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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Im Schwebezustand – Südossetien

    Im Schwebezustand – Südossetien

    Soll Südossetien an Russland angegliedert werden? Über ein Referendum zu dieser Frage sollte Ende Mai diskutiert werden, doch die Entscheidung wurde verschoben. Zum wiederholten Mal.

    Die Kaukasusregion Südossetien hatte sich schon in den frühen 1990er Jahren als von Georgien unabhängig erklärt. Völkerrechtlich anerkannt wird das Gebiet erst seit 2008 und nur von Russland, Nicaragua, Venezuela und dem pazifischen Inselstaat Nauru, der kleinsten Republik der Welt.

    Mit der Sowjetunion zerfiel auch der Kaukasus als ethnischer Schmelztiegel. Das Südossetien von heute ist ein Produkt dieser Prozesse. Schon kurz vor Auflösung der Sowjetunion hatte sich die iranischsprachige Volksgruppe der Südosseten als „Republik Südossetien“ für unabhängig von der Georgischen SSR erklärt. Nach dem Zerfall der UdSSR mündete die Situation Anfang der 1990er Jahre schließlich in eine Reihe von Sezessionskonflikten mit Georgien. 2004 hatte der damalige georgische Präsident Micheil Saakaschwili angekündigt, Südossetien (und Abchasien) wieder unter georgische Kontrolle zu bringen. Im Sommer 2008 kam es schließlich zum offenen militärischen Konflikt, der enorme Zerstörungen mit sich brachte, vor allem in der Hauptstadt Zchinwali. Am 7./8. August nahmen georgische Einheiten große Teile Südossetiens ein, Russland stieß im Gegenzug weit in georgisches Kernland vor, es kam zu Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten, insgesamt gab es etwa 850 Todesopfer.

    Seit dem Georgienkrieg ist Südossetien in höchstem Maße in die Einflusszone Russlands integriert. Seit 2008 kommen nicht nur die Währung und viele Pässe, sondern auch die Haushaltsmittel und die politische Elite der abtrünnigen Republik mehrheitlich aus Russland.

    Irina Gordijenko recherchierte für die Novaya Gazeta vor Ort. Sie fand eine vergessene Region im Stillstand – und eine zumindest informelle Antwort auf die Frage: Soll Südossetien an Russland angegliedert werden?

    Es leuchten Blumen und Laternen, Springbrunnen plätschern, sogar gratis WLAN gibt es - Südossetiens Haupstadt Zchinwali. © Salvatore Freni Jr./Flickr
    Es leuchten Blumen und Laternen, Springbrunnen plätschern, sogar gratis WLAN gibt es – Südossetiens Haupstadt Zchinwali. © Salvatore Freni Jr./Flickr

    Drei Jahre bin ich nicht in Südossetien gewesen. In dieser Zeit hat sich Grundlegendes verändert. Der Roki-Tunnel, der unter dem Kamm des Großen Kaukasus hindurch Nord- und Südossetien verbindet, ist nicht wiederzuerkennen. Ein- und Ausfahrt erblühen in den Farben der russischen und der südossetischen Flagge (je nachdem), und der Tunnel selbst befindet sich auf seiner gesamten Länge von vier Kilometern in tadellosem Zustand.

    Vor der Hauptstadt Zchinwali [russisch: Zchinwal – dek] sind ein paar kleine, gepflegte Einfamilienhaussiedlungen entstanden, in denen Menschen wohnen, deren Häuser bei den Kampfhandlungen zerstört wurden. Die Hauptstraßen der Stadt sind asphaltiert, auf den Plätzen und Boulevards leuchten Blumen und Laternen, Springbrunnen plätschern. Das Parlamentsgebäude wurde wiedererrichtet, sogar gratis WLAN gibt es.      

    Die Renovierung des Schauspielhauses ist in vollem Gange, die Arbeiten werden jetzt von Regierungsbeamten persönlich kontrolliert, und die örtliche Presseagentur berichtet stolz, „der Rechnungshof der RF hat 2014 und 2015 [in der Republik] keinerlei finanzielle Unregelmäßigkeiten festgestellt“.     

    Das ist erfreulich.

    Staubstürme im Sommer, im Winter ein undurchdringlicher Sumpf

    Nach dem viertägigen Krieg im August 2008 war Südossetien in Chaos und Zerstörung versunken. Die Leute hatten keine Heizung, keinen Strom, kein Warmwasser, viele nicht einmal ein Dach über dem Kopf. Die Straßen der Stadt wurden zu breiten, holprigen Wegen, mit klaffenden Löchern statt Gullyschächten. Tonnenweise türmten sich Haufen von Steinen und Bauschutt an allen Kreuzungen. Deswegen wurde Zchinwali jeden Sommer von Staubstürmen heimgesucht, im Winter verwandelte es sich in einen undurchdringlichen Sumpf.  

    Obwohl in der Republik ein milliardenschweres Programm der Russischen Föderation zum Wiederaufbau aufgelegt wurde und auch über andere Kanäle Gelder flossen, wurde die Lage mit jedem Jahr katastrophaler. Indessen flatterten stapelweise Berichte über den „dynamischen Verlauf des Wiederaufbaus“ nach Moskau, aus Moskau kam als Antwort die nächsten Tranche.     

    Die Kontrolle über die Verwendung der Mittel oblag im Wesentlichen dem Ministerium für regionale Entwicklung unter der Leitung von Viktor Bassargin. Am Ministerium wurde eine zwischenstaatliche Kommission zum Wiederaufbau Südossetiens eingerichtet, deren Vorsitz der stellvertretende Minister Roman Panow aus Tscheljabinsk innehatte. Mit Panow kamen immer mehr Emporkömmlinge aus der Oblast Tscheljabinsk in die Republik; zur Schlüsselfigur wurde der Unternehmer Wadim Browzew, der zum Premierminister Südossetiens ernannt wurde.      

    Je mehr Beamte vom „Wiederaufbau“ sprachen, desto schamloser wurde gestohlen

    Baufirmen aller Art überschwemmten das Land. Bau- und die Sanierungsprojekte im Rahmen des Wiederaufbaus wurden nicht öffentlich ausgeschrieben und verliefen intransparent; wer Geld bekam und auf welcher Grundlage, war in diesen Jahren absolut nicht nachvollziehbar. Im Zeitraum von fünf Jahren wurde die Finanzierung der Republik dreimal umgemodelt, das Resultat blieb dasselbe. 

    Je mehr russische und südossetische Beamte vom „Wiederaufbau der Region“ und der „Einhaltung aller Auflagen“ sprachen, desto schamloser wurde dort gestohlen – ein Faktum, das im Rechnungshof der Russischen Föderation bereits aktenkundig wurde. Einstweilen lebte die Bevölkerung weiterhin in Armut.   

    Wie die Prüfung des Rechnungshofs ergab, investierte Russland von 2008 bis 2013 mehr als 45 Milliarden Rubel in Südossetien [gut 1,1 Milliarden Euro, Stand Januar 2013], rund 34 Milliarden [850 Millionen Euro] kamen aus dem russischen Staatshaushalt, 10 Milliarden [250 Millionen Euro] von Gazprom, 2,5 Milliarden [63 Millionen Euro] schickte die Stadtverwaltung von Moskau, rund 1 Milliarde [25 Millionen Euro] wurde auf ein spezielles Wohltätigkeitskonto überwiesen, und nochmal 13 Milliarden Rubel [330 Millionen Euro] flossen in das Programm für „sozial-ökonomische Entwicklung der Republik“. Für dieses Geld hätte man in der Region, in der damals schon etwas mehr als 30.000 Menschen lebten und deren Fläche nur etwa 4000 km² beträgt (davon 3600 km² Gebirge), Las Vegas nachbauen können.   

    Für das Geld hätte man in der Region Las Vegas nachbauen können

    Als es bei den Präsidentenwahlen in der Republik im Dezember 2011 fast zu einem Aufstand kam, war das der Tropfen, der für Moskau das Fass zum Überlaufen brachte. Die Bevölkerung stellte sich gegen den Kandidaten, auf den Moskau insistierte – und führte als Grund dafür die totale Bestechlichkeit der südossetischen Führungsriege an.

    Es gelang, den Aufruhr zu beenden, doch man zog Konsequenzen. Sergej Winokurow, von der Präsidialverwaltung der Russischen Föderation mit der Kontrolle über Südossetien betraut, wurde mitsamt seinem Team entlassen.
    Die Staatsanwaltschaft leitete sofort Strafverfahren wegen Entwendung und Veruntreuung ein, und kurz darauf wurde ein Ausschuss des Rechnungshofs in die Republik entsandt, der alles gründlich prüfte.
    Das Ergebnis war wenig erbaulich: Über ein Drittel der Gelder waren nutzlos vergeudet worden. Rund sechs Milliarden [Euro] steckten in unfertigen Bauprojekten fest, ein Teil des Geldes war einfach verschwunden.    

    Die Ergebnisse dieser Prüfung wurden dann gar nicht offiziell bekanntgegeben (ein Exemplar liegt der Redaktion vor), doch während der Durchführung hatten sich die Tscheljabinsker und sonstigen „Aufbaukünstler“ aus ganz Russland spurlos aus dem Staub gemacht.
    Mit den Strafverfahren war es dasselbe. Zu Beginn war von 17 eingeleiteten Verfahren berichtet worden, dann von 24, schließlich stieg die Zahl auf 72, doch von den Ergebnissen erfuhr die breite Öffentlichkeit ebenfalls nichts.
    Der Leiter der zwischenbehördlichen Kommission Roman Panow und einige seiner Mittäter landeten zwar wirklich im Gefängnis, doch wegen einer Strafsache, die mit dem Wiederaufbau Südossetiens gar nichts zu tun hatte.

    Einen Wirtschaftssektor, oh weh, den hat es nie gegeben

    Nach all diesem Hin und Her ging es mit dem budgetären Klondike merklich bergab. In der Präsidialverwaltung sind jetzt Wladislaw Surkow und Lew Kusnezow, der Minister für den Nordkaukasus, für die Aufsicht über die Republik zuständig. Das Budget Südossetiens besteht nach wie vor hauptsächlich aus russischem Geld (dieses Jahr waren das gut 9 Milliarden Rubel [rund 110 Mio Euro]), und es läuft ein Investitionsprogramm, das unter anderem den realen Wirtschaftssektor ankurbeln soll. Doch, oh weh, den hat es nie gegeben. In der Republik sind über 70 Prozent der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst tätig. Die restlichen 30 Prozent sind Taxifahrer und Kleinunternehmer, die mit Produkten aus Russland und Georgien handeln.

    28 Millionen für Kühe, die keine Milch geben

    Die Landwirtschaft ist nicht der stärkste Wirtschaftszweig Südossetiens, auch wenn ihr in den vergangenen acht Jahren besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Von den Maßnahmen, die vom südossetischen Ministerium für wirtschaftlichen Fortschritt angewiesen wurden und die im Bericht des Rechnungshofs genannt werden, klingt eine irrwitziger als die andere. So wurden etwa für den Kauf von Kalmücken-Rindern 28 Millionen Rubel [335.000 Euro] aufgewendet. Aber man hatte, wie sich herausstellte, für ein paar hundert Kühe gleich das Dreifache zuviel bezahlt. Doch vor allem hat sich gezeigt, dass die Kühe praktisch keine Milch geben, ja, das Kalmücken-Rind ist für die südossetischen Gegebenheiten überhaupt nicht gemacht. Im Endeffekt kam der Großteil des Bestands einfach auf die Schlachtbank.  

    Der Minister für Nordkaukasus-Angelegenheiten, Kusnezow, betonte bei einem seiner Besuche in Südossetien, dass der Akzent auf die Förderung des realen Sektors gelegt werden müsse: „Man muss diejenigen ausfindig machen, die, vom Staat unterstützt, in der Lage sind, ein leistungsfähiges Unternehmen zu gründen, das Arbeitsplätze schafft, vernünftige Gehälter sichert und sich zu einer Ertragsbasis für die Republik weiterentwickelt.“

    Ich habe eines dieser leistungsfähigen Unternehmen gefunden, das unter anderem im Rahmen des Investitionsprogramms finanziert wurde: den Sportpalast Olymp.
    Der dreistöckige Palast im Zentrum Zchinwalis wurde mit Unterstützung der Wohltätigkeitsstiftung von Alina Kabajewa gebaut. Nach sechs Jahren Vertröstungen fand im Oktober 2015 tatsächlich die Eröffnung statt. Die Idee hatte wahrlich olympische Ausmaße: zwei Schwimmbecken (ein Kinderbecken, eins für Erwachsene), neun Sporthallen (für Gymnastik, Ringen, Boxen, Gewichtheben etc.), ein medizinisches Zentrum. „Alle Hallen sind komplett ausgestattet mit allem notwendigen Inventar“, hieß es in der Werbung.

    Ein 25-Meter-Becken in einer Stadt, in der Wasser nur begrenzt verfügbar ist

    Den Palast begutachtete auch der Berater des Präsidenten und Aufsichtsleiter in Südossetien Wladislaw Surkow. Nach der Besichtigung, gefolgt von Begehungen anderer sozialwirtschaftlicher Bauprojekte der Republik, „war er höchst zufrieden“.

    Ein Jahr verging. Ein Jahr, in dem kein einziges Sportfest den Weg nach Südossetien gefunden hat. Der Sportpalast ist noch immer geschlossen. Kurz nach seiner feierlichen Eröffnung hieß es, für die Renovierung des gerade erst präsentierten Komplexes und für die Deckung der Fehlbeträge, die während der Bauarbeiten entstanden seien, seien mehrere hundert Millionen Rubel vonnöten. Das Lüftungssystem funktioniert immer noch nicht, das Dach ist überall undicht, die Wände sind von gelblich-grünem Schimmel überzogen, die Raumluft trägt das modrige Aroma subtropischer Wälder. Nun ja, und in einer Stadt, in der Wasser nur morgens und abends nach strengem Zeitplan verfügbar ist, sind Betrieb und Instandhaltung eines 25-Meter-Beckens sowieso problematisch.

    Jetzt wurde der Palast dem Haushalt des staatlichen Sportkomitees für Südossetien zugeordnet, wo man allein beim Gedanken an die Renovierung und anschließende jährliche Wartung solch eines  Monstrums ins Koma fällt. Das Geld, um „das bedeutendste Projekt der Alina-Kabajewa-Stiftung“ zu erhalten, hat einfach niemand.

    Trotz der bitteren Erfahrung der vergangenen Jahre verkünden die Beamten mit erstaunlicher Hartnäckigkeit weiterhin Pläne – einer herrlicher als der andere.

    Die Regierung dementiert stur die stetige Abwanderung

    „Es ist von vornherein klar, dass sich derartige Großprojekte bei uns nicht rentieren“, sagt Assa Tibilowa, Dozentin an der Südossetischen Universität. „Wir müssen kleine Betriebe und Kleinunternehmer fördern. Die Leute wollen ja, aber großangelegte Projekte sind bei uns schwer umzusetzen.“  Warum nur?

    Die Regierung dementiert stur die allmähliche, aber stetige Abwanderung aus der Republik. Doch die Straßen Zchinwalis sind nach 15 Uhr menschenleer, nur der Wind trägt angemalte Styropor-Stücke vor sich her, die sich von der Fassade des frisch renovierten Parlamentsgebäudes gelöst haben.  

    Voriges Jahr hat die Regierung die Ergebnisse der Volkszählung veröffentlicht. Den offiziellen Daten zufolge leben in der Republik 53.000 Menschen, und der Bevölkerungszuwachs hält an. Das zu bestreiten ist sinnlos. Ein kritischer Blick darauf lohnt sich aber:

    Jedes Jahr zum Neujahrsfest überreicht die südossetische Regierung allen Kindern Geschenke. Die Listen dazu erstellt das Bildungsministerium, dem die Polikliniken, Kindergärten und Schulen der ganzen Republik ihre Daten liefern, damit nur ja kein Kind übersehen wird. 2016 waren es 9091 Kinder. In Südossetien sind die meisten Familien kinderreich und haben zwei bis vier Kinder. Nehmen wir also an, in jeder Familie sind durchschnittlich drei Kinder. Das macht 3030 Familien. Nehmen wir weiter das Maximum an, dass nämlich jede Familie komplett ist: Mama, Papa, zwei Großväter, zwei Großmütter und drei Kinder – zusammengezählt sind das 27.273 Menschen. Dann ist noch zu bedenken, dass bei der Zahl der Weihnachtsgeschenke auch die Kinder der Armeeangehörigen des russischen Stützpunkts mitgerechnet werden; dort dienen 4000 Personen, hinzukommen die Familien. Die Zahl der Menschen, die wirklich in Südossetien leben, ist also in Wahrheit noch geringer.

    Die Angliederung an Russland interessiert niemanden, doch das würde keiner laut sagen

    Wladimir Bossikow ist in Südossetien ein bekannter Unternehmer. In den vergangenen Jahren betrieb er verschiedene Projekte, er hatte eine eigene Möbelfabrik, dann versuchte er sich im Anbau von Nüssen, seine neueste Geschäftsidee ist Mineralwasser.

    Bossikow fuhr durch Bergschluchten, untersuchte Mineralwasserquellen und wählte eine der besten am Südhang des Großen-Kaukasus-Bergkamms aus. Russische Laboratorien bestätigten die qualitative Einzigartigkeit dieses Heilwassers. Er rodete den Wald um die Quelle, kaufte die nötige technische Ausrüstung und errichtete eine kleine Fabrik zur Abfüllung.    

    „In unserer Anlage können wir 6000 Flaschen pro Tag abfüllen. Ich möchte versuchen, in den russischen Markt einzusteigen. Wir warten auf die Antwort des russischen Patentamtes“, sagt er. Die Antwort steht bereits seit sieben Monaten aus. Inzwischen steht seine neue Fabrik still, und das einzigartige Mineralwasser löst sich auf in den Wassern des Großen Liachwi.

    „Bereits jetzt können wir leicht selbst, aus eigener Kraft 2 bis 3 Milliarden Rubel [24 bis 36 Millionen Euro] im Jahr verdienen“, sagt Alan Dschussojew, Anführer der sozialen Bewegung Deine Wahl – Ossetien, „aber bitte unterstützt die Kleinbetriebe! Wir haben Potenzial, natürliche Ressourcen, nur die Behörden wollen nicht – weder unsere, noch die russischen. Trotz des Investitionsprogramms und vieler zwischenbehördlicher Abkommen mit Russland, geht es nie um reale Arbeit. Immer nur um Berichterstattung auf Papier.
    In dieser Situation von einem Referendum und einer möglichen Angliederung an Russland zu sprechen, das ist einfach nur viel Lärm um nichts. Meiner Meinung nach muss die Frage über unseren Status ein für alle Mal vom Tisch. Wir sind Russland sehr dankbar und hätten jetzt gern die Möglichkeit, uns zu entwickeln. So denken viele.“  

    Und das stimmt, ich habe mit vielen Menschen gesprochen: Die Frage nach der Angliederung an Russland interessiert niemanden, was die Leute beschäftigt sind Lebenserhalt und Verdienst, doch das würde niemand laut sagen. Wer sich öffentlich gegen ein Referendum ausspricht, kann für einen Gegner Russlands und einen Feind nationaler Interessen gehalten werden. Obwohl von antirussischen Stimmungen hier immer noch weit und breit keine Spur ist.

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  • Die Plakat-Partisanen

    Die Plakat-Partisanen

    Mitten in Moskau war er zu sehen: Putin mit Panamahut à la Johnny Depp und der Frage „Welches Panama?“. Das Plakat prangte unmittelbar nach Veröffentlichung der Offshore-Recherchen auf Bushaltestellen im Stadtzentrum.
    Nach den harten Haftstrafen für Teilnehmer der Bolotnaja-Proteste und seit immer mehr Pikety von der Staatsmacht unterbunden werden, haben Russlands Kreative eine neue, stille und anonyme Form des Protests gefunden: Plakate.

    Jan Schenkman sprach für die Novaya Gazeta mit zwei Machern und stellt einige ihrer aufsehenerregendsten Aktionen vor.

    Sie sind plötzlich da. An Haltestellen, auf Werbetafeln. Wo sie das nächste Mal auftauchen, weiß man nicht. In der Uliza Pokrowka war es ein Plakat, das einen Gratis-Käse in einer Mausefalle zeigte. Hätte das womöglich Sozialmarketing sein können? Ohne weiteres, rein äußerlich war der Unterschied kaum zu erkennen. Bloß hatte der Käse auf diesem Bild die deutlich ausgeprägten Umrisse der Halbinsel Krim. Und tauchte just an dem Tag auf, als Russland die Angliederung der Krim feierte.

    Die Krim – ein Gratis-Käse in der Mausefalle? Foto © Ilya Varlamov
    Die Krim – ein Gratis-Käse in der Mausefalle? Foto © Ilya Varlamov

    Am 5. März, dem 63. Todestag Stalins, wurde ein neuer Slogan geboren: „Der eine ist tot. Und irgendwann stirbt auch der andere.“ Das ist ebenfalls ihr Werk. Der Text steht auf einem professionell gemachten Plakat, das plötzlich an den Haltestellen hing. Stalins Totenmaske und dazu dieser Spruch. Die Leute gehen vorbei und denken: „Haben wir etwa eine neue Regierung?!“

    Welches Panama?

    Auf den Offshore-Skandal neulich folgte dann eine vollends lakonische Reaktion: das Portrait des russischen Präsidenten in Gestalt eines der Protagonisten von Fear and Loathing in Las Vegas. Dazu die rhetorische Frage: „Panama? Welches Panama?“ Soll heißen: Wovon reden Sie, noch nie gehört … Und das alles mitten auf dem Moskauer Gartenring.

    Welches Panama? Foto © Oleg Kaschin
    Welches Panama? Foto © Oleg Kaschin

    Professionelle Plakatierer sagen, das sei alles keine große Kunst. Übermannshohe Werbebanner auszutauschen dagegen, das sei wirklich knifflig. Das erfordere Erfahrung im Industrieklettern und entsprechende Fähigkeiten. Die Vitrinenkästen hingegen könne man in der Regel mit einem Universalschlüssel oder einem gewöhnlichen Stemmeisen öffnen. Ist man zu zweit und hat etwas handwerkliches Geschick, dann sei die Sache in einer halben Stunde erledigt. Selbst im Dunkeln.

    Zumal die Aktivisten die meisten Plakate außen auf die Scheibe draufkleben, der Kasten also nicht einmal geöffnet wird. Und der materielle Schaden: verschwindend gering, es geht ja nichts kaputt. Na, und wie viel mag es kosten, den Glaskasten zu putzen? Höchstens 5000 Rubel [70 Euro].

    Putins größte Hits

    Die Aktionen der vergangenen Monate sind keineswegs die erste Attacke auf den städtischen Raum. Als der Präsident im vergangenen Dezember eine Pressekonferenz gab, tauchten am selben Tag in Moskau gleich zwei Plakate auf: Auf dem Plakat beim Theater Sowremennik hing die Ankündigung für die abendliche Vorstellung. [Gegeben wurde TschaikaDie Möwe von Anton Tschechow – dek.] Im Prinzip sah fast alles aus wie immer, nur unten links in der Ecke stand: Warum man die Möwen (ru. Tschaiki) nicht einbuchtet – Monolog, gelesen von Juri Tschaika. Eine eindeutige Anspielung auf [den Korruptionsskandal um] den russischen Generalstaatsanwalt.

    Das zweite Plakat sah aus wie eine Konzertankündigung des russischen Schlagerstars Filipp Kirkorow, bloß dass Wladimir Putin hier abgebildet war. „Auf allen Fernseh-Bildschirmen des Landes! Seine größten Hits!“ Darunter verschiedene Zitate: „2015 wird sich ein Drittel aller Russen eine Eigentumswohnung leisten können“, „Der Rubel fällt – die Einkommen steigen“ und weitere Sprüche dieser Art.

    Völlig neue Proteststrategie

    Diese Proteststrategie ist für Moskau vollkommen neu. Das heißt, ein paar Versuche gab es früher schon, doch jetzt wird sie zum Trend. In Zeiten, in denen sämtliche nichtgenehmigte und mitunter auch genehmigte Pikety und Kundgebungen unterbunden werden, sieht es so aus, als gäbe es im öffentlichen Raum keine andere Form mehr, die eigene Meinung zum Ausdruck zu bringen.

    Und nicht nur in der Hauptstadt: Die Praxis verbreitet sich im ganzen Land. In der Nähe von Rostow war an einer völlig kaputten Straße ein Banner aufgetaucht mit dem Aufruf, die regierende Partei zu wählen: „Gib deine Stimme dem Einigen Russland, und dein Leben sieht so aus wie diese Straße hier.“ Wenn man genau hinschaut, stößt man in allen möglichen Städten auf solche Aktionen. Und das ist erst der Anfang.

    Keiner weiss, wie reagieren

    Auch die Anonymität irritiert die Leute. Bis heute wurde kein Mitwirkender an den Plakataktionen verhaftet. Und man kann ihnen ja auch nicht wirklich etwas vorwerfen: Es gibt keine vulgäre Sprache, auch keine Aufrufe zum Sturz der bestehenden Ordnung. Es geht einfach nur um den Witz, und der ist nicht einmal besonders boshaft. Die Behörden stecken in einer Sackgasse und wissen nicht, wie sie reagieren sollen. Okay – illegales Plakatekleben. Aber das ist auch alles.


    Jewgeni Lewkowitsch: „Ich wollte einfach, dass die Leute lächeln“

    „Das ist eine ziemliche punkige Aktion“ – Plakataktivist Jewgeni Lewkowitsch. Foto © Novaya Gazeta
    „Das ist eine ziemliche punkige Aktion“ – Plakataktivist Jewgeni Lewkowitsch. Foto © Novaya Gazeta

    Der Einzige, der sich zu dem Plakat mit Putin à la Kirkorow bekannt hat, ist der Moskauer Aktivist und Gründer der Vereinigung Julia & Winston

    „… der sich dazu bekannt hat” – das stimmt so nicht ganz. Wir haben unsere Urheberschaft nie geheim gehalten. Von Anfang an haben wir alles ganz offen gehandhabt, alles auf Facebook gepostet. Ich finde es sinnlos, vor etwas Angst zu haben, in einer Situation, wo sie dich wegen nichts auf der Straße aufgabeln können. Es kommt sowieso aufs Gleiche raus. Die Leute werden eingebuchtet, weil sie irgendwelche Posts geteilt oder geliked haben, also wovon reden wir hier? Entweder man hat vor gar nichts Angst oder vor allem. Alles, was ich weiß, ist, dass sich die Firma, der die Plakatvitrinen gehören, beim Ermittlungskomitee beschwert hat. Aber ich verfolge das nicht weiter, ehrlich gesagt. Es kommt, wie es kommt.

    Wie viele Exemplare gab es insgesamt?

    Vier, wenn ich mich recht erinnere. Das Ganze ist eine ziemlich kostspielige Angelegenheit: Es sind selbstklebende Hochglanzposter, und dann in dieser Größe. Rund 15.000 Rubel [200 Euro] haben die vier Plakate gekostet. Und das war schon mit Rabatt, über Beziehungen.

    Ich finde es sinnlos, vor etwas Angst zu haben, in einer Situation, wo sie dich wegen nichts von der Straße wegschnappen können

    Ich würde am liebsten ständig welche aufhängen, Ideen habe ich jede Menge. Aber woher soll ich jeden Monat 15.000 Rubel nehmen? Wir haben für die Aktion Geld im Netz gesammelt. Haben es direkt so formuliert: „So viel Geld, wie wir zusammenbekommen, so viel Plakate werden wir machen.“

    Putins größte Hits – Konzertplakat mit Zitaten des Präsidenten. Foto © Julia & Winston

    Und wie lange hat der Pseudo-Kirkorow gehangen?

    Bis zum nächsten Abend. Die Leute liefen vorbei und haben geguckt. Manche haben geschimpft, anderen hat’s gefallen. Und dann haben wir die Leute befragt, mit der Kamera: Welche Putin-Schlager kennen Sie? Manche dachten tatsächlich, es gebe ein Konzert und der Präsident würde auftreten und singen.

    Worum geht es mehr bei dieser Aktion – um Performance oder um politischen Protest?

    Es ist eher eine Notlösung. Sich mit Plakaten auf die Straße zu stellen ist heutzutage komplett sinnlos. Da steht man und niemand guckt, und wenn jemand guckt, dann das Zweite Operative Regiment der Polizei. Unser Plakat hing wesentlich länger als ich mit ihm auf der Straße hätte stehen können. Es ist größer, es ist farbenprächtiger, fällt doller auf, mehr Leute sehen es. Und ich riskiere in dem Moment nicht, verhaftet zu werden. Es ist in etwa das Gleiche wie ein Einzelprotest, aber um ein Vielfaches effektiver. Wenn das jemand als Performance begreift – bitteschön, aber ich persönlich sehe das nicht so.

    Da steckt kein tieferer Sinn dahinter, ich wollte einfach, dass die Leute mal lächeln und sich ein bisschen freier fühlen

    Ich komme vom Punk, und aus meiner Sicht ist das mit den Plakaten eine ziemlich punkige Aktion. Da steckt kein tieferer Sinn dahinter, ich wollte einfach, dass die Leute mal lächeln und sich ein bisschen freier fühlen. Unsere Stadt ist in dieser Hinsicht vollkommen tot, jede kleine Umtriebigkeit macht sie schöner.

    Das einzige, wogegen ich bin – man darf nicht zum Mord aufrufen. Ich fand schon unser Plakat „Der eine ist tot. Und irgendwann stirbt auch der andere“ vom ethischen Standpunkt aus ziemlich an der Grenze. Jemandem öffentlich den Tod zu wünschen, das ist irgendwie naja. Man muss Mensch bleiben, sonst unterscheiden wir uns durch nichts von all diesen Blutsaugern.

    Aber ich kann auch Menschen nicht verurteilen, die in Extreme verfallen. Ich kann mich auch nicht immer beherrschen. Ich kenne eine Masse anständiger Leute, die Putin unterstützen. Wenn die auch nur ein böses Wort oder derben Ausdruck über ihn sehen, betrachten sie gleich die gesamte Opposition als übles Gesindel.


    Alexej Zwetkow, Schriftsteller, Theoretiker der linken Bewegung: „Die Plakatmacher machen mit der Staatsmacht einen Idiotentest.“

    „Eine andere Welt ist möglich“ – Alexej Zwetkow. Foto © Novaya Gazeta
    „Eine andere Welt ist möglich“ – Alexej Zwetkow. Foto © Novaya Gazeta

    „Das Verfahren ist altbekannt, es nennt sich Aneignung. Es geht darum, nicht gemäß den Regeln, sondern mit den Regeln zu spielen. Im Westen machen das die radikalen Linken, weil sie nicht an die Demokratie glauben. Sie betrachten sie als Spektakel, das die Eliten für die naiven Massen veranstalten.

    Es geht darum, nicht gemäß den Regeln, sondern mit den Regeln zu spielen

    Bei uns bezweifeln die Leute, die die Plakate kleben, dass ihnen das System auch nur die geringste Möglichkeit gibt, Politik mitzugestalten. Interessanterweise formuliert die Staatsmacht sämtliche Beanstandungen an den Plakaten in wirtschaftlichen Termini: nichtbezahlte Werbefläche, Eigentumsverletzung. Die politische Botschaft wird dabei in keiner Weise kommentiert. Es sei unbefugte Werbung, heißt es. Aber Werbung wofür? Für Protest?

    Das Plakat mit der Käsekrim hat eine doppelte Bedeutung: Auf der einen Seite die Krim als geopolitischen Köder, durch dessen Einverleibung die Staatsführer sich und alle anderen zur Isolation und dem Status von Ausgestoßenen verdammt haben.
    Auf der anderen Seite aber haben die meisten Kommentatoren sofort auf den Gratis-Käse in der Mausefalle abgehoben – was die Logik einer Welt offenbart, in der alles zur Ware wird und in der es einst überhaupt nichts mehr umsonst geben wird.

    „Tschaika“ [Möwe] – Wortspiel mit Tschechows Theaterstück und dem gleichnamigen Generalstaatsanwalt. Foto © Olga Romanowa
    „Tschaika“ [Möwe] – Wortspiel mit Tschechows Theaterstück und dem gleichnamigen Generalstaatsanwalt. Foto © Olga Romanowa

    Bei der Tschaika-Aktion hat man sich die Marke des Theaters Sowremennik [dt. Zeitgenosse – dek] angeeignet, ein fremdes Image mitbenutzt. In Europa wird in der Regel die Marke eines offenkundigen Gegners benutzt. Nun bringt kaum jemand das Theater Sowremennik mit staatlicher Propaganda in Verbindung, hier ging es offensichtlich um das Wortspiel.

    Interessanter ist das Plakat mit Stalin und dem Satz: „Der eine ist tot. Und irgendwann stirbt auch der andere”. Das hat das System als eindeutig gefährlich wahrgenommen, Polizisten versuchten sich vor das Plakat zu stellen und es zu verdecken, so dass die Leute es nicht fotografieren konnten.

    Doch kaum hatten sie das Plakat abgenommen, tauchten in der Stadt neue Plakate auf: mit demselben Text, aber einer Darstellung des ägyptischen Gottes Thot.

    Die Plakatmacher machen mit der Staatsmacht gewissermaßen einem Idiotentest: Ab welchem Niveau hört das System auf, einen Inhalt als gefährlich wahrzunehmen, was muss das für ein Bild sein, wie absurd muss es sein?

    Das war eine Revolution im Miniaturformat

    Die ersten Aneignungsaktionen gab es in den sechziger Jahren in Westeuropa und den USA, von jungen Rebellen, die sich Situationisten nannten. Die Aneignung war ihrer Meinung nach das Gegenstück zu der für den Kapitalismus grundlegenden Entfremdung. Und der war permanent Gegenstand ihres kreativen Spotts. Jede ihrer Aktionen war das Versprechen, dass die Menschheit die ganze Welt vereinnahmen und alles allen gehören wird.
    Das war eine Revolution im Miniaturformat: den Sinn von Plakaten, Reklameschildern oder den damals modernen Comics zu verändern, indem man ihnen einen subversiven Inhalt unterlegte.

    Diese Tradition hat sich bis heute gehalten. Globalisierungsgegner brachten [2008 bzw. 2009] jeweils täuschend echte eigene Versionen der New York Times und der ZEIT heraus. Perfekte Kopien in Schrift und Layout, in denen es hieß, die wesentlichen Ideen der Globalisierungsgegner seien Wirklichkeit geworden: die Ungleichheit werde abgebaut, die Kriege würden beendet, Börsenspekulationen verboten, Wohnraum sei von nun an kostenlos, die Welt auf dem Weg zu einer ökologischen Produktionsweise usw.
    So wurden, in spielerischer Form, virale Botschaften in die Welt gesetzt und die Losung „Eine andere Welt ist möglich!“ versinnbildlicht.

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    Dass es in den Reihen des IS auch russische Kämpfer gibt, ist weithin bekannt. Aber auch in Russland selbst schließen sich mehr und mehr islamistische Gruppierungen dem IS an: Dies geht aus einem Bericht hervor, den die Nichtregierungsorganisation International Crisis Group kürzlich veröffentlicht hat (ru, en). Laut dem Bericht ist sogar zu befürchten, dass ganze Regionen im Nordkaukasus zu „Provinzen des Islamischen Staates“ werden könnten.

    Die Novaya Gazeta hat mit Jekaterina Sokirjanskaja gesprochen, die den Bericht verfasst hat. Sokirjanskaja ist auch Mitglied der NGO Memorial sowie des Expertenrats beim Menschrechtsbevollmächtigten der Russischen Föderation.

    Wie haben sich der Krieg in Syrien und die Entstehung des IS auf den islamistischen Untergrund im russischen Nordkaukasus ausgewirkt?

    Die Maßnahmen der Silowiki [vor den olympischen Spielen 2014 – dek] haben ja einerseits dazu geführt, dass die Aktivität der nordkaukasischen Untergrundkämpfer eingedämmt wurde. Das hat sich auch positiv in den Terrorstatistiken niedergeschlagen. Syrien hat dabei eine Schlüsselrolle gespielt, denn ein Teil der Kämpfer und auch viele Radikale, die mit den Kämpfern sympathisieren und sich ihnen angeschlossen haben, sind in den Syrienkrieg gezogen. Nach Angaben des Kawkaski Usel ist die Zahl der Terroropfer im Kaukasus über die letzten zwei Jahre auf ein Fünftel gesunken.

    Andererseits ist die Sicherheitslage nach wie vor kritisch und es muss uns klar sein, dass das Problem mit den Untergrundkämpfern noch nicht endgültig gelöst ist. Genaugenommen haben wir unseren regionalen Dschihad weit über die russischen Grenzen hinaus exportiert und auf diese Weise den nordkaukasischen Untergrund mit dem globalen Dschihad vereinigt.

    In Ihrem Bericht beschreiben Sie detailliert, wie nahezu alle zum hiesigen Untergrund gehörenden Wilajets sukzessive dem Kalifen des IS die Treue geschworen haben. Kann man daraus schlussfolgern, dass die Regionen im Nordkaukasus, die als Wilajets organisiert sind und den Treueschwur geleistet haben, in gewissem Sinne Teil des IS-Gebiets geworden sind?

    Die Wilajets selbst können auf nichts Einfluss nehmen. Aber der Virus wurde in Umlauf gebracht. Mit dem IS befinden wir uns faktisch im Kriegszustand. An die 5000 russische Staatsbürger sind nach Syrien in den Kampf gezogen, und das übrigens nicht nur aus dem Kaukasus. Russisch ist die drittwichtigste Sprache im IS. Unsere Landsleute besetzen dort recht hohe, sogar sehr hohe Posten, wie zum Beispiel Omar Schischani und Abu Dschichad, das sind Positionen unmittelbar in den Machtstrukturen des IS.

    Genaugenommen haben wir unseren regionalen Dschihad weit über die russischen Grenzen hinaus exportiert.

    Ihre Beziehungen und ihr Einfluss auf den russischen Untergrund – das ist ihre politische Ressource, das soziale Kapital, mit dem sie die Karriereleiter im IS erklimmen.

    Die Leute, die dort den endlosen Kampf gegen Russland fortsetzen, haben bereits erreicht, dass der IS Russland auf dem Schirm hat, und sie werden unser Land bei jeder Gelegenheit als Zielscheibe betrachten, als eine der Schlagrichtungen für den globalen Dschihad. Bei Bedarf können sie auf Unterstützer innerhalb Russlands zurückgreifen. Sie können russische Ziele im Ausland angreifen. Nun, und bei der erstbesten Gelegenheit werden sie nach Russland zurückkehren.

    Omar Schischani wurde unlängst bei einem Einsatz amerikanischer Luftstreitkräfte verwundet. Laut Berichten ist er klinisch tot. Zum russischen Untergrund hat er einen überaus mittelbaren Bezug. Sie lüften nun erstmals den Schleier und berichten über seinen engsten Mitkämpfer Abu Dschichad. Wer ist dieser Mensch?

    Er ist eine sehr wichtige Figur, doch weiß man über ihn in Russland seltsamerweise kaum etwas. Er wurde in der Ortschaft Ust-Dscheguta in Karatschaj-Tscherkessien geboren, es gibt über ihn nur eine einzige Veröffentlichung auf der Website Kavkazpress.

    Dort steht, dass er ein radikaler Islamist war, im Nahen Osten studiert hat, nach Russland zurückgekehrt ist, wo er Kontakte zum Untergrund knüpfte. Er hat nicht gekämpft, wurde aber nach Artikel 208 des Russischen Strafgesetzbuchs wegen Mithilfe zu einem Jahr Straflager verurteilt. Aus derselben Quelle geht hervor, dass er dabei viele Leute aus dem Untergrund bei den Rechtsschutzorganen angeschwärzt habe, aber diese Information lässt sich nicht überprüfen.

    Mittlerweile laufen bei Abu Dschichad die Fäden der gesamten russischsprachigen Propaganda zusammen.

    Nach seiner Entlassung ist er umgehend nach Syrien gegangen und hat unter Omar Schischani die ideologische Arbeit organisiert. Zweieinhalb Jahre war Abu Dschichad für Omar Schischanis Website zuständig. Ein wichtiges Thema auf der Website war die Teilnahme von Tschetschenen, anderen russischen Kaukasiern und Menschen aus Zentralasien am Syrienkrieg.

    Mittlerweile laufen bei Abu Dschichad die Fäden der gesamten russischsprachigen Propaganda zusammen. Wobei nicht nur in Russland Kämpfer rekrutiert werden, sondern auch in Zentralasien. Außerdem will man die schon ziemlich große russische Community im IS selbst erreichen, indem man den IS als Staat für alle Muslime anpreist, die im Einklang mit dem Islam leben wollen.

    Wie ist es Abu Dschichad – ohne besonderen Einfluss im hiesigen Untergrund – gelungen, die kaukasischen Wilajets zum Treueschwur auf den IS zu bewegen?

    Er tat in den Jahren 2011/2012, als Doku Umarow noch am Leben war, nichts dafür, die Teilnahme von Mitgliedern des Imarats Kawkas (IK) am Syrienkrieg zu verhindern. Sie konnten dort Kampferfahrungen sammeln und in Lagern trainieren. Damals war das von der russischen Gesetzgebung nicht kriminalisiert; den IS gab es noch nicht und viele reisten nach Syrien wie zum Haddsch, um zwei, drei Monate im Dschihad zu kämpfen – wohl eine Pflicht für jeden Gesetzestreuen.

    Aliaschab Kebekow, der nächste Anführer des Imarat Kawkas, war bereits kategorisch dagegen, dass seine Kämpfer nach Syrien fuhren, und verbot ihnen jeglichen Kontakt mit dem IS. Allerdings war das Imarat Kawkas im Vorfeld der Olympischen Spiele praktisch zerschlagen worden. Die Silowiki hatten seine Aktivitäten und Kommunikationssysteme lahmgelegt, viele Anführer und einfache Kämpfer waren umgebracht worden.

    Die Akteure im Untergrund wurden sehr misstrauisch, in jedem Rekruten sah man einen Agenten der Geheimdienste, dort neu reinzukommen wurde äußerst schwierig.

    Das Imarat Kawkas verwandelte sich im Grunde in ein Selbstmord-Projekt, die mittlere Lebensdauer eines IK-Kämpfers betrug ein Jahr, maximal zwei. Als es den Geheimdiensten gelang, Doku Umarow zu vergiften und damit die von ihm angekündigten Terroranschläge in Sotschi zu vereiteln, verlor das Imarat Kawkas endgültig sein Image als Organisation, die zu einem effektiven Dschihad fähig ist.

    Laut unseren Quellen wurde am Vorabend der Olympischen Spiele allen, die in Syrien kämpfen wollten, grünes Licht zur Ausreise gegeben. Und tatsächlich nutzten das viele.

    Gleichzeitig wurde laut unseren Quellen am Vorabend der Olympischen Spiele allen, die in Syrien kämpfen wollten, grünes Licht zur Ausreise gegeben. Und tatsächlich nutzten das viele. Aber schon bald nach Ende der Olympischen Spiele in Sotschi begannen die russischen Machthaber streng zu kontrollieren, wer nach Syrien ging. Und da beschloss Abu Dschichad: Warum sollten Omar Schischani und er nicht eine russische IS-Provinz gründen – im Kaukasus? Dies würde  ihre Position im IS merklich stärken und eine Brücke schlagen in die Heimat, die sie nicht vergessen hatten.

    Er schickte Mitteilungen an die Emire der nordkaukasischen Gruppen und forderte sie auf, ihre Haltung gegenüber dem Islamischen Staat zu definieren. Eine Reihe der Emire leisteten noch im November 2014 den Schwur. Danach trat eine lange Pause ein. Nach dem Mord an Aliaschab Kebekow, der den Einfluss des IS noch irgendwie gezügelt hatte, wurde das Rebranding des Imarat Kawkas in Provinz des Islamischen Staates jedoch vollendet.

    Wodurch unterscheidet sich der IS denn von anderen muslimischen Ländern, die im Einklang mit dem Islam leben?

    Durch eine ultraradikale Auslegung der Scharianormen, die in ihrer ungezügelten Grausamkeit selbst nach Meinung der Al-Qaida-Ideologen nicht den Gesetzen der Scharia entspricht.  Der IS ist ein sehr starres totalitäres Gebilde mit einem starken Gewicht auf den Geheimdiensten, in deren russischsprachigem Teil laut der uns vorliegenden Informationen nicht wenige Tschetschenen agieren.

    Sehr aktiv im IS ist die Spionageabwehr, dort werden regelmäßig Menschen hingerichtet. Einige aus dem Kaukasus hat man hingerichtet aufgrund des Verdachts der Spionage für die russische Seite, speziell für tschetschenische Machthaber, die wohl tatsächlich versuchen, dort ein Agentennetz aufzubauen.
    Im IS sind Folter, brutalste Prügel, Hinrichtungen weit verbreitet, und zwar für Vergehen, die nach den Gesetzen der Scharia bei Weitem nicht einer derart strengen Bestrafung unterliegen.

    In letzter Zeit äußern sich die Ideologen des IS ständig zu allen bedeutenden Ereignissen im Nordkaukasus. Zum Beispiel zu den Versuchen der Silowiki, salafistische Moscheen in Dagestan zu schließen. Diesen Äußerungen nach zu urteilen sehen sie den russischen Kaukasus offensichtlich als ihre Einflusssphäre an. Wie ist das so gekommen?

    Unseren Geheimdiensten wurde klar, dass Syrien eine attraktive Perspektive für unsere Untergrundkämpfer bietet. Das war 2012. Damals gab es den IS noch nicht. Aber im Vorfeld der Olympischen Spiele standen die Geheimdienste vor der Aufgabe, das Problem mit dem kaukasischen Untergrund zu lösen – und zwar schnell.

    Seit 2010 hatte man versucht, das Problem mit einer Strategie der kleinen Schritte zu lösen, die auf eine fortschreitende und langfristige Deradikalisierung abzielte. Es wurden Kommissionen zur Wiedereingliederung von ehemaligen Kämpfern geschaffen, ein Dialog zwischen Vertretern verschiedener Strömungen des Islam initiiert, gesetzestreuen Salafisten wurden mehr Freiheiten eingeräumt. Es wurde ermöglicht, neue Moscheen zu bauen, Medressen zu eröffnen, an gewaltfreien salafistischen Projekten teilzunehmen.
    Dieser Prozess hat durchaus Wirkung gezeigt – die Jugend hat begriffen, dass man seinen religiösen Bedürfnissen nicht nur in der Wildnis, sondern auch im bürgerlichen Leben nachgehen kann.

    Die Aktivität des islamistischen Untergrunds ist um 15 % gesunken. Aber für die Olympischen Spiele reichte das den Silowiki nicht, man musste in kürzester Zeit den Kaukasus von allen potenziellen Bedrohungen säubern. Daher kehrte man zu brutalen Methoden zurück, was im Grunde den Ansatz der kleinen Schritte zunichtemachte, der später dann nur in Inguschetien wiederbelebt worden ist.

    Die Propagandisten des boten eine neue Formel an: Engagiert euch vor Ort, schafft eure eigene Provinz des islamischen Kalifats.

    Erneut lief das volle Programm repressiver Maßnahmen. Laut unseren Quellen in den Rechtsschutzorganen und vielen Menschen im Kaukasus, wurden gleichzeitig die Grenzen für alle geöffnet, die in den Syrienkrieg ziehen wollten.

    Um zu verhindern, dass diejenigen, die zum IS gingen, nach Russland zurückkehrten, wurden Gesetzesänderungen vorgenommen. Die Teilnahme an Kampfhandlungen im Ausland wurde fortan als kriminell eingestuft und strafrechtlich mit einem Freiheitsentzug bis zu zehn Jahren geahndet. Schon der Vorsatz, nach Syrien auszureisen, brachte die Leute ins Gefängnis, wegen Anwerbung oder wegen Finanzierung des IS. Auch der IS selbst wurde den Kämpfern aus Russland gegenüber argwöhnischer. All diese Faktoren zusammengenommen haben den Zustrom zum IS erschwert und somit den russischen Zustrom nach Syrien verringert.

    Aber wichtig ist eines: Zur gleichen Zeit gewöhnten sich auch die Propagandisten des IS sehr schnell an die neuen Bedingungen, und verstärkten die ideologische Indoktrinierung von Sympathisanten. Sie boten eine neue Formel an: Leute, das Kalifat fängt in euren Gemeinden an, engagiert euch vor Ort, schafft eure eigene Provinz des islamischen Kalifats. Hatten sie es also früher auf die Aufnahme der Massen in ihre Organisation abgesehen, so begannen sie nun aktiv, ihre Ideologie nach außen zu tragen, ihren Virus in Umlauf zu bringen – unter anderem nach Russland.

    So reagierte beispielsweise umgehend der IS, als die Silowiki salafistische Moscheen in Dagestan schließen wollten. Die IS-Ideologen gaben eine Erklärung dazu ab, in der sie sich an die aufgebrachten Gläubigen richteten. Sie riefen dazu auf, nicht auf jene zu hören, die sich mit den Machthabern einigen wollten, sondern erstmal nach Hause zu gehen, ihrem Alltag nachzugehen und den richtigen Moment abzuwarten. Und dann, wenn niemand damit rechnet, den Schlag auszuführen wie die „Pariser Brüder“.

    Überhaupt, wenn man sich diese Erklärungen der IS-Ideologen so anhört (zum Beispiel von Achmad Medinski, einem Dagestaner, der sich dem IS angeschlossen hatte), dann wird klar, dass sie bis ins kleinste Detail alle Vorgänge, Konflikte und Akteure im Nordkaukasus kennen. Sie wiegeln geschickt die Radikalen gegen die gemäßigten Salafisten auf. Die verspotten die gemäßigten, ziehen sie ins Lächerliche und drohen ihnen sogar offen mit dem Tod, wenn diese sich bemühen oder dazu aufrufen, den Dialog mit den russischen Machthabern zu suchen.

    Überhaupt muss man begreifen, dass nur die gemäßigten Salafisten für die Ideologen des IS im russischen Kaukasus eine Gefahr darstellen. Und der Staat verfolgt diese Salafisten nunmehr, indem er einе Art „Prophylaxe für potenzielle Straftäter“ in Dagestan betreibt, Moscheen schließen lässt und die repressive Politik Kadyrows unterstützt.

    Dem IS spielt das alles nur in die Hände. Brilliant nutzen seine Ideologen die aufgestauten ungelösten Probleme, die Unfertigkeit und Inkonsequenz unserer Politik in dieser Region für die Radikalisierung der Unzufriedenen und bauen dadurch ihre eigenen unterstützenden Kräfte vor Ort aus. Das ist gefährlich, weil wir es mit einem perfiden, mobilen, ungreifbaren Gegner zu tun haben. Die Folgen davon sind, wenn wir keine effektiven Gegenmaßnahmen finden, unvorhersehbar.

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  • Wie Boris Nemzow ermordet wurde

    Wie Boris Nemzow ermordet wurde

    Der Mord am Oppositionspolitiker Boris Nemzow war die aufsehenerregendste und symbolträchtigste Straftat der vergangenen Jahre in Russland.

    Obwohl bald tschetschenische Tatverdächtige ausfindig gemacht wurden, blieb ein gewaltiger Kreis von Fragen offen: War der Mord eine Rache für die politische Tätigkeit Nemzows? Spielten persönliche oder gar religiöse Motive eine Rolle (Nemzow hatte mehrfach den tschetschenischen Republikchef Kadyrow verbal angegriffen und den islamistischen Terrorangriff auf Charlie Hebdo öffentlich verurteilt)? Wieso wurde ein Hauptverdächtiger von den Ermittlungsbehörden überhaupt nicht befragt?1 Wie war es überhaupt möglich, dass praktisch vor den Kremlmauern eine wichtige Person des öffentlichen Lebens regelrecht hingerichtet wurde?

    Noch nie ist dieser Fall so detailliert rekonstruiert worden, wie in diesem Material der Novaya Gazeta, das zum ersten Jahrestag des Nemzow-Mordes (am 27. Februar) erscheint. Das Investigativ-Ressort der Zeitung, in dem auch die ebenfalls von tschetschenischen Auftragsmördern umgebrachte Anna Politkowskaja gearbeitet hatte, trägt alle bekannten Fakten zusammen, ergänzt sie durch eigene Recherchen und Wissen aus Insiderquellen und bietet so ein umfassendes Bild des Tathergangs und möglicher Motive.

    Ein Schlüsselartikel zur politischen Gewalt in Russland, der in kürzester Zeit Hunderttausende von Lesern im russischen Internet fand.

    Wer es war, der am 27. Februar 2015 an der Großen Moskwa Brücke, dreihundert Schritte vom Kreml entfernt, Boris Nemzow ermordet hat – darüber wurde der Russische Präsident bereits am 2. März informiert.

    Im Bericht des FSB-Chefs Bortnikow heißt es: Die Attentäter waren eine Gruppe tschetschenischer Silowiki aus dem Bataillon Sewer (Nord) der Inneren Truppen des Innenministeriums der Russischen Föderation (WW MWD RF), vermutlich unter der Leitung des stellvertretenden Bataillonsführers Ruslan Geremejew.

    Hotel Ukraina am Tag vor dem Mord: zwei mutmaßlich an der Tat Beteiligte, in der Mitte Ruslan Geremejew, im Vordergrund Tamerlan Eskerchanow – Novaya Gazeta

    Am 5. März wurden festgenommen: Saur Dadajew, die Brüder Ansor und Schadid Gubaschew, Tamerlan Eskerchanow, Chamsat Bachajew. Beslan Schawanow kam bei seiner Festnahme ums Leben.

    Drei von ihnen sind Mitarbeiter der tschetschenischen Sicherheitsorgane. Dadajew und Schawanow gehören zum Bataillon Sewer, Eskerchanow ist ein entlassener Mitarbeiter der örtlichen Polizeidienststelle im Schelkowski Rajon (ROWD) [in Grosny – dek.], das von Wacha Geremejew geleitet wird – einem Verwandten von Ruslan Geremejew und von dem Staatsdumaabgeordneten Adam Delimchanow. Dazu kommen Bachajew und der jüngere Gubaschew-Bruder, die beide keiner offiziellen Arbeit nachgehen.

    Dass die Tat so schnell aufgeklärt wurde, liegt an zwei Dingen: Am „Wer hat es gewagt?“ des Präsidenten und am endlich mal funktionierenden Spionagenetz in der Führung der Tschetschenischen Republik. Die Moskauer Silowiki haben nämlich deren Vorgehen – das nur allzu oft tödlich endet – katastrophal satt.

    Allem Anschein nach hat der Mord an Boris Nemzow das Fass auf allen Seiten zum Überlaufen gebracht – noch nie hat es das gegeben: Innenministerium (MWD), FSB, das Russische Ermittlungskomitee (SKR), der Föderale Dienst für Rauschgiftkontrolle (FSKN) und die Generalstaatsanwaltschaft – sonst permanent verfeindet – ziehen hier anfallsartig an einem Strang.

    Und es ist auch klar, warum: Mehr als einmal waren kurz vor dem Schuldspruch stehende Strafverfahren gegen tschetschenische Silowiki, die wegen schwerer Verbrechen eingeleitet wurden, ins Leere gelaufen – und die Angeklagten belegt mit Meldeverpflichtungen bei sich zu Hause oder gar im Donbass aufgetaucht.

    Warum haben die Mörder Spuren hinterlassen?

    Im Grunde haben sich die Attentäter, die bald vor ein Geschworenengericht kommen, nicht besonders viel Mühe gemacht, unterzutauchen – offenbar in der Annahme, dass sie wegen eines „Auftrags des Vaterlands“ nicht verfolgt würden. Keiner von ihnen hat die Patronenhülsen am Tatort aufgesammelt. Keiner hat sich vor den Überwachungskameras versteckt. Selbst das Fahrzeug, ein Saporoshez, wurde vor dem Mord gewaschen und nicht danach. So konnte man genetisches Material, Spuren von Pulvergas sowie eine Dashcam sicherstellen, von der nichts gelöscht worden war. In der Wohnung, die die Verdächtigen angemietet hatten, fand man SIM-Karten, die offensichtlich keiner geplant hatte, wegzuwerfen.

    Die verhafteten Personen waren offenbar so schockiert über ihre Verhaftung, dass sie quasi sofort vor laufender Kamera ein Geständnis ablegten. Dabei ist auf diesen Videos bei keinem von ihnen ein blaues Auge erkennbar oder eine leere Sektflasche, die im Hintern steckt (beides haben die Tatverdächtigen später behauptet, nachdem sie sich besonnen hatten).

    Mehr noch, diese ursprünglichen Aussagen wurden im Zuge eines speziellen Ermittlungsvorgangs, bei einem Ortstermin, bestätigt: Vor laufender Kamera erzählen Dadajew & Co rege und detailliert, wo sie gestanden haben, wo sie langgelaufen sind, wie sie ihr Opfer beobachtet und ermordet haben. So liegen dem Ermittlungskomitee Geständnisse von Saur Dadajew, Ansor Gubaschew und Tamerlan Eskerchanow vor – die die Verhörten plötzlich widerriefen, als neue Anwälte eingeschaltet wurden. Nun, die Glaubwürdigkeit der ersten wie auch der späteren Aussagen werden die Geschworenen beurteilen, uns soll zunächst genügen, dass es sie gibt.

    Was machen tschetschenische Offiziere im Hotel President?

    Es stellt sich die Frage: Was machen Offiziere aus Truppen des Innenministeriums, die in einer vollkommen anderen Region Russlands dienen, in Moskau? Diese Frage hängt schon seit gut zehn Jahren in der Luft. Tschetschenien ist das einzige Subjekt der Föderation, dessen Führung in der Hauptstadt eine Gruppe eigener Silowiki unterhalten darf; offiziell sollen sie die Sicherheit hochrangiger Beamter gewährleisten, die aus verschiedenen Gründen nach Moskau reisen.

    Bedenkt man, dass selbst das tschetschenische Oberhaupt Ramsan Kadyrow eher selten in Moskau anzutreffen ist, ist das alles noch befremdlicher: Was machen diese Leute hier, die mit Stetschkin-Knarren behangen und mit Dienstausweisen ausgestattet sind, die zudem noch die Durchsuchung ihrer Fahrzeuge verbieten? Hat man jemals von einem Sondereinsatzkommando aus, sagen wir, dem Gebiet Jaroslawl gehört, das den Gouverneur während seines Aufenthalts in der Hauptstadt beschützt?

    Nemzows Grab auf dem Trojekurowski Friedhof in Moskau - Novaya Gazeta
    Nemzows Grab auf dem Trojekurowski Friedhof in Moskau – Novaya Gazeta

    Nicht zufällig erwähnen wir Jaroslawl: Schon anderthalb Tage nach dem Mord an Boris Nemzow wurde das Oberhaupt dieser Region, in der das Mordopfer die Wahl ins Regionalparlament gewonnen hatte, zügig verhört – er kam von sich aus, gleich nach der ersten Aufforderung, und das nicht zu irgendwelchen angereisten Moskauer Ermittlern, sondern zu seinen eigenen, einheimischen.

    Kadyrow hingegen, trotz seines Wissens um die Ermordung und um die Verdächtigen, das er mehrfach auf seiner Instagram-Seite demonstrierte, ist bis heute nicht befragt worden. Und das trotz eines Antrags seitens der Anwälte der Geschädigten – der Familie Boris Nemzows.

    Die „für die Sicherheit von hochrangigen Beamten der Republik Tschetschenien zuständigen Mitarbeiter der Sicherheitsorgane“ sind im Hotel President gleich gegenüber dem Innenministerium stationiert. Dort haben sie irgendwann sämtliche Hotelgäste verjagt, mit ihren ausgebeulten Trainingsanzügen, über denen man alle möglichen Waffenarten zu sehen bekommt – von Dolchen bis hin zu Maschinenpistolen.

    Es sind allerdings nur die privilegierten Mitarbeiter der tschetschenischen Sicherheitskreise, die durch die Flure des VIP-Hotels an der Ecke zur Jakimanka Straße wandeln. Die taktisch-operativen Gruppen tschetschenischer Silowiki hingegen arbeiten in Moskau im Rotationsprinzip: einige Monate vor Ort, dann kommt eine Ablösung. Sie mieten in der Regel Wohnungen am Stadtrand und bleiben dort unter sich. Sie sind zuständig für die besonders delikaten Aufträge. Dazu gehören: Entführungen, Morde, Erpressungen. Bis zu ihrem nächsten derartigen Einsatz zur Wiederherstellung der verfassungsrechtlichen Ordnung machten es sich die obengenannten Personen im inzwischen geschlossenen Restaurant Prag gemütlich. Dorthin bestellten sie leichte Mädchen, die danach lange wegen unterschiedlicher physischer Leiden in Moskauer Kliniken behandelt werden mussten.

    Delikate Aufträge bespricht man in der Regel in der Lobbybar des Hotels Radisson Slawjanskaja, im Restaurant Tatler oder dem Hotel Ukraina oder auch in diversen anderen überteuerten Lokalitäten, deren Besuch sich die Majore und Offiziere der russischen Innenministeriums-Truppen mit ihren Mercedes-Schlitten leisten können.

    In eben diesen Lokalen wurden zwischen September 2014 und Februar 2015 auch mehrfach die jetzigen Tatverdächtigen gesichtet, in Gesellschaft von Ruslan Geremejew, dem stellvertretenden Anführer des Bataillons Sewer. Zu ihnen gesellten sich immer wieder Leute, die mit Taschen kamen und dann wieder gingen – mit denselben Taschen, nur dass diese sichtlich leichter geworden waren.

    Unseren Recherchen zufolge haben die Kämpfer der taktisch-operativen Gruppe unter Geremejew einen dieser delikaten Aufträge (den Mord an Boris Nemzow nicht eingerechnet) mit Bravour ausgeführt: Aus einem Flugzeug, das auf der Landebahn des Business-Aviation-Flughafens Wnukowo-3 stand, wurde ein Topmanager von Gazprom entführt, der sich reichlicher bedient hatte, als ihm zustand. Innerhalb eines Tages gab er das Geld zurück.

    Laut unseren Quellen in Tschetschenien soll übrigens der mutmaßliche Mörder Saur Dadajew eine Zeit lang den Personenschutz des Abgeordneten Delimchanow geleitet haben.

    Vorbereitung auf den Mord

    Im September 2014 wurden in der Wejernaja Straße in Moskau zwei Wohnungen angemietet. Mieter der einen war Artur Geremejew, ein Verwandter von Ruslan Geremejew. Die andere mietete Ruslan Muchutdinow, der Fahrer von Ruslan Geremejew und selbst ebenfalls Mitarbeiter des Bataillons Sewer. (In dieser Wohnung wurde übrigens noch ein weiterer Offizier des tschetschenischen Innenministeriums gesehen, mit dem Namen Chatajew, aber er taucht bislang nicht im Verfahren auf). In der von Muchutdinow angemieteten Wohnung richteten sich dann Dadajew und seine Truppe ein und begannen ihre Arbeit gemäß der bestehenden „Ausschreibung“.

    Was ist in diesem Zusammenhang eine „Ausschreibung“? Wenn es ein unerwünschtes „Objekt“ gibt, dessen Existenz entscheidenden Leuten das Leben schwer macht, erhebt sich in den taktischen Kampftruppen, die sich in Moskau verborgen halten, ein Ruf: Der und der für so und so viel. Und wer es dann als erster schafft, die Sache zu erledigen, bekommt das Geld.

    Im August 2014 wurden vier Namen ausgeschrieben: Boris Nemzow, Michail Chodorkowski, Alexej Wenediktow und Xenija Sobtschak. Die Liste erstaunt insofern, als dass diese Personen in keine finanziellen oder politischen Reibereien mit der Republik Tschetschenien verstrickt waren. Wie dem auch sei, was wir kennen, ist der Preis: 15 Millionen Rubel [etwa 220.000 Euro].

    Nach dem Flop auf der Großen Moskwa Brücke (Nemzows Mörder wurde festgenommen) wurde die restliche Ausschreibung zurückgezogen, doch für wie lange, das ist eine offene Frage.

    Boris Nemzow entpuppte sich als unbequemes „Objekt“ für die Killer. Zum einen führte er kein geregeltes Leben nach dem Schema: zum Arbeitsplatz und dann nach Hause. Er blieb manchmal tagelang in seiner Wohnung, oder er fuhr plötzlich ins Ausland oder nach Jaroslawl, wo er als Abgeordneter arbeitete, und nicht zuletzt fuhr er unglaublich gern mit der Metro. So kostete es viel Zeit, die Kenndaten des Objekts ausfindig zu machen – Zeit, die man viel lieber in den Bars von Moskau verbrachte.

    Die Leute, die hinter der Ausschreibung standen, machten allmählich Druck – allem Anschein nach war das die Botschaft, mit der Ende Februar der Offizier des tschetschenischen Innenministeriums Schawanow auftauchte. Also wurde beschlossen, zur Tat zu schreiten, komme was wolle. Ein Detail: Für die Beschattung kamen vier Fahrzeuge zum Einsatz, darunter ein Mercedes mit dem Kennzeichen A007AR, der vermutlich von Ruslan Geremejew genutzt wurde.

    Die Ausführung des Mordes

    Überwachungskamera des Kaufhauses GUM
    Überwachungskamera des Kaufhauses GUM

    Am 27. Februar gegen 11.00 Uhr positionierten sich die Mörder auf der Malaja Ordynka Straße, wo Boris Nemzow wohnte, und begannen zu warten. Von Nemzow keine Spur. Sein Auto gondelte zum Supermarkt, doch der Besitzer des Wagens blieb daheim. Später dann fuhr Nemzow zum Rundfunk für die Acht-Uhr-Sendung von Echo Moskwy. Um 21.45 Uhr verließ das „Objekt“ gemeinsam mit einer Dame erneut sein Haus und fuhr in Richtung Roter Platz. Boris Nemzow und, wie später bekannt wurde, Anna Durizkaja aßen gemeinsam im Bosco Café zu Abend, einem Café im Kaufhaus GUM. Ansor Gubaschew und Beslan Schawanow schlichen derweil um das Gebäude herum (wie aus den Videoaufzeichnungen der Überwachungskameras hervorgeht). Nemzow und seine Begleiterin gingen dann zu Fuß zur Malaja Ordynka Straße zurück, über die Große Moskwa Brücke. Dort geschah dann alles. Dadajew kam die Treppe hoch, schoss Nemzow fünf Mal in den Rücken (kein einziger Schuss ging daneben – die langen Trainingsjahre waren nicht umsonst), die Begleiterin des „Objekts“ ließ er unbeschadet, setzte sich in den von Ansor Gubaschew gesteuerten Saporoshez und fuhr davon.

    Zwei Schusswaffen waren im Spiel: eine hatten sie zur Absicherung dabei, falls sie verfolgt worden wären. Mit der anderen Waffe – umgebaut aus einer nicht-tödlichen Verteidigungspistole [non-lethal-weapon] – wurde die Tat ausgeführt. Die Patronenhülsen stammten aus verschiedenen Serien, und es ist auch klar, weshalb: trainiert wird auf „wilden“ Schießübungsplätzen (das Ermittlungskomitee hat sie in der Umgebung Moskaus ausfindig gemacht) und die Waffen dabei mit Patronen aus unterschiedlichen Chargen geladen.

    Gubaschew und Schawanow haben dann am 28. Februar Moskau über den Flughafen Wnukowo verlassen, das zeigen die Videoüberwachungskameras. Dadajew und Geremejew sind, nachdem sie im Odinzowski-Bezirk im Moskauer Umland an einem sicheren Ort abgewartet hatten, am 1. März abgeflogen. Zum Flughafen fuhr sie Muchutdinow. Er hat dann auch, vermuten die Ermittler, die Waffen mit dem Auto wieder nach Tschetschenien gebracht.

    Um einer Überreaktion ihrer Anwälte vorzubeugen, werden Bachajew, Eskerchanow und Schadid Gubaschew nicht der unmittelbaren, sondern nur der mittelbaren Beteiligung am Mord beschuldigt: Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten Beweisstücke unterschlagen, Personen ausgespäht, in ihren Fahrzeugen Mitglieder der Gruppe transportiert – und sie mit Bratkartoffeln verpflegt.

    Die Verhaftung und danach

    In den Führungsetagen der russischen Ordnungsbehörden [Justiz- und Innenministerium – dek.] war man außer sich über eine derart laxe Strafverfolgung, von noch weiter oben [Putin – dek.] machte die zornige Frage „Wer war es?“ den Beamten zusätzlich Beine. Also wurde eine Spezialoperation in Gang gebracht.

    Man schickte eine Einsatztruppe der Sondereinheiten nach Tschetschenien und Inguschetien, mit dem Auftrag, die Verdächtigen festzunehmen.

    Die stellten sich aber selbst ein Bein, indem sie nach Inguschetien fuhren, um Drogen zu besorgen. Ansor Gubaschew und Saur Dadajew wurden auf frischer Tat von Mitarbeitern der Föderalen Drogenbekämpfung Inguschetiens ergriffen und der örtlichen Polizeidienststelle des Bezirks überstellt. Anschließend wurden sie vom Sonderkommando übernommen und nach Moskau auf den Weg gebracht. Gleichzeitig wurden im Odinzowski Bezirk im Moskauer Umland, wo sich die Verdächtigen nach dem Mord versteckt hatten, weitere Mitglieder der Gruppe festgenommen. Übrigens: die Gubaschew-Brüder sind Verwandte von Dadajew. Es ist ein charakteristisches Merkmal von „Tschetschenenmorden“, Leute aus dem eigenen Umkreis zu rekrutieren, damit mehr für einen selbst abfällt (wie auch im Fall Anna Politkowskaja).

    Eine Panne gab es nur bei der Festnahme von Schawanow, der sich in seiner Wohnung in Grosny versteckt gehalten hatte. Ein stellvertretender Innenminister Tschetscheniens (der Familienname ist der Redaktion bekannt) ging durch die von den föderalen Sicherheitskräften geschützte Absperrung, danach erfolgten zwei Explosionen und die Verlautbarung, Schawanow habe sich mit einer Handgranate in die Luft gejagt.

    Einige Tage nach den Festnahmen gab es in Dshalka, dem Heimatort der Geremejew-Familie, ein Treffen von hochrangigen Personen. Neben Ramsan Kadyrow nahm daran vermutlich der Dumaabgeordnete Adam Delimchanow teil, außerdem der stellvertretende tschetschenische Innenminister Alaudinow, Senator Sulim Geremejew, Schaa Turldajew, gegen den ein Haftbefehl wegen der Ermordung eines tschetschenischen Oppositionellen in Wien vorliegt, weitere Personen und, selbstverständlich, Ruslan Geremejew.

    Die Stadt Dshalka wurde für dieses Treffen von den Truppen des Bataillons Sewer abgesperrt, nur einzelne Angehörige der staatlichen Organe, vermutlich mit Beziehungen zu den Inneren Truppen und föderalen Sicherheitsdiensten, wurden hineingelassen. Alles deutet darauf hin, dass genau bei diesem Treffen auch eine allgemeine Vereinbarung über das weitere Vorgehen getroffen wurde.

    Insgesamt beschränkte sich die Ausbeute der Moskauer Silowiki in Tschetschenien auf eine Befragung der Verwandten der Verdächtigen und eine Zusammenstellung allgemeiner Informationen: wann geboren, wann geheiratet.

    Nach dem Mord

    Ruslan Geremejew verließ Dagestan über die Stadt Kaspisk, offiziell als Betreuer von Kadyrows Rennpferden, und begab sich in die Arabischen Emirate. Und obwohl noch Anfang März 2015 eine Anordnung nach Tschetschenien geschickt wurde, dass er festzunehmen und einer gerichtlichen Befragung zu unterziehen sei, hatten die tschetschenischen Geheimdienstler und Mitarbeiter der Polizei bereits große Schwierigkeiten mit der Antwort auf die Frage, in welchem Haus der Verdächtige in Dshalka überhaupt lebe. Kurz darauf reiste auch Muchutdinow in die Vereinigten Arabischen Emirate aus.

    Unmittelbar nach der Befragung des mutmaßlichen Mörders Saur Dadajew wurde das Video mit allen Aufzeichnungen durch jemanden aus dem Ermittlungkomitee Ramsan Kadyrow, dem Staatsoberhaupt Tschetscheniens, zur Verfügung gestellt. Kadyrow trat dann an die Öffentlichkeit mit Statements wie dem, dass Dadajew ein echter Patriot sei. Zwei Аnträge auf Anklageerhebung gegen Geremejew in Abwesenheit und die Ausschreibung seiner Fahndung scheiterten am Chef des russischen Ermittlungskomitees, Bastrykin, der sie nicht unterschrieb.

    Am Ende tauchte eine Anklageschrift auf, in der als Organisator des Verbrechens der Fahrer von Geremejew, Ruslan Muchutdinow, genannt wird, bei dem sich irgendwie 15 Millionen angehäuft hatten und der deshalb zur Fahndung ausgeschrieben wurde. Und alle Verdächtigen änderten ihre Aussagen: Nun hatte angeblich der tote Schawanow geschossen, und er hatte sich angeblich auch alles ausgedacht. Aus dieser Ecke ist also keine Antwort zu erwarten. So wie auch aus den Emiraten nicht, wo sich Muchutdinow versteckt hält. Es ist ja kein Zufall, dass Kasbek Dukusow, der mutmaßliche Mörder von Paul Chlebnikow, dem Chefredakteur der russischen Redaktion der Forbes, seine Strafe für Raub in den Vereinigten Emiraten abgesessen hat und dann ungehindert nach Tschetschenien zurückgekehrt ist, ungeachtet drohender Auslieferungsanträge durch das Justizministerium und die Generalstaatsanwaltschaft.

    Was die Verdächtigen betrifft, denen die „richtigen“ Anwälte zur Verfügung gestellt wurden, so sind deren Versuche, sich ein Alibi zu verschaffen, nach hinten losgegangen: Ihre genauen Angaben zu Aufenthaltsorten in Moskau brachten mehr und mehr Verstrickungen der fraglichen Personen ans Licht und führten zwangsläufig zu der Annahme, es seien noch ganz andere, nicht wirklich legale Angelegenheiten in ihren Aufgabenbereich gefallen.

    Bedeutung und Einfluss von Geremejews Familie haben in diesem Zeitraum deutlich zugenommen. Sogar in der weiblichen Linie: Die Schwester von Ruslan, Cheda, hat die Leitung des Sozialamts im Bezirk übernommen. Das führte – absolut nachvollziehbar – zu einem Aufstand Unzufriedener, die versicherten, dass angeblich 70 Prozent der Gelder dort irgendwo versickerten. Und Wacha Geremejew wurde als Chef der örtlichen Polizeidienststelle zum mächtigsten Mann im Bezirk.

    Zu den Mordmotiven

    Die Version, die die Verteidigung öffentlich vertritt, hält einem kritischen Blick nicht stand. Etwa die Behauptung, die Tat sei religiös motiviert, weil Nemzow sich nach den Schüssen auf die Mitarbeiter von Charlie Hebdo negativ zum Propheten und zu Allah geäußert hatte – eine klare Lüge. Erstens hatten die Verdächtigen, laut ihren eigenen Aussagen, mit den Mordvorbereitungen schon lange vor den Schüssen auf die Mitarbeiter der französischen Zeitschrift im Januar begonnen. Außerdem haben die Verdächtigen bei der Erklärung ihrer Motive immer wieder auf Folgendes hingewiesen: Nemzow sei ein Oppositioneller gewesen, der dabei war, „irgendeinen Marsch“ vorzubereiten, zweitens habe er die Ukraine unterstützt, drittens habe er „auf der Gehaltsliste von Obama“ gestanden, viertens habe er den Führer Russlands vulgär beschimpft. Wie, wo und auf welche Weise er all das gemacht haben soll, konnten die Befragten nicht erklären – offensichtlich, weil sie wohl irgendwelcher Propaganda aufsaßen.

    Solche wirren Erklärungen werfen jedoch neue Fragen auf: Wer hat diesen Personen solches Gedankengut eingepflanzt? Wer hat eine „Ausschreibung“ beauftragt mit Namen, die nicht auf der tschetschenischen Tagesordnung stehen?

    Was weiß General Solotow, der frühere, stellvertretende Leiter des föderalen Sicherheitsdienstes FSO und derzeitige Befehlshaber der Inneren Truppen? Dessen Untergebene waren vermutlich beim Treffen in Dshalka dabei, aber gegenüber dem Ermittlungskomitee gab er lange Zeit keine Auskunft auf die Frage nach deren Status.
    Warum hat der Sicherheitsdienst Russlands keine Aufzeichnungen der Videokameras vom Roten Platz und der Kremlmauer zur Verfügung gestellt, von denen es dort nur so wimmelt? Stattdessen müssen sich die Ermittler mit einem einzigen Video begnügen, das von einer Kamera des Senders TVZ aufgenommen wurde (die städtische Kamera auf der Brücke war offensichtlich gen Himmel gerichtet).

    Und schließlich: Warum will sogar Bastrykin, der Chef des Ermittlungskomitees, nicht zulassen, dass Ruslan Geremejew vernommen wird? (Geremejew ist übrigens nicht nur nach Tschetschenien zurückgekehrt, sondern hat sich zum Mord an Boris Nemzow bereits dahingehend geäußert, dass Dadajew ihn nicht begangen haben kann: Denn der habe sich die ganze Zeit bei ihm, Geremejew, aufgehalten und sei mit der Bewachung sagenhafter, hochrangiger Mitarbeiter der tschetschenischen Regierung beschäftigt gewesen.) Soll Bastrykin das ruhig mal öffentlich sagen. Zumal Geremejew (nach Angaben der Presseagentur Rosbalt) sowieso nichts anderes sagt, als dass er sich frage, was Schawanow überhaupt in Moskau zu suchen hatte. Dann würde endlich die Leitversion der Verteidigung – der tote Schawanow hat geschossen, der unerreichbare Muchutdinow war der Auftraggeber – auch ganz offiziell anerkannt.


    1.Nach einer Meldung vom 26.02.2016 hat sich der verdächtige Offizier des tschetschenischen Bataillons ​Sewer​ Ruslan Geremejew nun zu einer Aussage bereiterklärt, die er allerdings ausschließlich in schriftlicher Form leisten will. Er streitet weiterhin jede Verstrickung in den Fall Nemzow ab. Rosbalt.ru: Ruslan Geremejew nameren dat pokasanija na sluschanijach po „delu Nemzowa“

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  • Helden eines „heiligen Kampfes“?

    Helden eines „heiligen Kampfes“?

    Die Verflechtungen zwischen der orthodoxen Kirche und der russischen Politik sind über die letzten Jahre kontinuierlich enger geworden. Woher stammt die kriegerische Rhetorik im Diskurs der Kirche? Wieso hat sie gerade derzeit eine solche Konjunktur? Gibt es auch abweichende, weniger „imperiale“ Strömungen im orthodoxen Glauben? Sind von ihnen gar Anstöße zu sozialen oder politischen Veränderungen zu erwarten?

    Nachdem letzten Monat ein Artikel auf dekoder den Wandel von der Volks- zur Staatskirche beleuchtete, hier nun ein Interview zu den Fragen der politischen Orthodoxie mit dem russischen Religionswissenschaftler Boris Knorre, Dozent an der Higher School of Economics in Moskau.

    In Russland gibt es inzwischen viele Menschen, die sich bei ihren politischen Parolen auf die Orthodoxie berufen. Wie ist es dazu gekommen?

    Die gesamten 90er Jahre hindurch gab es an der kirchlich-monarchistischen Basis politisierte Gruppen, die sich der Kirche angeschlossen hatten. Damals stellten sich die Bischöfe einer Politisierung entgegen. Die entscheidende Veränderung erfolgte 2004, als der heutige Patriarch Kirill, damals Metropolit, beim Weltkonzil des Russischen Volkes die sogenannte Doktrin der orthodoxen Zivilisation vorstellte. Faktisch berief er sich auf Gedanken aus Samuel Huntingtons Kampf der Kulturen und erklärte, Russland müsse eine dieser Kulturen sein. Die orthodoxe Zivilisation beschrieb er als spezielles geopolitisches Gebilde, bestehend aus jenen Ländern, „deren Kulturen“, hier zitiere ich, „entscheidend von der Orthodoxie beeinflusst worden sind – Bulgarien, Weißrussland, Griechenland, Zypern, Mazedonien, Russland, Rumänien, Serbien, Montenegro, Ukraine.“ Auch die Diaspora auf der ganzen Welt zählte Kirill zur orthodoxen Zivilisation.

    Der künftige Patriarch beschränkte sich damals auf Deklarationen und äußerte sich bald darauf kritisch über die politische Orthodoxie als solche. Praktisch gleichzeitig begann aber Wsewolod Tschaplin, konkrete, sehr radikale Prinzipien zu verbreiten, auf denen eine orthodoxe Zivilisation seiner Meinung nach gründen sollte. Im gleichen Jahr erklärte Tschaplin in einem Gespräch auf Echo Moskwy, das Christentum hätte in Europa nur dann eine Zukunft, wenn es die Leute wieder lehren würde zu sterben und zu töten. Zwei Jahre später veröffentlichte er in der Zeitschrift Polititscheski klass den Artikel Die fünf Postulate der orthodoxen Zivilisation. Zu diesen gehörten die Ablehnung der Marktwirtschaft und die Einheit von Kirche, Volk und Staat, da deren Trennung eine Sünde sei.

    Erzpriester Tschaplin erklärte, das Christentum hätte in Europa nur dann eine Zukunft, wenn es die Leute wieder lehren würde zu sterben und zu töten.

    2006 erschienen Artikel von Jegor Cholmogorow. Seine Worte über die „atomare Orthodoxie“ wurden mit der Zeit auch von Tschaplin und Ochlobystin verbreitet. 2011 stellte Ochlobystin in seiner Rede Doktrina 77 Überlegungen über die Russen an, die für den Krieg geschaffen seien und sich nur in zwei Fällen organisieren dürften – als Kirchengemeinde zum Gebet und auf dem Schlachtfeld für den Kampf gegen den Feind. Die Rhetorik des „heiligen Kriegs“, des säubernden Kampfes gegen die nichtorthodoxe, sündige Welt wurde zu einem der Hauptpostulate der politischen Orthodoxie.

    Was bedeutet eigentlich der Begriff politische Orthodoxie?

    Der Philosoph Eric Voegelin verwendete den Terminus „politische Religion“ in den 1930er Jahren im Zusammenhang mit totalitären Staatsideologien: Kommunismus, Faschismus, Nationalsozialismus. Heute unterscheidet sich der Begriff „politische Religion“ aber grundsätzlich vom damaligen Voegelins. Es handelt sich um eine religionsinterne Strömung, die eine homogene, nach religiösen Prinzipien aufgebaute Gesellschaft zum Ziel hat. Die politische Orthodoxie fordert eine Verstaatlichung der Religion, den Export der entsprechenden religiös-moralischen Normen über die Grenzen der Kirche hinaus, sie will in alle Gesellschaftsbereiche vordringen und die Lebensregeln nicht nur der religiösen, sondern auch der nichtreligiösen Menschen bestimmen. Und das setzt Lobbyarbeit für entsprechende Gesetze voraus, einen totalen Umbau der Staatsverfassung. Von den politischen Religionen hat diesbezüglich der Islam die größten Fortschritte gemacht. Es gibt aber auch einen politischen Hinduismus, ebenso können der Protestantismus und der Katholizismus politisch sein.

    Sind politische Orthodoxe im Grunde genommen Fundamentalisten?

    Zum Teil ja, aber es gibt Unterschiede. Die Wissenschaftlerin Anastasia Mitrofanowa, die sich mit Politisierungsprozessen von Religionen befasst, weist darauf hin, dass Fundamentalisten ihren sozialen Raum einkapseln wollen, dass sie im Rahmen eines nationalen Projekts zu den Ursprüngen zurückkehren wollen, während sich die politische Orthodoxie sehr viel globalere Aufgaben vornimmt.

    Benutzt die russische Regierung derzeit die Orthodoxie für ihre Interessen oder kämpfen die Orthodoxen um Macht?

    Beides. Und jeder Schritt des einen Akteurs – der Regierung beziehungsweise der Kirche – verstärkt die Gegenreaktion des anderen. Als die Religion in den 1990er Jahren gerade erst zugelassen worden war, beklagten sich die Orthodoxen im Zuge der demokratischen Umwälzungen, die Veränderungen würden ohne Berücksichtigung der kulturellen und nationalen Rolle der Orthodoxie erfolgen. Die Kirchenführung und politisch aktive orthodoxe Gruppen an der Basis trachteten schon damals danach, die Elite zu beeinflussen. Besonders hervor tat sich dabei die Organisation Verband orthodoxer Bürger. Sie sagten: Es geht uns nicht um die Macht, wir wollen eine Art moralische Qualitätssicherung, wir wollen Politiker und Mächtige mit orthodoxer Weltanschauung unterstützen.

    Die Rhetorik des „heiligen Kriegs“ gegen die nichtorthodoxe, sündige Welt wurde zu einem der Hauptpostulate der politischen Orthodoxie.

    Diese Gruppe hatte schon immer imperiale Ambitionen, noch bevor diese populär wurden. Ich habe selber gesehen, dass viele Geistliche die Zerstörung der Sowjetunion als Tragödie erlebten. In einer Kirchengemeinde, die ich im Winter 1991/92 besuchte, der Elias-Kirche in Ilinskoje, waren zornige Schmähungen an Jelzins Adresse und Klagen über das Ende der Sowjetunion Hauptthema der Predigt am Schluss fast jedes Gottesdiensts. Anscheinend hat sich die sowjetische Vergangenheit im Bewusstsein vieler Gläubiger so stark eingeprägt, dass diese mit ihrem Verschwinden zunehmend sakralisiert wurde.

    Haben diese Ideen gerade jetzt Hochkonjunktur, während der Ukraine-Krise?

    Ich würde sagen, ja. In Kirchenkreisen sind die imperialen Ideen der politischen Orthodoxie ziemlich populär. Die Gläubigen erlebten die Zerstörung der Sowjetunion als Tragödie, das Gebiet der Sowjetunion entsprach in ihrem Bewusstsein der heiligen russischen Erde. Die geopolitischen Ideen zeichneten sich also schon beim Zerfall der Sowjetunion ab, und 2014 bot sich die Gelegenheit, davon etwas umzusetzen. Aber wenn es der Regierung nicht dienlich gewesen wäre, hätte man die Ideologen des Russischen Frühlings nicht in die Staatssender und die wichtigsten Medien eingeladen.

    Der Staat verabschiedet Gesetze wie das zum Schutz der Gefühle von Gläubigen, um sich dadurch eine Truppe aufzubauen und sie im Bedarfsfall auf jemanden loszulassen?

    Nein, einen solche Absicht würde ich hinter diesem Gesetz nicht vermuten. Der Staat kommt der Kirche einfach entgegen, aber viel weniger, als die politischen Orthodoxen es möchten. Sie wünschen sich beispielsweise mehr Radikalität von Seiten des Präsidenten, was die Abschottung des Landes vom Westen betrifft.

    Im November, noch bevor er seines Amtes im Patriarchat enthoben wurde, verkündete Wsewolod Tschaplin: „Seit der Kubakrise befindet Russland sich auf dem Rückzug, wir fürchteten damals eine militärische Kollision. Dabei hätte wir auf unserem Standpunkt beharren sollen und können … Entweder wir gehen unter, oder wir leben – aber nicht nach den Regeln, die uns irgend jemand von Außen aufdrängen will.“

    Schon 2007 hat Tschaplin gesagt, es sei für gläubige Orthodoxe viel schlimmer, die Seele wegen einer Invasion von Atheisten und Andersgläubigen in unser Land zu verlieren, als in einer weltweiten Nuklearkatastrophe umzukommen. Und der Geistliche Ioann Ochlobystin verkündete 2011: „Wir werden dann keinen anderen Ausweg mehr haben, als die ganze übrige Welt, die wegen der Sünden und der Gleichgültigkeit komplett durchgefault ist, zu vernichten und unserem Leben ein Ende zu setzen, in der Hoffnung, dass aus wundersamerweise überlebenden menschlichen Wesen schließlich eine neue, bessere Menschheit entstehen wird.“ Aber das Problem sind nicht diese Äußerungen, sondern das Ausbleiben der erwarteten christlichen Reaktion von Seiten des Klerus. Erst im vergangenen Dezember wurde Tschaplin vom Patriarchen entlassen, obwohl er seine irren Ideen, die das Opfern fremder Leben zum Schutz des Glaubens rechtfertigen, schon seit über einem Jahrzehnt öffentlich verkündet. Wo waren die Stimmen der Priester, abgesehen von Kurajew und wenigen anderen?

    Aber es gibt dort auch vernünftige Leute, oder?

    Auf jeden Fall. Ich glaube, sie bilden sogar die Mehrheit. Aber erstens sind sie im Gegensatz zu den Möchtegern-Politikern und Fundamentalisten gewöhnlich passiv, zweitens nicht besonders interessant für die Medien und drittens wollen sie solchen offensichtlichen Absurditäten keine Beachtung schenken. Bis 2014 konnte man tatsächlich viele der Statements als Provokationen abtun. Aber seit der Donbass-Tragödie geht das nicht mehr. Ich möchte aber wiederholen, dass es in der Kirche viele Geistliche gibt, die nichts von Politik wissen wollen, die keine größenwahnsinnigen Ideen verfolgen, sondern lieber ganz banal Gutes tun.

    Gibt es in der Kirche aktuell Leute mit liberalen Positionen?

    Früher konnte man die kirchenreformatorischen Ideen des Geistlichen Alexander Borissow als liberal bezeichnen, aber er hat schon lange keine mehr vorgebracht. Meiner Meinung nach lässt sich der Begriff „liberal“ heute inhaltlich gar nicht mehr festmachen, da ihn viele als Etikett für „alles Üble“ benutzen, wenn sie einen Gegner angreifen. Man braucht nur einmal einen eigenen Standpunkt erkennen zu lassen, mit irgend einer Initiative zu kommen, und schon ist man „liberal“. Auch die Ideen von Gemeinschaft, von christlicher Solidarität im Gemeinwesen, für die sich beispielsweise Georgi Kotschetkows Bruderschaft der Verklärung einsetzt, werden von manchen als liberal bezeichnet, obwohl es in Wirklichkeit um den Versuch einer Organisation des Gemeinwesens geht, um das Bestreben, sich mit den kirchlichen Traditionen und evangelischen Normen, vor allem derjenigen der Buße, auseinanderzusetzen. Im vergangenen Jahr organisierten sie Ende Oktober eine Bußewoche zum Gedenken an die Opfer politischer Verfolgungen: Eine Woche lang entzündeten sie Kerzen im Gedenken an die Verfolgten.

    Im ersten Jahrzehnt der postsowjetischen Regeneration ästhetisierte man in der Kirche gern die Schwäche

    Nach den heutigen Kriterien des Liberalismus ist übrigens Wsewolod Tschaplin der „Liberalste“ von allen. Seit seinem Rücktritt schlägt er Kirchenreformen vor, die Bestimmung von kirchlichen Würdenträgern und Bischöfen durch Wahlen, er fordert transparente Kirchenfinanzen und wirft der Führung den übertriebenen Luxus ihrer Residenzen vor. Aber das alles erst seit seiner Entlassung …

    Und was ist mit Kurajew?

    Das Phänomen Kurajew ist natürlich beispiellos. Da schafft es einer – trotz einer Atmosphäre des Verschweigens und der gleichgeschalteten Meinungen – zu sagen, dass da etwas faul ist im Staate Dänemark. Dabei schließt sich Kurajew keiner ideologischen Partei an, weder der „Kriegspartei“ noch den Staatspatrioten noch den bedingten Liberalen.

    Hat sich die Russisch-Orthodoxe Kirche mit dem Patriarchen Kirill verändert?

    Kirill unterstützte, was sich in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre herauszubilden begann. Im ersten Jahrzehnt der postsowjetischen Regeneration ästhetisierte man in der Kirche gern die Schwäche: Im Geist des Gottesnarrentums unterstrich man den Wert der Verlorenheit, badete in einer Ästhetik der Selbsterniedrigung. Angesichts der Abwendung von sowjetischen Stereotypen und des Widerstands gegen die neue Erfolgskultur betonten die Orthodoxen, man müsse der Jagd nach irdischem Heil entsagen, wolle man das Heil Gottes erlangen. Dieses Paradigma begann man in der Mitte der 2000er Jahre zu kritisieren: Da sich das Land  allmählich von den Knien erhebe, müssten sich auch die Orthodoxen von den Knien erheben. Kirill hat dazu beigetragen, dies systematisch umzusetzen. Doch damit trat das andere Extrem ein – Triumphalismus, Orientierung am Protokoll, Rechenschaftspflicht, das Bestreben, die Kirche einem präzisen Verwaltungsmechanismus unterzuordnen. In den 90er Jahren war jede beliebige Unzulänglichkeit zulässig, bloß nach Erfolg streben durfte man nicht. Im Jahr 2011 klang das schon ganz anders.

    Im November bin ich im Gebiet Swerdlowsk zu Rentnern in ein Dorf gefahren, denen eine orthodoxe Wohltätigkeitsorganisation beim Kauf von Brennholz für den Winter unter die Arme griff. Dort habe ich mich lange mit dem Dorfpriester unterhalten. Es war wie in den 90ern, alle klagten: Alles sei schlecht, keiner komme in die Kirche, es gebe kein Geld und die Kirche könne nur behelfsmäßig renoviert werden.

    Viele Kirchgemeinden sind äußerst arm, und die Leute spüren das Missverhältnis. Die frühere Stigmatisierung der Kirche ist in der Psychologie vieler Geistlicher erhalten geblieben, sie verbindet sich auf hässliche Weise mit der von oben aufgezwungenen Psychologie des Triumphalismus. Die Idee der Erhabenheit soll die Entbehrungen rechtfertigen. Statt nach einem Weg für die Lösung der Probleme zu suchen, sieht man die Idee der Erhabenheit als Kompensation an, als Rechtfertigung der Probleme. Das ist ein Spiegel unserer Regierung – die Kirche befindet sich ja nicht in einem Vakuum –, aber das Modell ist in der Kirche noch stärker ausgeprägt als in der Gesellschaft.

    Dieser Priester sagte auch, dass das soziale Engagement für die Kirche keineswegs das Wichtigste sei: Sie brächten den alten Frauen Holz, aber diese kämen trotzdem nicht in die Kirche. Doch solange man die Seelen nicht rette, die Leute also nicht zur Kirche fänden, könne ihnen nichts helfen.

    Genau, so geht es häufig, aber viele Geistliche sind nicht bereit, das einzugestehen. Die Erklärungen des Vorstehers einer Kirchgemeinde können sehr verschleiert sein: Natürlich müsse man unbedingt helfen, das sei die Bestimmung der Kirche … Doch das Leid, das die Leute treffe, bringe sie Gott näher. In der Gemeinde eines solchen Geistlichen gibt es durchaus Bedürftige, die Hilfe bräuchten, aber keine bekommen. Darin zeigen sich auch paternalistische Vorbilder: Wenn Gott einen Menschen nicht wie ein Vater straft, hat er ihn verlassen.

    Ist es möglich, dass in unserer Kirche eine neue Strömung entsteht und dass die Russisch-Orthodoxe Kirche zu einem Motor für soziale Veränderungen wird?

    Wenn sich das politische System ändert oder die Gesellschaft des künstlichen Triumphalismus überdrüssig wird, kann auch bei Klerikern und Laien das Pendel in die andere Richtung ausschlagen, so dass sie auf Veränderungen in der Kirche drängen. Vielleicht wird es eine Aufteilung geben, in Anhänger des Autoritarismus und Anhänger des Gemeinde-Modells und der Selbstorganisation. Doch die Versuchung, durch die Kriegsbrille auf die Welt zu blicken, sich als Held eines „heiligen Kampfes“ zu fühlen, ist einfach zu groß.

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  • Ein Waffenstillstand ohne Chancen

    Ein Waffenstillstand ohne Chancen

    Ist das in München geschlossene Abkommen über einen Waffenstillstand in Syrien umsetzbar? Besteht von Seiten der Kriegsparteien überhaupt der Wunsch nach seiner Umsetzung? In welchen Rollen finden sich nun Russland, Europa, die USA? Der Militärexperte der Novaya Gazeta, Pawel Felgengauer, analysiert die Dynamik des Konflikts.

    Bereits im Oktober hatte Felgengauer prognostiziert, Russland strebe mit seinem Eingreifen ein „Jalta 2.0“ an, eine neue Kräfteaufteilung zwischen Ost und West – eine Einschätzung, die in München sicherlich nicht an Aktualität verloren hat.

    Bei der Sitzung der Syrien-Kontaktgruppe (International Syria Support Group ISSG) in München verkündeten die Teilnehmer, dass in Syrien bis kommenden Freitag ein Waffenstillstand in Kraft treten soll. Gleichzeitig sollen Hilfslieferungen für die bedürftige Bevölkerung beginnen und die Friedensverhandlungen in Genf wieder aufgenommen werden.

    Der Waffenstillstand bezieht sich nicht auf Terrororganisationen wie den Islamischen Staat, die Al-Nusra-Front und einige andere bislang nicht offiziell benannte Organisationen. Eine Liste solcher Organisationen muss noch von der UNO bestätigt werden. Außerdem wird es eine Arbeitsgruppe mit US-amerikanisch-russischem Vorsitz geben, um gewisse „Modalitäten“ des künftigen Waffenstillstandes sowie den Еinsatz von Waffen zu regeln. Kurz: Wen man bombardieren darf, wen nicht und was man mit der umfassenden humanitären Katastrophe in der Region konkret tun soll.

    Diese Aufgabe ist nicht zu stemmen. Jeder dauerhafte Waffenstillstand erfordert ausgearbeitete, detaillierte, gemeinsam vereinbarte und anerkannte Regeln. Man braucht ein System für Monitoring und Untersuchungen von Zwischenfällen, man braucht zahlreiche gut bewaffnete Friedenstruppen, und das Wichtigste: Man braucht einen starken Wunsch und politischen Willen seitens der Konfliktparteien, die Kampfhandlungen wirklich zu beenden. Heute gibt es in Syrien nichts davon, dafür aber von alters her reichlich gegenseitigen Hass und Wunsch nach Rache.

    Heute gibt es in Syrien nichts von dem, was für einen Waffenstillstand nötig wäre, dafür reichlich gegenseitigen Hass und Wunsch nach Rache.

    Es ist offensichtlich, dass das unkonkrete Münchener Communiqué absolut nicht ausreicht, um irgendeinen Waffenstillstand zu erreichen, geschweige denn aufrechtzuerhalten. Im Donbass, zum Beispiel, gelingt es seit über einem Jahr nicht, einen dauerhaften Waffenstillstand einzuhalten; in Bergkarabach finden ständig lokale Kämpfe statt. In Abchasien, in Südossetien und in Transnistrien wird zwar schon lange nicht mehr geschossen, aber von einer grundlegenden politischen Lösung ist man nach wie vor weit entfernt.

    Wird Syrien ein neues Tschetschenien? 

    Das Regime von Baschar al-Assad betrachtet alle bewaffneten Gegner als Terroristen. Die mit praktisch jedem verfeindeten IS-Truppen halten sich in einem mehr oder weniger eingegrenzten Gebiet auf, doch die Kämpfer der Al-Nusra-Front zum Beispiel sind hier und da verstreut, ändern ihre Positionen im Laufe der Kämpfe und gruppieren sich immer wieder neu. Aus der Luft einen Terroristen von einem Oppositionskämpfer zu unterscheiden ist beim besten Willen nicht möglich. Auf Seiten der Assad-Unterstützer herrscht ebenfalls ein Chaos, bestehend aus Resten der zerfallenen Armee und unterschiedlichen Volksmilizen, die sich nach religiös-ethnischen Prinzipien zusammensetzen, aus brutalen Freiwilligenkommandos und zahlreichen ausländischen Söldnern, insbesondere iranischen Militärangehörigen und Kämpfern der libanesischen Hisbollah.

    In einer solchen Lage hat der ausgerufene Waffenstillstand kaum Erfolgschancen. Der Iran und die Russische Föderation investieren weiterhin riesige Geldsummen und nehmen Menschenverluste in Kauf, um das marode, bankrotte, ja bereits vom eigenen Volk verschmähte Assad-Regime zu retten.

    Das langfristige Ziel von Moskau und Teheran besteht darin, einen Sieg im Bürgerkrieg zu erringen, jegliche bewaffnete Opposition zu zerschlagen und aus dem Staatsgebiet herauszudrängen, und Syrien zu einem gemeinsamen iranisch-russischen Protektorat mit strategisch wichtigen Militärstützpunkten zu machen. Eine Art Tschetschenien, wie es nach der Zerschlagung der Unabhängigkeitskämpfer und Islamisten unter Putin entstanden ist.

    Vielleicht wird es in Syrien eine neue Führungsfigur geben, in der Art eines Ramsan Kadyrow. Assad ist schließlich keine unersetzliche Instanz.

    Europa gespalten, Kerry konziliant

    Europa will zwar, dass in Syrien zumindest irgendeine Ordnung wiederhergestellt wird, ist aber gänzlich uneinig, wie dies zu erreichen ist. Laut Quellen aus Brüssel ist die EU völlig gespalten: Frankreich, Großbritannien, Schweden und Dänemark weigern sich vehement, etwas mit Assad zu tun zu haben, und fordern, mit allen Mitteln die Opposition zu unterstützen. Bulgarien, Rumänien, Spanien und Tschechien wären bereit, mit Assad einen Dialog zu führen. Deutschland ist unentschlossen. Alle sind entsetzt über die Flüchtlingsströme und einige sind sogar einverstanden mit Moskau, das „einen nach dem anderen bombardiert“.

    Die offizielle politische Linie Washingtons, vertreten durch Außenminister John Kerry, beruht darauf, in Bezug auf die Syrien-Krise unter allen Umständen Berührungspunkte mit Moskau zu suchen, was zu zusätzlichem Zwist innerhalb der EU führt.

    Nur wenn man die Bevölkerung Syriens auf ein Drittel reduziert, wird der Rest sich dem Regime wieder fügen.

    Bloß keinen Druck, keine potenziellen Drohgebärden, nur unermüdliche Suche nach Kompromissen mit „Freund Sergej“ Lawrow). Assad verkündete denn auch gleich als Reaktion auf den Münchener Waffenstillstandsbeschluss, dass er ganz Syrien zurückerobern will, was jedoch „Zeit kosten kann“. Im Übrigen nicht nur Zeit: Man müsste noch bis zu einer Million Menschen ums Leben bringen, zusätzlich zu den bereits 470 Tausend Opfern, und bis zu 10 Millionen weitere in die Flucht schlagen. Denn nur indem man die Bevölkerung Syriens (vor dem Krieg lebten dort 23 Millionen Menschen) auf ein Drittel reduziert, kann man den Rest dazu bewegen, sich dem Regime wieder zu fügen.

    Die militärische Logik zwingt zum Weiterbomben

    Nach Meinung der Europäer haben sich die ersten 100 Tage russischer Luftschläge als kaum effektiv erwiesen: Die wenigen, demoralisierten Reste der syrischen Armee waren weder willens noch imstande, die russischen Bombardements zu nutzen und entschieden vorzustoßen. Daher haben Assads iranische Verbündete für die jetzige Offensive im Norden von Aleppo eine schlagfertige Truppe aus gut geschulten Kämpfern der Hisbollah sowie aus Söldner-Trupps aufgestellt, die aus irakischen und afghanischen schiitischen Freiwilligen unter dem Kommando von Generälen und Offizieren der iranischen Revolutionsgarde bestehen.

    Die radikalen schiitischen Kräfte kämpfen schon lange im Irak, Libanon und in Afghanistan gegen die Sunniten, die auch in Syrien die Bevölkerungsmehrheit bilden. Diese Kämpfer sind hochreligiös und neigen oft zu äußerster Grausamkeit, nicht weniger übrigens als ihre sunnitischen Gegner. Allerdings verfügt Assad nur über eine kleine Anzahl solch schlagfertiger Kräfte. Er muss bei Aleppo jetzt zügig handeln: die syrischen Oppositionskämpfer und radikalen Islamisten hinter die türkische Grenze drängen, und die unzuverlässige sunnitische Zivilbevölkerung am besten gleich mit. Je mehr, desto besser.

    Lawrow hat Kerry um den Finger gewickelt, sie haben ein unverbindliches Stück Papier unterschrieben – es lief sogar noch besser als bei Minsk II.

    Bei Schließung der Grenze zur Türkei kann die Überwachung der zurückeroberten Gebiete örtlichen Kräften übertragen werden, die allerdings eher unzureichend ausgebildet sind. Die starken Streitkräfte werden dann wohl an andere Fronten verlegt, vor allem Richtung Damaskus und südlich davon, um die jordanische Grenze dichtzumachen. Den von Oppositionellen besetzten Teil von Aleppo wird Assad ebenfalls möglichst schnell in seine Gewalt bringen, solange dort Panik herrscht. Ansonsten steht eine Belagerung bevor, die sich über Wochen oder gar Jahre hinziehen könnte, wie es in Sarajewo während des Bürgerkrieges der Fall war. Insbesondere wenn dort, wie im Lawrow-Kerry-Plan vorgesehen, ein humanitärer Korridor zur Versorgung der Stadt eingerichtet wird.

    Die militärische Logik verlangt somit, dass die russische Luftwaffe weiter bombt und Assad mit seinen Verbündeten weiter angreift, unter welchem Vorwand auch immer: Die Opposition selber halte keine Feuerpause ein, es handele sich bei ihr um Terroristen etc.

    Lawrows Strategien verfangen, direkte Konfrontation dabei immer wahrscheinlicher

    Nebenbei bemerkt erledigte Lawrow in München die ihm vom Kreml gestellte Aufgabe mit Bravour. Er hat Kerry um den Finger gewickelt und ein unverbindliches Stück Papier unterschrieben, das eine Menge Interpretationsraum bietet. Es lief sogar noch besser als bei Minsk II.

    Lawrow rief sogar das US-Militär zu enger Zusammenarbeit auf: „Wir haben einen gemeinsamen Feind.“ Das ist eher nicht so: Die Übereinkunft zu Syrien ist mit Kerry erreicht worden, nicht mit den USA oder dem Pentagon.

    Dessen Chef Ashton Carter erklärte, während in München verhandelt wurde, den Journalisten in Brüssel höflich, dass er Kerry viel Erfolg wünsche, seine – Carters – Aufgabe aber bestehe darin, „der russischen Aggression entgegenzutreten“ und gegen den IS mit Streitkräften der eigenen Koalition anzugehen. Dass er sich von Kerry nichts sagen lässt, hat Carter ja schon öfter unter Beweis gestellt.

    Jetzt, zum Ende ihrer Amtszeit, ist die Regierung Obama schwach, und das sollte eigentlich den russischen Strategen in die Hände spielen. Dennoch könnten Zeit und Kraft, die sie in die Verhandlungen mit Kerry investiert haben, sich als verschenkt erweisen. Das russische Militär und seine Verbündeten rücken rasch in Richtung der türkischen Grenze vor, ein direkter militärischer Zusammenstoß wird immer wahrscheinlicher, wobei Lawrow sich überzeugt zeigt, dass Washington den Einmarsch türkischer oder anderer arabisch-sunnitischer Kräfte nach Syrien nicht zulassen wird.

    Kerry allerdings hat sich dahingehend schon abgesichert, indem er in einem Interview in München erklärte: Sollten Assad, Russland und der Iran die getroffenen Vereinbarungen unterwandern, „wird die Weltgemeinschaft nicht dasitzen und blöd zusehen, sondern aktiv werden, um den Druck auf sie zu erhöhen.” Es könnten auch Bodentruppen zum Einsatz kommen. Nach dem Motto: Ich habe damit nichts zu tun, löffelt die Suppe selber aus, hat Kerry getan, was er konnte.

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  • Die Untergangs-Union

    Die Untergangs-Union

    In westlichen Medien kaum beachtet, hatte sich am 1. Januar 2015 die Eurasische Wirtschaftsunion gegründet. Gründungsmitglieder dieses „Gegenmodells zur EU“ sind Russland, Belarus, Kasachstan und Armenien. Später trat auch Kirgisistan der Union bei. An das Gewicht der EU reicht die östliche Union allerdings nicht heran, weder von der Zahl ihrer Mitglieder her, noch von ihrer wirtschaftspolitischen Bedeutung. Vor allem aber fehlt es ihr auch an innerem Zusammenhalt. Die einzelnen Mitgliedstaaten verfolgen weitgehend ihre eigenen Interessen. So verstand sich die EAWU von Anfang an eher als Wirtschaftsunion, denn als politischer Zusammenschluss.

    Wjatscheslaw Polowinko hat für die Novaya Gazeta nach einem Jahr Eurasische Wirtschaftsunion kritische Bilanz gezogen, aus der Perspektive Kasachstans, das in der Union eine Schlüsselrolle einnimmt.

    Das erste Neujahrsgeschenk von Russland an Kasachstan im Jahr 2016 war ein Erlass von Präsident Putin. Demnach dürfen Waren aus der Ukraine nur noch in versiegelten Waggons, Zisternen und LKWs und ausschließlich von Belarus aus durch die Russische Föderation nach Kasachstan befördert werden.

    Dabei sollen die für den Transit durch Russland bestimmten Warenlieferungen mit einer Plombe versehen werden, die über das russische Navigationssystem GLONASS auffindbar ist. Bei der Einreise bekommt jeder Fahrer ein Ticket, das er bei der Ausreise wieder abgeben muss. Es verliert seine Gültigkeit, sobald GLONASS eine Unregelmäßigkeit zeigt.

    Natürlich gelten diese drakonischen Maßnahmen in erster Linie der Ukraine: Am 1. Januar hat Russland das Freihandelsabkommen mit seinem proeuropäischen Nachbarstaat ausgesetzt. Allerdings bescherte es auch Kasachstan damit zusätzliche Kopfschmerzen: Nach Informationen der Nowaya Gazeta wollte Russland nämlich zunächst überhaupt keinen Warentransit aus der Ukraine zulassen.

    Die Entscheidung, einen Transit unter der Aufsicht von GLONASS einzuführen, fiel auf den ersten Jahrestag der Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) am 1. Januar 2015. Seitdem ist die Mitgliederzahl der EAWU, die sich quasi als Alternative zur EU sieht, mit dem Beitritt von Armenien und Kirgisistan fast um das Doppelte gestiegen. Doch dies ist beinahe der einzige Erfolg. Denn der Warenumsatz zwischen den Ländern ist gesunken und die Partner sind in Handelskriege verstrickt.

    Nichts bleibt ohne Folgen

    Die erste Bewährungsprobe musste die neue Union noch vor ihrer offiziellen Gründung bestehen, als Ende 2014 der russische Rubel stark abgewertet wurde. Damals rettete der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew die Situation. Er sieht sich als federführend im Aufbau der EAWU. „Die Union hat dieses Jahr dank dem Pragmatismus Nasarbajews überlebt“, sagt der Zentralasienexperte Arkadi Dubnow. „Nur dank der aus der Not geborenen politischen Weisheit des kasachischen Präsidenten hat Kasachstan damals die Handelsgrenze nicht geschlossen, obwohl es kurz davor war.“

    Vereinfacht ausgedrückt: Nasarbajew wollte das Gesicht der sich gründenden Union retten und opferte dafür im Endeffekt die Wirtschaftskraft des eigenen Landes. Zunächst veranlasste der niedrige Rubelkurs die Kasachen dazu, über die Grenze zu fahren und alles Mögliche zu kaufen, von Lebensmitteln bis hin zu Wohnungen. Das bescherte kasachischen Unternehmern in allen Branchen große Verluste. Im Sommer 2015 stürzte dann mit leichter Verzögerung nach dem Rubel auch der Tenge in den Keller und fällt seitdem kontinuierlich weiter. So kostete ein US-Dollar im August 2015 noch 188 Tenge, derzeit sind es dagegen 340 Tenge.

    Kasachstan zahlt einen hohen Preis

    Kasachstan kam dieses Manöver teuer zu stehen: Nasarbajew selbst gab zu, für die Stabilisierung des Tenge-Kurses 28 Milliarden US-Dollar ausgegeben zu haben – sprich, er hat einfach Geld zum Fenster hinausgeworfen. Denn die Maßnahme brachte keine Stabilität: Kasachische Löhne sind nur noch die Hälfte wert, und unzufriedene Stimmen werden immer lauter. Dafür machen die Einwohner Kasachstans nicht nur die eigene Regierung, sondern immer öfter die Eurasische Wirtschaftsunion verantwortlich. Der Tenge war Ende 2015 die schwächste Währung in der GUS und in Europa: Er fiel gegenüber dem US-Dollar gleich um 85,2%.

    Allerdings ist es in den Medien gelungen, die Abwertung des Tenge nicht mit der EAWU in Zusammenhang zu bringen. Die Wirtschaftsprobleme der Union erklärten sie mit der weltweiten Finanzkrise. Und die Abwertung des Tenge, die sei gar „auf Anfragen der Fernsehzuschauer“ geschehen: als hätten kasachische Unternehmer den Präsidenten flehentlich darum gebeten.

    Viel schwerer war es dagegen, die Handelskriege zu erklären, die sich die Mitgliedstaaten während des gesamten Jahres lieferten. Ende März, Anfang April kam es zum ersten und gleichzeitig schrillsten Konflikt: Damals verbot Kasachstan die Einfuhr von Mayonnaise, Süß-, Milch- und Fleischwaren, Eiern und Butter aus Russland. Als Antwort darauf führten die russische Verbraucherschutzbehörde Rospotrebnadsor und die Behörde für Veterinär- und Pflanzengesundheitsaufsicht Rosselchosnadsor eine Kampagne gegen Lebensmittel aus Kasachstan. Der Skandal konnte erst auf Ministerebene beigelegt werden.

    Am schwierigsten wurde die Situation, als Russland Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei verhängte. Kasachstan bekam diesen Konflikt zwar nur indirekt, aber empfindlich zu spüren: LKWs, die aus der Türkei nach Kasachstan fuhren, blieben an der russisch-georgischen Grenze stecken. Inzwischen ist es nahezu unmöglich, türkische Waren über Russland zu transportieren.

    Ein kasachischer Unternehmer, der anonym bleiben wollte, berichtete der Novaya Gazeta, dass er mehrere Arbeitertrupps zum Abladen an die Grenze entsenden musste. Die Zollbeamten hatten verlangt, die ganze Ware auszuladen und vorzuzeigen.

    Die kasachische Handelskammer veröffentlichte auf ihrer Homepage alternative Routentips, auf denen Waren aus der Türkei transportiert werden können, unter Umgehung Russlands. Der Weg per Fähre über das Kaspische Meer ist allerdings deutlich teurer. In Kasachstan scherzt man inzwischen schon, dass dank der russischen Politik die Brücke über das Kaspische Meer, von der Kasachstan, die Türkei und China seit Langem träumen, schon bald Realität werden könnte.

    Nicht alle lassen sich einspannen

    Wenn Experten Bilanz ziehen über das erste Jahr EAWU, dann konstatieren sie ein Fiasko nach dem anderen. „Zum Ende des Jahres 2015 fiel der Warenumsatz zwischen den EAWU-Ländern um 26 %, wobei einige Experten gar von 33 % ausgehen“, sagt Dosym Satpajew, Politologe und Direktor der Risikobewertungsgruppe. „Ich kann keinen einzigen positiven Aspekt nennen, der das Gefühl des Scheiterns irgendwie ausgleichen würde“, gesteht der kasachische Wirtschaftsjournalist Denis Kriwoschejew. „Alles, was 2014 noch vor der Unionsgründung vorausgesagt wurde, ist eingetreten: das Übergreifen der Inflation und der Währungsabwertung sowie der Druck auf die kasachischen Unternehmer. Und das ist erst der Anfang.“

    „Kasachstan ist eindeutig der Verlierer. Was Russland betrifft, so müssen wir die Dinge beim Namen nennen: Für Russland ist der Handel mit den EAWU-Staaten nicht so bedeutend. Die Verluste wirken sich nicht groß aus. Für Armenien dagegen bildet die EAWU die Grundlage des geopolitischen Überlebens. Die Gewinner sind, erstaunlicherweise, die Kirgisistan. Sie können nun ohne Gewerbeschein und Genehmigung in Russland arbeiten, gleichzeitig kann die Zusammenarbeit mit Kasachstan bei richtiger Zielsetzung gute wirtschaftliche Ergebnisse bringen“, so Arkadi Dubnow.

    Im Grunde genommen liegt das Hauptproblem in der Zielsetzung. Jedes Land trat mit eigenen Hoffnungen und Interessen der Union bei und traf schließlich auf zwei Dinge: das Diktat Russlands und den Vorrang der Geopolitik vor der Wirtschaft.

    Dosym Satpajew meint, das hauptsächliche Ergebnis des ersten Jahres EAWU sei die allseitige Enttäuschung. „Ein bedeutender Teil der kasachischen Wirtschaft sieht die EAWU nun viel skeptischer. Innerhalb Kasachstans sinkt das Loyalitätsniveau gegenüber der Union. Das bedeutet, dass die EAWU im Niedergang begriffen ist und kaum eine Chance hat, über dieses Stadium hinauszuwachsen“, so der Experte.

    Die Quadratur der Union

    Seit dem 1. Januar 2016 hat Kasachstan den Vorsitz der Union inne. Nach Meinung der Gesprächspartner der Novaya Gazeta wird Nursultan Nasarbajew alle Konflikte im Keim ersticken – wiederum, um das Gesicht der EAWU zu retten.

    Die Geschichte mit dem Warentransit aus der Ukraine unter Aufsicht von GLONASS könnte die ohnehin instabile Situation jedoch weiter ins Wanken bringen. Weder die kasachischen Machthaber noch die Gesellschaft haben es gerne, wenn man ihnen von außen etwas aufzwingt.

    Dass viele russische und prorussische Medien in Kasachstan über den Präsidenten-Erlass im Stile von „Putin hat erlaubt” (wörtlich zitiert) berichtet hatten, empfanden viele Kasachen als beleidigend. Dazu sollte man anmerken, dass viele Bewohner Kasachstans die russischen Medien als ein Instrument der Kreml-Expansion betrachten. Und als Ende 2015 die russischen Fernsehkanäle in Kasachstan wegen einer Änderung im Mediengesetz  ernsthaft in ihrer Existenz bedroht waren (kurz gesagt, weil die Ausstrahlung ausländischer Werbung verboten wurde, aber niemand wusste, wie man sie aus den Sendungen herausschneidet), hielt sich die Zahl der Anhänger und Gegner der russischen Sender in Kasachstan einigermaßen die Waage. Die russischen Sender sind inzwischen nicht mehr in Gefahr, allerdings war die Aufregung groß.

    Das größte Paradox ist allerdings, dass trotz all dieser großen Probleme keiner daran denkt, das Projekt EAWU abzuwickeln. „Zum Teil kann man die Überlebensfähigkeit der Union damit erklären, dass die Präsidenten Russlands, Kasachstans und Belarus‘ sich gegenseitig gut kennen und wissen, welche Retourkutsche ihnen blüht, wenn sie ein anderes Mitglied attackieren. Gleichzeitig wissen sie, welche Angriffe der anderen sie getrost ignorieren können“, erklärt Arkadi Dubnow.

    Am meisten jedoch fallen die Ambitionen von Präsident Nasarbajew ins Gewicht: Er hält sich, wie gesagt, in der EAWU für federführend.

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  • Streichhölzer für Pyromanen

    Streichhölzer für Pyromanen

    Russland und die Türkei waren immer wieder miteinander in Kriege verwickelt. Mitte des 19. Jahrhunderts mündete der Russisch-Osmanische Krieg gar in einen weitreichenden eurasischen Konflikt, den Krimkrieg. Wie werden sich die Parteien in der derzeitigen, vom Geschehen in Syrien ausgelösten Konfrontation verhalten? Der Politologe Wladimir Pastuchow skizziert in der Novaya Gazeta zwei Szenarien – mit großer Hoffnung erfüllen ihn beide nicht. Streichhölzer, schreibt er, sind in die Hand von Pyromanen gelangt, die lustvoll mit dem Feuer spielen.

    Erdogan musste ohne einen festen russischen Händedruck aus Paris abreisen. Auch die Ansprache des russischen Präsidenten vor der Föderalversammlung ließ keinen Zweifel daran, dass die Sache allein mit der Einfuhrbeschränkung für ein paar Tomaten nicht aus der Welt zu schaffen ist. Das Thema Türkei hat die Ukraine aus der Ansprache des Präsidenten verdrängt. Doch Istanbul ist nicht lieblicher als Kiew – Russland muss schon wieder zwischen einem schlechten und einem sehr schlechten Szenario wählen. Die Münze des russisch-türkischen Konflikts schwebt weiter in der Luft, und bislang ist nicht abzusehen, was am Ende oben liegen wird: Kopf – ein zähneknirschender Frieden – oder Zahl – ein Krieg nach dem Zahn-um-Zahn-Prinzip.

    Zähneknirschender Frieden

    Bei diesem Szenario könnte Russland sein Gesicht verlieren, aber andere für Schicksalsschläge empfindlichere Körperteile würden unversehrt und heil bleiben. In diesem Fall würde nach einer gewissen Pause kontrolliert die Luft aus den PR-Blasen der antitürkischen (von der russischen Seite) und antirussischen (von der türkischen Seite) Propagandakampagnen herausgelassen werden (ähnlich wie beim fließenden Übergang vom Projekt Noworossija zur Autonomie innerhalb der Ukraine).

    Die Gesellschaft hier kann sich nie lange auf eine einzelne Tragödie konzentrieren, denn es folgt eine Tragödie nach der anderen. In wenigen Monaten wird bestimmt wieder etwas passieren, das die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zieht. Wenn nicht, so kann man auch nachhelfen, zum Beispiel indem man die Spannungen in der Ostukraine wiederbelebt – zumal man sich hierfür nicht sonderlich bemühen müsste. Vor diesem Hintergrund würden die Führer Russlands und der Türkei letztlich einen Weg finden, um miteinander zu sprechen und eine Reihe gegenseitiger Zugeständnisse zu machen: Die Türkei bewegt sich zum Beispiel wirtschaftlich bei den Gasprojekten und akzeptiert die russische Vorgehensweise zur Gaspreisbildung, dafür sichert Russland informell zu, die Intensität der Bombardierungen in den an die Türkei grenzenden syrischen Gebieten zu reduzieren, indem es, wen nötig, nicht zu Verbündeten, sondern zu Feinden des IS erklärt.

    Im Grunde wäre diese Option heute allen recht – vor allem Europa, das sich unbedingt mit Russland einigen und dabei den (im Kontext der Ukraine) besorgten Gesichtsausdruck bewahren möchten. Die Europäische Union könnte sich im Prinzip mit Putin darauf einigen, dass das abgeschossene Flugzeug ein Dolchstoß in den Rücken der Befriedungs-Politik des Kremls ist.

    Die Variante Zahn um Zahn

    Beim zweiten Szenario wahrt Russland sein Gesicht, setzt sich jedoch mit einem großangelegten Krieg fern der eigenen Landesgrenzen auf eine glühende Herdplatte. Es gibt Mutmaßungen, dass Teile der russischen Militärs und politischen Eliten zu einer Nullvariante tendieren, die auf den Abtausch einer gleichen Anzahl abgeschossener Flugzeuge zielt. Es werde die Verhandlungen beleben, so kalkuliert man, wenn beide Seiten sich in einer ähnlichen Lage befinden – dann könne man Erdogan ohne Probleme beide Hände auf einmal drücken. Allerdings, und darin liegt das Problem, ist es unmöglich vorherzusagen, wie sich Erdogans Hände in diesem Fall verhalten würden: Sie könnten sich zur Umarmung öffnen, sie könnten sich aber auch zu Fäusten ballen. Folglich spielt Moskau, wenn es diesem Szenario folgt, russisches Roulette.

    Interesse gegen Interesse

    Die Wahrscheinlichkeit, dass die Türkei auf einen Schlagabtausch inadäquat reagiert, ist heute beträchtlich – die Chancen stehen fifty-fifty. Das Problem liegt darin, dass der Konflikt zwischen der Türkei und Russland grundlegender Natur ist. Was die Länder trennt, sind nicht so sehr die Ambitionen ihrer Führer (worüber heute viel geschrieben wird), als vielmehr die Interessen beider Länder, was weitaus gravierender ist. Ambitionen kann man zurückschrauben, vor Interessen gibt es kein Entrinnen. So oder so treten sie früher oder später zu Tage und unterwerfen sich die politische Logik, entstellen und zerstören alle Pläne und Vorhaben. Genau das beobachten wir offenbar gerade in den russisch-türkischen Beziehungen.

    Für die Türkei ist Syrien eine Ukraine im eigenen Einzugsgebiet. Latakia ist für sie eben jenes Noworossija, und Assad für den türkischen Präsidenten schlimmer als Poroschenko für Putin. Genau wie Putin kämpft Erdogan gegen eine Revolution, nur nicht gegen eine orangene, sondern gegen eine grüne. Um zu überleben, muss er eine Konterrevolution exportieren. Die liefert er nach Latakia, mit genau solchen Humanitärkonvois, wie sie den Menschen im Donbass wohlbekannt sind. Um „ihren Soldaten“ Assad zu retten, bombardieren russische Flugzeuge diese Konvois und diejenigen, für die ihre „völlig friedliche Fracht“ bestimmt ist. Darum kann Erdogan es sich nicht erlauben, vor der russischen Präsenz in dieser Region die Augen zu verschließen.

    Doch auch der Kreml ist nicht aus freien Stücken zum Kämpfen nach Latakia gekommen. Das vierte Jahr in Folge ist er auf dem Rückzug vom Bolotnaja-Platz. Er machte Zwischenstopp in „Noworossija“, konnte dort die Stellung nicht halten und zog dann weiter nach Süden. Aus Latakia abzuziehen kann der Kreml sich nicht leisten: Der Donbass sitzt ihm im Rücken, und in Syrien erfüllt die russische Armee eine historische Mission mit dem Versuch, das weltweite Gleichgewicht der Kräfte auszutarieren, das nach Ansicht Moskaus nach dem Fall der Berliner Mauer ins Wanken geraten ist. Die Türkei wird in Syrien von Russland demonstrativ ignoriert und nur als weißes Rauschen im globalen großen Spiel betrachtet. Unterdessen hat die Türkei ihre eigenen Gründe, Russland nicht zu mögen, wobei es weniger um historische als um aktuelle Politik geht. Beide Seiten sind durch die Vergangenheit verbunden und können nicht frei manövrieren.

    Vergangene Kriege, aktuelle Gefahren

    Beide Seiten haben wohlüberlegt und bewusst gehandelt. Die Russen haben gezielt die Turkmenen bombardiert, um die Sicherheit des Assad-Regimes zu gewährleisten, und die Türken hat ebenso gezielt dem Flugzeug aufgelauert, um den Punkt zu markieren, ab dem die Einmischung Russlands in den Konflikt die für sie akzeptable Grenze überschreitet. Nachdem Russland die Mission übernommen hat, die Schiiten im Nahen Osten zu schützen, verhält es sich genauso wie vor 150 Jahren, als es seine Mission war, die Slawen auf dem Balkan zu schützen. Das führte damals zu einer Reihe Russisch-Türkischer Kriege, die im Großen und Ganzen positiv für Russland ausgingen (auch wenn der Westen nicht zuließ, dass es von dem militärischen Sieg in vollem Ausmaß profitierte). Die Erinnerungen an diese Kriege rufen in der Gesellschaft durchaus Illusionen und Erwartungen hervor. Ein neuer Russisch-Türkischer Krieg könnte jedoch in Wirklichkeit als Russisch-Japanischer Krieg entpuppen und wie dieser zu einer ernsten Herausforderung werden – nicht nur für die russische Armee, sondern auch für das soziale und politische System des Landes. Zumindest herrscht in Russland heute die gleiche prahlerische Siegeszuversicht wie vor 100 Jahren am Vorabend des Russisch-Japanischen Krieges.

    Wenn die Türken beschließen, va banque zu spielen, droht die russische Militärbasis in Syrien zum Port Arthur des 21. Jahrhunderts zu werden. Die militärische Überlegenheit der Türkei vor Ort ist so hoch, dass ein russisches Expeditionskorps (einschließlich der Marinekräfte) faktisch chancenlos wäre. Ein großangelegter Angriff auf die Türkei ist äußerst unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass die Türkei Mitglied der NATO ist und sich auf ihrem Territorium Atomwaffen befinden. In dieser Situation würde Russland wohl die Schande einer militärischen Niederlage ertragen müssen.

    Niederlagen prägen bekanntlich das Bewusstsein der Bevölkerung weitaus stärker als Siege. Eine Eskalation des militärischen Konflikts mit der Türkei hätte deshalb vermutlich heftige revolutionsschürende Auswirkungen auf die russische Gesellschaft zur Folge. Damit schlösse sich der politische Kreis: Was als Davonlaufen vor der Revolution begann, würde mit einem revolutionären Sturmlauf enden.

    Vorerst ist dies nur eines von mehreren möglichen unerwünschten Szenarien, und man könnte es durch besonnenes und umsichtiges Handeln vermeiden. Ein friedlicher Ausweg aus dem türkischen Gambit ist im Interesse aller, die leben wollen: Russen wie Europäer, Eurasier wie Westler, Apologeten des Regimes wie vehemente Oppositionelle. Aber das Problem ist ja gerade, dass von Abwägung und Besonnenheit bisher nichts zu spüren ist. Streichhölzer sind in die Hand von Pyromanen gelangt, die lustvoll mit dem Feuer spielen – und man kann nur noch darauf hoffen, dass der Selbsterhaltungstrieb der herrschenden Elite von den Informations- und Analysesendungen des russischen Staatsfernsehens nicht komplett zerstört worden ist.

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  • „Die Ukraine hat uns betrogen“

    „Die Ukraine hat uns betrogen“

    Was immer man denkt über die Umstände des Referendums vor eineinhalb Jahren: In Sewastopol sind viele von Herzen froh, nun zu Russland zu gehören. Iwan Shilin von der Novaya Gazeta hat ein Stimmungsbild zusammengetragen – kleine Kuriositäten inklusive.

    Drei Tage vor dem Feiertag hatten die Medien Sewastopols über die Sperrung der Straßen informiert: von 5 bis 12 Uhr. Doch um 8 Uhr flitzen immer noch Autos in beiden Richtungen über die Uliza Lenina, die Hauptstraße der Stadt.

    „Sie müssen wenden“, bedeutet ein Polizist einem Toyota, der ins Zentrum fahren will. „Ich hab den hier“, der Fahrer streckt einen roten Ausweis aus dem Fenster. „Alles klar, bitte.“ Der Polizist gibt den Weg frei.

    Nach dem Verkehr zu urteilen gibt es viele Fahrer mit einem roten Ausweis. Die Versammlung der Stadtbewohner ist für 9 Uhr angekündigt. Doch schon gegen 8 Uhr sind beim Denkmal der Stadtgründerin Katharina der II. viele Menschen anzutreffen. Ständig begrüßen Neuankömmlinge aus allen Richtungen Bekannte: „Einen frohen Feiertag!“ Viele lächelnde Gesichter.

    Foto © Iwan Shilin
    Foto © Iwan Shilin

    „Wo soll der Umzug beginnen?“, frage ich einen Kämpfer der Selbstverteidigungskräfte, der auf der Straße umhergeht.
    „Kommt darauf an, zu welcher Organisation Sie gehören.“
    „Ich bin auf eigene Faust da.“
    Der Kämpfer blickt erstaunt: „Dann wohl auf dem Suworow-Platz.“

    Der Kämpfer sagte das, jedoch habe ich keine Hinweise gefunden, dass man die Menschen zum Feiertag dort hinbeordert hätte. Die typische Antwort der Menschen, die kommen: „Die Vorgesetzten mussten uns nicht auffordern, wir sind von selbst gekommen.“ Die Bedeutung dieses Feiertags ist den meisten unbekannt, man weiß wenig über die Ereignisse von 1612. In Sewastopol bezieht man den Tag der Einheit des Volkes auf sich.

    Wir werden in die Ukraine kommen, wir werden nach Weißrussland kommen

    Um 8.30 Uhr, eine halbe Stunde vor Beginn des Umzugs, versinkt die Straße in einem Meer von Flaggen. Eine weißrussische fällt mir auf. Hochgehalten wird sie von einem grauhaarigen Mann im Tarnanzug. Wassili Wassiljewitsch ist 66 Jahre alt, 30 davon hat er in der Schwarzmeerflotte gedient.

    „Ich selbst bin aus Weißrussland, deshalb trage ich diese Flagge. Damit habe ich den ganzen Krim-Frühling bestritten, ich war bei den Selbstverteidigungskräften Sewastopols“, erzählt er. „Auch hier bei uns wollten die sich auf dem Nachimow-Platz versammeln, diese Ukr… – diese Ukrainer, aber wir haben sie aufs Schönste verjagt. Großenteils Junge waren es. Haben sich hier eingeschmuggelt als angebliche Studenten, als angebliche Bauarbeiter. Ich glaube, das waren keine Studenten oder Bauarbeiter, das waren gut ausgebildete Kämpfer. Doch wir vom Schwarzen Meer sind unbezwingbar: Wir haben denen die Leber auf den Asphalt geschmiert.

    Den Russischen Frühling auf die Krim und Sewastopol zu beschränken sei Unsinn, findet Wassili Wassiljewitsch.

    „Gerechterweise müssten alle slawischen Länder zu einem einzigen werden“, fährt er fort. „Ich überlege mit den Jungs schon, wie wir das hinkriegen. Wir gehen in die Ukraine, gehen nach Weißrussland, nach Serbien. Alles wird zu einem einzigen Staat.“
    „Wann?“, erkundige ich mich.
    „Das sind erst Pläne, noch nichts Konkretes.“
    „Wird der Staat Russland heißen?“
    „Natürlich, wie soll er denn sonst heißen?“

    Foto © Iwan Shilin
    Foto © Iwan Shilin

    15 Minuten vor dem Marsch wird Musik eingeschaltet – über Sewastopol sind ja viele Lieder geschrieben worden. Die Leute treten von den Bürgersteigen auf die Fahrbahn und stellen sich in Kolonnen auf. Die kleinste Kolonne, die Selbstverteidigungskräfte Sewastopols, zählt nur etwa 50 Personen. Ich nähere mich einem Mann, der mit einem Transparent dasteht. Alexej ist 25 Jahre alt und arbeitet als Autoschlosser. In seiner Freizeit ist er bei der Selbstverteidigung.

    Mit der Ukraine haben wir zusammengelebt wie mit einer Ehefrau

    „Warum wir nicht in der Ukraine geblieben sind?“, wiederholt er meine Frage. „Wissen Sie, es ist wie im Familienleben. Eine Pralinen-Blumen-Phase gab es zwar nicht, aber am Anfang war das Zusammenleben erträglich. Als dann Juschtschenko an die Macht kam, kündigte sich Uneinigkeit an: Aus irgendwelchen Gründen begann Kiew, mit den USA und der EU zu verkehren. Aber das war eigentlich eher wie ein Freund der Ehefrau, den sie bald satt hatte. Und da trat dann unser Mann, Janukowitsch, auf den Plan. Ja, und als dann der Maidan kam und siegte, hat uns die Ukraine meiner Meinung nach einfach betrogen, ist zum Nachbarn gegangen. Und wollte dann noch unser Kapital: Kämpfer für die Eroberung der Krim und Sewastopols. Aber da haben wir gezeigt, dass wir stark sind. Zumal Russland uns unterstützte.“

    Alexej stand während des Krim-Frühlings am Checkpoint in Tschongar.

    „Als im Fernsehen fast täglich über verhaftete bewaffnete Kämpfer berichtet wurde, war das natürlich erfunden“, sagt er. „Es gab einzelne Versuche, Waffen hineinzuschaffen, wobei die Fahrer bei der Festnahme gewöhnlich sagten, die seien doch für uns. Aber wir stellten alles auf den Kopf und beschlagnahmten die Waffen. Ich glaube schon, dass diese Hilfe für die Kiew-Anhänger bestimmt war.“ Der Ukraine wünscht Alexej, dass sie „möglichst schnell zur Vernunft kommt“.

    Zwischen der Ukraine und uns bestand keine Einheit

    Der Umzug beginnt. Mindestens 15.000 Teilnehmer. Die erste Kolonne steht auf dem Nachimow-Platz, die letzte nicht weit vom Suworow-Platz. Vor der Kolonne der Nationalen Befreiungsbewegung werden eine Trikolore und Putin-Porträts hergetragen.

    „Zwischen der Ukraine und uns bestand keine Einheit“, sagt der Mann, der vorne geht. „Sie ist ein höchst vielfältiges Land: Lemberg zieht es in die eine Richtung, Iwano-Frankowsk wird ohnehin bald an Ungarn übergehen, und wir wollten zu Russland gehören. Aber Kiew hat uns, als wir noch zusammengehörten, zweimal Mieses angetan: Das erste Mal 2006, als beschlossen wurde, dass das Erlernen der ukrainischen Sprache Pflicht wird (Die Novaya Gazeta fand übrigens keine Bestätigung für diese Information – I.Sh.), und das zweite Mal ein Jahr später, als Timoschenko ankündigte, sie werde Sewastopol in die Knie zwingen (Timoschenko hat mehrmals erklärt, sie habe nie etwas Derartiges gesagt). Und deswegen konnte uns nichts mehr halten, als es zum Euromaidan kam. Jetzt hat sich die Ukraine außerdem auch auf ein sehr gefährliches Spiel eingelassen: Sie tanzt nach der Pfeife der Weltregierung. Sie wissen doch, dass Obama, Merkel und all die anderen nur Marionetten sind?“

    Ich nicke verständig.

    „Putin versucht, sich dem zu widersetzen. Die Weltregierung richtet die Länder zugrunde, nur Auserwählte führen ein Leben im Reichtum – haben Sie von der ‚goldenen Milliarde‘ gehört? Auch die Ukraine wird man zugrunde richten, die lässt keiner in den Club der Elite.“

    Unverhofft kommt eine Frau zu mir geeilt und streckt mir eine Zeitung entgegen. „Nationale Befreiungsbewegung: Für Souveränität“, lese ich. Auf der Titelseite das Gesicht des Abgeordneten Fjodorow. „Die Propagandamaschine, die uns von früh bis spät das Gehirn wäscht, ist mächtig“, schreibt er nicht etwa über Kisseljow oder Solowjow. „Doch die USA verstehen das Wesen des „russischen Wunders“ nicht.“ Das „russische Wunder“ sind nach Auffassung des Abgeordneten Fjodorow die Siege in den Kriegen gegen Napoleon und Hitler. Schwer zu sagen, ob sich Barack Obama für deren Rolle eignet. Aber er ist ja ohnehin nur eine Marionette … Dann folgen Klischeeartikel: Zentralbank – Agent der USA, Verfassung – zugeschnitten auf den Westen. Auflage 100.000 Exemplare.

    Es hätte eine Föderalisierung gebraucht

    Der Umzug, der um den ganzen zentralen Stadtring hätte führen sollen, endet abrupt: Die Polizei lässt die Leute nicht auf die Uliza Bolschaja Morskaja. Aber das stört niemanden. Die Leute rollen ihre Flaggen und Transparente zusammen und verziehen sich einfach. Sie haben den ganzen Weg über nichts skandiert, sind einfach mitgelaufen und haben der Musik zugehört: Ein Orchester spielte einen Marsch.

    Ein Teil der Stadtbewohner bleibt auf dem Lasarew-Platz, um sich zu fotografieren. Ich bemerke eine Frau mit vier Medaillen auf der Brust. Darunter auch eine Für die Heimkehr der Krim.

    Foto © Iwan Shilin
    Foto © Iwan Shilin

    „Nein, nein, ich habe natürlich nicht gekämpft“, wehrt sie ab und stellt sich vor: Tatjana Jermakowa, Präsidentin der Russischen Gemeinschaft Sewastopols. „Die Medaille hat man mir wahrscheinlich dafür verliehen, dass ich seit 1990 immer wieder Kampagnen für die Heimkehr der Krim und Sewastopols nach Russland initiiert habe. Damals, 1990, zeichnete sich schon ab, dass die UdSSR zusammenbrechen würde, und so stellten wir die Puschkin-Gesellschaft für Russische Kultur auf die Beine. Wir reisten nach Moskau, um Gorbatschow zu treffen, dann Chasbulatow, 1992 nahmen wir an einer Sitzung teil, auf der die Verfassungswidrigkeit der Übergabe der Krim an die Ukraine anerkannt werden sollte. Dann, als die Versuche, sich Russland anzuschließen, gescheitert waren, setzten wir uns für die russische Kultur ein: In Russland feiert man jetzt am 6. Juni [Puschkins Geburtstag – dek] den Tag der Russischen Sprache. Unsere Gesellschaft gehörte zu den Initiatoren dieses Feiertags.“

    Auf meine Frage, ob Sewastopol in der Ukraine hätte bleiben können, antwortet Jermakowa: „Die Ukraine hat ihre Fehler schon lange vor dem Euromaidan begangen. Wir haben beispielsweise jedem Präsidenten Briefe geschrieben: Föderalisieren Sie das Land, wir brauchen mehr Selbständigkeit, wir wollen kein Ukrainisch lernen, wir wollen eigene Gesetze. Aber es wurde jedesmal abgelehnt. Deswegen nein. Sewastopol war immer ein Vorposten Russlands auf der Krim, mit uns hätte man behutsamer umgehen müssen.“

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    Wirtschaftsexperte Jewgeni Gontmacher, stellvertretender Direktor des Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen an der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAN) und Mitglied beim Komitee für Bürgerinitiativen, sprach mit der Novaya Gazeta über die drohende Krise beim Rentensystem und Russlands Verortung in der modernen Welt. Seine Diagnose: Russland versäumt dringend notwendige Reformen und könnte so hinter das wirtschaftliche Niveau von anderen Regionalmächten wie Indien oder Brasilien zurückfallen. Die Senkung des Rentenanpassungssatzes ist bereits aufgrund von Sparmaßnahmen im Haushalt nicht mehr zu verhindern, nur die konkreten Zahlen sind noch fraglich. 

    Bei einer faktischen Inflationsrate von 11,9 % wird innerhalb der Regierung gestritten: Soll man die Renten um 4,5 % erhöhen oder doch um 7 %, dann aber den vermögensbildenden Anteil erneut konfiszieren. Was könnte ein derartiger Schlag gegen die Rentner nach sich ziehen – einer für die Regierung nach wie vor wichtigen Wählerschaft?

    Bereits in diesem Jahr sinkt das reale Rentenniveau, obwohl im Februar eine Anhebung in Höhe der Inflation des vergangenen Jahres durchgeführt wurde – 11,4 %. Wobei die Rentner in gewisser Hinsicht eine eigene Inflation haben: Ihr Warenkorb sieht anders aus als der, nach dem die offizielle Inflation berechnet wird. In diesem Warenkorb finden sich naturgemäß mehr Lebensmittel, in der Regel einfachste Grundnahrungsmittel, höher ist der Anteil der Ausgaben für Medikamente. Die Preissteigerungen bei diesen Waren lagen sowohl in diesem wie im letzten Jahr über dem Durchschnitt. Der Warenkorb des russischen Amtes für Statistik Rosstat bezieht sich gesellschaftlich gesehen auf die gehobene Mittelklasse: Es finden sich darin Fleisch- und Fischdelikatessen, relativ teure Kleidung und Dienstleistungen, die viele Rentner nicht in Anspruch nehmen.

    Nun zum nächsten Jahr. Ich denke, die Sache ist so gut wie entschieden – die Rentenerhöhung zu Beginn des Jahres 2016 wird unterhalb der faktischen Inflation liegen. Wir gehen zu einer Rentenanpassung über, die sich nach der prognostizierten Inflation richtet. So war das bereits Ende der 90er Jahre, als die wirtschaftliche Lage sehr kritisch war. Das ist übrigens interessant, weil die Regierung damit indirekt gesteht, dass wir, was die Wirtschaftslage betrifft, in die damaligen Zeiten zurückgekehrt sind. Wobei die Regierung sehr optimistisch in die Zukunft blickt: Für das nächste Jahr wird uns eine Inflationsrate von 7 % vorausgesagt, für das Jahr 2017 sogar nur 4 %. Doch bislang geht die Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung.

    Unter den Rentnern gibt es verschiedene Gruppen: Zum Beispiel gibt es Arbeitnehmer, die neben der Rente ein Einkommen haben. Dies sinkt real zwar auch, aber immerhin haben diese Rentner zusätzliche Einkünfte. In Russland allein von der Rente zu leben ist, gelinde gesagt, sehr schwierig. Zu dieser Gruppe zählt etwa ein Drittel aller Menschen im Ruhestand – ihr Lebensstandard verschlechtert sich ebenfalls, aber sie gelangen nicht an den Punkt, wo das Leben zum Überlebenskampf wird. Außerdem lebt ein beträchtlicher Teil der Rentner bei der Familie, das hat sich in Russland historisch so entwickelt. In den USA und in Europa leben die Generationen nicht zusammen und wirtschaften getrennt. In Russland ist das wegen des Mangels an erschwinglichem Wohnraum für junge Menschen und dank bestimmter kultureller Traditionen anders. Das mildert die Situation teilweise etwas. Am schlimmsten wird es alleinstehende Rentner und Rentner-Ehepaare treffen – das sind etwa 15–20 % aller alten Menschen.

    Die heutigen Rentner gehören in ihrer Mehrheit zu den ersten Nachkriegsgenerationen. Sie haben sich eine noch aus der Sowjetzeit stammende Widerstandskraft angeeignet: Immer das Schlimmste zu erwarten. In den Genuss eines mehr oder weniger guten Lebens sind nur die jüngeren Generationen gekommen, die in den 90er Jahren irgendwie den Wechsel geschafft, ein Geschäft gegründet haben und dann in den 2000ern auf der Welle des Wirtschaftswachstums mitgeschwommen sind. Es entstand  eine Mittelschicht. Deren Angehörige sind bisher nicht an eine konstant sinkende Lebensqualität gewöhnt. Die älteren Generationen erinnern sich noch allzu gut und reagieren in diesem Sinne weitaus flexibler auf die Krise.

    Sind die anhaltenden Debatten über das Schicksal der Rentenrücklagen und seit einiger Zeit auch über die Rentenanpassung gewöhnliche Meinungsverschiedenheiten zwischen den Behörden mit unterschiedlichen Funktionen oder ein Zeichen für die Hilflosigkeit der Regierung angesichts der Haushaltskrise?

    Sie sind eine direkte Folge der Krise, die bereits 2008 begonnen hat. Nach einer kurzen regenerativen Wachstumsphase geht es bei uns wieder bergab. Das Problem ist sehr einfach: Unser Rentenfonds geht ohne die Unterstützung aus föderalen Haushaltsmitteln am Stock. Der föderale Transfer in den Rentenfonds beträgt mehr als eine Billion Rubel [14,3 Milliarden Euro], und er wächst von Jahr zu Jahr. Für das Staatsbudget ist das eine gewaltige Last, besonders angesichts des ausbleibenden Wirtschaftswachstums.

    2012–2013 wurde deutlich, dass das bestehende Wirtschaftsmodell ausgereizt ist, aber Reformen durchführen wollte niemand, also war die Regierung meines Erachtens vor eine rein pragmatische Aufgabe gestellt: Die Sozialleistungen mussten leicht gedrückt werden. Denn dem Staatshaushalt geht es ja schlecht, er muss Geld für die Verteidigung und andere wichtige Dinge ausgeben. Da hat man sich dann ein Punkte-Modell ausgedacht: Rein formal wird der Rentenfonds in zwei bis drei Jahren zur Selbstfinanzierung übergehen. Der Gegenwert der Punkte wird ausgehend von den Gesamteinnahmen des Fonds berechnet. Der fetteste Happen ist unter diesen Bedingungen der vermögensbildende Anteil mit 6 Prozentpunkten des Rentenbeitrags, die aus dem Solidaranteil unseres Rentensystems abgezogen werden, wenn die Auszahlung der Renten aus den laufenden Beiträgen der Arbeitnehmer erfolgt. Paradoxerweise kamen gerade die Ministerien mit sozialem Portfolio in Versuchung, diesen Anteil aus dem Solidarsystem zu entnehmen. Für gewöhnlich kennt man einen derartigen Appetit vom Finanzministerium, das sich um das Haushaltsgleichgewicht zu kümmern hat. In diesem Fall entschied sich das Finanzministerium aber für ein vor allem strategisches Vorgehen. Und legte Protest ein, als die Idee aufkam, den vermögensbildenden Anteil zu liquidieren, indem man ihn sozusagen in die laufenden Ausgaben des Rentenfonds einfließen lässt. Zumindest im Moment sieht es so aus, als würden die Zentralbank und das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung sowie die Mehrheit der unabhängigen Experten diese Position des Finanzministeriums teilen.

    Der vermögensbildende Anteil bleibt also fürs Erste erhalten, aber im föderalen Haushalt gibt es schon jetzt kein Geld mehr für nichts, deshalb werden wieder Stimmen lauter, ihn das dritte Jahr in Folge einzufrieren. So gesehen hat das Finanzministerium also keinen endgültigen Sieg eingefahren, denn alleine die Tatsache des Einfrierens diskreditiert das gesamte Rentensystem in höchstem Maße. Es bedeutet, dass es keinerlei Spielregeln gibt. Menschen, die 1966 und später geboren wurden, wissen schlicht nicht, was sie tun sollen, denn das Vertrauen in die Renteninstitute war ohnehin nicht sehr stark. Aber das Ersparte ist ja nicht einfach irgendwo auf den Konten eingefroren – es existiert gar nicht mehr. Und diese zig hundert Milliarden Rubel müssen irgendwie wieder her.

    Der Erhalt des vermögensbildenden Anteils wurde offenbar aus dem Grund durchgesetzt, dass man auf ein Wirtschaftswachstum im Jahr 2016 setzte – damals waren die Prognosen noch entsprechend. Heute wird von Seiten der Makroökonomie auf der Idee des vermögensbildenden Anteils ziemlich herumgehackt. Die aktuellen Zahlen für den August zeigen: Die Produktivität der Wirtschaft sinkt, und es geht weiter abwärts. Selbst die offizielle Prognose verspricht einen Anstieg des BIP erst für 2017 – und das ist ein sehr optimistisches Szenario. Übrigens, 1–2 % Wirtschaftswachstum ändern rein gar nichts.

    Das Finanzministerium ist in eine schwierige Lage geraten: Ein weiteres Einfrieren des vermögensbildenden Anteils wird das Vertrauen der Menschen in das Einlagesystem endgültig zerstören, und dann wird man im Arbeits-, Gesundheits- und Bildungsministerium wieder davon sprechen, dass es ratsam wäre, ihn komplett abzuschaffen. Man wird entweder anstelle dieses Anteils staatliche Verpflichtungen erbringen müssen – zum Beispiel Anleihescheine erstellen, sie den Leuten geben und ihnen sagen, dass sie ihr Geld in 20 Jahren wiederbekommen. Genau wie damals bei den Abgaben für die Sanierung von Wohnungen wird das Schicksal dieser Mittel absolut ungewiss sein.

    Sehen Sie, in einem Land, in dem es keine vernünftigen Institutionen gibt, in dem die Wirtschaft absolut archaisch ist, kann man unmöglich einen einzelnen Bereich nehmen und dort effektive Reformen durchführen.

    Wie stehen die Chancen, dass zur Senkung des Rentenanpassungssatzes und einer erneuten Konfiszierung des vermögenswirksamen Anteils im nächsten Jahr auch noch eine Anhebung des Renteneintrittsalters hinzukommt?

    Das Rentenalter erhöhen wird ganz offensichtlich im nächsten Jahr niemand. Das Finanzministerium sondiert nur die Lage und bringt die Diskussion innerhalb der Regierungskreise wieder in Gang, wenn auch diesmal öffentlich. Aber alle wissen sehr gut, dass ein Anheben des Renteneintrittsalters einer enormen Vorbereitung bedarf. Früher oder später wird das in Russland natürlich geschehen, aber vorher müsste man das Frühberentungssystem umstrukturieren. Wenn man das Rentenalter anhebt, werden die Menschen mit 60 (Männer) und 55 (Frauen) einfach Erwerbsunfähigkeit anmelden und so weiterhin dieselbe Rente bekommen. Auch mit dem Arbeitsmarkt muss etwas geschehen, denn wir haben viele arbeitende Rentner. Im Moment kann man mit einer kleinen Rente plus einem kleinen Einkommen im Rentenalter wenigstens irgendwie existieren, ohne täglich einen Überlebenskampf zu führen. Aber wenn wir das Rentenalter anheben und diesen Menschen ihre Rente auch nur für 2–3 Jahre wegnehmen, dann erschaffen wir schlicht eine neue Gruppe von Armen. Schließlich rein pragmatisch gesehen: Die Machthaber im Land, jedenfalls die Politiker unter ihnen, agieren im Rahmen von Wahlperioden. 2016 gibt es wieder Dumawahlen, die die Partei Einiges Russland unbedingt gewinnen will, und 2018 Präsidentschaftswahlen, an denen Wladimir Putin sehr wahrscheinlich teilnehmen wird. Deshalb wäre ein Beschluss über die Anhebung des Renteneintrittsalters zum 1. Januar 2016 ein Schlag in die Magengrube der Regierung. Solch eine Maßnahme würde äußersten Unmut in der Bevölkerung auslösen.

    Die gesamte aktuelle Sozialstatistik – angefangen bei der Zahl von Russen, die unter der Armutsgrenze leben, bis hin zur Sterblichkeitsrate – sieht ziemlich düster aus. Wie weit ist Russland hinsichtlich der Lebensqualität in die Vergangenheit zurückgeworfen?

    Es gibt den Begriff des Lebensstandards – das sind konkrete Parameter von Einkommen und Konsum. Und es gibt den Begriff der Lebensqualität – das ist ein bisschen was anderes. Manchmal ist alles eigentlich ganz gut, aber glücklich ist man nicht. Bei uns haben die Menschen intuitiv schlechte Erwartungen an die Zukunft. Momentan leben 16 % der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, und doch sind soziale Notstände nicht einmal in der Provinz offenbar: Auf den Straßen laufen keine hungernden Menschen herum. Aber eine erdrückende Mehrheit der Bevölkerung hat eine pessimistische Einstellung. Alle erwarten eine Verschlechterung der Situation, Arbeitslosigkeit rangiert ganz vorne auf der Liste der negativen Erwartungen.

    Ein sehr beunruhigendes Syndrom ist der Selbstwert-Verfall in der Bevölkerung. Wenn die Menschen anfangen, sich selbst in ihren Ansprüchen an dieses Leben zu beschränken, dann hören sie faktisch auf, sich selbst wertzuschätzen. Dann laufen sie eben in Wattejacken herum, ernähren sich von Kartoffeln und Wodka, ist doch schnurz. Das ist eine Form der Zerrüttung, die in Russland sehr weit verbreitet ist, besonders in der Provinz. Diese Menschen werden von sich aus bestimmt nichts in Gang setzen. Da muss erstmal jemand anders anfangen und alles rundum demolieren, dann rennen sie vielleicht in die Läden und schleppen Lebensmittel raus, aber es muss eben erstmal jemand anfangen. Dieser Selbstwert-Verfall, die Verschlechterung der Lebensqualität – das bedeutet für und in unserem Land die Konfiszierung der Zukunft.

    Welche Handlungsmöglichkeiten hat die Regierung? Vor progressiven Reformen hat sie pathologische Angst. Andererseits heißt es, ein reaktionäres Szenario, eine Glasjewschtschina mit staatlicher Regulierung der Preise und totaler Isolation würde vorerst „nicht der offiziellen Position des Kreml entsprechen“ [Zitat Dimitri Peskow – dek] …

    Die Regierung fürchtet alle Reformen – sowohl glasjewsche als auch ansatzweise liberale. Reformen sind Risiken. Wenn man sie anstößt, begibt man sich stets in ein Meer von Ungewissheit. Und zum Umschiffen der Riffs in diesem Meer braucht es ein relativ hohes Maß an Professionalität, die unserer Regierung fehlt. Zur Zerrüttung der Menschen, von der ich sprach, kommt es ja nicht nur im Volk, sondern auch in Regierungskreisen. Die Qualität der Staatsführung ist heute sogar auf föderaler Ebene unter aller Kanone. Von Diebstahl und Korruption spreche ich erst gar nicht.

    Nehmen Sie zum Beispiel die Einführung des einjährigen Haushaltsplans. Damit haben sie doch ihre eigene Hilflosigkeit unterzeichnet: Sie sind nicht in der Lage, wirtschaftliche Prozesse zu steuern, haben keinen Einfluss auf sie. Das einzige, was sie können, ist dazwischenfunken, sich drei Kopeken krallen und wieder abhauen. Die Regierung wird die Situation bis zum Letzten bewahren, wie sie ist, und sich dabei auf das große Geduldspotential der Menschen stützen. Ändern kann sich die Situation nur durch höhere Gewalt.

    Wenn die höhere Gewalt ausbleibt, werden wir dann einen schleichenden Übergang Russlands in die Reihen der Außenseiterstaaten beobachten?

    Im Moment gibt es in der Welt drei Supermächte: USA, China und die EU. Sie haben globale Interessen und können auf Vorgänge an jedem beliebigen Ort der Welt Einfluss nehmen. Dann gibt es Regionalmächte: Indien, Brasilien, Nigeria, Indonesien, Japan und nach wie vor Russland. Es gibt auch Länder mit einem niedrigeren, dritten Status: zum Beispiel Argentinien, Venezuela, Ägypten. Trotz ihrer Größe und ihres Potentials befinden sie sich in einer permanenten sozio-ökonomischen Krise und haben selbst in ihrer Region keinerlei ernsthaften Einfluss auf das Geschehen. Und dann gibt es failed-states wie Somalia oder Syrien, wo es überhaupt keinen Staat gibt. Wir laufen Gefahr auf die dritte Ebene zu rutschen und dann, wenn es so weitergeht, auch noch tiefer. Das Einzige, was uns noch im jetzigen Status hält, sind die nuklearen Waffen und das Veto-Recht beim UNO-Sicherheitsrat. Aber der Abstieg in der Welthierarchie läuft dennoch und die Prognosen sind bisher negativ. Nicht einmal, was die Zahlen betrifft, sondern in Bezug auf die Lebensqualität, die Qualität des menschlichen Kapitals.

    Eine derartige Situation braucht systemische, tiefgreifende Veränderungen. Ich bin nicht sicher, ob das Land im Moment die Ressourcen dafür hat. Das Volk bleibt stumm, alles liegt bei den Eliten. Aber auch da sind die Menschen in erster Linie daran interessiert, Kontrolle über die Finanzströme zu behalten. Das ist eine sehr schwierige historische Falle, aus der ich momentan keinen Ausweg sehe.

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