem unbelegten, durch den Fleiß anonymer Trolle ermöglichten Auftauchen, wurde die Äußerung von Alexej Puschkow, dem Chef der Fernsehsendung Postskriptum, zitiert.

    „Bekanntlich werden Madeleine Albright“, erklärte Puschkow, „die Worte zugeschrieben, dass 'Sibirien ein zu großes Territorium sei, um einem Staat allein zu gehören.' Selbst wenn sie es nicht genau so gesagt haben sollte, so haben sie oder einer der gar nicht dummen Leute in Amerika doch etwas Derartiges gemeint.“

    Danach bezogen sich alle Quellenangaben bereits auf die Sendung von Puschkow. „Wie Madeleine Albright in der Sendung von Puschkow gesagt hat …“ In Wahrheit hat nicht sie etwas gesagt, sondern Puschkow. Und vielleicht auch gar nicht gesagt, sondern nur gemeint. Und vielleicht auch nicht Albright, sondern „irgendjemand dort drüben“.

    Ein Jahr später sollte sich allerdings herausstellen, was Madeleine Albright tatsächlich gemeint hatte. Am 22. Dezember 2006 gab Generalmajor Boris Ratnikow ein Interview in der Rossijskaja Gaseta. Das Interview trug wirklich die Überschrift: „Die Tschekisten haben die Gedanken Albrights gescannt“.

    Nun ist es so, dass Generalmajor Boris Ratnikow vom russischen Schutzdienst FSO eine Spezialabteilung beaufsichtigte, die sich mit den Geheimnissen des Unbewussten beschäftigte. Und so hatte der Generalmajor am Vorabend des Jugoslawienkriegs im Verlauf seiner astralen Schlachten eine „Sitzung zum Anschluss an das Unterbewusste der Außenministerin Albright“ organisiert.

    „In den Gedanken von Frau Albright konnten wir einen pathologischen Slawenhass entdecken“, erklärt der Generalmajor. „Darüber hinaus hat sie die Tatsache verärgert, dass Russland über die weltweit größten Vorkommen an Bodenschätzen verfügt. Ihrer Meinung nach sollte über die russischen Bodenschätze in der Zukunft kein Land allein, sondern die gesamte Menschheit verfügen können, natürlich unter Führung der USA.“

    Weniger als ein halbes Jahr nach dieser Veröffentlichung, am 18. Oktober 2007, gab es im Fernsehen eine Fragestunde mit Präsident Putin. Bei der bat ein einfacher Mechaniker aus Nowosibirsk den Präsidenten, die Äußerung der ehemaligen Außenministerin der USA Madeleine Albright darüber, dass Russland „ungerechterweise allein über die natürlichen Ressourcen Sibiriens verfüge“, zu kommentieren.

    Putin erklärte, dass ihm diese Äußerungen Albrights nicht bekannt seien, allerdings „wisse er, dass solche Ideen in den Köpfen einiger Politiker vor sich hin gärten“. „Das ist, meiner Meinung nach, so eine Art politische Erotik, und vielleicht verschafft sie sogar irgendjemandem Befriedigung, sie wird aber kaum zu positiven Ergebnissen führen“, bemerkte der Präsident.

    Diese Frage und Antwort während der Liveschaltung, für die einfache Mechaniker sorgfältig ausgewählt und herbeigeschafft wurden, waren ganz offensichtlich ein weiterer Baustein zur Legitimierung der Äußerung und alles war außerordentlich fein konstruiert. Einerseits war diese Äußerung nun im ganzen Land zu hören gewesen, und ja, sogar in einer Livesendung mit dem Präsidenten. Andererseits – siehe Putins Antwort.

    In Patruschews Interview mit der Zeitung Kommersant schloss sich der Kreis. Das nicht existierende Zitat, das durch die Kreml-Trolle in die Internetforen geschleust und durch den sich zu den Sternen erhebenden General Ratnikow zitiert worden war, verwandelte sich in ein Glaubensbekenntnis und in ein Axiom jener nichteuklidischen Politgeometrie, in der der kollektive Kremlverstand zu Hause ist.

    Das Mittelalter war bekanntlich eine Zeit des fanatischen, aufrichtigen und ekstatischen Glaubens. Und gleichzeitig war es eine Zeit, in der gefälschte Reliquien – die Nägel, mit denen man Jesus Christus ans Kreuz geschlagen hatte, die Knochen von Johannes dem Täufer und anderes – als Massenware im Umlauf waren, so dass allein aus den Nägeln ein ganzes Schiff hätte zusammengenagelt werden können. Mich hat immer interessiert, ob eigentlich die Lieferanten der falschen Knochen selbst an die Echtheit ihrer Knochen glaubten?

    Nach dem Interview mit dem Sekretär des Sicherheitsrats der Russischen Föderation Nikolaj Patruschew kann man sicher sagen: sie glaubten daran.

    Und diese wunderbaren Menschen haben das Sagen in Russlands Politik und Strategie. Wieso eigentlich nicht? Sie können ja sogar Gedanken lesen.

     

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