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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Alles abgerooft“

    „Alles abgerooft“

    Zunächst sieht man den Wolkenkratzer nur von unten, dann Zoom auf die Stern-Skulptur auf der Spitze des Gebäudes. Zwei winzige Figuren sind da zu erkennen, sie kraxeln entlang der Stahlverstrebungen, um sie herum das Nichts, der Himmel über Moskau. 

    Roofing heißt dieser Trend, das Erklettern von Hochhäusern und Kränen, eigentlich von allem, was schwindelerregend hoch ist. Fotos und Videos vor allem russischer Roofer schwemmen das Netz. Was als Subkultur begann, ist inzwischen längst zum Trend geworden. 

    Mindestens genauso gefährlich ist das so genannte Sazepping, außerhalb Russlands auch Trainsurfing genannt: Das „Surfen“ zwischen fahrenden Waggons oder auf Zugdächern. Es sind erschreckend viele Minderjährige, die dieses gefährliche Hobby betreiben, manche erst zwölf Jahre alt.
    Verbreiten konnten sich Roofing und Trainsurfing in Russland auch deswegen, weil lange Zeit kaum rechtliche Konsequenzen zu befürchten waren. Das änderte sich erst, als immer mehr Minderjährige dabei ums Leben kamen.

    Julia Reprinzewa von der Novaya Gazeta hat sich in der russischen Roofing– und Sazepping-Community umgehört – und traf auf eine Szene im Wandel.

    Shenja und ich laufen langsam die abendliche Uferstraße an den Sperlingsbergen entlang. Er hat eine schwarze Jacke und unter einer Kapuze versteckte schwarze Locken, fast wie ein Kinoheld. Er erzählt, dass er „ganz jung damit angefangen hat”. Erst Surfen, dann Roofen. 

    „Hast du gehört, was in Tuschino los war? Nein? Merkwürdig. War sogar in den Nachrichten. Gib auf YouTube ein: Trainsurfing Tuschino. Da ist ein Typ zuerst über das Dach einer Elektritschka gerannt, dann auf den nächsten Zug gesprungen, weggerannt, wurde geschnappt, es gab eine Schlägerei – richtig Action. Jedenfalls – das war ich.“

     

    Der „Typ“ ist 16. Über  die Zeit damals (vor zwei Jahren) sagt er: „War geil, aber ich war ein Idiot. Jeden Tag bin ich auf dem Dach einer Elektritschka oder zwischen den Waggons zur Schule gefahren – hin und zurück. Hab mich von der Elektritschka bis zum Sapsan vorgearbeitet. Ist wie eine Droge. Ich konnte nicht aufhören. Hab’s einfach nicht gepeilt. Wie in einem Sog.“ 

    Die Mutter hatte immer einen Verdacht: Shenjas Kleidung war immer schmutzig, in den Taschen flogen Handschuhe und Waggonschlüssel rum. Aber dass ihr Sohn auf Elektritschkas surft, erfuhr sie zufällig – aus dem Internet: „Sie hat auf YouTube Trainsurfing eingegeben – und mich gefunden.“ „Und, wie hat sie reagiert?“ „Sie hat gesagt: ,Du Trottel‘.“ 

    Shenja wollte gerade zum letzten Mal auf dem Sapsan mitfahren, um ein „okayes Video“ zu drehen und auf YouTube einzustellen. Kurz vor der Fahrt erfuhr er, dass sein Freund tödlich verunglückt war. Er war betrunken auf einen Zug geklettert und heruntergefallen. 

    Seitdem fährt Shenja nicht mehr auf Dächern der Elektritschka: „Für mich war das ein Zeichen.“

    Geplante Aktion

    Ende letzten Jahres gab das Ermittlungskomitee an, es sei aktiv mit der Ausarbeitung von möglichen Ergänzungen zum Paragraphen Anstiftung zum Selbstmord im Strafgesetzbuch beschäftigt. Wie ein Vertreter der Behörde, Sergej Wasjulin, erklärte, geht es dabei um die Strafbarkeit der Anstiftung Jugendlicher zu Extremdisziplinen wie  „Trainsurfing“ (dem Mitfahren auf Zugdächern oder zwischen Waggons) und „Roofing“ (dem Spazieren auf Gebäudedächern). Wasjulin insistierte, diese beiden Trends seien eine „von außen motivierte Aktion“. Genaueres – motiviert von wem? wozu? – sagte er nicht.  

    „Roofing ist keine schmale Subkultur mehr“ – Foto © Max Frolov/Flickr unter CC BY 2.0
    „Roofing ist keine schmale Subkultur mehr“ – Foto © Max Frolov/Flickr unter CC BY 2.0

    Am 19. November, einen Monat nach dieser Äußerung des Ermittlungskomitees, stürzte in Murmansk ein 13-jähriges Mädchen vom Dach eines neunstöckigen Hauses. Das Ermittlungskommitee leitete ein Verfahren ein wegen „Verleitung zum Selbstmord“, und auf der Website der Staatsanwaltschaft erschien eine Mitteilung, dass „die Zugehörigkeit des Mädchens zur sogenannten Roofing-Bewegung“ geprüft werde. 

    2012 erlitten in Moskau 17 minderjährige Trainsurfer Verletzungen, 2013 waren es 29, 2014 – 48 und 2015 – 25 (davon endeten 13 Fälle tödlich). In den ersten neun Monaten des Jahres 2016 wurden von der Moskauer Polizei 1167 Minderjährige gefasst wegen Aufenthalts auf nicht für Passagiere vorgesehenen Transportmitteln. 

    „Festzustellen, ob jemand die Kleine  zum Selbstmord angestachelt hat, ist richtig und wichtig“, sagt Ilja Kremer, der Gründer einer der beliebtesten Roofing-Gruppen auf Vkontakte, Wysokije kryschi Moskwy [kurz WKM, dt. „Die hohen Dächer Moskaus“ – dek]. „Nur, dass Roofer so etwas ganz sicher nicht tun würden. Die Fotos, die wir machen, sind voller positiver Emotionen, sie zeigen dir, wie schön deine Stadt ist. Solche Hetzer suchen sich ihre Opfer bestimmt in anderen Kreisen, in solchen mit ausgesprochen negativer Thematik.“

    Die Romantik ist dahin – alles abgerooft

    Die Roofer kamen als wahrnehmbare soziale Gruppe unter Jugendlichen vor etwa sieben Jahren auf. „Am Anfang waren die Leute fasziniert vom Fotografieren. Überlegten, wie sie noch höher klettern und noch bessere Perspektiven kriegen könnten“, erzählt Pascha, einer der Gründer der Roofing-Gruppe auf VKontakte. „Mittlerweile treibt sie nur noch Gier nach Anerkennung und Selbstdarstellung an. Das ist keine schmale Subkultur mehr. Ich mag die Bewegung nicht mehr besonders – sie ist zu breit geworden“, meint der einstige Roofer Marat Djupri.

     

    „Früher hat sich keiner an den Rand eines Daches gehängt“, stimmt Pascha zu. „Die Leute, die geklettert sind und fotografiert haben, wussten, was sie tun, und haben versucht, möglichst wenig Spuren auf dem Dach zu hinterlassen. Sie haben sich nicht nackt ausgezogen und alles angeschmiert. Roofing ist schon lang nicht mehr das, was es mal war: Es ist ein chaotischer Trend geworden, die Romantik ist dahin – alles abgerooft.“

    Manche haben aus dem Roofing einen Job gemacht: Sie organisieren Touren und romantische Dates auf dem Dach. Dafür, sagt Pascha, haben sie von Anfang an Geld verlangt. 

    Er selbst hat seiner Freundin den Heiratsantrag auf dem Dach gemacht … Stundenlang kann Pascha von den unterschiedlichen Bauweisen der Moskauer Häuser erzählen, von Methoden, reinzukommen, von Vielfalt und  Funktionsweisen der Alarmanlagen, und – was man der Polizei erzählen muss, um nicht bestraft zu werden. Verwaltungs- und Strafrecht kann er auswendig zitieren. 

    Pascha ist ein Roofer, der nicht fotografieren kann und … Höhenangst hat. „Wieso kletterst du dann?“, frage ich. „Das ist eine Technik, seine Gedanken zu ordnen, zu sich zu kommen. Manche Menschen gehen in die Kirche, manche – so wie ich – aufs Dach“, antwortet er.

    Die Stars unter den Roofern: Interviews nur gegen Bezahlung

    Roofing betreiben vor allem Schüler und Studenten, aber es gibt auch ältere unter ihnen. In Gruppen auf VKontakte tauschen sie Fotos und nützliche Informationen aus: Zum Beispiel, wie man ein Dachbodenschloss knackt. Jede der Gruppen hat ihre eigenen Regeln. So darf man bei WKM nicht nach Adressen offener Dächer fragen – dafür kann man sogar einen Monat gesperrt werden. Und man darf sich nicht niemanden aufdrängen, der ein neues Dach klarmachen.

    Es gibt viele Roofing-Gruppen. Die älteste und bekannteste ist WKM, sie hat mehr als 30.000 Mitglieder. In der Gruppe Rufery sind es über 33.000.

    „Sehr oft werden Mitglieder solcher Gruppen von Firmen kontaktiert, die Fotos kaufen wollen. Das ist für Roofer ein perfekter Zuverdienst“, sagt Pascha. 

    https://www.youtube.com/watch?v=6ta-BmmSDbw


    Einer der ersten, die weithin bekannt wurden, war Witali Raskalow. Und zwar, nachdem er zusammen mit ein paar anderen in Moskau auf das Dach des noch im Bau befindlichen Komplexes Moskwa City geklettert war. Er wurde dann im Sicherheitsdienst des Gebäudes angestellt … Jetzt reist er um die Welt, und die Liste der Höhen, die er erklommen hat, lässt jeden Roofer vor Neid erblassen.    

    Fotos von bekannten Roofern werden aktiv von internationalen Medien gekauft. Daily Mirror, Guardian, Independent, Der Spiegel und National Geographic zahlen für gute Aufnahmen bis zu 200 Euro pro Stück. Auch Interviews sind für manche Roofer eine Einnahmequelle. Angela Nikolau etwa schrieb mir: „Interviews nur gegen Bezahlung.“ Was die Reichweite der eigenen Websites betrifft, sind die Roofer nahe an den Medien dran, die erwähnte Angela hat auf Instagram 400.000 Follower. 

    Trainsurfer Jelzin

    Während Roofing eine Spielart der Urban Exploration ist, meint Trainsurfing das Mitfahren mit Transportmitteln, allerdings nicht drinnen, sondern außen dran – meistens an Zügen, manchmal Straßenbahnen oder Autobussen. Wie die Roofer stellen auch die Surfer nach ihren Heldentaten Fotos oder Videos ins die Sozialen Netze. 

    Dass man außen am Zug mitfährt, ist keine neue Erfindung – das gibt es seit Aufkommen des Schienenverkehrs. Bekannt ist auch, dass der spätere Präsident Russlands Boris Jelzin in den 1950er-Jahren vor Antritt seines Studiums das Land ansehen wollte und zwei Monate lang auf Dächern und Trittbrettern von Waggons mitfuhr – beim Kartenspielen hätte er damals fast sein Leben verloren. Er hatte auf einem Zugdach mit Verbrechern gespielt … Heutige Surfer können von so etwas nur träumen. 

    Laut Sergej, einem alten Hasen unter den Surfern, ist Trainsurfing in den Oblasts Moskau und Leningrad  am weitesten entwickelt. Allein Richtung Jaroslawl springen täglich rund 1000 Leute auf. 

    „Auf unserer Strecke fahren die Leute schon seit zehn Jahren so. Die meisten wissen, glaube ich, gar nicht, dass das Trainsurfing ist“, sagt Roman Gromow, der selbst seit zehn Jahren surft. 

    Unerwünschte Nebenwirkung

    Gromow teilt die Surfer in zwei Kategorien: Die einen fahren zweckgebunden (um ans Ziel zu kommen), die anderen, um neue Erfahrungen zu machen. Schüler sind bei ihm eine eigene Kategorie. 

    „Die machen gefährliche Sachen, aus Drang zur Selbstdarstellung. Ich verjage sie immer“, sagt Gromow. „Ich kenne in Mytischtschi ein paar Bullen. Wenn ich Schüler sehe, rufe ich die. Dann holen sie sie runter. Mich lassen sie in Ruhe, mich kennen sie. Erwachsene lassen sie überhaupt meistens in Ruhe. Das ist eben deine Art zu fahren – was geht’s die anderen an? Aber die Schüler, die dauernd verunglücken – das ist eine Nebenwirkung unserer Bewegung und die gehört ausgemerzt.“

    „Als ich die ersten Treffs organisierte, haben wir erstmal alles rausgefunden“, setzt er fort. „Am Anfang haben wir uns einfach hinten angehängt, mit der Zeit dann gelernt, auf dem Dach zu fahren, dann vorne, dann unter dem Waggon, seitlich und so weiter … Dann stellten wir Rekorde auf: Wer sich als erster an den Sapsan hängt, wer in einem Jahr am meisten damit fährt, wer das größte Massensurfing veranstaltet. Das kann man endlos weiterspinnen. Das gibt der Sache den Drive.“

    Den Sapsan zu surfen gilt als besonders schwierig – Foto © ZCP4/Wikimedia Commons unter CC BY-SA 3.0
    Den Sapsan zu surfen gilt als besonders schwierig – Foto © ZCP4/Wikimedia Commons unter CC BY-SA 3.0

    Den Sapsan zu surfen gilt übrigens als am schwierigsten. „Früher dachte ich, den Sapsan zu surfen geht gar nicht, das ist eine eigene Wissenschaft“, sagt Gromow, „und jetzt fahre ich 20 Mal im Jahr so nach Piter. Jede Fahrt schreibe ich in ein Notizbuch – für die Chronik. Ich habe schon 60 Fahrten. Sapsan-Surfen ist total geil.“ 
    „Die Schüler sterben wegen der Medien“, ist Roman überzeugt. „In den Nachrichten zeigen sie ständig Trainsurfing als Extremhobby, und die Schüler denken, das ist gefährlich und deswegen cool. Das stimmt aber nicht. Es ist einfach eine Art der Fortbewegung – wie Trampen.“ 

    Die Leute rundherum sterben, das bin ich schon gewöhnt

    Derzeit sind fast alle Trainsurfer-Gruppen auf VKontakte auf Beschluss der Strafverfolgungsbehörde gesperrt. Allein im Jahr 2015 haben die Staatsanwälte der Moskauer interregionalen Verkehrsstaatsanwaltschaft die Schließung von 101 Gruppen erwirkt. 

    Im Vergleich zu den Roofer-Gruppen sind die Gruppen der Trainsurfer klein: von 69 bis 2500 Mitglieder. In den Gruppen tauscht man Erfahrungen aus und informiert einander über Sicherheitsbestimmungen. „Wir erinnern daran, dass Trainsurfing auf dem Gebiet der Russischen Föderation eine Übertretung gemäß Paragraph 11,17 Nr. 1 des Russischen Ordnungswidrigkeitsgesetzbuchs ist“, heißt es in den Regeln der Jugendbewegung Trainsurfing. „Die Gruppe ist für Leute gedacht, die auf die eine oder andere Art mit Trainsurfing zu tun haben. Kommunikation zum Thema Trainsurfing und der Austausch von Material dazu ist nicht gesetzlich verboten.“

    Hang zum Risiko 

    „Wissen Sie noch, was Sie als Kind im Hof gespielt haben? Für eine normale Entwicklung muss jeder Junge gewisse Risikostufen durchlaufen“, erklärt auf der Website der Russischen Eisenbahnen der Arzt und Psychotherapeut Prof. Dr. Andrej Schiljaew, Lehrstuhlleiter für Klinische, Neuro- und Pathopsychologie am Wygotski-Institut für Psychologie. „Jahrhundertelang sind Jungs auf Bäume geklettert, haben allerlei riskante Spiele gespielt. Die Lust daran, sich an der Grenze des Möglichen zu erfahren, entspricht dem Wesen des heranwachsenden Mannes. Jetzt, wo die Hinterhofkultur praktisch gänzlich aus dem Erziehungssystem verschwunden ist, leben diese Jungen ihren Hang zum Risiko in extremer Form aus.“

    „Es geht nicht um das Risiko“, widerspricht Gromow. „Es ist einfach bequem so [zu fahren, Anm. Ju. R.]. Viele glauben, wir drehen Videos, um zu zeigen, wie cool wir sind, aber das stimmt nicht. Wir filmen, um zu sehen, woran man sich festhalten kann, wie der Zug gebaut ist, also um irgendwelche technischen Aspekte zu besprechen. Und diese Videos tauschen wir dann untereinander aus.“

    Erst am Ende des Interviews erzählte Gromow, dass viele seiner Bekannten verunglückt sind, nicht nur beim Trainsurfing: Einer stürzte tatsächlich vom Sapsan, ein anderer wurde vom Zug überfahren, der nächste hatte beim Fallschirmspringen „Pech“ … „Die Menschen um mich herum sterben, das bin ich schon gewöhnt. Wenn ein Mensch kein Gespür für Gefahr hat, kann es ihn überall erwischen.“

    Strafen verschärfen die Situation nur

    Alle „renommierten“ Roofer und Trainsurfer wissen über Initiativen der Strafverfolgungsbehörde und der Staatsduma Bescheid, aber das lässt sie ziemlich kalt. „Das geht schon seit Jahren so. Irgendwann haben die uns bestimmt vergessen. Letztes Jahr haben sie auch gezetert – und nichts ist passiert. Wenn die Onkels da oben wirklich den Roofern zusetzen wollten, wäre schon vor Jahren ein Gesetz rausgekommen“, meint Pascha. „Dieses Gesetz soll schon seit zehn Jahren kommen“, stimmt ihm Gromow zu. „Durchziehen werden sie das kaum. Vielleicht heben sie die Strafen für Schüler an, und damit hat sich’s.“

    „Das ist einfach eine Art der Fortbewegung – wie Trampen“ – Foto © ZCP4/Wikimedia Commons unter CC BY-SA 3.0
    „Das ist einfach eine Art der Fortbewegung – wie Trampen“ – Foto © ZCP4/Wikimedia Commons unter CC BY-SA 3.0

    Bekämpfen muss man Trainsurfing schon, findet Pascha, aber nicht nur so pro forma, wie das jetzt der Fall sei, sondern radikal: „Sie sperren Gruppen, andere wachsen nach, sie sperren sie wieder – und immer so weiter. Die Strafen verschärfen nur die Situation: Es entstehen Korruption und total durchschaubare Pseudo-Erfolgsberichte. Man sollte die Ursachen rausfinden und sich die vornehmen – aber Druck auf die Folgen dieser Ursache auszuüben ist zwecklos.“      

    „Ich bin einerseits für die Schließung der Gruppen, weil dort viele Schüler sind“, sagt Gromow. „Andererseits bin ich dagegen, weil wir nützliche Informationen für Leute veröffentlichen, für die Trainsurfing ganz neu ist: Sicherheitstechniken, Regeln, Fortschritte. Wir bemühen uns, die Bewegung unter Kontrolle zu halten, damit nicht alles aus dem Ruder läuft und die Schüler nicht allein surfen und dann verunglücken.“ 

    Psychologe Schiljaew meint allerdings, man müsse den Kindern eine Alternative bieten („Ermahnungen führen zu nichts“), jedoch gebe es „derzeit kaum Alternativen“. Sportvereine, ist er überzeugt, könnten schon allein deshalb keine Alternative zu Trainsurfing sein, weil „dort ein anderes Prinzip herrscht – das Konkurrenzprinzip“, es gehe dort nur um das Ergebnis. „Für ein Kind ist das Mitmachen viel wichtiger als das Ergebnis. Ein Kind, das auf einen Zug klettert, denkt nicht daran, wo der Zug hinfährt – es hat einfach Vergnügen an dem Prozess“, erklärt der Arzt. 

    Mitte November gab es in den Nachrichten eine Meldung aus  Finnland: Man hatte sich zur Bekämpfung von Trainsurfing etwas Neues überlegt. Im Warteraum eines Bahnhofes wurde eine Kletterwand für Kinder aufgestellt. 

    Elf Tage später lautete eine Meldung aus Russland dagegen: In Belgorod hatte die Verkehrsstaatsanwaltschaft Studenten von den Nürnberger Prozessen erzählt. Man wollte sie patriotisch bilden. Am Ende der Veranstaltung habe der Assistent des Verkehrsstaatsanwaltes dann auch noch kurz auf die Gefahren von Trainsurfing hingewiesen.

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  • Lehrerinnen fürs Ende der Welt

    Lehrerinnen fürs Ende der Welt

    Russlands Dörfer verlieren ihre Bewohner. Wie anderswo auch, bieten die großen Städte oft mehr Jobs und Perspektiven – hier begünstigt dadurch, dass die Sowjetunion die Verstädterung einst massiv vorangetrieben hat. Russland ist mit offiziell rund 146 Millionen Einwohnern ohnehin dünn besiedelt. Es gibt Versuche, die Trends umzukehren: Gerade hat die russische Regierung etwa ein Programm gestartet, das mit geschenktem Grundbesitz in den Fernen Osten locken soll.

    Was macht den Orten fernab der großen Städte zu schaffen? Unter welchen Bedingungen leben die Menschen dort? Und was tun, wenn qualifizierte Fachkräfte für die elementarsten Dinge fehlen? Zum Beispiel Pädagogen. Anna Bessarabowa hat für die Novaya Gazeta ganz besondere Lehrerinnen in der sibirischen Taiga begleitet: Das lokale Projekt Mobile Pädagogen soll die Dorfschulen retten.

    Reportage aus verschneiten Winkeln, wo der Schulweg auch mal ein Trampelpfad übers Eis ist. 

    „Wir bummeln durchs Dorf und warten bis die Schule aus ist, um mit dem Bus zurückzufahren, der die Kinder nach Hause bringt.“ / Fotos © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    „Wir bummeln durchs Dorf und warten bis die Schule aus ist, um mit dem Bus zurückzufahren, der die Kinder nach Hause bringt.“ / Fotos © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    Im sibirischen Parabel ist es schon 10 Uhr abends, in Moskau erst 18 Uhr. Draußen ist es dunkel und kalt, 36 Grad unter Null. Blinzelst du, verkleben dir die Wimpern vor Kälte. Atmest du, frieren weiße Muster auf den Brillengläsern. Redest du, kommt es dir vor, als würdest du Plombir-Sahneeis in ganzen Stücken hinunterschlingen.

    Mascha eilt voran wie ein Eisbrecher, wir laufen wie die Pinguine hinterher, um mitzuhalten. Maria Alexejewna Jurjewa, wie sie mit vollem Namen heißt, eine hübsche 24-Jährige, ist nach ihrem Biologie-Studium in Tomsk aufs Dorf zurückgekehrt. Tagsüber erklärt sie Achtklässlern den Körperbau verschiedener Lebewesen, abends stemmt sie mit ihrer Freundin, einer Erzieherin, Gewichte. Mittwochs fahren Mascha und noch zwei Lehrerinnen, die „Engländerin“ und die „Chemikerin“, wie man sie hier nennt, in verschiedene Dorfschulen. Seit September arbeiten sie in dem lokal angelegten Projekt Mobile Pädagogen mit und unterrichten in den abgelegensten Ecken des Bezirks Tomsk.

    Tagsüber erklärt Mascha Achtklässlern den Körperbau verschiedener Lebewesen, abends stemmt sie Gewichte
    Tagsüber erklärt Mascha Achtklässlern den Körperbau verschiedener Lebewesen, abends stemmt sie Gewichte

    In der Siedlung Parabel wohnt man Haus an Haus mit Erdgas- und Erdölarbeitern. Das bringt hohe Mieten und teure Lebensmittel mit sich, denn die Preise richten sich nach den Löhnen dieser Arbeiter. Und so träumen alle Einheimischen, die im öffentlichen Dienst arbeiten, davon, dass ihre Kinder einmal eine Ausbildung im Erdgas- und Erdölbereich machen werden. In den Dorfschulen aber fehlen Fachlehrer. Die Schulverwaltung von Parabel hat einen Ausweg gefunden. Man kaufte ein neues Auto, einen Chevrolet Niva, rekrutierte eine Gruppe von „Wanderlehrern“ und bringt sie nun bei jedem Wetter in gottverlassene Dörfer.

    Morgen fahren wir zusammen mit Mascha nach Stariza. Sie ist gar nicht begeistert: Die Meteorologen haben 40 Grad Frost vorhergesagt. Der Weg in die Taiga ist menschenleer, es gibt keinen Empfang. Wie kommen wir da raus, wenn das Auto steckenbleibt?

    Du gehst aufs Plumpsklo und weißt nicht, ob du lebend zurückkommst. Ich brauche keine Abenteuer in Eis und Schnee, sondern Zeit, um meine Wohnung zu renovieren

    „Außerdem müssen wir über den Fluss fahren. Letzte Woche sind wir zu Fuß, ohne Auto rüber“, erinnert sich Mascha. „Unter den Füßen hat es gegluckst und geschmatzt. Da habe ich mich erschrocken. Aber der Fahrer hat den Trampelpfad übers Eis geprüft und gesagt: ‚Mädels, geht nur, bei euch hält das Eis.‘ Jetzt ist natürlich alles richtig gefroren, aber wenn wir doch mal steckenbleiben? Dort ist Wald, es gibt Bären. Die öffnen Autos wie Konservendosen.“ 
    „Das ist doch spannend!“, antworten wir und werden mit einem Mal richtig munter.

    Bis Stariza sind es noch 20 bis 25 Kilometer. Draußen ziehen Kiefern und Zedern mit schneebedeckten Wipfeln vorbei
    Bis Stariza sind es noch 20 bis 25 Kilometer. Draußen ziehen Kiefern und Zedern mit schneebedeckten Wipfeln vorbei

    „Ja, echt superspannend“, antwortet Mascha. „Wir haben hier Romantik pur: Du gehst aufs Plumpsklo und weißt nicht, ob du lebend zurückkommst. Ich brauche keine Abenteuer in Eis und Schnee, sondern  Zeit, um meine Wohnung zu renovieren. Die knapse ich mir zwischen den Schulstunden ab. Ich unterrichte in Parabel und Stariza. Da bleibt mir nur ein Tag am Wochenende – der Sonntag. Gut, dass ich nicht noch in der zweiten Schicht am Nachmittag unterrichte, der Nachmittagsunterricht ist überhaupt das reine Armageddon.“

    Mascha nimmt uns mit zu sich nach Hause. Zu ihrer Mietwohnung im ersten Stock einer Holzbaracke führt eine alte Treppe hinauf. Die Küche ist klein. Und das alles kostet sie 7000 Rubel [umgerechnet 115 Euro – dek] im Monat. Anders als andere Fachlehrer, die nach dem Studium aufs Dorf ziehen und dort arbeiten, hat sie keine kostenlose Wohnung und keine Million Rubel [rund 16.000 Euro – dek] Umzugsgeld bekommen – im Gebiet Tomsk gibt es so etwas nicht. Mascha ist nicht aus Geldgründen nach Parabel zurückgekommen, sie ist hier aufgewachsen.

    Wir trinken Tee, sprechen über ihre Eltern, die Nachbarn, die „die Lehrerin mit Gartenkürbis durchfüttern“, über aufgegebene Dörfer und über die „durchgeknallten Schüler in den Städten und die motivierten auf den Dörfern, für die es wichtig ist, sich hochzuarbeiten“. Als wir weg sind, bereitet Mascha ihren Unterricht vor. Morgen hat sie laut Stundenplan sechs Unterrichtsstunden. Sie muss lange vor Sonnenaufgang aufstehen.

    „Letzte Woche sind wir zu Fuß ohne Auto über den Fluss. Unter den Füßen hat es gegluckst und geschmatzt.“
    „Letzte Woche sind wir zu Fuß ohne Auto über den Fluss. Unter den Füßen hat es gegluckst und geschmatzt.“

    Bis Stariza sind es noch 20 bis 25 Kilometer. Der Mond hängt tief über dem Weg, draußen ziehen Kiefern und Zedern mit schneebedeckten Wipfeln vorbei. Die Seitenfenster sind vereist. Alle wollen eigentlich schlafen. Aus irgendeinem Grund denke ich an die neue Bildungsministerin Olga Wassiljewa und an ihre Worte: „Als Lehrer zu arbeiten, ist eine Aufgabe, eine Mission. Heute sind es unsere Kinder, morgen sind sie das Volk“ – und an die Bewohner von Queyras aus Victor Hugos Roman Die Elenden. In dem Roman werden Schulmeister für Dörfer eingestellt, die selbst nicht in der Lage sind, Lehrer zu bezahlen. Und die wandern dann von einem Dorf zum anderen und unterrichten. Bei Hugo erkennt man die mobilen Pädagogen an Hüten mit Gänsefedern. Eine Feder bedeutet, dass sie nur Lesen und Schreiben unterrichten, bei zwei Federn unterrichten sie auch Rechtschreibung und Rechnen, bei drei Federn kommt noch Latein hinzu.

    Unsere Mitfahrerinnen haben keine Federhüte. Mascha trägt Kopfhörer, sie hört Rammstein. Die Chemielehrerin Ljubow Alexejewna Safonowa trägt eine warme Mütze. Unterwegs schaut sie, ob ihr Handy Empfang hat, sie will ihre Tochter anrufen, die in die Schule muss. „Wärm dein Frühstück auf, zieh dich warm genug an.“ Sie sagt, was alle Mütter sagen.

    Ljubow Alexejewna hat drei Kinder, sie hat sie allein großgezogen. Ihr ältester Sohn ist schon erwachsen. Auch ihre Kleinste wird in ein paar Jahren zum Studieren nach Tomsk gehen.

    „Und dann verlasse ich Parabel“, sagt Ljubow Alexejewna noch, „vielleicht. Bis dahin aber fahre ich als mobiler Pädagoge herum … Sehen Sie, hier ist die Stelle, wo wir den Fluss überqueren.“


    Als Erste gehen die Lehrerinnen über den Fluss. Dann schlittern der Fotoreporter und ich hinterher. Der Wagen folgt uns vorsichtig. Das Eis kracht und knackt wie ein gebrochener Zweig, das Auto beschleunigt. „Und wie kommen wir wieder zurück?“, fragen wir am anderen Ufer Fahrer Andrej Knaup.

    „Wir fliegen einfach!“, sagt der und lächelt.

    Den seltenen Familiennamen hat Andrej von seinem Großvater. Der war Opfer der stalinistischen Verfolgungen. Die Gegend war über Jahrzehnte ein Gebiet der Verbannung. Von hier war Josef Stalin im Jahr 1912 geflohen, nachdem er notgedrungen 38 Tage in Sibirien war, und hierhin wurden dann auf seinen Befehl zwischen 1930 und 1936 Tausende von Volksfeinden deportiert. Darunter waren viele Deutsche, Polen, Letten und Esten.

    In Stariza empfängt die Direktorin der Mittelschule Maria Alexejewna Fritz die Wanderlehrerinnen. Während sie sich auf ihren Unterricht vorbereiten, schlendern wir durch die Gänge der Schule und beobachten die Kinder.

    Es hat sich herumgesprochen, dass mit den Lehrerinnen „Moskauer angebraust kommen“, und die Einheimischen haben sich vorbereitet: Die Mädchen sind in den Stiefeln und Pelzmänteln ihrer Mütter zur Schule gekommen, die Lehrerinnen haben sich Festtagskleider angezogen, und im Speisesaal der Schule riecht es nach den selbstgebackenen Piroggen der Schulleiterin. Nur die Jungs kümmern sich nicht um dieses Getümmel, sitzen rum und hören russischen Rap.
    Im Sommer hatte ein junger Chemielehrer an der Schule in Stariza gekündigt. Er war frisch von der Uni gekommen, hatte ein Jahr gearbeitet und konnte dann nicht mehr. Aber wie soll es ohne ihn gehen? Die Kinder brauchen Biologie und Chemie für einen Studienplatz an der Polytechnischen Uni in Tomsk, für ihre Zukunft.

    Was soll man tun, wenn man beispielsweise Erdölspezialist werden möchte, der mehr als 100.000 Rubel [1500 Euro – dek] im Monat verdient? Die Oberstufenschüler wollen das, und ihre Mütter wollen das auch, und so haben sie ein Ultimatum gestellt: „Findet ihr keinen Lehrer, schicken wir unsere Kinder aufs Internat in Tarsk und gehen eben selbst weg von hier.“

    Da unter den Eltern auch hiesige Pädagogen waren, beschloss die Bildungsbehörde von Parabel, dass man lieber auf die Suche nach zwei Fachlehrern geht, als noch mehr Kollegen zu verlieren. Außerdem wurde im Herbst in der Oblast Tomsk ein Projekt gestartet, das den Lehrermangel beheben soll: die Mobilen Pädagogen. In diesem Rahmen bekamen die Bezirke auch Geld für neue Autos. Jetzt kommen die Mobilen Pädagogen den Dorfschulen zu Hilfe, aber spätestens 2025 werden sie die Schulen nicht mehr retten können. Experten prognostizieren, dass dann etwa 1700 Lehrer in der Region fehlen werden.

    Mascha während der Biologiestunde. Sie ist nicht aus Geldgründen nach Parabel zurückgekommen, sie ist hier aufgewachsen
    Mascha während der Biologiestunde. Sie ist nicht aus Geldgründen nach Parabel zurückgekommen, sie ist hier aufgewachsen

    „Bei uns im Dorf gibt es 56 Schüler und 9 Vorschulhühnchen“, erklärt Schulleiterin Maria Alexejewna. „Bei den kleinen Kindern ist es einfacher, aber die älteren müssen das GIA und das EGE ablegen. Ich kann doch keinem Russisch- oder Mathelehrer sagen, er soll Chemieunterricht machen, wobei das Schulleitungen in anderen Gebieten Russlands tun. Aber wir haben uns Fachlehrer gesucht.“

    Den Unterricht der Vorschulkinder hat in Stariza sowieso eine Mitarbeiterin der Dorfverwaltung übernommen, und die Werklehrerin Aljona Tichonowa unterrichtet auch Bildende Kunst und Erdkunde.

    Aljona und ihr Mann Jewgeni Stoljarow, der das Fach Grundlagen der sicheren Lebensführung und Katastrophenschutz unterrichtet, haben zwei kleine Kinder. Um deren Erziehung kümmern sie sich in den Pausen zwischen den Unterrichtsstunden, wenn sie nicht gerade Anwesenheitslisten ausfüllen oder Berichte verfassen: über die Lernentwicklung der Schüler oder die Qualität der eigenen Lehre oder andere Dinge.

    „Wie leben wir? Ein Holzhaus, Kohleofen, das Wasser müssen wir von der Pumpe holen“, so beschreibt Aljona ihren Alltag. „Fürs Wäschewaschen musst du fünf Eimer Wasser ins Haus schleppen, geputzt wird sonntags, dafür braucht es zehn bis fünfzehn. Die Schulleiterin Maria Alexejewna holt ihr Wasser seit fast 30 Jahren von den Nachbarn.

    Mit dem Handyempfang ist es vorbei, seit die Firma Wellcom pleite gemacht hat. Festnetz haben wir auch keins. Das Mobilsignal des Anbieters MTS kommt kaum durch. Von Internet ganz zu schweigen … Die Löhne sind bei uns völlig okay, dank der Zulagen, die man vom Staat für den Dienst in Dörfern und im Norden bekommt, aber in Saus und Braus leben wir nicht.

    Mein Mann jagt und angelt. Ich kümmere mich um Haushalt und Garten. So leben die Lehrer hier. Die Betriebe haben alle zugemacht, der Bus nach Parabel fährt einmal am Tag, aber nur, wenn die Fähre in Betrieb ist. Eine Kranken- und Hebammenstation haben wir noch in Stariza, aber der Sanitäter ist nicht berechtigt, Krankschreibungen vorzunehmen, dafür muss man anderthalb Stunden nach Parabel fahren. Ich will Jewgeni überreden, in die Stadt zu ziehen, wenn unsere Töchter größer sind. Wir haben noch eine Hypothek auf unserem Haus, aber die zahlen wir Schritt für Schritt ab.“

    Pause in Stariza
    Pause in Stariza

    „Die Dörfer sterben aus“, sagt Aljonas Mann Jewgeni und setzt sich neben sie auf die Bank. „In unsere Schule gehen Kinder aus mehreren Dörfern der Umgebung. Dort steht zum Teil die Hälfte der Häuser leer. Im Dorf Ust-Tschusik sind nur drei Familien übriggeblieben. Im Dorf Ossipowo lebt nur noch ein alter Altgläubiger. Das Dorf Nowikowo hängt am Tropf der Hubschrauberplattform für die Erdölarbeiter. Die Leute machen sich auf und davon. Wir leben hier am Ende der Welt.“

    Zum altgläubigen Alten nach Ossipowo fahren wir nicht mehr. Der Ortsvorsteher von Stariza Dawyd Dawydowitsch Fritz erzählt uns, der alte Mann habe im Herbst einen Schock erlitten, als ein Bär in sein Haus gestiegen sei. Der Alte habe sich im Schuppen eingeschlossen und verschanzt. Als das Monster weg war, habe der alte Mann seine Sachen gepackt und sei zu seinem Sohn in die Stadt gezogen. Dawyd Dawydowitsch gesteht ein, dass sich auch er und seine Frau, die Direktorin der Schule, nach Tomsk absetzen wollen: „2017 ist meine Dienstzeit zu Ende, ich gebe das Amt ab, und das war’s. Die Kinder sind erwachsen. Für unsere Rente haben wir genug gearbeitet – Zeit, dass wir uns erholen.“

    Unsere Rente reicht gerade fürs Essen. Mein Mann geht angeln, pro Winter kommen anderthalb bis zwei Tonnen Fisch zusammen. Das ist unser Unterhalt

    Jeden Morgen fährt ein Schulbus vom Dorf Ust-Tschusik nach Stariza. Er bringt vier Kinder zur Schule: die Enkelin von Tatjana Sergejewa und die Kinder von Natalja Nikitina. Das Dorf zieht sich über einige Kilometer hin, aber nur in drei Häusern brennt Licht.

    „Hier wohnt keiner mehr“, sagt Anna Iwanowna Sykowa und lässt uns ins Haus. „Nur ich, mein Sohn Shenka, meine Nachbarin Tanka mit ihrem Mann und ihrer Enkelin Alessja, ja und die kinderreichen Nikitins wohnen noch hier. Schreiben Sie doch in ihrer Zeitung bitte, dass wir in Tschusik Straßenlaternen brauchen, denn wenn der Schulbus abfährt, ist es noch ganz dunkel. Auch wir fahren mit diesem Bus nach Stariza, weil es keine anderen Verkehrsmittel gibt. Zum Einkaufen, zur Krankenstation, zur Post. Bei uns in Ust-Tschusik gibt es das alles nicht mehr. Hier bekommt man weder Brot noch bekommen sie einen Arzt zu greifen. Wenn wir in Stariza ankommen, kaufen wir dort Lebensmittel und Medikamente ein, bummeln durchs Dorf und warten bis die Schule aus ist, um mit dem Bus zurückzufahren, der die Kinder nach Hause bringt. Wir warten sechs oder sieben Stunden, anders geht es nicht. Bis Ust-Tschusik sind es zehn Kilometer durch den Wald. Aufregendes Leben, das wir führen: Einen Rettungswagen rufen, können wir nicht, und irgendwo hinrennen, wenn was passiert, können wir auch nicht. Als Shenka von einem Bären angegriffen wurde, haben wir im ganzen Verwaltungsbezirk Alarm geschlagen, damit der Arzt kam.“

    „Was machen Sie, wenn die Kinder im Dorf krank werden?“
    „Fragen Sie das lieber meine Nachbarin Tanka“.

    Tanka, mit vollem Namen Tatjana Sergejewa, kümmert sich um ihre siebenjährige Enkelin Alessja. Sie sagt, mit der Gesundheit habe das Mädchen Glück gehabt, mit ihrer Mama weniger (die hat das Kind bei der Großmutter gelassen und ist selbst nach Parabel, um sich ein besseres Leben zu zimmern). Aber mit ihrer Gesundheit sei alles Ordnung. 

    Wenn die Schule in Parabel aus ist, ist es draußen schon dunkel
    Wenn die Schule in Parabel aus ist, ist es draußen schon dunkel

    „Wir bitten schon lange darum, dass man uns ins Verwaltungszentrum nach Parabel umsiedelt. In Tschusik ist es schwer, hier kann ich auch nichts dazuverdienen. Unsere Rente reicht gerade fürs Essen. Mein Mann geht angeln, pro Winter kommen anderthalb bis zwei Tonnen Fisch zusammen“, rechnet uns die Sergejewa vor. „Das ist unser Unterhalt. Mein Alter jagt auch Zobel. Für ein Stück Fell kriegt er 5000 Rubel [umgerechnet rund 80 Euro – dek]. Draußen ist das 21. Jahrhundert, Alessja muss unter Leute, stattdessen redet sie tagelang nur mit mir, ihrem Kuscheltier und dem räudigen Kater.“

    Als wir das dritte Haus betreten wollen, eilt uns die kleine Wassilissa entgegen, schmuddelig und in einem Pullover, in den sie noch lange hineinwachsen kann. Weil es zu kalt ist, darf sie heute nicht in die Schule. Auf dem Boden liegen Spielsachen und Kleidungsstücke verteilt. Die kleine Nikitina quengelt, die große Nikitina erzählt, dass sich ihre Familie mit einer Kuh, einem Bullen und dem Garten über Wasser halte. Reis, Nudeln, Buchweizen und Brot kaufe aber ihr Sohn, wenn er nach Stariza in die Schule fahre.

    „Würde ich selbst einkaufen gehen, würde ich einen ganzen Tag verlieren“, sagt die Mutter. „Und er weiß, was und wieviel wir brauchen.“
    „Was wird mit dem Dorf in den nächsten ein zwei Jahren geschehen?“
    Die Einheimischen zucken mit den Schultern: „Wer kann das schon wissen?“

    Was red ich, das ist hier nicht Sibirien, sondern die Einöde der Taiga. Dass es hier kalt ist, kann man überleben. Aber es gibt hier gar nichts, kaum junge Leute

    In der Schule in Stariza ist der Schultag fast zu Ende. Die Mobilen Pädagogen wissen sicher, dass die Schüler ihre Hausaufgaben selbst machen werden, denn einen Zugang zum Internet, wo sie Lösungen abschreiben könnten, gibt es hier nicht.

    In einigen Minuten werden die Fachlehrerinnen ihre Taschen packen, von den Kollegen Abschied nehmen und nach Parabel zurückfahren. Die Dorflehrer aber bleiben hier. Einige für ein Jahr, die anderen für zwei, die jüngste, die 26-jährige „Engländerin“ Nelli Jurjewna Jewsejewa, bis zum Sommer.

    „Seit drei Jahren arbeite ich hier. Ich kann nicht mehr“, gesteht uns Nelli Jurjewna aufrichtig. „Eine Freundin von mir hat mich gefragt, ob ich nicht nach Stariza kommen möchte. Sie selbst ist nach Parabel gezogen und hatte mich bei der Schulverwaltung empfohlen. Ich komme aus Mari El. Das ist nicht Moskau und nicht Tomsk, aber du kommst dir nicht vor wie am Ende der Welt. Sibirien ist was anderes. Was red ich, das ist hier nicht Sibirien, sondern die Einöde der Taiga. Dass es hier kalt ist, ist nicht schlimm, das kann man überleben. Aber es gibt hier gar nichts, kaum junge Leute. Und ich will eine Familie haben, will in die zivilisierte Welt.

    Hier kann man nirgends hingehen, mit niemandem reden. Samstags und sonntags hockst du zu Hause und weißt nicht, was du tun sollst. Ich habe so viel geweint! In den Ferien besuche ich meine Eltern, aber im September muss ich zurück, das kostet mich wahnsinnige Überwindung. Die Kinder und die Kollegen sind wundervoll, aber die Lebensbedingungen …

    „Alessja muss unter Leute, stattdessen redet sie tagelang nur mit mir, ihrem Kuscheltier und dem räudigen Kater.“
    „Alessja muss unter Leute, stattdessen redet sie tagelang nur mit mir, ihrem Kuscheltier und dem räudigen Kater.“

    Ich heize hier den Ofen, das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich Holz auf dem Arm hatte. Wasser muss ich von draußen holen, das Klo ist hinterm Haus. Ich habe hier einen Computer und andere Geräte, aber warum gibt es hier keine Internetverbindung? Ich lebe wie in der Verbannung. Ich will weg. Ich verschwende hier Lebenszeit. Und wozu, was für eine Mission habe ich hier?“

    „Das Mädel hat recht. Sie muss leben. Und wir, was tun wir? Im Sommer machen wir uns daran, eine Wanderlehrerin für Englisch zu suchen“, sagen die Starizer Pädagogen zu ihren Plänen. „So decken wir wenigstens die Fächer ab, solange die Kinder noch hier sind.“

    … Am anderen Flussufer, 100 Kilometer von Stariza, im Zentrum des Verwaltungsbezirks Parabel erwartet unseren Aufklärungstrupp eine Nachricht der russischen Regierung: Ab 2017 soll laut Lehrplan für Musik auch Chorgesang unterrichtet werden. Na ja, vielleicht wird die hiesige Bildungsbehörde den Chevrolet-Niva durch einen Kleinbus ersetzen müssen.

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  • Funkstille

    Funkstille

    Doshd heißt auf Deutsch Regen. Es sind mehrere Tropfen, die nach offiziellen ukrainischen Angaben nun das Fass zum Überlaufen brachten: Die Ausstrahlung des unabhängigen russischen Fernsehsenders Doshd über Kabel wurde in der Ukraine verboten. Über Internet und Satellit dagegen kann der Sender weiter kostenpflichtig empfangen werden.

    Entschieden wurde dabei nach formalen Kriterien: Unter anderem waren Journalisten des Senders ohne offizielle ukrainische Erlaubnis auf die Krim gereist, außerdem hatte der in Moskau registrierte und ansässige Kanal Landkarten gezeigt, die, entsprechend der russischen Verfassung, auch die Krim als Teil Russlands abbildeten. Zudem habe der Sender an Neujahr zwei Komödien ausgestrahlt, in denen russische Silowiki zu positiv dargestellt würden.

    Auch Letzteres ist in der Ukraine per Gesetz untersagt, schon zuvor war deswegen die Ausstrahlung einiger sowjetischer oder russischer Filme nicht gestattet worden, ebenso existiert eine Verbotsliste „antiukrainischer“ Bücher. Seit der Krim-Angliederung durch Russland und dem Krieg im Donbass gibt es immer wieder Vorstöße in diese Richtung.

    Wurden sie bislang schon viel diskutiert, brach im Fall von Doshd nun eine besonders heftige Debatte aus – hauptsächlich unter unabhängigen Medienschaffenden der beiden Länder. Denn Doshd ist nicht irgendein Sender. In einer weitgehend staatlich kontrollierten Medien- und TV-Landschaft ist Doshd der unabhängige russische Fernsehsender, der es auch in Russland nicht leicht hat: Im Frühjahr 2014 hatten mehrere Satelliten-Anbieter den Kanal aus ihrer Angebotspalette genommen, seitdem ist er nur noch über Internet und einige lokale Betreiber erreichbar.

    Trifft es mit Doshd nun genau die Falschen? Ja, meint Kirill Martynow. Und erklärt in der Novaya Gazeta, warum das Verbot dennoch unausweichlich gewesen sei.
    Die Zeitung befragte außerdem verschiedene ukrainische Journalisten zu dem Fall – einzelne davon bildet dekoder ebenfalls ab.

    Die Ausstrahlung des unabhängigen Fernsehsenders „Doshd“ über Kabel ist in der Ukraine nun verboten / Foto © youtube
    Die Ausstrahlung des unabhängigen Fernsehsenders „Doshd“ über Kabel ist in der Ukraine nun verboten / Foto © youtube

    Die Ukraine hat die Übertragung des Senders Doshd aufgrund einer formalen Rechtsverletzung verboten. Es ging um die positive Darstellung von Vertretern russischer Behörden wie Polizei, Geheimdienst oder Armee. Sofort wurde dieser Skandal zu instrumentalisieren versucht, und zwar von denen, die in den vergangenen drei Jahren den Konflikt zwischen unseren beiden Ländern angeheizt haben. Am meisten sind gerade jene über die Pressefreiheit im Nachbarland beunruhigt, die von der Vernichtung der Ukraine träumen und von der Vernichtung des Senders Doshd und überhaupt aller Lebensformen, die sich äußerlich von Prochanow und Dugin unterscheiden.

    Man hätte Doshd nicht verbieten sollen, denn seine Existenz auf dem Territorium der Ukraine hat den nationalen ukrainischen Interessen nicht im geringsten widersprochen. Natürlich muss der aus Moskau sendende Doshd russische Gesetze befolgen, weshalb er etwa entsprechende Karten zeigt (mit der Krim als Teil Russlands), und zuweilen vom Leben russischer Silowiki erzählt. Aber kein einziger Zuschauer in Kiew dürfte wohl Zweifel daran gehabt haben, dass er es zum einen mit einem russischen Sender und zum anderen mit einem Sender zu tun hat, der eine konsequente Anti-Kriegs-Position vertritt.

    Die Existenz des Senders Doshd ist für die Ukraine nur von Nutzen, wie überhaupt alle von Nutzen sind, die in Russland für friedliche Koexistenz und Einhaltung internationaler Vereinbarungen zwischen den Ländern stehen. Russisch-ukrainische Kultur- und Bildungsprojekte sind heute nötiger denn je, denn in jedem Fall werden wir ja auch weiterhin Nachbarn bleiben müssen. Schließlich beginnt östlich von Charkiw kein großer Ozean. Allerdings weiß fast niemand in den beiden Ländern, wie man solche Projekte realisieren kann – zu viel gegenseitiger Hass hat sich aufgestaut.

    Die Tragödie unserer derzeitigen Situation besteht darin, dass Russland insgesamt von den Ukrainern als feindliches und aggressives Land angesehen wird. Die Fragen, ob du ein guter Mensch bist oder welche politischen Ansichten du hast, treten in den Hintergrund. Auch dafür gibt es objektive Gründe: Die Russen haben die Krim und ein wenig nationale Größe bekommen, die Ukraine aber haben sie verloren. Das sollte man ruhig zugeben – es ist ja genug Zeit vergangen seit dem Beginn unserer „geopolitischen Erfolge“, um daraus nun auch mal ein paar Schlüsse zu ziehen.

    Aus der Frage nach dem Status der Krim folgt: Man muss sich entscheiden, wie man die Karten zeichnet. Das ist nicht das Werk der Ukrainer

    Es gibt drei schlichte Tatsachen. Erstens: Die Ukraine ist ein eigenständiges und anderes Land. Zweitens: Dieses Land wird sich in absehbarer Zukunft bei seinen politischen Entscheidungen niemals an Moskau orientieren. Und drittens: Ein Teil des ukrainischen Territoriums wird nicht von Kiew kontrolliert, die Ukraine sieht sich deshalb als kriegführenden Staat und führt entsprechende Regeln ein. Hört auf, euch darüber zu wundern: Die nette Kolonial-Ukraine, wo ihr so gerne im Sommer Urlaub gemacht habt, gibt’s nicht mehr. Aus diesen drei Fakten und insbesondere aus der Frage nach dem Status der Krim folgt, dass es unmöglich ist, russische und ukrainische Gesetze gleichzeitig zu befolgen und in beiden Ländern zu arbeiten. Man muss sich entscheiden, wie man die Karten zeichnet. All das ist nicht das Werk der Ukrainer.

    Die Geschichte mit dem Doshd-Verbot in Kiew kann noch – so wollen wir hoffen – einen glücklichen Ausgang nehmen. Weitaus schwieriger ist es, sich die Perspektiven der russisch-ukrainischen Beziehungen im Ganzen vorzustellen. Wie werden wir in fünf oder zehn Jahren gemeinsam in einem Osteuropa leben, mit der Krim und den Kriegserfahrungen im Gepäck? Alles deutet darauf hin, dass der Weg zurück zu einer freundschaftlichen Koexistenz, wenn er denn überhaupt möglich ist, lang und schwierig sein wird. Es wäre gut, dies schon jetzt zu verstehen und sich keinen unnötigen Illusionen hinzugeben.

    Und gut wäre auch, wenn all die Kämpfer für die ukrainische Pressefreiheit, die auf ihren Moskauer Sofas sitzen, ebenso aktiv für dieses in der Verfassung verankerte Recht innerhalb ihres eigenen Landes kämpfen würden. Medien sollten weder in der Ukraine noch in Russland geschlossen oder verboten werden. Aber sollen doch die Ukrainer ihre Probleme lösen, und wir kümmern uns um unsere eigenen. Das ist das Beste, was wir im jetzigen Moment tun können, in einer Zeit, in der das Gefühl der geopolitischen Größe uns nach und nach wieder verlässt.


    Es gab zahlreiche Reaktionen in Medien und sozialen Netzwerken, darunter auch viel Unverständnis für diese Entscheidung in Kiew. Die Novaya Gazeta hat nachgefragt, lässt zum Warum gewichtige Stimmen für ein solches Verbot aus der ukrainischen Öffentlichkeit zu Wort kommen – wir haben drei davon ausgewählt:

    Mustafa Najem, Parlamentarier und Journalist

    [bilingbox]Ich mag diesen Fernsehsender, mir gefällt er gut. Seinerzeit setzte er einen gewissen Trend, und was sie gemacht haben, war immer qualitativ hochwertig. Andererseits haben wir es real mit Kriegszeiten und mit Beziehungen zwischen zwei Ländern zu tun. Und ob es uns gefällt oder nicht, der Fernsehsender Doshd hat seinen Sitz in Russland.

    Als ehemaliger Journalist verstehe ich wohl, dass Doshd gezwungen ist, die Gesetze der Russischen Föderation zu achten, sonst drohen ihnen noch größere Repressionen als die, denen sie schon früher ausgesetzt waren. Es ist offensichtlich, dass sie ihre Inhalte den Gesetzen anpassen müssen, was Territorialfragen betrifft, insbesondere die Geschichte mit der Krim. Und gleichzeitig müssen sie sich an die Verfassung der Russischen Föderation halten. Aber andererseits gibt es auch die Verfassung der Ukraine, derzufolge die Verbreitung solcher Informationen über die Krim schlichtweg einen Verstoß darstellt.

    Darin besteht der Konflikt zwischen den beiden Ländern, und Doshd ist in diesem Fall ein Opfer dieses Konflikts.

    Als Politiker verstehe ich, wie die Entscheidung aus der Perspektive des ukrainischen Staates begründet ist.

    Natürlich wären für den ukrainischen Zuschauer alternative Informationen über das, was in Russland passiert, notwendig und nützlich. Solche, die er nicht aus ukrainischen oder russischen Staatsmedien erhält. Das würde sogar gewisse Chancen auf Wiederannäherung bieten. Aber hier muss man einen wichtigen Punkt verstehen. Sehen sie, ich mag Piter, ich habe dort Freunde und würde gern öfters dort sein. Das ist mein persönliches Bedürfnis. Aber in Anbetracht der heutigen Situation verstehe ich, dass ich dort nicht sein kann. Das ist die Politik. Wir alle sind Opfer dieser Geschichte.~~~Я люблю этот телеканал, мне он нравится. В свое время они задали некий тренд, и то, что они делали, имело высокое качество. С другой стороны, есть реальность военного времени и реальность отношений между двумя странами. И хоти мы этого признавать или нет, телеканал «Дождь» является резидентом Российской Федерации.

    Будучи журналистом в прошлом, я понимаю, что они вынуждены выполнять законы Российской Федерации, иначе им грозят еще большие репрессии, чем применялись в отношении них раньше. Очевидно, что они должны согласовывать то, что касается территорий, в частности истории с Крымом. А также должны соблюдать Конституцию Российской Федерации. Но, с другой стороны, есть конституция Украины, по которой распространение информации подобного характера о Крыме является просто нарушением уже ее конституции.

    Как политик, с точки зрения страны я понимаю обоснованность этого решения.

    Конечно, украинскому зрителю нужна и была бы полезна альтернативная информация о том, что происходит в России. Полученная не от государственных СМИ Украины и не от государственных СМИ России. Она бы даже дала какой-то шанс на воссоединение. Но здесь нужно понимать важный момент. Смотрите, я люблю Питер, у меня там друзья, и я хотел бы бывать там часто. Конечно, лично мне это нужно. Но видя сегодняшнюю ситуацию, я понимаю, что там я быть не могу. Это политика. Мы все являемся жертвой этой истории.[/bilingbox]

    Witali Portnikow, Kommentator bei Radio Svoboda Ukraine

    [bilingbox]Für mich ist die Sache mit dem Sendeverbot für Doshd in der Ukraine eindeutig.

    Aber sagen Sie mir bitte, warum hatte Doshd überhaupt eine Sendeerlaubnis?

    Warum haben russische Fernsehsender, seit die Krim okkupiert wurde und der Krieg im Donbass begonnen hat, hier überhaupt irgendwelche Möglichkeiten, Sendungen auszustrahlen? Die politische Einstellung des Senders spielt überhaupt keine Rolle! Eine Entscheidung über die Rückgabe einer Sendelizenz kann erst dann getroffen werden, wenn die territoriale Integrität der Ukraine wiederhergestellt und die Kriegsverbrecher verurteilt sind.~~~У меня нет никаких вопросов о запрете вещания телеканала «Дождь» на территории Украины.

    Почему российские телеканалы с момента оккупации Крыма и начала войны в Донбассе имеют хоть какие-то возможности для вещания здесь? Не имеет никакого значения политическая позиция телеканала! Решение о возвращении лицензии возможно только после восстановления территориальной целостности Украины и совместного осуждения военных преступников.[/bilingbox]

    Pawel Kasarin, Journalist

    [bilingbox]Ich würde nicht sagen, dass die Entscheidung sehr verwunderlich ist. Sie entspricht dem Gesetz und war unausweichlich. Aber ich würde gerne etwas betonen – immer wenn jemand eine Parallele zieht zwischen der Ukraine und der russischen Medienaufsicht, vergisst er dabei Folgendes: Auch drei Jahre nach dem Beginn von Krieg und Aggression ist der ukrainische Staat nicht dazu übergegangen, das Internet zu regulieren. Und die Zuschauer, die bislang Doshd gesehen haben, können den Sender auch jetzt über einen kostenpflichtigen Zugang im Netz gucken.~~~Я не готов говорить, что здесь есть что-то удивительное. Это было закономерно и неизбежно. Только я бы хотел уточнить, что всякий раз, когда проводят параллели между Украиной и Роскомнадзором, все забывают такую вещь: украинское государство спустя три года после начала войны и агрессии не дало себе права регулировать интернет. Те зрители, которые смотрели «Дождь», они и сейчас могут купить платную подписку и смотреть его в интернете.[/bilingbox]

    Übersetzung dieser Kommentare durch dekoder-Redaktion

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    Presseschau № 30: RBC – Medium unter Druck

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    Journalisten in der Provinzfalle

    „Und Sie glauben nicht, dass Sie benutzt werden?“

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  • Wer hat Irkutsk vergiftet?

    Wer hat Irkutsk vergiftet?

    Die russische Regierung will dem Alkoholmissbrauch im Land seit Jahren Einhalt gebieten. Trinkverbote auf offener Straße und nächtliche Verkaufsverbote wurden erlassen, auch an der Preisschraube wurde gedreht. Teils konnte die Staatsführung dadurch Erfolge erringen. Nun spielt sich im ostsibirischen Irkutsk eine Tragödie ab. Mehr als 110 Menschen sind von einer Methanolvergiftung betroffen. Darunter sind mehr als 70 Tote zu beklagen, in der Region wurde der Notstand in Kraft gesetzt. Selbst Premier Dimitri Medwedew spricht jetzt davon, es sei “wie in den Neunziger Jahren”. Die Wirtschaftskrise trieb damals viele Menschen dazu, statt Wodka billigen Fusel zu kaufen oder selbst zu brennen. Auch auf Mittelchen aus dem medizinischen oder Haushaltsbereich greifen die Menschen immer wieder zurück. Aktuell befindet sich Russland erneut in einer tiefen Rezession.

    Für 2016 spricht die Verbraucherschutzbehörde bisher von mehr als 36.000 Fällen schwerer Alkoholvergiftung, darunter mehr als 9.000 mit tödlichem Ausgang. Bekannt sind zudem mehr als 550 schwere Vergiftungen mit Methanol, das aus Kostengründen häufig illegal unter anderem Reinigungsmitteln zugesetzt wird. Die meisten dieser Fälle endeten tödlich.

    In Irkutsk nun wurde ein gepanschter Badezusatz von den Ermittlern als Ursache für die Vergiftungswelle ausgemacht. Alexej Tarassow fragt in seinem Meinungsstück für Novaya Gazeta: Wie kann so etwas passieren?

    Foto © Wladimir Smirnow/TASS
    Foto © Wladimir Smirnow/TASS

    Der Badezusatz Bojaryschnik, mit dem sich am Wochenende im Irkutsker Stadtteil Nowo-Lenino etliche Leute vergiftet hatten, war ein Imitat. In der Mixtur war kein Ethylalkohol, sondern Methylalkohol. Methanol. Gift. In dem Gemisch wurde außerdem Frostschutzmittel gefunden. Ethylenglycol. Ebenfalls Gift. Bis Dienstag 15 Uhr Ortszeit waren 54 Personen daran gestorben [inzwischen ist die Zahl auf über 70 gestiegen – dek]. Die Wirkung von Methanol tritt erst mit Verzögerung ein, manchmal erst nach drei Tagen (sie hängt nicht nur von der konsumierten Menge ab, sondern auch von dem, was man dazu gegessen hat, und ob daneben Ethylalkohol konsumiert wurde – der in diesem Falle als Gegengift wirkt). Unter die Liste der Opfer kann also noch kein Schlussstrich gezogen werden. Von den 28 Personen, die ins Krankenhaus eingeliefert wurden, befinden sich 13 in kritischem Zustand und werden künstlich beatmet.

    Die Rettungsteams haben (in fast gleicher Zahl) Männer und Frauen zwischen 35 und 50 Jahren aus unterschiedlichen Straßen und Häusern, aber aus demselben Stadtteil und mit den gleichen Symptomen eingeliefert: akute Vergiftung, toxischer Schock. Es ist nicht so, dass es nur Menschen betraf, die ganz unten sind; viele hatten Arbeit. Unter den Opfern ist beispielsweise auch eine Erzieherin aus einem Kindergarten.

    Die Polizei und das Ermittlungskomitee haben in Nowo-Lenino die Märkte sowie hunderte Verkaufsstellen für Hochprozentiges durchkämmt und tonnenweise gepanschte Produktfälschungen beschlagnahmt. Darunter nach Angaben des Ermittlungskomitees mehr als 2000 Fläschchen Bojaryschnik mit insgesamt über 500 Litern Flüssigkeit.

    Auf dem heiter daherkommenden Etikett des Badezusatzes Bojaryschnik (250 Milliliter für 60 Rubel [knapp 1 Euro – dek]), das als Inhaltsstoffe Ethylalkohol, Weißdornextrakt und Zitronenöl verspricht, ist eine prächtige Stadtansicht Petersburgs zu sehen. Als Hersteller ist die Petersburger OOO Legat vermerkt. Offen zugänglichen Angaben der Steuerbehörden zufolge wurde dieses Unternehmen vor vielen Jahren abgewickelt. Allerdings gelangen regelmäßig Produkte einer OOO Legat in den Handel. Erst im November ist einer der Gründungsgesellschafter, die OOO Rosstroilising, in Konkurs gegangen. Aber von Anfang an war klar: Das Land ist groß und es gibt viele findige Leute, sodass das Methanol wer weiß wo in die Flaschen gelangt sein kann. Zu Vergiftungen ist es bislang nur in einem Wohngebiet von Irkutsk gekommen. Klar ist allerdings, dass es eine ganze Warenpartie war, nicht weniger. Die Spuren der letzten Massenvergiftung durch Produktfälschung in Krasnojarsk hatten übrigens ins Moskauer Umland geführt.

    Kein Verkaufstrick mehr, sondern Massenmord

    Jetzt wurde innerhalb von 24 Stunden die erste Untergrund-Abfüllanlage für Bojaryschnik ausfindig gemacht: im Gartenbaubetrieb namens 6. Fünfjahresplan unweit von Nowo-Lenino. Zwei der Besitzer und fünf Verkäufer wurden festgenommen, 47 Kanister mit dem Getränk beschlagnahmt. Dabei wurden dort auch Wodkafälschungen der Marken Zarskaja Ochota [Zarische Jagd], Finskoje Serebro [Finnisches Silber] und Belaja Berjosa [Weiße Birke] entdeckt. Eine zweite Anlage wurde am Dienstag in einer ehemaligen Molkerei in Schelechowo gefunden. Außer Bojaryschnik wurden dort auch Vitasept und Tschisty S aus demselben Produktsegment abgefüllt. Die Proben werden derzeit auf Methanol untersucht.

    Im Gebiet Irkutsk wurde der Notstand in Kraft gesetzt, offizielle Trauer verkündet und der Handel mit nicht zum Verzehr bestimmten stark alkoholischen Flüssigkeiten vorübergehend verboten. Man wird wohl eine Zeit lang ohne Corvalol und Frostschutzmittel fürs Auto auskommen müssen. Der Kreml hat die Vorkommnisse in Irkutsk als schreckliche Tragödie bezeichnet. Gleichzeitig weiß Dimitri Peskow nichts von irgendwelchen Schlüssen, die das Staatsoberhaupt daraus gezogen hätte: „Das ist kein Thema für die Präsidialverwaltung, dafür ist das Kabinett zuständig.“

    Die Methode dieses Massenmords besteht aus zwei ganz einfachen Schachzügen. Sie ist ein Klassiker. Schlichte russische Geschäftspraxis. Der erste Schritt ist es, sich ein Markenzeichen auszusuchen, das in unteren Schichten populär ist. Bojaryschnik ist so eins. Jeder, der ganz unten ist, kennt die kleinen gläsernen Flacons (nicht mehr als 100 Milliliter) mit der Tinktur, die früher ausschließlich in Apotheken verkauft wurden. Jenes Bojaryschnik, mit dem die Leute in Irkutsk vergiftet wurden, ist kein solches Elixier, sondern eine Haushalts-Chemikalie, die in Plastikflaschen zu 250 Milliliter abgefüllt wurde.

    Ist Schritt eins noch ein findiger Verkaufstrick, dann ist Schritt zwei bereits vorsätzlicher Massenmord. Wenn mit einem Mal nämlich kein Ethyl- sondern Methylalkohol verwendet wird. Warum? Wer hat etwas davon?

    Die Staatsanwaltschaft veranlasste Wohnungsbegehungen bei den Opfern, ihren Bekannten und Angehörigen. Und bei potenziellen Opfern. Polizisten gehen durch die Bauman-, die Jaroslawski-, die Sewastopoler und die Pionierstraße, schauen in die Keller und bei den Fernwärmeleitungen. Die Beamten haben zwei Aufgaben: Tote und Komatöse zu suchen sowie Bürger zu informieren, die noch ahnungslos sind.

    Wer wird denn schon vermisst?

    So ist das immer, es ist nicht das erste Mal. Der Unterschied ist nur, dass jetzt die für die Region zuständige Hauptverwaltung des Katastrophenschutzministeriums massenhaft SMS mit der Bitte verschickt, keine „stark alkoholhaltigen Flüssigkeiten zu sich zu nehmen, die bei nicht genehmigten Handelsstellen erworben wurden“. Früher waren in solchen Situationen Lautsprecherwagen durch die Straßen gefahren.

    Wie zum Beispiel im Sommer 1997 in einem Teil von Krasnojarsk. Seinerzeit waren nach offiziellen Angaben 22 Menschen zu Tode gekommen, zwölf hatten schwere bleibende Gesundheitsschäden davongetragen, nachdem Methanol in Wodkaflaschen abgefüllt worden war. Die Rechnung im Volk ging anders: Rund hundert Leute seien erblindet und rund siebzig innerhalb eines Jahres gestorben. Tatsächlich sind alle Angaben nur ungefähr: Die Sache passierte in den Elendsvierteln. Wer zählt da alle durch, in den Kellern und auf den Dachböden? Wer wird denn schon vermisst? Viele hatten ja zur Stunde ihres Todes bereits alle sozialen Bindungen verloren.

    Vor einem Jahr, ebenfalls am Wochenende, ebenfalls durch Methanol, diesmal jedoch in Flaschen mit Jack Daniels auf dem Etikett, die übers Internet vertrieben wurden. Elf Krasnojarsker starben auf einen Schlag. 27 blieben als Krüppel zurück. Jener Jack Daniels forderte auch später noch seinen Tribut, im April dieses Jahres etwa, als eine Vierzehnjährige und ein Vierundvierzigjähriger dadurch umkamen.

    Nun also Bojaryschnik. Davor waren es Troja und Trojar, Badreiniger (90-prozentiger Ethylalkohol). SSHMT („denaturierte flüssige Multikomponentenmischung, für technische Zwecke“). Der Haushaltsreiniger Tschisty S (technischer Ethylalkohol, auf 75 Prozent verdünnt). Rosinka. Der Duft Kanskaja. Ljux (ebenfalls 75-prozentig), „zum Waschen und Reinigen von Autoscheiben und -spiegeln“.

    In der Region Krasnojarsk und im Gebiet Irkutsk gab es besonders viele Mixturen und Mittel, da hier eine unglaubliche Menge biochemischer Fabriken und Hydrolyse-Produktionsanlagen konzentriert war. Aber alle schon lange geschlossen (und verrammelt). Es gab Nitchinol. Und dann alle möglichen braunen Fläschchen: Tinkturen zu 100 Milliliter aus der Apotheke für 20 bis 25 Rubel. Viele gab es davon, und gibt es, und wird es wohl weiterhin geben … Amen!

    Der für den Alkohol-Sektor verantwortliche Vize-Premierminister Alexander Chloponin forderte dieser Tage, eine Besteuerung für alkoholhaltige Kosmetika und Medikamente einzuführen (lebensnotwendige Präparate ausgenommen), und beauftragte das Finanzministerium, entsprechende Gesetzesänderungen vorzubereiten. Solche Maßnahmen kennen wir schon, ihre Wirkung ist hinlänglich bekannt. Die Frage – trinken oder nicht trinken? – stellt sich für ausgesprochen viele Mitbürger gar nicht; trinken werden sie ohnehin, aber bei den begrenzten Mitteln nach günstigen Alternativen suchen. Die Nachfrage schafft das Angebot.

    Wer mischt Gift in etwas, was andere trinken?

    Um das nochmal klarzustellen und Missverständnisse zu vermeiden: Chloponin sprach über echte Bojaryschniki, Chili-Tinkturen und andere hochprozentige Destillate in Mengen von bis zu 100 Milliliter – genau solche fallen aktuell noch nicht unter die Alkoholbesteuerung. Aber Irkutsk hat sich an etwas ganz anderem vergiftet.

    Gleichwohl forderte Dimitri Medwedew in der Kabinettssitzung die Aufmerksamkeit auf ein „Geschäft zu richten, das im Wesentlichen darauf abzielt, normalen Alkohol vom Markt zu verdrängen. Surrogaterzeugnisse werden oft unter dem Deckmantel von Medikamenten verkauft, auch über Automaten“. „Das ist ein Skandal und es ist klar, dass dem ein Ende gesetzt werden muss – der Handel mit derartigen Präparaten gehört einfach verboten“, erklärte der Premier.

    Chloponin antwortete, die Gesetzesänderungen seien vorbereitet und berücksichtigten „alle Fragen zu verzehrbaren und unverzehrbaren Zusätzen und Trink-Lotionen. All diese Erzeugnisse werden künftig strikt erfasst und kontrolliert durch das EGAIS-System [System zur automatischen Erfassung von Produktions- und Absatzmengen unter anderem von Alkohol – dek], sodass sie nicht illegal in Umlauf gelangen können. Wenn es sich um medizinische Produkte handelt, so werden diese nur auf Rezept ausgegeben. Ansonsten sind sie voll steuerpflichtig, sie werden sich vom Preisniveau her nicht unterscheiden.“

    Da gibt es noch ein Missverständnis, nicht neu und äußerst hartnäckig. Es ist Usus geworden, zwei Probleme, zwei Phänomene zu vermischen: Ja, Leute vergiften sich auch mit all diesen Glasreinigern und Badezusätzen, aber doch nicht sofort und gleich und gleichzeitig und in Massen.

    Die andere ganz konkrete Frage lautet: Wer mischt Gift in etwas, was andere Mitbürger trinken, sei es auch offensichtlicher Fusel? Ja, auf der Flasche Bojaryschnik steht ein Warnhinweis: „Nur zur äußeren Anwendung!“ Aber auch ein Bad in Methanol ist gefährlich. Methanol ist überhaupt nicht für den Alltagsgebrauch bestimmt.

    Verschwörungstheorien schießen ins Kraut

    Für viele steht eine Frage im Mittelpunkt: Wer vergiftet uns? Darauf wird Ihnen niemand antworten – weder die Staatsanwaltschaft, noch das Fernsehen, noch Medwedew oder Chloponin und auch nicht das Ermittlungskomitee oder der Katastrophenschutz.

    Auf den Etiketten der Bojaryschniki, an denen sich die Irkutsker vergiftet haben, ist keine GOST-Zertifizierung zu finden. Da sind nur die Inhaltsangaben des Herstellers, in denen es heißt: Ethylalkohol. Warum lässt sich diese Ratte nicht finden, die sich einen Dreck um diese Angaben schert? Wo soll man sie suchen? Im Gartenbaubetrieb 6. Fünfjahresplan? Und wozu war das nötig? Dem Geschäft ist das doch überhaupt nicht zuträglich, wie man es auch dreht und wendet. War es ein Fehler? Oder wird hier um den Markt gekämpft, sind es Machenschaften unter Konkurrenten?

    Und wenn es ein Kampf um den Markt ist, wer kämpft da gegen wen? Schlagen sich die Illegalen mit den Fälschern oder ist es eine Attacke des legalen Segments auf die, deren Produktion fünf Mal billiger ist? Oder auf die, bei denen die Nachfrage (auf ihre Surrogate) jährlich um 20 Prozent steigt (Angaben der staatlichen Alkohol-Regulierungsbehörde)? Handelt es sich um Marketing kurz vor den Feiertagen dafür, dass man lieber bei den großen Ketten einkaufen solle?

    Die Medien in Irkutsk zitieren schon Andrej Tschernyschew von Einiges Russland rauf und runter, den Wahlkreis-Abgeordneten der Duma: Er hat sich für ein vollständiges Verkaufsverbot von ähnlichen Flüssigkeiten ausgesprochen. Dem Abgeordneten untersteht der Großhandel Jurmiko, in Ostsibirien einer der bedeutendsten Anbieter für Alkohol.

    Von dem, was derzeit über die Hintergründe durch sibirische Städte geistert, sei hier beispielhaft ein kurzer Abriss wiedergegeben: Die vorherige Vergiftung in Krasnojarsk geschah genau zu der Zeit, als Chloponin eine Erweiterung des EGAIS-Systems angestrengt hat. Sprich: Als der Staat versucht hat, mehr Kontrolle über den verkauften Alkohol zu gewinnen. So habe der Notfall damals Chloponins Ausgangsposition gestärkt.

    Nun gibt es wieder eine Vergiftung – als stünde das mit seinen Versuchen in Zusammenhang, den Markt zu ordnen. Als Chloponin noch Gouverneur im Krasnojarsker Kraj war, hatte er sehr ernstzunehmende Leute in der amtlichen Aufsicht über die Alkoholproduktion installiert. Mit dem Geheimdienst im Rücken, dem Militärgeheimdienst. Als Chloponin auf der Karriereleiter aufstieg und wegging, waren sie es, die blieben. Es kostet die doch nichts, heißt es da von Seiten hiesiger Verschwörungstheoretiker, so eine Sabotage zu organisieren.

    Keine Frage, die aktuellen Fälle sehen nach einem Angriff oder nach Sabotage aus. Aber niemand von denen, die da an eine Verschwörung glauben, stört sich daran, dass es solche Methanol-Vergiftungen vor nicht allzu langer Zeit genauso gut in der Pensenskaja Oblast und ebenso in Orenburg gab. Ja, solche Fälle gab es gar im Ausland. Auch wenn dort keine Badreiniger gefälscht werden.

    Ein Land, in dem die einen frommen Gläubigen nicht davor zurückschrecken, gefälschten Bojaryschnik zu produzieren, während die anderen ihn trinken – weil sie sich keinen Wodka leisten können, obwohl sie in Arbeit sind. Dieses Land ist offensichtlich irgendein anderes Russland, nicht das, das im Fernsehen gezeigt wird, wo es sich groß nennt und vorgibt, eine gewichtige Kraft innerhalb einer multipolaren Welt zu sein.

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  • Herausforderer Nawalny

    Herausforderer Nawalny

    Die Nachricht, dass Alexej Nawalny für das Präsidentenamt kandidieren will, war vor allem in den unabhängigen Medien des Landes ein großes Thema; staatsnahe Medien meiden ihn gewöhnlich als aktiven Politiker. Den Mann, der sich vor allem mit investigativen Recherchen zu Korruption unter den Mächtigen einen Namen gemacht hat. Vor drei Jahren hat er außerdem bei den Moskauer Bürgermeisterwahlen als Polit-Newcomer gezeigt, dass er Stimmen mobilisieren kann, wenn man ihn machen lässt. Damals erhielt er 27 Prozent. Um sich als unabhängiger Kandidat für das Amt des Präsidenten zu registrieren – die Wahl ist voraussichtlich im März 2018 – benötigt er jetzt 300.000 Unterstützerunterschriften aus mindestens 40 Regionen Russlands.

    Er positioniert sich zu einem Zeitpunkt, den Beobachter als ganz bewusst gewählt sehen: Nawalny ist in den vergangenen Jahren in zwei umstrittenen Gerichtsverfahren zu Bewährungsstrafen verurteilt worden. Aktuell wird eines der beiden Strafverfahren gegen ihn – der Fall Kirowles – wieder aufgerollt. Vor drei Jahren war es genau dieser Prozess, der wie ein Damoklesschwert schon über der Kandidatur um das Bürgermeisteramt in Moskau schwebte.

    Wie nun seine Ambitionen auf das Präsidentenamt bewertet werden, will die unabhängige Tageszeitung Novaya Gazeta wissen. Drei gefragte Kommentatoren des politischen Geschehens in Russland antworten.

    Bringt sich als Kandidat für die Präsidentschaftswahl 2018 in Stellung – Alexej Nawalny / Foto © Alexej Abanin/Kommersant
    Bringt sich als Kandidat für die Präsidentschaftswahl 2018 in Stellung – Alexej Nawalny / Foto © Alexej Abanin/Kommersant

    Alexej Nawalny hat seine Absicht erklärt, bei den Präsidentschaftswahlen 2018 zu kandidieren. Obwohl die Wahlkampagnen der Kandidaten für gewöhnlich ein Jahr vor den Wahlen beginnen, haben Nawalnys Leute bereits ein Wahlkampfteam zusammengestellt. Das hat schon die Webseite Nawalny 2018 eingerichtet sowie mit Spendensammlungen und der Suche nach freiwilligen Helfern begonnen.

    So ist Nawalny in diesem Augenblick ein möglicher Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen, er steht aber auch im Mittelpunkt eines neuen Strafverfahrens. Ziel der Wiederaufnahme des Verfahrens im Fall Kirowles vor dem zuständigen Gericht in Kirow, so hatte Nawalny zuvor geäußert, sei es, seine mögliche Kandidatur zu verhindern.

    Im November dieses Jahres hatte der Oberste Gerichtshof in Übereinstimmung mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die Urteile gegen Nawalny und Pjotr Ofizerow aufgehoben. Die Akten werden nun erneut geprüft. Glaubt man ihren Anwälten, wird dieser Prozess haargenau wie der letzte ablaufen, sprich: mit einem Schuldspruch enden. Das sind aber bislang nur Prognosen.

    Der Kreml reagierte auf Nawalnys Entscheidung, bei der Wahl anzutreten, ausgesprochen nüchtern. Auf die Frage eines Journalisten, welche Haltung man dazu habe, meinte Dimitri Peskow, Sprecher des Präsidenten, nur: „Gar keine.“

    Was wird nun aus dem Prozess im Fall Kirowles?

    Dimitri Oreschkin: Nawalny ist ein sehr vernünftiger Mensch. Deswegen hat er die Ankündigung genau abgewogen. Ich denke, dieser Zug wird seine Position nicht schwächen, sondern eher stärken. Wenn man einen potentiellen Präsidentschaftskandidaten fertigmacht, reagieren sowohl die internationale Gemeinschaft als auch die Menschen im Land anders. Und zwar auch in Bezug auf sein Gerichtsverfahren. Denn nun wird das bedeuten, dass ein potenzieller Präsidentschaftskandidat vor Gericht gestellt wird.

    Ekaterina Schulmann: Nawalnys Ankündigung stellt das Gericht und diejenigen, die auf das Gericht Einfluss nehmen könnten, vor die Wahl: Entweder sie lassen seine Teilnahme bei den Präsidentschaftswahlen zu oder verbieten sie. Genau das ist proaktives Handeln: Wenn du weniger Ressourcen als deine Gegner hast, aber auf eine Art vorgehst, dass sie auf deine Schritte reagieren müssen und nicht andersherum. Eine Verurteilung würde sofort die Agenda des bevorstehenden Wahlkampfes vorgeben. Und zwar in einer Richtung, die Nawalny in die Karten spielt, und eben nicht den Plänen, die man im neuen innenpolitischen Block der Präsidialverwaltung hat.

    Gleb Pawlowski: Diese Ankündigung ist ein selbständiger politischer Schritt. Es könnte allerdings durchaus sein, dass es gar nicht zu einer tatsächlichen Kandidatur kommt. Wichtig ist vielmehr, dass Nawalny sich damit die Führungsrolle in einer politischen Phase gesichert hat, die im kommenden Jahr beginnt und bis zur Präsidentschaftswahl andauern wird. Er ist führender Kopf in dieser Übergangsphase und Herr über die Agenda. Er hat seine Absicht verkündet, Präsident zu werden. Damit steht er als Erster da, denn Putin hat sich noch nicht erklärt und andere auch nicht. Nawalny gibt sozusagen das Tempo vor und bestimmt die Richtung. Und das bedeutet eine führende Position in der Politik.

    Vor Gericht ist er jetzt eine wesentlich gewichtigere Figur als früher. Ich denke, das macht es äußerst unwahrscheinlich, dass es bei seinem Prozess zu einer zufälligen Entscheidung kommt. Nawalny steht jetzt zweifellos auf Putins persönlicher Liste. Ich nehme zwar an, dass er da auch schon vorher zu finden war, aber jetzt ist Putin de facto der einzige, der eine Entscheidung darüber treffen kann, wie man mit Nawalny umzugehen hat. Nawalnys Position wird dadurch gefestigt. Wir leben schließlich in Russland und mit Hilfe der Staatsmacht kann Nawalny durch tausenderlei Mittel aufgehalten werden, attackiert, überfallen, eingesperrt … Aber darum geht es nicht. Jeder Schlag gegen ihn würde alle Präsidentschaftskandidaturen treffen – das ist das Neue der politischen Situation.

    Wie stehen denn überhaupt Nawalnys Chancen bei den Präsidentschaftswahlen?

    Dimitri Oreschkin: Er ist aktiv und bestimmt gern selbst die Spielregeln. Er stellt die Präsidialverwaltung vor die Wahl, die nun entscheiden muss: ihn zuzulassen oder nicht (und wenn nicht, in welcher Phase) und ihn hinter Gitter zu bringen oder nicht. Voraussagen sind da zwecklos. Alles hängt, grob gesagt, davon ab, was für Gedanken in den Schädeln von ein paar Leuten kreisen. Vielleicht werden sie dasselbe versuchen wie bei den Wahlen 2013 in Moskau, als sie Nawalny bei der Kandidatur sogar geholfen haben. Er hatte einen guten Auftritt damals – trotzdem hat der gewonnen, der gewinnen sollte.

    Auf föderaler Ebene wird Nawalny es viel schwieriger haben, und alle wissen das. Dort ist sein Bekanntheitsgrad sehr viel geringer: Er ist nicht im Fernsehen präsent und damit auch nicht in den Köpfen der Bevölkerung. Selbst diejenigen, die regelmäßig ins Internet gehen, interessieren sich nicht besonders für Politik oder Nawalny.

    Ich denke – selbst wenn man ihn nicht allzu sehr behindert – wird es für ihn schwer, auch nur auf zehn Prozent zu kommen.

    Andererseits ist er ein ausgesprochen begabter Politiker, wenn es um das Gespräch mit den Wählern geht. Er schafft Dinge, die kein anderer an seiner Stelle hinkriegen würde. Die Kreml-Strategen müssen jetzt eine Entscheidung treffen. Aber es wird keine drastischen Entscheidungen geben, denke ich. Äußerlich wird sich das kaum abzeichnen, aber im Innern denken sie schon jetzt darüber nach, wie sie vorgehen sollten.

    Nawalny braucht vier Arten von Ressourcen: Die erste, die administrative, wird in seiner Lage kaum eine Rolle spielen. Bei der zweiten, dem Geld, ist es ebenfalls schwierig, weil er sich nicht verdeckt finanzieren kann und ihm kaum jemand offen Gelder geben wird, aus Angst. Bei der dritten, dem Organisatorischen, sieht es auch eher schlecht aus, weil er in den Regionen bisher kaum über ein ernstzunehmendes Netzwerk verfügt. Und bei den letzten, den medialen Ressourcen, bezweifle ich, dass man ihn ins Fernsehen lassen wird. Es wird ihm also wohl oder übel nur das Internet bleiben.

    In Moskau konnte er mehrere Kundgebungen pro Tag abhalten und die Administrative Ressource hat ihn nicht daran gehindert. In den Regionen aber wird man das zweifellos tun: hier verhindern, dass er es zu einem Treffen mit den Wählern schafft, dort den Strom abschalten, Sachen dieser Art. Außerdem kann er gar nicht alles schaffen – bei 85 Föderationssubjekten.

    Er ist also in einer schwierigen Situation. Und deswegen ist auch nicht ganz klar, wie der Kreml reagieren wird. Sie könnten dort denken: Soll sich der Kerl doch abstrampeln, damit er seine paar Prozent bekommt; anschließend sind alle Fragen erledigt.  

    Ekaterina Schulmann: Nawalny war bei den letzten Parlamentswahlen nicht dabei. Dadurch blieb er unberührt vom Schatten der Niederlage und des allgemeinen Versagens, der von Beginn an und bis zum Schluss über dem Wahlkampf [der außerparlamentarischen Opposition – dek.] lag. Aus polit-taktischer Sicht war das ein sehr kluger Schritt. Bekanntlich werden in der Präsidialverwaltung viele Varianten diskutiert, wie man die Menschen zum Wählen animieren und den Wahlen damit Legitimität verleihen kann. Eine dieser Varianten lautet: reale Konkurrenz mit starken Kandidaten, und nicht mit jenen, die schon seit zwanzig Jahren kandidieren. Ab jetzt gibt es nur noch zwei Szenarien – mit Nawalny oder ohne ihn.

    Gleb Pawlowski: Aktuell ist Nawalny die stärkste politische Figur im Land. Wir müssen heute von einer neuen politischen Bühne sprechen, die bisher ein einziger betreten hat. Er hat einen Schlussstrich gezogen und verkündet: „Das vorige Zeitalter ist vorbei, wir beginnen ein neues. Das Zeitalter, in dem Putin abtritt.“ Nawalny hat dort seinen Platz eingenommen, andere werden ihm folgen müssen. Auf das Feld der realen Probleme des Landes, denn Putin wird so oder so tatsächlich abtreten. Und deswegen braucht es Klarheit darüber, was nach seinem Abgang passieren soll.

    Nawalny hat gewissermaßen eine vorübergehende Gleichwertigkeit mit Putin erreicht. Als jemand, der ein Programm, eine Strategie für die Zukunft anbietet. Aber er wird sie nicht halten können, weil er sich verzetteln und wieder auf das Niveau eines Jawlinski herabrutschen wird, der ja auch einmal eine wichtige Figur gewesen ist.

    Jede Ankündigung, Putin 2018 herausfordern zu wollen, ist oppositionell, selbst wenn es Medwedew wäre, der sie vorbringt. Vielleicht erweist es sich als Vorteil, dass einer den Zug verpasst hat. Nawalny hat an den letzten Wahlen nicht teilgenommen, deswegen bleibt ihm das Los der anderen oppositionellen Kräfte erspart, den Misserfolg verantworten zu müssen. Das wird jetzt zu einer Ressource für ihn.

    Könnte Nawalny zum alleinigen Kandidaten der Opposition werden?

    Dimitri Oreschkin: Grigori Jawlinski hat hier ein Problem, nämlich dass Nawalny zwei bis drei Mal mehr Stimmen holt als er. Einfach, weil er neu ist und Jawlinski alt; ich meine natürlich nicht sein biologisches Alter, sondern dass er im Bewusstsein der Wähler mit den Neunzigern assoziiert wird. Ob er damals Gutes oder Schlechtes getan hat, ob er sich richtig oder falsch verhalten hat, das ist mittlerweile egal. Es ist einfach Schnee von gestern. Und selbst wenn Nawalny dasselbe sagt – obwohl er es härter oder vielleicht konkreter formuliert –, dann steht es für ihn drei zu eins gegen Jawlinski, wie man es auch dreht und wendet. Sowohl Jawlinski als auch Kassjanow sind schon zu lange da und das Verhältnis der Wähler zu ihnen sieht in etwa so aus: „Euch Jungs haben wir schon seit 25 Jahren vor der Nase.“ Nawalny ist neu. Wie er aber diese Karte ausspielen kann, ist eine andere Frage.

    Ekaterina Schulmann: Wichtig ist die Unterstützung derjenigen, die über Ressourcen verfügen. Die Opposition ist derzeit nicht in der Lage dazu. Parnas ist von der Bildfläche verschwunden, die Ressourcen von Jabloko liegen in den regionalen Parteiorganisationen, und die konnten bei der letzten Wahl nicht beweisen, dass sie irgendwie Wähler mobilisieren könnten.  

    Gleb Pawlowski: Natürlich könnte die Opposition ihn unterstützen, nur wird das 2018 niemanden interessieren. Tut es ja auch jetzt schon nicht. Es wäre ein Kampf im Bereich von einem Prozent. Auf die wird es möglicherweise ankommen, wenn die Regierung Nawalny von den Wahlen ausschließt. Doch auch in dem Fall wird die Regierung ihm seine Führungsrolle nicht nehmen können, solange er selbst keine Fehler macht.  

     

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  • Schnur hält die Fäden zusammen

    Schnur hält die Fäden zusammen

    Er füllt Clubs und Konzerthallen zuverlässig: Musiker und Rüpel Sergej Schnurow mit seiner Ska-Punk-Band Leningrad. Er ist das Aushängeschild des russischen Undergrounds. So sehr, dass Schnurow eigentlich schon wieder kein Underground ist: Weil er zu den beliebtesten Musikern in Russland zählt. Jedenfalls für die Menschen, bei denen er mit seinem exzessiven Schimpfwortgebrauch – in Russland ist so etwas ein absolutes Tabu – den Ton für ein Lebensgefühl trifft. Und das seit knapp 20 Jahren. Wie schafft er das, fragt sich Jan Schenkman in der Novaya Gazeta? Ein Porträt.

    Wir bringen den Menschen Lachen und Freude – Sergej Schnurow / Foto © Gennadi Guljaew/Kommersant
    Wir bringen den Menschen Lachen und Freude – Sergej Schnurow / Foto © Gennadi Guljaew/Kommersant

    Angst, blöd rüberzukommen, kennt Schnurow nicht, das ist ihm schon lange scheißegal. Seit vielen Jahren sagt er immer dasselbe, verändert nur die Form, aber mit ihm zu reden, ist immer wieder interessant. Der Bandleader von Leningrad versteht es wie sonst niemand, die kompliziertesten Dinge auf das Wesentliche zu reduzieren. Jede Antwort ein Aphorismus, wie der Refrain: „Nüchtern bin ich ein Leningrader, betrunken ein Petersburger.“ 

    – Wovor haben Sie am meisten Angst?

    – Ich habe manchmal Anfälle absoluter Furchtlosigkeit. Das macht mir Angst.

    Eine blitzschnelle Reaktion, aber man sieht sofort, wie müde er ist. 2017 feiert Leningrad Jubiläum – 20 Jahre. Nach wie vor macht es Schnurow Spaß, Lieder zu schreiben und zu spielen, das gelingt ihm immer noch gut. Aber was er echt nicht versteht: Wieso soll er für das gesamte Gefüge der Welt geradestehen und Fragen zum Thema „Wie gestalten wir Russland“ diskutieren? Warum wählt ihn das Männermagazin GQ mit beneidenswerter Regelmäßigkeit zum Mann des Jahres, und das ganze Land freut sich? Warum ändert sich so lange nichts?   

    Ganz einfach. Man kann gut und gerne sagen, Russland sei hoffnungslos in den 2000er Jahren stecken geblieben und könne sich nicht davon lösen – und der wichtigste Gestalter der 2000er ist nun mal Sergej Schnurow. Er hat die Tür nach den 1990-ern eigenhändig geschlossen und sich dabei als letzter unter unseren Rockstars eingereiht, obwohl er sich gar nicht als Rocker sieht. Von daher haben viele das Gefühl: Es hatte doch alles so gut begonnen – Grebenschtschikow, Zoi, Schewtschuk – und am Ende dann: Schnur. Haben wir etwa davon geträumt? Sind das nicht Anzeichen von Verfall?

    Die Kritik trifft den Falschen. Jede Zeit hat ihre Lieder, und für die Zeit, in der wir leben, hat er ein sehr genaues und feines Gespür. Die 2000er Jahre haben, ganz ihrem Namen entsprechend, alle Werte annulliert und uns von der Pflicht befreit, klug, ehrlich und gut zu sein. Genau das hat auch Schnur getan, noch dazu auf geistig und künstlerisch hohem Niveau. Seine zentrale Botschaft: Ja, so missraten sind wir, aber drauf geschissen, entspannt euch, besaufen wir uns, und komme, was da wolle.    

    Einen anderen, der es schafft, unsere entzweigerissene, hasserfüllte Gesellschaft zu vereinen, haben wir schlichtweg nicht

    Oh, wie euphorisch wir in den Clubs abgetanzt haben! Zu Ljudi ne letajut (dt. Menschen fliegen nicht) und Po kakoj-to gluposti nam wsem moshet powesti (dt. Aus Dummheit kann jeder mal Glück haben). Das war der nächste Schritt nach Mamonows Ja gadost, ja dran, sato ja umeju letat (dt. Ich bin widerlich und dreckig, aber dafür kann ich fliegen!). Nicht mal fliegen war also unbedingt nötig. Ja, so sind wir, na und? Wir können nichts, wir wollen nichts, Hauptsache der Ölrubel rollt, bei Auchan ist Ausverkauf, und ein Türkeiurlaub kostet sowieso nichts.

    Er sang: Nikowo ne shalko, nikowo, ni tebja, ni menja, ni ewo (dt. Leid tut einem niemand, nicht du, nicht ich, nicht er). Und wenn einem niemand leid tut, kann man sich alles erlauben. Lügen und Betrügen, Diebstahl und Besäufnis, dumme Weiber und debiles Gerede über Handys und Kohle. Ja, so sind wir.     

    Klingt fürchterlich, aber man kann es auch anders sagen: Schnurow hat uns erlaubt, wir selbst zu sein und uns darüber keinen Kopf zu machen. Die PR-Agenten von Pelewin, falls sich noch jemand erinnert, haben Unruhe verkauft, Schnur hingegen wirkt trotz seiner Exzentrik tröstlich. „Du kannst damit leben, es als Teil von dir annehmen“, sagte er bei Posner, „und es damit auch ein klein wenig überwinden. Die Energie der russischen Selbstzerfleischung verwandeln wir in eschatologische Begeisterung.“  

    https://youtu.be/Lq7gJqXobcE?t=14m

     
    Sergej Schnurow bei Wladimir Posner: „Du kannst damit leben, es als Teil von dir annehmen.“

    Sein liebster Trick – die Latte so tief zu hängen, dass man gar nicht tief fallen kann. Er identifiziert sich weder mit  Großmachtstreben noch mit Antitotalitarismus, weder mit Avantgardekunst noch mit den Klassikern der russischen Literatur, so etwas nervt ihn ernsthaft. Es widerspricht seinem inneren Grundprinzip, sich selbst als schwarzes Schaf zu lieben. Sein Credo: Was auch immer der Mensch aus sich gemacht hat, von seinen Höhlen bewohnenden Vorfahren hat er sich nicht weit entfernt. Egal ob im Beamtensessel, unter der Brücke, auf dem Bolotnaja-Platz oder auf der Baustelle – alle sind gleich und ebenbürtig, wie nackt in der Banja. Niemand ist besser.

    Wegen seiner landesweiten Popularität, seiner Ausgelassenheit und seines zwielichtigen Anstrichs wird Schnur oft mit Jessenin und Wyssozki verglichen. Hört man allerdings genau hin, dann ist die Analogie eine andere, nämlich Dowlatow:

    „Tolja“, sage ich zu Naiman. „Lass uns doch Lew Ryskin besuchen.“ – „Nein, will ich nicht. Der ist so sowjetisch.“ – „Wie, sowjetisch? Sie irren sich!“ – „Na, dann eben antisowjetisch. Ist doch egal.“ 

    In diesem Sinne ist Schnurow natürlich eine Klammer. Einen anderen, der es schafft, unsere entzweigerissene, hasserfüllte Gesellschaft zu vereinen, haben wir schlichtweg nicht. Dass in seinem Lied 37 nicht das Jahr ist, in dem die stalinistischen Repressionen ihren Höhepunkt fanden, sondern lediglich eine Schuhgröße, ist ja kein Zufall. Und es ist auch kein Zufall, dass im Clip zu V Pitere – pit (dt. Piter – das heißt Trinken) ein Verkehrspolizist zuerst in die Newa geworfen wird, und später säuft man dann gemütlich miteinander. Denn eine Uniform lässt sich ausziehen und zu 1937 kann man so oder so stehen, aber Frauen wollen Kleider und Männer wollen Wodka – das wird keine Ideologie der Welt jemals ändern.     

    Mir gegenüber hat er diesen Gedanken mal anders ausgeführt: Die Band Leningrad stehe für Party und Liebe. Selbst wenn man eins hinter die Löffel bekommt, am Schluss müssen sich alle umarmen. Seine Lieblingsplatte sind die Bremer Stadtmusikanten, und das erklärt einiges: „Wir bringen den Menschen Lachen und Freude.“

    Man findet bei ihm massenhaft vulgäres Mat, auch Brutalität und Grobheiten, aber nie Bosheit und Aggressionen. Wissenschaftlich sind schwere Schlägereien bei Leningrad-Konzerten jedenfalls keine belegt. Und selbst wenn etwas passiert, liegen sich am Ende tatsächlich alle in den Armen. Es gibt keinen Grund, einander ernsthaft böse zu sein.   

    Nur wenige bemerken, dass diese Musik eigentlich sehr warmherzig ist. Die Lippen formen sich von selbst zu einem Lächeln, alle sind glücklich. Das Geheimnis ist einfach: „Ich verspüre keinen Hass auf mein Volk“, sagt Schnurow. „Ich lebe hier, ich bin genau so, und ich bin auch nicht von mir begeistert. Man braucht sich nur nicht über andere zu stellen, dann ist niemand sauer.“

    Aber gerade das ist es, was sie sauer macht – die einen wie die anderen: Liberale genauso wie Patrioten. Dass der im Großen und Ganzen harmlose und apolitische Schnur auf einmal so viele aufregt, ist ein zuverlässiges Zeichen für tektonische Verschiebungen in der Gesellschaft.  

    Folgendes ist passiert: Als er jegliche moralische Ansprüche auf null herunterschraubte und den Leuten ihr wahres Wesen zurückgab, war Schnur sich sicher, dass dieses Ass nicht übertrumpft würde. Für die 2000er Jahre stimmte das auch. In den 2010er-Jahren zeigte sich aber, dass es auch unter null geht. Schnur hat sich nicht geändert, er hat im Grunde getan, was er immer getan hat: Freude verbreitet, den Skomoroch, den Possenreißer gespielt. Ich weiß noch gut, wie bei einer Feier in seinem Betrieb Männer im Smoking und Frauen im Abendkleid einträchtig das Drei-Buchstaben-Wort schrien, das die Aufsichtsbehörde Roskomnadsor verboten hat. Genau das gleiche taten die einfach gekleideten Besucher auf seinen Stadionkonzerten. Und alle waren happy.

    Doch dann kam es irgendwie unbemerkt zu einem Aufwallen von Wut. Schnur ist allerdings bis dato überzeugt, dass sich der Shitstorm hauptsächlich auf das Internet beschränkt, während im echten Leben eigentlich alle ganz normal sind. Dass alle, wie Babel schrieb, nach wie vor nur daran denken, ein gutes Gläschen Wodka zu trinken, irgendwem eins auf die Schnauze zu geben, und an die eigenen Pferde – sonst nichts.   

    Nicht alle. Sonst hätte sein Song mit dem Refrain Ty wse Rossiju proslawljajesch, a lutsche b musor wynosil  (dt. Dauernd lobst und preist du Russland, bring doch lieber Müll runter) nicht so viele negative Gefühle hervorgerufen. Ja, sogar die völlig harmlosen Louboutins, die ein Publikum der Bevölkerungszahl Finnlands begeisterten, kamen auf einmal irgendwem sexistisch vor. Die Liberalen motzen: Im Land herrscht Totalitarismus, und er singt von Titten. Nichts anderes als ein Handlanger des Regimes. Und so weiter … Man braucht ja nur Nachrichten zu lesen, um sich ein Bild vom Ausmaß des Unheils zu machen, von der Zerrüttung in den Köpfen.  

    Nun gut, Schnur hatte ernsthaft gedacht, es sei unmöglich, die Latte niedriger zu hängen als er, aber die Gesellschaft hat sich ordentlich ins Zeug gelegt und das fertiggebracht. Und es ist erstaunlich: der Einzige, der dem entgegensteht, ist er. Er  behält seine Position bei, aufseiten der Normalität, und verteidigt diese Normalität nach Leibeskräften. Denn Punk sein bedeutet heute nicht, auf facebook über Russland zu schimpfen und Fotoausstellungen zu demolieren, sondern man selbst zu bleiben und sich nicht dem Irrsinn hinzugeben.  

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  • Likes – das täglich Brot der Extremistenjäger

    Likes – das täglich Brot der Extremistenjäger

    Noch vor fünf Jahren galt das russische Internet als sehr freizügig. Etwas mehr als 40 Prozent der Menschen im Land hatten es da für sich entdeckt. Das russische facebook-Pendant VKontakte war nicht nur ein Freundesnetzwerk, sondern auch Musiktauschbörse, vorbei an jedem Copyright. Es gründeten sich neue junge Internetmedien, und das Livejournal – die damals mit Abstand am meisten genutzte Blogplattform in Russland – war ein Tummelplatz.

    Mit dem 1. November 2012 trat ein tiefgreifendes Gesetz zu konkreten Internetsperren in Kraft. Das erste einer Reihe weiterer Gesetze, mit denen das Internet offiziell vom Kinderschutz bis zum Urheberrecht seitdem umfassend reguliert wird, ähnlich wie in anderen europäischen Staaten. Daraus ist in der Praxis auch ein mächtiges politisches Kontrollinstrumentarium erwachsen – teils ohne dass Gerichtsbeschlüsse erforderlich sind. Der Jurist Damir Gainutdinow von der Menschenrechtsorganisation Agora berät Menschen, die in dieses Räderwerk geraten und erklärt im Gespräch mit der Novaya Gazeta, wovor Nutzer inzwischen auf der Hut sein müssen und was von der Anwendung des jüngsten Überwachungsgesetzes, dem Jarowaja-Paket, zu halten ist.

    Welche Tendenzen beobachten Sie beim Umgang des Staates mit dem Internet?

    In den vergangenen zwei Jahren waren die folgenden Trends zu beobachten: Zum einen wurde der Druck auf konkrete Nutzer erhöht, zum anderen wurden diverse Überwachungstechniken entwickelt. Im Prinzip ist der Staat vor etwa fünf Jahren auf das Internet aufmerksam geworden. Das hatte mit steigenden Nutzerzahlen zu tun, deren Anteil an der Bevölkerung im Land  mittlerweile jenseits der 50-Prozent-Marke liegt. Das Internet wurde für die Bürger eine Quelle unabhängiger alternativer Informationen. Der Staat hat dann begonnen, Maßnahmen zur Kontrolle dieser Informationen zu ergreifen.

    Seit dem Jahr 2012 wurden sehr viele Gesetze zum Internet verabschiedet, größtenteils Gesetze mit Verbotscharakter. Angefangen hat alles mit der gesetzlichen Sperrung von Seiten über schwarze Listen. Ein paar Jahre lang wurde diese Richtung verfolgt, doch mit der Zeit wurde klar, dass Internetfilter nicht funktionieren. Die Nutzer lernten, die Sperren zu umgehen. Jeder geblockten Internetquelle von Bedeutung wird dadurch außerdem erhöhte Aufmerksamkeit zuteil.

    Vor Kurzem gab es einen Skandal um die Sperrung von Pornhub, zuvor wurde die Webseite der Gruppe Krovostok geblockt. Und das, wo doch die Gesetzgebung zu schwarzen Listen und zu Extremismus nur einzelne zu sperrende Content-Arten vorsieht: darunter die Propagierung von Drogen und Selbstmord … Heißt das, man kann mit gerichtlichem Beschluss sperren, was man will?

    Es gibt momentan fünf Gründe für Sperren ohne Gerichtsbeschluss: Kinderpornographie, das Propagieren von Drogen und Selbstmord, das Veröffentlichen von Informationen über minderjährige Gewaltopfer und Aufrufe zu extremistischen Handlungen und nicht genehmigten öffentlichen Veranstaltungen.

    Zugleich gibt es im Paragraphen 15.1 des Informationsgesetzes eine Ergänzung, die besagt, dass auch jedwede Information blockiert werden kann, die durch Gerichtsbeschluss als verboten erklärt wird. Dies ist eine scheinbar harmlose Klausel, doch auf ihrer Grundlage erfüllen die Staatsanwälte sehr effektiv ihre Statistiken, indem sie sich mit Klagen jeglicher Art an die Gerichte wenden. Vor ein paar Jahren zum Beispiel wurde ein Beitrag von Gazeta.ru gesperrt, in dem erklärt wurde, wie man Schmiergelder zahlt. Solche Fälle gibt es ziemlich häufig. Es wurden Seiten gesperrt, auf denen Parmesan angeboten wurde – wegen des Embargos und der Gegensanktionen. In Petersburg gab es die Forderung, Seiten zu sperren, auf denen über das Ende der Welt diskutiert wird.

    Die Gerichte werfen hier alles Mögliche zusammen. Auch die Seite von Krovostok versuchten sie über diesen Kamm zu scheren und zu verbieten, weil sie asoziales Verhalten propagiert – ohne jegliche Gesetzesgrundlage. Mit Pornhub ist es dasselbe. Für Kinderpornos gibt es ein absolutes Verbot, für gewöhnliche Pornos aber besteht keinerlei Verbot. So hat man sich auf einen Strafrechtsparagraphen gegen die Verbreitung und Herstellung von Pornographie berufen, in dem es allerdings um illegale Pornographie geht. Das heißt, es existiert auch legale Pornographie, die nicht verboten werden kann. Solche Gerichtsbeschlüsse sind daher gesetzwidrig und gehören aufgehoben.

    Das Problem ist, dass Staatsanwälte und Richter hier Hand in Hand arbeiten. Die erdrückende Mehrheit solcher Fälle wird verhandelt, ohne die beteiligten Parteien hinzuzuziehen – also die Inhaber der Seiten und die Autoren der Inhalte. Richter und Staatsanwalt sitzen sich einfach gegenüber und machen die Sache unter sich aus. Als ich mir die Akten zu Krovostok genau ansah, fand ich darin auch das Gerichtsprotokoll zur Sperrung. Zehn Minuten hat die Sitzung gedauert, bei der es um das Verbot der Seite ging. Dabei ist das Gericht formal verpflichtet, alle Materialien zu prüfen, die verboten werden sollen. Auf der Webseite gab es mindestens vier Alben mit einer Spielzeit von jeweils etwa einer Stunde. Sie innerhalb von zehn Minuten zu prüfen, ist schlicht unmöglich.

    In diesem Fall gelang es, hinter die verschlossenen Türen zu schauen und zu sehen, wie Entscheidungen tatsächlich getroffen werden. Ich bin mir sicher, dass die anderen Fälle in der Mehrheit genauso ablaufen.

    In Ihrem Bericht für 2015 haben Sie geschrieben, die Behörden seien dazu übergegangen, die entwickelten Instrumente zur Druckausübung auf das Internet nun umsetzen. Was heißt das?

    Parallel zum Ausweiten der Gründe für das Blocken von Webseiten wurde das Strafmaß für Rechtsbrüche im Internet verschärft. Für bestimmte Netzaktivitäten wurden Paragraphen eingeführt, zum Beispiel wenn es darum geht, die Verletzung der territorialen Integrität des Landes zu propagieren. In einem dieser Prozesse hat das Gericht angeführt, dass es einen Straftatbestand darstellt, die Wörter „Annexion“ und „Okkupation“ in Bezug auf die Halbinsel Krim zu verwenden. Anders ausgedrückt: Diese Wörter wurden für gesetzeswidrig erklärt.

    Auch bereits bestehende Paragraphen wurden verschärft, zum Beispiel Paragraph 282 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation, zum Schüren von Hass und Feindseligkeit. Außerdem fallen die Urteile schärfer aus. Im Jahr 2015 haben wir 21 Fälle genau verfolgt, in denen Nutzer zu Haftstrafen ohne Bewährung verurteilt wurden, plus mindestens zwei Fälle von Zwangseinweisungen auf medizinischer Grundlage. Auch dies ist Freiheitsentzug, der allerdings in einer psychiatrischen Anstalt verbüßt wird und zudem von unbestimmter Dauer ist. Es ist schwer zu sagen, was grausamer ist.

    Im Jahr 2015 wurde auch damit begonnen, gewöhnliche Nutzer aktiv zu verfolgen. Zuvor waren das hauptsächlich Fälle, in denen es um die Veröffentlichung rassistischer und nazistischer Videos ging, das täglich Brot der Extremismuszentren. Jetzt aber ist der gewöhnliche Nutzer in Gefahr, wenn er irgendetwas geliked hat oder irgendeiner falschen Gruppe beigetreten ist. Der Fall von Jekaterina Wologshenninowa aus Jekaterinburg (schuldig gesprochen für den Repost proukrainischer Gedichte – М. А.) zeigt dies sehr deutlich.

    Der Staat baut darauf, die Nutzer einzuschüchtern. Außerstande alles zu blockieren, versucht er, die Veröffentlichung von Inhalten zu verhindern.

    Im Zusammenhang mit den letzten Gesetzesnovellen wie dem Jarowaja-Paket zeigt sich, dass der Staat versucht, dem Nutzer nachzuspüren, Schriftverkehr zu lesen, Gespräche abzuhören. Noch läuft der Konflikt hauptsächlich zwischen Staat und Service-Anbietern ab, die ganz offensichtlich kein Interesse daran haben, dem Staat die Daten ihrer Nutzer zur Verfügung zu stellen, denn hier steht ihr Ruf auf dem Spiel. Es ist unklar, wie sie aus dieser Situation herauskommen. Unterdessen ergreifen die Nutzer diverse Schutzmaßnahmen. So wie sie zuvor gelernt hatten, Sperren zu umgehen, machen sie sich nun mit Verschlüsselungstechniken wie PGP vertraut  und geheimen Chats bei Telegram. Es ist so eine Art Wettrüsten.

    Man kann nicht gleichzeitig alle Unterhaltungen aller Nutzer mitschneiden, sie ein halbes Jahr lang speichern und auch noch die Krim-Brücke bauen

    Ein paar Monate sind seit der Verabschiedung des Jarowaja-Pakets vergangen, besondere Proteste sind jedoch nicht zu sehen. Könnte das Paket unter öffentlichem Druck aufgehoben werden?

    Ich bin mehr als sicher, dass der Protest existiert. Eine solch grobe Einmischung in ihr Privatleben werden die Menschen nicht akzeptieren. Ja, es stimmt, die Leute sind nicht bereit, zu Hunderttausenden auf die Straße zu gehen. Und die Nutzer selbst leiden noch nicht besonders darunter.

    Doch bald werden die Preise fürs Internet steigen, weil Rostech den Zuschlag für den Bau von Datenzentren erhalten hat und nun von den Betreibern Geld für die Umsetzung des Jarowaja-Pakets einfordern kann. Oder die Betreiber werden gezwungen sein, zusätzliche Ausrüstung einzukaufen, um die Überwachung der Nutzer zu gewährleisten; diese Ausgaben werden selbstverständlich in die Tarife einfließen. Die Nutzer werden es zu spüren bekommen. Dass der Staat dieses Gesetz zurücknimmt, nur weil die Gesellschaft dagegen ist, damit braucht keiner zu rechnen.

    Eher sollte man darauf setzen, dass sie nicht genug Ressourcen haben, um alles umzusetzen. Die ständig ausgeweiteten Kontrollmechanismen werden immer kostspieliger. Man kann nicht gleichzeitig alle Unterhaltungen aller Nutzer mitschneiden, sie ein halbes Jahr lang speichern und auch noch die Krim-Brücke bauen. Darum hoffe ich, dass diese Gesetze zum größten Teil Papiertiger bleiben.

    Wenn schon finanziell nicht machbar, wie sieht es denn technisch aus: Wie realistisch ist es, den gesamten Internet-Verkehr zu entschlüsseln? Davon träumt ja unser Staat.

    Mathematisch scheint mir das nicht machbar. Zumindest stehen die technischen Ressourcen, die man dafür aufzuwenden plant, in keinem Verhältnis zum Wert der Informationen, die man abschöpfen kann. Man geht beispielsweise davon aus, dass der Verschlüsselungsalgorithmus, den der Dienst PGP verwendet, nicht gehackt werden kann. Wie soll dann ein Signal abgefangen werden? Höchstens, indem man jedem Nutzer ein Spionageprogramm unterjubelt, das das Signal abfängt, bevor es verschlüsselt wird, indem jeder Tastendruck gespeichert wird. Doch das kann man unmöglich bei allen Nutzern machen.

    Die Sicherheit der Gesellschaft ist weitaus stärker gefährdet durch Staatsanwälte als durch die Inhalte, die über Likes und Reposts verbreitet werden

    Steht denn das Jarowaja-Paket im Einklang mit den internationalen Konventionen, die Russland ratifiziert hat?

    In der Europäischen Menschenrechtskonvention gibt es den Artikel 8, der jedem Menschen das Recht auf Achtung der Privatsphäre garantiert. Die Konvention verbietet die massenhafte, flächendeckende Kontrolle der Kommunikation von Bürgern. Zuweilen muss dieses Recht bei einzelnen Bürgern für die Aufdeckung von Verbrechen eingeschränkt werden, doch bedarf es in jedem Fall einer genauen Begründung.  Es gibt die Entscheidung des Europäischen Gerichthofs für Menschenrechte im Prozess Roman Sacharow gegen Russland, für den das Gericht Rahmenbedingen und Praxis der Überwachung von Mobilfunknutzern  in Russland analysiert hat und zu dem Schluss kam, dass es in der russischen Gesetzgebung keine Garantien gegen Missbrauch gibt und dass die gerichtliche Kontrolle nicht effektiv ist.

    Wir haben die Statistik des Obersten Gerichtshofs der Russischen Föderation eingesehen und so die Anzahl der genehmigten Anträge zum Abhören durch Exekutivbehörden festgestellt. Angefangen im Jahr 2007 haben die russischen Gerichte 4,5 Millionen solcher Genehmigungen erteilt. 97 bis 98 Prozent dieser Anträge der Exekutivbehörden wurden bewilligt. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs, denn es gibt in der Gesellschaft keinerlei Kontrollmechanismen für die Nutzung von SORM. Auch das Gericht hat keine Kontrolle darüber, wie seine Genehmigung für das Abhören umgesetzt wurde und ob das Abhören nach Ablauf der Genehmigungsdauer eingestellt wurde. Das System, das in Russland üblich ist, entspricht nicht den Anforderungen der Konvention, auch dies wurde vom Europäischen Gerichtshof festgestellt.

    Andererseits haben die Vereinten Nationen im Mai 2015 ein Papier zu Regeln der Informationsfreiheit verabschiedet, aus dem hervorgeht, dass das Recht auf Anonymität im Internet sowie die Verschlüsselung von Daten ein unabdingbares Menschenrecht darstellt. In dieser Hinsicht widerspricht das Jarowaja-Paket natürlich den für Russland verbindlichen internationalen Prinzipien.

    Sollte es denn überhaupt eine Kontrolle des Internets geben und wie müsste eine entsprechende Gesetzgebung aussehen?

    Ich denke, lieber keine Kontrolle über das Internet als die, die wir jetzt haben. Die Sicherheit der Gesellschaft ist weitaus stärker durch die derzeitigen Netzaktivitäten der Staatsanwälte gefährdet als durch die Inhalte, die über Likes und Reposts verbreitet werden. Zweifelsohne muss die Gesetzgebung zur freien Meinungsäußerung reformiert werden. Da muss sehr vieles geändert werden. Zunächst ist festzuschreiben, dass Einschränkungen des Informationszugangs ausschließlich über den Gerichtsweg erfolgen können. Wird über die Sperrung von Sites verhandelt, müssen die Inhaber der Seiten und die Autoren der Inhalte unbedingt hinzugezogen werden. Die Antiextremismus-Gesetzgebung muss ganz offensichtlich geändert werden, um das Prinzip aufzuheben, dass sich ein Staatsanwalt in irgendeinem Kaff ans Bezirksgericht wenden und etwas verbieten kann, während die Betroffenen zweitausend Kilometer entfernt leben.

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  • Ist was faul an der Kurve?

    Ist was faul an der Kurve?

    „Wir glauben Gauß!“ – so und ähnlich lauteten Aufschriften auf Schildern, die während der Massenproteste nach der Dumawahl 2011 zu sehen waren. In abgewandelter Form taucht das Stichwort nun nach dieser Dumawahl wieder auf, nicht auf der Straße, aber in der Berichterstattung unabhängiger russischer Medien – und in den Sozialen Netzwerken.  

    Gemeint ist die Gaußsche Glockenkurve, die in der Statistik eine Normalverteilung anzeigt. Der Physiker Sergej Schpilkin machte diese Kurve unter Kritikern der Dumawahl besonders populär. Bereits 2011 und jetzt wieder nutzte er sie zur Analyse der Wahlbeteiligung und der abgegebenen Stimmen. In den erstellten Histogrammen fällt auf, dass die Machtpartei Einiges Russland in Wahlbezirken, in denen die Wahlbeteiligung auf 100 Prozent zugeht, auffällig viele Stimmen auf sich vereinigen konnte. Schpilkins Analyse wirft Fragen auf. Weisen seine berechneten Kurven auf Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe hin? Wie kommt regional eine unterschiedliche Wahlbeteiligung mit teils hohen Stimmenzuwächsen für Einiges Russland zustande? Für den Physiker selbst deutet das auf Manipulationen hin, Kritiker sehen einen klaren Beweis für Fälschungen.

    Die Ergebnisse der Dumawahl vom 18. September wurden unterdessen von der Zentralen Wahlkommission (ZIK) offiziell für gültig erklärt. ZIK-Vorsitzende Ella Pamfilowa sagte, das Komitee gehe aber noch ausstehenden Hinweisen zu möglichen Verstößen bei der Wahl nach. Die unabhängigen Wahlbeobachter der Bewegung Golos haben zahlreiche Verstöße – sowohl aus dem Wahlkampf als auch vom Tag der Stimmabgabe – registriert und fassen sie für die Regionen in Berichten zusammen.

    Was hat der Physiker Schpilkin, der derweil vielfach zitiert wird, genau ausgerechnet? Wie ist er vorgegangen? Im Interview mit der Novaya Gazeta erklärt Schpilkin seine Methode und wie seinen Berechnungen zufolge ein bereinigtes Wahlergebnis aussehen müsste.

    Der Physiker Sergej Schpilkin analysiert das Verhältnis von Wahlbeteiligung und abgegebenen Stimmen / Foto © Orgkomitet Premija „Proswetitel“
    Der Physiker Sergej Schpilkin analysiert das Verhältnis von Wahlbeteiligung und abgegebenen Stimmen / Foto © Orgkomitet Premija „Proswetitel“

    Anna Baidakowa: Inwiefern deuten Schwankungen in der Wahlbeteiligung auf mögliche Fälschungen hin?

    Sergej Schpilkin: Die russische Gesellschaft ist äußerst homogen: Sie hält sich in einem einheitlichen, vom Fernsehen geschaffenen Informationsraum auf und zeigt nur geringfügige Unterschiede, was Herkunft und Bildung angeht. Es gibt kaum eine Aufteilung in Gesellschaftsschichten, die sich politisch unterschiedlich verhalten würden.

    Eine Ausnahme bildet die sogenannte Moskauer Bildungsschicht – das ist ein recht überschaubarer Bevölkerungsanteil, der in Moskau, St. Petersburg und ein paar anderen Städten existiert und dort unterschiedlich groß ist. Ansonsten unterscheiden sich nicht einmal die ärmsten Stadtbezirke stark genug von den mittelreichen, als dass sich der Unterschied im Wahlverhalten niederschlagen würde – Ghettos gibt es hier nicht.

    Man kann nur einige wenige Wahlbezirke ausmachen, wo die Menschen ganz anders wählen. Zum Beispiel im Hauptgebäude der MGU oder im Wohnkomplex Grand Park an der Metro Poleshajewskaja, wo Prochorow [bei der Präsidentschaftswahl – dek] 2012 die meisten Stimmen bekam. Aus diesen Gründen schwankt auch die Wahlbeteiligung nur geringfügig. Sogar zwischen städtischen und ländlichen Gebieten einer Region gibt es kaum Unterschiede.

    Was passiert nun, wenn wir die Wahlen fälschen, das Ergebnis zugunsten eines bestimmten Kandidaten verschieben wollen? Ich könnte einfach seine Stimmenzahl erhöhen – zum Beispiel hole ich Menschen ran und sage ihnen, sie sollen ihn wählen. Allerdings lässt sich nur schwer überprüfen, was sie dann tatsächlich tun. Ich kann auch einfach von der Wahlkommission verlangen, die Zahlen zu fälschen: Einem Kandidaten die Stimmen wegnehmen und sie einem anderen zurechnen, doch das geschieht selten.

    Das allereinfachste ist, einen Stapel Stimmzettel in die Urne zu werfen, so steigt auch die Wahlbeteiligung: Je mehr Stimmzettel eingeworfen werden, desto höher wird sie. In diesen Wahlbezirk sehen wir dann eine hohe Stimmenzahl für einen Kandidaten und nur ein paar Stimmen für die Opposition. Ohne solch ein Auffüllen von Wahlzetteln ist das Stimmverhältnis in allen Wahlbezirken mehr oder weniger ähnlich, wenn wir aber zusätzliche Stimmzettel einwerfen, steigen die Zahlen von einer Partei. Im gegebenen Fall von Einiges Russland.

    Wie sah es denn mit der Wahlbeteiligung bei diesen Wahlen aus?

    Ich schlüssele alle Wahlbezirke nach Wahlbeteiligung auf, sehe mir an, wie viele Stimmen pro Intervall [pro Prozentpunkt Wahlbeteiligung – dek] für jeden Kandidaten abgegeben wurden und erstelle dann Histogramme.

     


    Quelle der Daten: ZIK / Sergej Schpilkin, grafische Umsetzung: dekoder (Falls die Grafiken nicht laden, bitte hier aktualisieren)

    Nimmt man alle Wahlbezirke zusammen, wurden insgesamt die meisten Stimmen in denjenigen abgegeben, in denen die Wahlbeteiligung bei durchschnittlich 36 Prozent lag, sprich,  immer so zwischen 25 und 40 Prozent. Wahrscheinlich war in diesen Wahlbezirken alles in Ordnung. Und alles, was über diese Grenzen hinausschießt, sieht exakt so aus, als hätte jemand einfach Stimmen für Einiges Russland hinzugefügt. Denn wenn Menschen abstimmen, ergeben sich eigentlich zufällige Zahlen, die Verteilungskurve verläuft fließend.

    Verschiebe ich nun die Zahlen in einzelnen Wahlbezirken, bekomme ich statt einer fließenden Verteilung eine sägezahnförmige Figur – 2011 wurde das Phänomen als Tschurow-Bart bezeichnet. Verdächtig sind vor allem Bezirke mit einer Wahlbeteiligung von 50, 60 oder 75 Prozent. Solch schöne Zahlen ergeben sich so gut wie nie zufällig.

    Wenn die Wahlbeteiligung in einem Wahlbezirk bei 95 Prozent liegt, ist das höchstwahrscheinlich eine Fälschung. So etwas kommt in Großstädten nicht vor. Die Fälschungen finden auf dem Weg von der Stimmabgabe bis zum Eintrag in das GAS-Wahlen-System statt.

    In welchen Regionen gab es denn die meisten Auffälligkeiten bei der Wahlbeteiligung?

    In Tatarstan, Baschkortostan, in den Republiken des Nordkaukasus, mit Ausnahme von Adygeja, in der von allen geliebten Oblast Saratow, in Belgorod und Brjansk. Dort gab es die meisten Bezirke mit einer auffällig hohen Wahlbeteiligung und hohen Ergebnissen für Einiges Russland.

     


    Quelle der Daten: ZIK / Sergej Schpilkin, grafische Umsetzung: dekoder (Falls die Grafiken nicht laden, bitte hier aktualisieren)

    Im Nordwesten und nördlich von Moskau passiert das in der Regel selten. In Sibirien stehen die Dinge nur in Jakutien, Kemerowo und Tjumen schlecht, teilweise auch in Omsk. Besonders auffällig war diesmal die Oblast Woronesh: Dort gab es eine riesige Anzahl von Wahlbezirken mit einer Beteiligung von 80 bis 100 Prozent.

    Insgesamt ähnelt diese Wahl stark den Wahlen von 2011, nur dass die Wahlbeteiligung niedriger und die Ergebnisse für Einiges Russland höher sind

    Auf der Krim und in Sewastopol wurde meines Erachtens fair ausgezählt. Dort war die Wahlbeteiligung hoch, doch die Verteilung folgt durchaus einem städtischen Muster und ähnelt sehr der von Moskau.

    Können Sprünge in den Zahlen nicht auch natürlich sein? Es sind einfach mehr Leute gekommen, um zu wählen?

    Dann würde sich die gesamte Grafik verschieben – so wie im Fall von der Oblast Kirow oder der Oblast Kursk – aber nicht einzelne Teile. Sie würde einfach insgesamt höher liegen.

    Ähnelt die Situation der von 2011?

    Auf der Website der Zentralen Wahlkommission gibt es Daten zu allen Wahlen seit 1999. Und je weiter wir zurückgehen, desto mehr ähnelt die Stimmverteilung einer glockenförmigen Kurve, die man auch die Gauß-Kurve nennt – also einer Normalverteilung.

    Von Anfang 1999 bis 2005 wich die Wahlbeteiligung in allen Moskauer Bezirken nie um mehr als 5 Prozent vom Durchschnittswert der Stadt ab.  

    2008 musste die Moskauer Regierung wohl unbedingt ihre Loyalität mit Dimitri Medwedew demonstrieren – da klaffte die Wahlbeteiligung weit auseinander, sogar in  benachbarten Bezirken. Das wiederholte sich 2009 bei den Wahlen zum Moskauer Stadtparlament, als es in dem Bezirk, wo Mitrochin selbst gewählt hat, keine einzige Stimme für Jabloko gab. Dann folgte der Skandal bei den Dumawahlen 2011: Als Einiges Russland beispielsweise im Moskauer Bezirk Ramenki in ein und demselben Wohnkomplex in der einen Hälfte 28 Prozent bekam und in der anderen 58 Prozent. Es kam zum Skandal, zu Protesten und so weiter und so fort, also hat man 2012 die Fälschungsmaschine in Moskau drastisch gedrosselt. Die Wahlbeteiligung lag wieder bei Normalwerten. Normalwerte gab es auch bei der Bürgermeisterwahl 2013.

     


    Für die Stadt Moskau hat Schpilkin in diesem Jahr keine extremen Unregelmäßigkeiten festgestellt. / Quelle der Daten: ZIK / Sergej Schpilkin, grafische Umsetzung: dekoder (Falls die Grafiken nicht laden, bitte hier aktualisieren)

    Ich habe im Vorfeld vermutet, dass diese Wahlen entweder dem Szenario von 2003 (den fairsten Wahlen, zu denen uns Daten vorliegen) oder dem Szenario der Wahlen von 2011 (den unfairsten) folgen würden.

    Von den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten wurde die schlechteste gewählt. Beziehungsweise wurde sie gar nicht gewählt – die Maschine ist längst in Gang und läuft von selbst. Um sie zu stoppen, müsste man ihr lange auf die Finger hauen.

    Insgesamt ähnelt diese Wahl stark den Wahlen von 2011, nur dass die Wahlbeteiligung niedriger und die Ergebnisse für Einiges Russland höher sind. Und im Gegensatz zu 2011 fehlen diesmal auf der Gewinnerliste neue Gesichter – seinerzeit war Gerechtes Russland auf der Bildfläche erschienen.

    Besonders niedrig war die Wahlbeteiligung in Moskau und in Sankt Petersburg (35,2 und 32,7 Prozent). Wie wichtig ist das?

    Vor zehn Jahren lag die Wahlbeteiligung in Moskau bei 56 Prozent. Das heißt, dass die Stimme eines Moskauers diesmal doppelt so viel zählte und sogar eine kleine Zahl von Anhängern der Demokraten hätte ihren Kandidaten in die Duma bringen können. Momentan beträgt der Anteil von Staatsangestellten und Rentnern zehn Prozent – was ausreicht, um einen beliebigen Kandidaten ins Amt zu bringen. Bei so einer Wahlbeteiligung entscheiden sie alles. Bekanntlich fehlten Nawalny für die zweite Runde 35.000 Stimmen. Wären mehr Menschen gekommen, hätte es eine zweite Runde gegeben. Es könnte also sein, dass die Großstädte gewisse Chancen ungenutzt gelassen haben.

    Wie würden Ihren Berechnungen zufolge die tatsächlichen Wahlergebnisse aussehen?

    Für Einiges Russland wurden 28 Millionen Stimmen abgegeben, davon wurden nach meinen Berechnungen 12 Millionen künstlich aufgestockt. Das bedeutet, dass 45 Prozent der Stimmen für Einiges Russland gefälscht sind, was einem Anteil von etwa 11 Prozent aller Wahlberechtigten entspricht. Das bedeutet, dass wir statt der offiziellen Wahlbeteiligung von 47,8 Prozent eine Beteiligung von 36,5 Prozent haben. Statt der 54 Prozent für Einiges Russland ergeben sich 40 Prozent. Aus politischer Sicht ist das ein ziemlich wichtiges Ergebnis: 15 Prozent aller Wahlberechtigten haben demnach die Partei unterstützt. Mit diesen realen 15 Prozent (und – wenn man mit den aufgestockten Stimmen rechnet – mit den offiziell ausgewiesenen 27 Prozent) werden sie nun irgendwie leben müssen.


    „Wir glauben Gauß!“ – Für Demonstranten im Jahr 2011 war es ein starkes Argument, auf die Straße zu gehen: die gezackte Statistik, die der Physiker Schpilkin aus den Daten gewann. Sie deutete auf Unregelmäßigkeiten bei den Wahlergebnissen hin / Foto © politonline.ru


    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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  • Camembert, wo?

    Camembert, wo?

    Vor gut zwei Jahren hat Russland auf die westlichen Sanktionen wegen der Ukraine-Krise mit einer Einfuhrsperre für Agrarprodukte reagiert. Von Fleisch bis Milch ist seitdem fast alles verboten und darf nicht importiert werden. Das ist die Theorie. In der Praxis gelingt es findigen Händlern, Lebensmittel aus den Embargo-Ländern hier und da weiter ins Land zu bringen, auch wenn Russland an seinen Grenzen immer wieder Tonnen um Tonnen vernichtet.

    So liegt auf einem großstädtischen Fischmarkt mal eben frischer norwegischer Lachs oder im Laden nebenan ein litauischer Käse, der auf Zwischenstation in Weißrussland kurzerhand als „Made in Belarus“ umdeklariert worden ist. Das aber ist über die Zeit seltener geworden. Wer dagegen in St. Petersburg nicht auf die Lebensmittel aus dem westlichen Ausland verzichten will, dem sind auch fliegende Händler behilflich, die schon seit Jahren am Zoll vorbei auf dem Schwarzmarkt aktiv sind. Deren Geschäft ist seit der Einfuhrsperre noch lukrativer geworden.

    So oder so sind durchgesickerte Lebensmittel schwer zu finden. Angestellte einer Petersburger Bezirksverwaltung haben da ihre eigenen, zuverlässigen Quellen – und die Novaya Gazeta hat sich das angeschaut.

    Bürotür ist nicht gleich Bürotür in einer Petersburger Bezirksverwaltung / Foto © Nikita Kravchuk/flickr
    Bürotür ist nicht gleich Bürotür in einer Petersburger Bezirksverwaltung / Foto © Nikita Kravchuk/flickr

    Jeden Tag betritt Maria Schtscherbakowa ihr Verwaltungsgebäude am Newski-Prospekt Nummer 176. Die Vorsteherin des St. Petersburger Bezirks Zentralny geht die Treppe hoch und betritt ihr Büro, ohne auch nur zu ahnen, was sich gleichzeitig eine Etage tiefer abspielt …

    Dort laufen nämlich Geschäfte mit Waren, die es in Russland eigentlich gar nicht geben dürfte. Aber Maria Schtscherbakowa weiß nichts davon. Zumindest wenn man ihren Worten Glauben schenken darf.

    Vor gut zwei Jahren hat Russland den Import von Lebensmitteln eingeschränkt. Auf der Verbotsliste landeten Fleisch, Wurst, Fisch, Gemüse, Obst und Milchprodukte. Dann, Ende Juli 2015, unterschrieb Wladimir Putin noch einen Erlass, demzufolge die illegal eingeführten Lebensmittel zu vernichten sind. Allein zwischen dem 5. und dem 22. August 2015 wurden insgesamt 173,4 Tonnen mit Traktoren plattgewalzt.

    Den Angestellten der Verwaltung des Bezirks Zentralny machen die Sanktionen jedoch nichts aus. Zweimal in der Woche ist hier im Erdgeschoss Hochbetrieb. Mit geheimnisvollen Mienen kommen Verwaltungsmitarbeiter aus einem Räumchen neben der Kantine gelaufen. In den Händen – weiße Tüten. Und in den Tüten sind sanktionierte Lebensmittel: Käse und Wurst, mitgebracht von fliegenden Händlern aus den Nachbarländern Finnland und Estland.

    Je näher die Mittagspause rückt, desto voller wird es

    Um in diesen geheimen Laden zu gelangen, geht es an Wachleuten und Drehkreuzen vorbei direkt zu dem Schild mit der Aufschrift „Kantine“, dann die Stufen hinab. Rechts sieht man ein ausgeblichenes Plakat mit der Aufschrift: „Finnland – ein Märchen!“ Auf dem Plakat sind lappländische Rentiere zu sehen, hinter der Tür eröffnet sich der Raum mit den verbotenen Waren. Eine Kasse gibt es nicht, dafür einen Kühlschrank, in dem das Essen lagert. Ein Ladentisch und Schränke voll Käse, Wurst und Milchprodukten füllen den Raum. Etwas abseits stehen noch Haushaltswaren und Päckchen mit finnischem Kaffee.

    Aber ich will Käse.

    „Was es hier alles gibt!“, bemerkt die Verkäuferin recht familiär und öffnet vorsichtig den Kühlschrank. Und tatsächlich: Da sind Camembert, Parmesan, Brie, Dorblu …

    200-Gramm-Blöcke Mangelware für 120 bis 150 Rubel [1,65 Euro bis 2 Euro] gehen schnell weg. „Diese Stinker hier sind etwas teurer“, sagt die Verkäuferin und zeigt stolz ein Stück Dorblu. „Gibt es sonst nirgends!“

    Der etwas einfachere Käse – abgepackt als 500-Gramm-Aufschnitt – geht zum Schleuderpreis von 300 Rubel [4,15 Euro] über den Ladentisch.

    Eine Kundin betritt den kleinen Laden, eine mittelgroße, zierliche junge Frau in strengem Kostüm. Auch sie möchte Käse. Kühlschranktür auf, Kühlschranktür zu, und eine Packung Camembert landet in der weißen Tüte.

    Der Laden ist sehr beliebt. Um die ersehnten Köstlichkeiten zu kaufen, müssen die Beamten manchmal sogar Schlange stehen. Ich sag nur „Mangelware“! Außerdem ist der Laden nur donnerstags bis 12 und freitags bis 14 Uhr geöffnet

    Die Beamten kommen in Wellen, je näher die Mittagspause rückt, desto voller wird es. Als eine Welle abflaut, schaffe ich es, ein paar Worte mit der Verkäuferin zu wechseln. Sie erzählt mir, den Laden im Verwaltungsgebäude gebe es schon seit drei Jahren und beteuert, „die da oben“ wüssten von seiner Existenz.

    Gibt es da etwa einen Laden?

    In der Verwaltung bestreitet man das empört. Elena Serbinowa, sie ist verantwortlich für das Gebäude, sagt: „Kantine und Bezirksverwaltung haben nichts miteinander zu tun. Es gibt hier ein Restaurant der Kette Amrots und denen gehört die Kantine.“

    Ich frage noch einmal nach, für alle Fälle: „Diese Räume sind also gar nicht Teil der Verwaltung?“
    „Das Gebäude ist in zwei Hälften aufgeteilt: In der einen befindet sich die Verwaltung, sie gehört der Stadt. Die andere gehört der Immobilienverwaltung Jugra.“
    „Und dass in der Verwaltungskantine Sanktionswaren verkauft werden, stört Sie nicht?“
    „Diese Räumlichkeiten gehören uns nicht, also kann ich nichts dazu sagen.“

    Elena Serbinowa beendet das Gespräch.

    Nach Angaben von SPARK, einer Datenbank für professionelle Markt- und Unternehmensanalysen, wird das Gebäude am Newski-Prospekt 176 tatsächlich nicht allein von der Bezirksverwaltung genutzt. Zehn Firmen sitzen in dem Haus, darunter die von Serbinowa erwähnte Immobilienverwaltung Jugra und das Restaurant Amrots. Allerdings sind sie in einem anderen Gebäudeteil und haben einen separaten Eingang, anders als das Wohnungsamt des Bezirks und die Territorialen Wahlkommissionen Nr. 16 und 30, deren Schilder am Eingang des Verwaltungsgebäudes hängen.

    Derweil hat auch im Amrots niemand die leiseste Ahnung davon, dass hier Verwaltungsbeamte mit Sanktionswaren versorgt werden.

    „Damit haben wir nichts zu tun“, erklärt Anait Paradjan entschlossen, sie ist die Geschäftsführerin des Betriebs. „Wir haben hier ein Restaurant für 500 Gäste, aber keinen Laden. Gibt es da etwa einen Laden? Keine Ahnung, wer da was verkauft.“

    Die Immobilienverwaltung Jugra OOO, die in der Bezirksverwaltung als zweiter möglicher Betreiber des Sanktionswarenladens gilt, hat mit dem Ganzen ebensowenig zu tun, ist aber zweifelsohne auch für sich gesehen ein interessanter Laden. Die Organisation wurde gegründet von der Behörde für die Verwaltung von Staatseigentum des Autonomen Kreises der Chanten und Mansen (auch Jugra genannt) und beschäftigt sich mit der Vermietung von Gewerbe-Immobilien.

    Nun ja, auf der Liste der Büroräume am Newski-Prospekt 176 gibt es jedenfalls keinen einzigen Raum, der auch nur entfernt an das Kämmerlein erinnern würde, in dem mit sanktioniertem Käse gehandelt wird. Und all die genannten Büros befinden sich in dem anderen Gebäudeteil und haben anscheinend nichts mit der Bezirksverwaltung zu tun.

    Keine Ahnung, ich weiß von nichts

    Anfangs dachte ich, am einfachsten wäre es, die Nachfrage zum Camembert an Bezirksvorsteherin Maria Schtscherbakowa bei einem Treffen mit ihren Wählern anzubringen. Im St. Petersburger Büro der Partei Einiges Russland, für die Schtscherbakowa kandidiert, konnte man uns aber nichts über Schtscherbakowas Wahlkampagne sagen und empfahl uns, direkt bei der Bezirksverwaltung von Zentralny anzurufen.   

    Dort hieß es, wir sollten eine gewisse Anna Jurjewna anrufen, die Schtscherbakowas Wahlkampfstab leite. Sie sagte uns wiederum, dass keine Treffen mit Wählern vorgesehen seien. Wenn die Einwohner irgendwelche Fragen an ihre Kandidatin hätten, könnten sie sich für einen Termin in ihrer Sprechstunde als Bezirksvorsteherin anmelden.

    Schließlich gelang es uns, Schtscherbakowas Handynummer herauszubekommen.

    „Maria Dmitrijewna, warum wird im Erdgeschoss der Bezirksverwaltung mit Sanktionswaren gehandelt?“
    „Mit was für Waren?“
    „Mit Sanktionswaren.”
    „Was soll das sein? Nie gehört …“
    „Haben Sie nicht davon gehört, dass  die Regierung 2014 eine Liste von Lebensmitteln erstellt hat, die nicht aus Europa nach Russland importiert werden dürfen? Käse, Wurst …“
    „Weder das Gebäude noch der Raum gehören der Verwaltung, das kann ich Ihnen gleich sagen.“
    „Aber dass es Sanktionswaren gibt, das wissen sie schon?“
    „Nein, keine Ahnung, ich weiß von nichts und habe nie sowas gekauft. Das ist nicht unser Raum. Unsanktionierte Ware habe ich noch nie gekauft.“
    „Wir reden von sanktionierten Waren …“
    „Nie davon gehört. Nie etwas gekauft. Der Raum gehört nicht der Verwaltung.“
    „Warum befindet er sich dann im Verwaltungsgebäude?“
    „Das ist kein Verwaltungsgebäude, damit Ihnen das mal klar ist. Die Verwaltung mietet lediglich ein Zehntel des Gebäudes.“
    „Stört es Sie nicht, dass im selben Gebäude, in dem die Bezirksverwaltung sitzt unerlaubter Handel betrieben wird?“
    „Ich weiß von keinem Handel. Dazu kann ich nichts sagen.“

    Bitte noch den Brie

    Im Laden erkundige ich mich nach dem Preis von Parmesan, lasse mir dann aber Camembert und ein Stück Brie einpacken. Jetzt teile ich mit den Beamten der Bezirksverwaltung ein Nomenklatura-Geheimnis. Einen Kassenbon gibt’s nicht.

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    32 Minuten dauerte die Autofahrt, auf der die Menschenrechtsbeauftragte des russischen Präsidenten Tatjana Moskalkowa, die Fragen des Novaya Gazeta-Korrespondenten Pavel Kanygin beantwortete. Oder eben auch nicht beantwortete: „Schwule und politische Gefangene – sind das etwa die brennendsten Fragen?“, sagt die russische Menschenrechtsbeauftragte und einstige Generalmajorin der Polizei im Interview zu Kanygin. Hier, wie auch an anderen Stellen, offenbart sich ein grundlegend unterschiedliches Verständnis dessen, was eigentlich mit „Menschenrechten“ gemeint ist.

    Das Interview, das die Novaya Gazeta in der vergangenen Woche veröffentlichte, schlug aber auch aus anderen Gründen hohe Wellen: Nicht nur, dass Moskalkowa während des Gesprächs unvermittelt vom „Sie“ zum „Du“ wechselt, die Namen renommierter Menschenrechtsorganisationen offensichtlich nicht auf dem Schirm hat, schließlich den Fahrer bittet anzuhalten und kurz darauf das Interview abbricht. Sondern sie wandte sich, wie Kanygin berichtet, eine Stunde später nochmal an ihn mit der Bitte, das Interview nicht zu veröffentlichen, da sie darin „einen schlechten Eindruck“ mache. Die Novaya Gazeta, die das gesamte Gespräch schließlich abdruckte, berichtet außerdem von „nicht-öffentlichem“ Druck, der auf die Redaktion ausgeübt worden sei. Und veröffentlichte das Gespräch – mit dem Hinweis, Staatsbeamte seien verpflichtet, über ihre Tätigkeit zu informieren. Zuvor war der Menschenrechtsbeauftragten drei Tage Zeit gegeben worden, das verschriftlichte Interview zu autorisieren. Eine Möglichkeit, von der sie aber keinen Gebrauch gemacht hatte.

    Pavel Kanygin: Die Tätigkeit als Menschenrechtsbeauftragte ist ein ganz neues Arbeitsfeld für Sie. Wie fühlen Sie sich in der Position?

    Tatjana Moskalkowa: Das ist eine rhetorische Frage. Die Antwort lautet: Es ist schwierig. Denn es ist ein neues Leben, ein anderer Blickwinkel auf die Geschehnisse, die ich in meiner bisherigen Laufbahn eben anders wahrgenommen habe.

    Dabei gehören Sie doch zu den Silowiki.

    Ich habe zehn Jahre in der Abteilung für Begnadigung des Präsidiums des Obersten Sowjets der RSFSR gearbeitet. Neun Jahre in der Duma. Das alles waren sehr wichtige soziale Erfahrungen für mich, denen nun ein besonderer Wert zukommt, wenn es darum geht, meinen Platz und meine Rolle im System zum Schutz der Menschenrechte zu verstehen und den Menschen nützlich zu sein. Und effektiv Menschen zu schützen, die in eine schwierige Lebenslage geraten sind. Menschen, die sich der Willkür, dem Bösen und der Unmöglichkeit widersetzen, im Kampf mit einem stärkeren Gegner ihr Recht zu verteidigen. Dank meiner Erfahrung und Kommunikationsfähigkeit ist mir diese Chance zuteil geworden.  

    In Russland hat es sich ergeben, dass die Idee vom Schutz der Menschenrechte im Antagonismus steht zur Regierung und zum System. Folgen daraus keine moralischen Widersprüche für Sie?

    Man verwechselt den Menschenrechtsrat oft mit einer Organisation für Menschenrechte. Der Menschenrechtsrat ist ein Staatsorgan. Es ist ein Organ, das sich quasi zwischen der Gesellschaft und dem Staat befindet.

    Unter den Menschenrechtlern ist die Menschenrechtsbeauftragte vielleicht sogar der größte Menschenrechtler

    Es spricht mit den Regierungsorganen in einer für sie verständlichen Sprache und schafft entsprechende Umstände, damit diese Organe nicht nur hören, sondern auch zuhören.

    Sie sehen sich also nicht als eine Menschenrechtlerin der Gesellschaft?

    Doch, genau das tue ich. Unter den Menschenrechtlern ist die Menschenrechtsbeauftragte vielleicht sogar der größte Menschenrechtler.

    Wie würden Sie die gegenwärtige Situation der Menschenrechte in Russland beschreiben?

    Ich denke, es gibt derzeit viele Verstöße im Land, die sowohl System- als auch Einzelcharakter tragen. Diese Verstöße lassen sich im sozialen Bereich wie auch im Bereich des Strafrechts und des allgemeinen Rechts beobachten … Aber der Fortschritt in unserem Bereich, im Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft ist nicht zu übersehen. Wenn wir unsere Zeit mit früheren historischen Abschnitten vergleichen, sehen wir einen Fortschritt!

    Meinen Sie wirklich, dass man die Gesetze, die die Regierung in den vergangenen Jahren verabschiedet hat, als Fortschritt bezeichnen kann?

    Welche zum Beispiel?

    Gesetze, für die auch Sie gestimmt haben. Beispielsweise das NGO-„Agentengesetz“ oder das Demonstrationsgesetz, das Dima-Jakowlew-Gesetz, das diskriminierende LGBT-Gesetz, das die sogenannte Propaganda von Homosexualität verbietet …

    Propaganda von Homosexualität? So ein Gesetz gibt es bei uns nicht. Sie meinen vielleicht das Gesetz zum Verbot von Kinderpornografie.

    Das Gesetz haben Sie auch unterstützt. Aber mir geht es um das Ganze.

    Lassen Sie uns ganz konkret sprechen. Wenn es Ihnen um Minderheiten geht, dann können Sie selbst sehen, dass die sexuellen Minderheiten seit 2012 und bis heute in keiner Weise in ihren Rechten beschnitten wurden.

    Sagen Sie mir doch, wo genau man LGBT einschränkt, dann können wir weiterreden

    Sie haben nicht aufgehört zu existieren. Man hindert sie nicht daran zu tun, was sie tun. Sagen Sie mir doch, wo genau man sie einschränkt, dann können wir weiterreden.

    Im Ausdruck ihrer Lebensform, im Familienrecht, in ihrem Recht, sich als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft zu bezeichnen.

    Das alles gibt es nicht. Nennen Sie mir Beispiele für Beschränkungen ihrer Rechte. Vielleicht haben Sie ja recht und ich übersehe irgendwelche Vorgänge, die mit der Umsetzung der Gesetze verbunden sind.

    Gut. Was ist zum Beispiel damit, dass LGBT ihre gemeinnützigen Organisationen nicht anmelden dürfen? Sich nicht versammeln und keine Veranstaltungen durchführen dürfen? Keine Kinder adoptieren dürfen?

    Adoptieren dürfen sie nicht, nein. Was den Rest betrifft, so weiß ich, dass in Sankt Petersburg gerade erst eine Demonstration stattgefunden hat. Und man dafür gesorgt hat, dass sie nicht mit dem Tag der Fallschirmjäger zusammenstoßen. Damit die Interessen der unterschiedlichen sozialen Gruppen nicht aufeinanderprallen. Auch die LGBT existieren und führen Demonstrationen durch. Niemand engt sie ein.

    Anders gefragt: Sie sind bereit sich für die Rechte von sexuellen Minderheiten einzusetzen? Können sie mit Ihrer Hilfe und Unterstützung rechnen?

    Im Fall von Verstößen gegen ihre Rechte, werde ich natürlich alle Mittel ergreifen, um diese Verstöße zu beheben. Kennen Sie denn Fälle, in denen jemand aufgrund von LGBT-Zugehörigkeit in seinem Recht auf Bildung eingeschränkt worden wäre? Einen Arbeitsplatz nicht bekommen hätte? Oder an einer Universität nicht angenommen worden wäre?

    Solche Fälle gibt es ist massenweise, Tatjana Nikolajewna.

    Ich habe in meiner ganzen Amtszeit als Menschenrechtsbeauftragte noch kein einziges solches Gesuch bekommen. Und das ist die Wahrheit. Es ist die Wahrheit.

    Ehe wir das Thema LGBT abschließen, würde ich gern noch eine Sache spezifizieren. Als in der Duma über das „Antischwulen-Gesetz“ diskutiert wurde, weiß ich, dass unter anderem Sie sich dafür eingesetzt haben, den Paragraphen zur Strafbarkeit von Unzucht zwischen Männern wieder ins Strafgesetzbuch aufzunehmen. Hat sich Ihre Position seitdem geändert?

    Nein! Ich habe niemals … Das ist völliger Unsinn! Sie können sich die Mitschriften der Duma besorgen und sich selbst davon überzeugen.

    Sie haben in einem Interview darüber gesprochen.

    Nein, ich habe mich nie öffentlich für eine Wiedereinführung der Strafbarkeit von Unzucht zwischen Männern eingesetzt. Denn meinen Überzeugungen nach bin ich Demokratin und schätze alle Errungenschaften der 1990er Jahre, die wir erkämpft haben: die Aufhebung des Eisernen Vorhangs, die Menschenrechte, die Abschaffung des Einparteiensystems, ein freies Parlament und auch den Verzicht auf die Strafbarkeit von Unzucht zwischen Männern.

    Tatjana Moskalkowa / Foto © CC BY-SA 3.0
    Tatjana Moskalkowa / Foto © CC BY-SA 3.0

    Aber ein Mensch kann trotzdem seine eigene Meinung haben. Dem einen gefällt Rot, dem anderen Schwarz. Ich gehöre nicht zu denen, die gleichgeschlechtliche Beziehungen ausweiten wollen, aber auch nicht zu denen, die sie unterbinden wollen. Das ist ein sensibler Bereich, allerdings bin ich eine Anhängerin von traditionellen Beziehungsformen.

    Gut. Lassen wir dieses sensible Thema. In diesem Jahr wurden unter Ihrem Vorsitz staatliche Förderungen an unterschiedliche NGOs vergeben. Die Menschenrechts-NGOs wurden jedoch weitestgehend ignoriert. Gesellschaftliches Verdikt, Für Menschenrechte oder Memorial bekamen keine Förderung. Bei der Moskauer Helsinki-Gruppe gab es Schwierigkeiten. Aber dafür haben die Nachtwölfe Geld bekommen. Wie erklären Sie das?

    [Pause] Die Arbeit der Vergabestelle ist folgendermaßen aufgebaut: Alle Anträge auf Förderung werden Experten vorgelegt. Es gibt Kriterien, anhand derer die Experten Punkte vergeben. Wenn ein Projekt nicht den Förderkriterien entspricht, erhält die Organisation eine niedrige Punktzahl.

    Auch die Förderkommission ist an das Urteil der Experten gebunden. Wenn eine Organisation eine niedrige Punktzahl erhalten hat, dann hat die Kommission kein Recht, ihr eine Förderung zu geben. Wenn eine Organisation schon mal eine Förderung bekommen hat, muss sie erst einmal einen Bericht über die Verwendung vorlegen. Sobald ein Bericht vorliegt, kann sie sich wieder bewerben …

    Könnten Sie trotzdem etwas zur Situation der konkreten NGOs sagen, die ich genannt habe?

    Pawel, ich kann Ihnen nachher zu jeder einzelnen Organisation etwas sagen. Heißt sie genau so – Helsinki-Gruppe? Und ihr Antrag wurde abgelehnt?

    Sie heißt Moskauer Helsinki-Gruppe.

    Das ist der genaue Name? Und ihr Antrag wurde abgelehnt?

    Man sagt, es hätte Probleme gegeben.

    Da ist doch Alexejewa dabei? Letztendlich haben wir ihr doch eine Förderung gegeben, eine recht große sogar. Das kann ich Ihnen mit Sicherheit sagen. Wer also noch? Für Menschenrechte von Ponomarjow. Ich werde nachfragen. Vielleicht hat er keinen Bericht über die letzte Förderung eingereicht. Und er hat sogar Geld für andere Organisationen bekommen, wo er ebenfalls als Organisator eingetragen ist.

    Oder wollen Sie etwa behaupten, dass Ponomarjow keine Förderungen bekommt? Oder Alexejewa nicht? Ich kann Ihnen zeigen, wieviel sie vom Staat bekommen! Das ist nicht wenig!

    Von einer Organisation wurde der Antrag abgelehnt, weil sie nämlich im vergangenen Jahr 22 Millionen aus dem Ausland bekommen hat. Dieser eine Fond, der mit „M“ anfängt …

    Memorial?

    Wahrscheinlich, ja. Der Staat berücksichtigt doch alles und rechnet alles mit ein. Diese Organisation hat bereits genug, womit sie arbeiten kann. Und was die Nachtwölfe betrifft, schauen wir uns deren Projekt doch erst einmal genauer an.

    Eine Lasershow auf der Krim?

    Ach was. Sehen wir uns doch deren Antrag an. Sogar Sie, die Novaya Gazeta, könnten sich mit einem Projekt bewerben, obwohl sie eine Zeitung sind und wir Ihnen nicht einfach so Geld zuteilen dürften. Aber wenn Sie beispielsweise ein Projekt zur Resozialisierung von Strafgefangenen vorschlagen und das parallel unter Ihrem Label betreiben würden – warum sollte man sich das nicht anschauen? [Die Moskauer Helsinki-Gruppe bekam vom Staat 4,2 Millionen Rubel Unterstützung. Die Nachtwölfe erhielten die Präsidenten-Förderung von einer anderen Vergabestelle, die allerdings keine Menschenrechts-Mittel vergibt – Anm. d. Novaya Gazeta]

    Eine Frage zum sogenannten Jarowaja-Paket. Neulich haben Sie es folgendermaßen kommentiert: Es beunruhige Sie, dass die Altersgrenze der Strafmündigkeit bei den Extremismus-Paragraphen auf 14 Jahre herabgesenkt wurde. Was ist mit den anderen Regelungen? Beunruhigen sie Sie nicht?

    Die anderen Regelungen dieses Gesetzes sind ratifiziert, in Kraft getreten und zeigen ihre Wirkung. Und seitdem ist bei mir noch keine einzige Beschwerde eingegangen. Sicher, einige sprechen sich dagegen aus, aber das Gesetz wurde bereits verabschiedet. Und Gesetz ist Gesetz.

    Aber kritisieren darf man es?

    Das darf man. Auch ich habe mich dazu geäußert. Der Menschenrechtsrat wird die Situation beobachten, um Informationen zu sammeln und zu verstehen, wie diese Regelungen wirken und ob die Bedenken berechtigt sind, die von Menschenrechtsorganisationen und anderen Gegnern dieses Gesetzes vorgebracht werden. Vielleicht müssen dann tatsächlich dringende Veränderung in das Gesetz eingebracht werden.

    Was sagt Ihnen denn Ihre Intuition?

    Das ist keine Kategorie, derer ich mich in diesem Fall bedienen würde.

    Sie haben sich für Ildar Dadin eingesetzt, haben eine Revision seines Urteils gefordert. Viele haben Ihre Initiative sehr positiv aufgenommen …

    Was meine Initiative betrifft, ist das allerdings nicht ganz zutreffend. Bei mir ist ein Gesuch seines Anwalts eingegangen. Und solange das Gericht noch keine endgültige Entscheidung getroffen hat, verfügt die Menschenrechtsbeauftragte über die Möglichkeit, ein Gesuch an das Gericht zu richten, was ich auch getan habe. Das Oberste Gericht wird den Fall weiter prüfen. Andere Mittel hat die Menschenrechtsbeauftragte derzeit nicht.

    Sind Sie mit der Position der Menschenrechtler einverstanden, Ildar Dadin sei ein politischer Gefangener?

    Ich habe meine Position diesbezüglich mehr als einmal deutlich gemacht: Ich unterstütze den Gebrauch des Begriffs „politischer Gefangener“ nicht. Ich finde nicht, dass dieser Begriff dem russischen Rechtssystem angemessen ist.

    Der Begriff ‚politischer Gefangener‘ ist dem russischen Rechtssystem nicht angemessen. Ich unterstütze den Gebrauch dieses Begriffs nicht

    Den Begriff gibt es also nicht, aber die Menschen schon?

    Was soll das heißen? Wen würden Sie in Russland denn einen politischen Gefangenen nennen?

    Ich habe Ihnen doch gesagt, dass viele Menschen Ildar Dadin für einen politischen Gefangenen halten. Man hält auch den unglückseligen Mochnatkin …

    Für welche Verbrechen sitzen sie denn ein? Für Verbrechen, die im Strafgesetzbuch festgeschrieben sind.

    Aber die Gesetze sind in den vergangenen Jahren enorm verschärft worden. Beispielsweise das Demonstrationsgesetz.

    Das Demonstrationsgesetz hat sich verändert. Aber man muss sich in jedem einzelnen Fall die Beweislage ansehen und welche Verstöße begangen wurden. Was [im Fall von Dadin] überhaupt vorlag – ein Angriff auf die öffentliche Ordnung, auf die Rechte anderer Menschen oder auf die Grundprinzipien des Staates. Es wurde allerdings von der ganzen Gesellschaft als eine gesellschaftlich gefährliche Tat eingestuft.

    Dimitri Medwedew hat gern immer wieder betont, dass es in Russland notwendig sei, von der Bestrafung durch Freiheitsentzug Abstand zu nehmen, solange ein Mensch nicht das Leben, die Gesundheit oder das Eigentum anderer gefährdet hat. Was bei Dadin zutrifft. Unterstützen Sie diese Herangehensweise?

    Wenn du zwei administrative Rechtsverstöße begangen hast, ist das nach unserer Rechtsprechung ein administratives Präjudiz, das zu einer strafrechtlichen Angelegenheit wird. Wie es auch im Fall von Dadin geschehen ist.

    Lassen Sie uns irgendwo parken und Plätze tauschen, ich muss ein paar Anrufe machen

    (Wendet sich an den Fahrer.) Lassen Sie uns irgendwo parken und Plätze tauschen, ich muss ein paar Anrufe machen.

    Kann ich noch ein paar Fragen stellen?

    Pascha, das sind doch sicherlich schon genug von diesen Fragen, um das Bild zu zeichnen, das ihr zeichnen wollt.

    Warum sagen Sie das? Ich habe noch viele Fragen, zu denen ich gern ihre Meinung hören würde …

    Die haben sie schon gehört. Sie sehen die Dinge einseitig. Weil es Sie gar nicht interessiert, wie beispielsweise die Rechte von Menschen verteidigt werden, denen gekündigt wurde, und vieles mehr. Es interessiert Sie nur ein kleiner Ausschnitt – die Schwulen und diese …

    Sie sehen die Dinge einseitig. Es interessiert Sie nur ein kleiner Ausschnitt – die Schwulen und diese …

    Politischen Gefangenen?

    Politischen Gefangenen, genau. Golubyje ist übrigens ein schönes Wort. Alles andere interessiert Sie gar nicht, der riesige Bereich von Problemen … Was ist zum Beispiel mit den Wehrdienstleistenden, die vier Jahre lang keine Gehaltsanpassung bekommen? Oder mit alleinerziehenden Müttern oder den Müttern mit vielen Kindern, die in Moskau keine Wohnung bekommen und auf den Wartelisten nicht vorrücken?

    Mich interessiert alles, Tatjana Nikolajewna. Auch der Gefangenenaustausch mit der Ukraine und viele andere Themen …

    Ein Austausch stand nie zur Debatte. Es war die Rede von Übergabe, und noch nicht einmal von Übergabe, sondern von Transfer, von der Überführung verurteilter ukrainischer Bürger in die Ukraine. Und das wird noch verhandelt.

    Arbeiten Sie mit der Menschenrechtsbeauftragten der DNR Daria Morossowa zusammen?

    Das hat sich bisher nicht ergeben. Ich arbeite mit Lutkowskaja zusammen.

    Könnten Sie darauf genauer eingehen? Das ist interessant.

    Aber du fragst ja nicht. Du fragst nur was über LGBT und über die politischen Gefangenen. Sind das etwa die brennenden Fragen? Sie greifen sich einen Bereich der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft heraus, und zwar einen sehr kleinen.

    Die Fragen, die du stellst, machen 2 Prozent der eingegangenen Gesuche aus. Nur 2 Prozent!

    Nehmen wir doch den Bericht für 2015 von Ella Pamfilowa. Die Fragen, die du stellst, machen 2 Prozent der eingegangenen Gesuche aus. Nur 2 Prozent! Und die restlichen – da wollen Menschen eine Wohnung, ein Dach überm Kopf, ein anständiges Gehalt, einen anständigen Urlaub, ein anständiges Gesundheitssystem. Wenn Personen mit nicht-traditioneller sexueller Orientierung unbedingt auf die Straße gehen möchten, verbietet es ihnen doch niemand …  

    Naja, sei’s drum. Warum regen Sie diese Fragen so auf? Lassen Sie uns über Barrierefreiheit sprechen. Darüber, dass für Rollstuhlfahrer in keiner einzigen Stadt unseres Landes ein normales Leben möglich ist. Oder über die Waisen, die dank des Dima-Jakowlew-Gesetzes in Kinderheimen dahinvegetieren. Bekommen Sie deswegen Beschwerden? Sind das Probleme mit Einzel- oder vielleicht doch mit Systemcharakter?

    Als ich für das Dima-Jakowlew-Gesetz gestimmt habe, war das Ziel, unsere Kinder vor Missbrauch in ausländischen Familien zu schützen. Wissen Sie, dass der Staat damals nichts über das Schicksal von über 600 Kindern herausfinden konnte, die adoptiert und ins Ausland gebracht wurden? Was ist mit diesen Kindern? Sind sie noch am Leben? Deswegen bereue ich überhaupt nichts, ich freue mich sogar darüber, dass wir dieses Gesetz verabschiedet haben.

    Als ich für das Dima-Jakowlew-Gesetz gestimmt habe, war das Ziel, unsere Kinder vor Missbrauch in ausländischen Familien zu schützen. Ich bereue überhaupt nichts

    Und was die Behinderten betrifft, schauen sie doch mal in die Oblast Wladimir, wie viele Rampen und Behinderteneingänge da gebaut wurden. Gerade jetzt vor den Wahlen gibt es ein ganzes Programm für sie. Nicht nur hier, sondern russlandweit. Natürlich rückt diese Frage immer mehr in den Vordergrund. Es wurden extra dafür Gelder bereitgestellt und Förderungen geschaffen. Ja, das ist noch zu wenig. Man wünscht sich immer, dass es mehr solcher Hilfen gäbe, und dafür werde ich kämpfen. Und auch für die Behinderten, die in geschlossenen Heimen leben. Und für viele andere.

    Wenn das so ist, sind wir bereit, Sie zu unterstützen.

    Das würde ich so nicht sagen – nach den Fragen, die Sie stellen. Du hast es noch nicht einmal geschafft, mir Beispiele zu nennen, wo diese LGBTs in ihren Rechten beschnitten werden … In der Gesellschaft finden solche Fragen zurzeit keine breite Unterstützung.

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