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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Der Kreml wird auf Chaotisierung abzielen“

    „Der Kreml wird auf Chaotisierung abzielen“

    Am 31. März fand in der Ukraine die Präsidentschaftswahl statt. Für Beobachter war es schwer vorherzusagen, wer in die Stichwahl am 21. April kommen wird. Diese scheint nun genauso unberechenbar: Obwohl der Abstand zwischen Herausforderer Wolodymyr Selensky und Amtsinhaber Petro Poroschenko in der ersten Runde etwa 14 Prozentpunkte betrug, ist es nicht klar, wer am Ende gewinnen wird.

    Seit 2014 – mit der Angliederung der Krim und dem Beginn des Kriegs in der Ostukraine – sind die Beziehungen zwischen Moskau und Kiew zerrüttet: Der damalige ukrainische Präsident Janukowitsch floh im Februar 2014 nach Russland, sein Nachfolger Petro Poroschenko vertritt dezidiert eine Anti-Kreml-Haltung. In seinem aktuellen Wahlprogramm befürwortet er etwa die EU- und NATO-Integration seines Landes. Demgegenüber äußert sich sein Herausforderer Selensky eher zurückhaltend: Sein Wahlprogramm, so einige Beobachter, sei in diesen Punkten eher schwammig formuliert.

    Wie schaut der Kreml auf die Wahl in der Ukraine? Auf welchen Kandidaten setzt Moskau bei der Stichwahl zwischen Poroschenko und Selensky?

    Diese Fragen beantwortet im Interview mit der Novaya Gazeta Gleb Pawlowski – ehemaliger Polittechnologe, der zu den Architekten des Systems Putin gezählt wird.

    Novaya Gazeta / Wjatscheslaw Polowinko: Wie zufrieden ist die russische Regierung mit der gegenwärtigen Lage nach dem ersten Wahlgang: Selensky in Führung, Poroschenko auf dem zweiten Platz?

    Gleb Pawlowski: Die russische Regierung ist mit dem Status quo natürlich nicht zufrieden. Ich denke, dem Kreml würde außer einem Sieg Boikos keine Konstellation passen. Selensky macht Poroschenkos Chancen auf einen Sieg im zweiten Durchgang praktisch zunichte. Aus der Sicht Moskaus wirkt er zu merkwürdig und unberechenbar.

    Moskau hat bisher nur mit Angehörigen des ukrainischen politischen Establishments zu tun gehabt und hat es sehr wohl vermocht, sich mit ihnen zu arrangieren – mit allen, auch mit Poroschenko. Der Kandidat Selensky steht für den Protest der Wähler gegen das Establishment, und er wird sich in seinem Vorgehen nicht sehr weit von seinen Wählern entfernen können.

    Selensky steht für den Protest der Wähler gegen das Establishment

    Seine Wähler, das ist die breite Masse der Bevölkerung, die des Krieges und der Welt müde ist, die sich nicht ins russische Bett legen will und die Korruption in Kriegszeiten nicht mehr ertragen kann. Man muss aber wissen, dass das keine pazifistischen Wähler sind; sie verlangen von Selensky nicht, dass er sofort den Krieg beendet. Im Grunde folgte die Wahl der Logik negativer Umfragewerte, und Selensky ist davon am wenigsten betroffen.

    Moskau könnte mit Selenskys Kandidatur teilweise zufrieden sein, weil er aus Sicht des Kreml ein schwacher Kandidat ist.

    Schließlich wird er ja nicht automatisch von der gesamten ukrainischen Bevölkerung akzeptiert werden; falls er gewinnt, wird das für ihn ein Problem sein, unter anderem mit Blick auf die Armee und die Kampfverbände, die im Großen und Ganzen nicht für ihn sind. Und außerdem ist da wieder das Problem der Westukraine, weil die Wahl dieses eindeutig nicht ukrainisierten Kandidaten bedeuten würde, dass es eine mehrheitliche Opposition gegen die Rolle gibt, die die Westukraine in letzter Zeit im Land gespielt hat.

    Der Kreml wird auf eine Chaotisierung des Spielfelds abzielen

    Es wird jetzt potentiell ein gewisses Machtvakuum entstehen, das nach dem zweiten Wahlgang zum Tragen kommen wird: Selensky wird es schwerfallen, die Anerkennung der gesamten Ukraine zu bekommen, und es wird einen gewissen Einbruch geben, eine Pause, in der Moskau in das Spiel einsteigen kann. Dass der Kreml das Spiel aufnehmen will, wird aus verschiedenen Vorstößen deutlich, etwa durch die Initiative, die Ergebnisse der Wahl in der Ukraine nicht anzuerkennen. Das ist eine recht dumme und schädliche Idee, weil dies eine direkte Einmischung in die Angelegenheiten der Ukraine bedeuten würde. Und zwar zu einem Zeitpunkt, da sich die Gelegenheit für politisches und diplomatisches Spiel ergibt. Der Kreml aber spitzt die Situation zu, wie das so seine Art ist, wenn es ein Problem gibt. Es ist zwar gefährlich, aber der Kreml wird auf eine Chaotisierung des Spielfelds abzielen.

    Selensky wird es nach Ansicht Moskaus damit nicht aufnehmen können; es wird zu dem für die Ukraine üblichen Krieg zwischen den Gruppierungen kommen. Die Kalkulation ist, dass die Probleme erneut von den Herren des Geldes und den bewaffneten Ressourcen gelöst werden.

    In den russischen wie auch in den ukrainischen Medien kursiert die Theorie, dass Selensky im Falle seines Sieges Julia Timoschenko zur Ministerpräsidentin machen könnte. Da sie schon einmal mit Russland zusammengearbeitet hat, könnte sie nach Ansicht der Analytiker zu einem zusätzlichen Faktor werden, mit dem Moskau auf ukrainische Politiker Druck ausüben könnte. Wie realistisch ist ein solches Szenario?

    Dann würde Selensky das Risiko eingehen, sofort die Unterstützung zu verlieren. Die Ukraine hat so etwas schon einmal durchgemacht: Sie hatte einen dritten Kandidaten gewählt, aber sobald dieser einen Deal mit dem Establishment gemacht hatte (wie das etwa bei Serhij Tihipko der Fall war), verlor dieser Kandidat für die Menschen sofort jede Bedeutung und schied aus der Politik aus. 

    Selensky muss schleichend und schweigend die Zeit bis zum zweiten Wahlgang überstehen und sollte sein Ansehen nicht durch Allianzen beschädigen. Allerdings kann ich mir nur schwerlich vorstellen, dass sich selbst dann um Poroschenko herum eine starke Koalition gegen den Gewinner des ersten Wahlgangs bildet.

    Es gibt das Stereotyp, dass der Kreml über viele Einfluss nehmende Agenten in der ukrainischen Politik verfügt. Wie sehr hat Russland derzeit von innen Einfluss auf die Politik der Ukraine?

    Russland hatte tatsächlich seit langer Zeit hervorragende und sehr gut entwickelte Verbindungen zum ukrainischen Establishment.

    Und wenn der Kreml nicht im Jahr 2014 eine Dummheit begangen und sich in ukrainische Angelegenheiten eingemischt hätte, wäre Putin auch heute noch oberster Schiedsrichter für alle zukünftigen politischen Kombinationen in der Ukraine.

    Andererseits bedeutet das aber nicht, dass ukrainische Politiker Agenten Moskaus sind. Selbstverständlich waren für Moskau die Kriegssituation und die Gebietsverluste seitens der Ukraine keineswegs hilfreich hinsichtlich einer Stärkung seines Einflusses. Das ist keine Frage der Agenten, sondern meiner Ansicht nach eine Frage der abnormen Enge der Verbindungen zwischen den Establishments der beiden Länder. Sie machen sich auf pathologische Weise gegenseitig das Leben schwer. Zumindest ist das für mich im Falle Russlands offensichtlich, weil diese Fixierung auf die Ukraine, wo es doch im eigenen Land solche Probleme gibt, schlichtweg Irrsinn ist. Uns sollte die Ukraine offen gestanden derzeit überhaupt nicht beschäftigen.

    Könnte der mögliche Sieg Selenskys für den Kreml zu einem unangenehmen Signal werden, da die Menschen in Russland dann vielleicht denken: Oh, es sieht so aus, als könnte man gegen die „alte Schule“ ankommen?

    Es ist schon seit langem bewiesen, dass die Dinge bei uns so nicht laufen. Diese Vorstellung stammt ebenfalls vom russischen Establishment, nämlich, dass die Bevölkerung nur auf das Geschehen in der Ukraine schaut.

    Selensky ähnelt sehr vielen Akteuren in unserem Showbusiness, den Schauspielern aus den Serien, es ist aber sonnenklar, dass keiner von ihnen eine solche Rolle übernehmen könnte, mal ganz davon abgesehen, dass gegen so jemanden sofort ermittelt werden würde.

    In Russland fehlt diese ukrainische Kombination aus Verzweiflung und der Bereitschaft, es mal zu probieren.

    Die Ukrainer treffen diese Wahl und sind sich des Risikos bewusst, was an sich schon wichtig und interessant ist. Bei uns ist die Situation eine andere, wir sind nicht die Ukraine, und nicht Kasachstan.

    Inwieweit kommt der bislang lokale Triumph Selenskys der russischen Propaganda gelegen? Man könnte ja bei seinen Misserfolgen dann sagen: „Schaut nur, wen die Ukrainer da gewählt haben!“. Wenn es Erfolge gibt, ließe sich ebenfalls etwas konstruieren. 

    Aus Sicht unserer Propaganda gelingt der Ukraine nie auch nur irgendetwas. Unsere Propaganda beruht auf der Vorstellung der vermeintlichen „ukrainischen Dummheit“. Die landesweiten Fernsehsender verbreiten, dass diejenigen, die sich für Ukrainer halten, einfach nicht sonderlich helle sind, und zu nichts fähig, vor allem nicht zum Aufbau eines Staates. Ich denke, dass die Propaganda auch weiterhin mit diesem recht toxischen Motiv operieren wird. Eine Wahl Selenskys dürfte als weiteres Zeichen dieser „ukrainischen Dummheit“ dargestellt werden.

    Eine Wahl Selenskys dürfte als Zeichen dieser „ukrainischen Dummheit“ dargestellt werden

    Wichtig ist, dass diese Thesen nicht nur Richtung Ukraine, sondern auch Richtung Europa verlautbart werden: Man sollte die Ukraine nicht unterstützen, die kann ja nicht einmal bei sich selbst für Ordnung sorgen. Das können nur wir, unterstützt also uns!

    Das sind doch recht fruchtlose Bemühungen…

    Bislang sind sie fruchtlos. Wir wissen allerdings nicht, wie die Lage in der Ukraine in einem halben Jahr ist. Wenn dort Chaos entsteht, könnte der Kreml meinen, dass Europa abwinken wird.

    Sie haben vor vielen Jahren fast alles vorhergesagt, was mit der Ukraine geschah. Hätten Sie sich in ihren kühnsten Prognosen vorstellen können, dass einer der Wahlsieger jemand sein könnte, der der Politik sehr fernsteht?

    Den Sieg eines Populisten vorauszusagen ist nicht schwierig. Das ist weltweiter Trend und Mainstream: Überall siegen die Populisten. Die sind aber alle unterschiedlich. Auch Wladimir Putin war ein Populist, der als solcher seiner Zeit voraus war. Selensky und seine Taktik sind etwas anders. Sein Populismus ist friedlicher und ist daher schwerer dingfest zu machen; ihm ist schwieriger etwas entgegenzusetzen. In seinem Programm gibt es keinen Feind, er ist kein Trump: Selensky verspricht nicht, die Ukraine groß zu machen und gleichzeitig alle Russen aus dem Land zu jagen.

    Von einem Populismus dieser Art konnte ich nicht ausgehen, und ich konnte nicht davon ausgehen, dass in Zeiten eines Krieges so jemand gewinnt. Das Phänomen Selensky macht deutlich, dass der neue Populismus sich nicht auf Figuren wie Trump oder Orbán beschränkt. Dieser Populismus wird neue Konstellationen hervorbringen. Darauf müssen wir vorbereitet sein.

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  • Fake-Kampf gegen Korruption?

    Fake-Kampf gegen Korruption?

    Am 27. März wurde der ehemalige russische Minister Michail Abysow festgenommen. Nur einen Tag später verhaftete man auch den Ex-Gouverneur und -Minister Viktor Ischajew. Beiden Ex-Politikern wird unter anderem Betrug in Milliardenhöhe vorgeworfen.

    Im Korruptionsindex von Transparency International befindet sich Russland auf Rang 138 von 180 Ländern: Korruption ist demnach allgegenwärtig. Doch dass es zwei hochrangige Ex-Politiker gleichzeitig trifft – das ist neu. Russische unabhängige Medien debattieren die Frage: Warum ausgerechnet sie?

    Schon nach der Verhaftung des Ministers Alexej Uljukajew vor rund zweieinhalb Jahren rankten (Verschwörungs)Theorien, nun sieht manch ein Beobachter gar ein neues 1937 heraufziehen – unter anderem eine Chiffre für Verfolgungen und Tötungen von sogenannten „unzuverlässigen“ Weggefährten Stalins. Die anderen glauben, dass es eigentlich ein Signal an den Premierminister sei – schließlich würden die Verhafteten zu der Elitengruppe um Dimitri Medwedew gehören. Wieder andere meinen, dass der Druck aus dem Westen und die schlechten Wirtschaftsdaten Elitenkonflikte provozierten. Schließlich sind manche Politikwissenschaftler sicher, dass Abysow und Ischajew als Sündenböcke herhalten müssen, um einen Kampf gegen Korruption zu imitieren. In eine ähnliche Kerbe schlägt auch der Politologe Dimitri Oreschkin in der Novaya Gazeta

    [bilingbox]Wenn es bei den letzten beiden Verhaftungen einen Trend gibt, dann würde ich ihn „Verzweiflung“ nennen. Ischajew war vor zehn Jahren Gouverneur, eine Rechnung mit ihm rückwirkend zu begleichen, ist ziemlich seltsam. 
    Erstens befindet sich der Kreml in einer Art Raserei, in der man nicht sieht, was getan werden muss. Sie sehen, dass sich die Situation verschlechtert und ärgern sich darüber. Wenn sich aber Menschen dieses Schlags ärgern, dann fangen sie an, den entferntesten Schuldigen zu suchen. Die Nahestehenden fühlen das und liefern diese Schuldigen dann aus.

    Zweitens aber hegen die Machthaber die Hoffnung, dass das die Leute ablenkt und sie kapieren, dass die Machthaber für ihre Rechte kämpfen – schließlich werden ja Diebe bestraft. […]
    Ischajew ist schon lange in Rente, er hat keine administrative Ressource. Abysow kann genauso wenig zum Gegenschlag ausholen, hat er doch als Ruheständler auch keine Ressourcen. Medwedew wird wohl kaum für ihn kämpfen, also kann man sich Abysow durchaus als Feind vorstellen. Mich erschreckt vor allem, dass man anfängt, Ruheständler zu kassieren. Nicht die, die jetzt etwas tun, sondern die, die irgendwann mal etwas getan haben. Dies aber kann man von jedem Gouverneur im Land behaupten.~~~Если в последних арестах и есть тренд, то я бы назвал его «отчаянием», Ишаев был десять лет назад губернатором, с ним счеты сводить задним числом довольно странно. Во-первых, здесь есть некоторое остервенение Кремля, в котором не понимают, что нужно сделать.
    Они видят, что ситуация ухудшается, и начинают злиться. А когда люди такого рода злятся, они начинают искать крайнего и виноватого. Приближенные это чувствуют, они этих виноватых и подсовывают.
         
    А, во-вторых, у власти есть надежда, что таким образом трудящиеся отвлекутся, поймут, что власти борются за их права — она же воров наказывает. […]

    Ишаев давно на пенсии, у него административного ресурса нет. Абызов тоже не может нанести ответного удара, у него ресурсов нет, он же отставник. Вряд ли ради него Медведев пойдет воевать, так что Абызова вполне можно представить как врага. Меня пугает именно эта составляющая — отставников начали грести. Не тех, кто сейчас что-то творит, а когда-то. А так сейчас можно сказать про любого губернатора в стране.[/bilingbox]

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  • „Es herrscht ein aggressiver Individualismus“

    „Es herrscht ein aggressiver Individualismus“

    Um das gegenwärtige Russland zu erklären, bemühen viele russische Sozialwissenschaftler Weimar-Vergleichе: Nach dem Systemzusammenbruch kam es in beiden Ländern zu massiven wirtschaftlichen und politischen Krisen. Politiker und Intellektuelle beider Länder sprachen oft über Identitätskrisen und über Demütigungen durch Feinde, über die Wesensfremdheit der liberalen Demokratie für ihr Volk. Die Demokratie scheiterte und wurde hier wie dort zum Schimpfwort. Schließlich gab es in beiden Ländern die Phönix aus der Asche-Erzählung, in Russland hat sich dafür die Formel „Erhebung von den Knien“ etabliert. 

    Einige Sozialwissenschaftler sehen auch zwischen der Wilhelminischen und der Gesellschaft des Homo Sovieticus Parallelen. Diese seien von Untertanen durchsetzt gewesen, wie sie zum Beispiel Heinrich Mann beschrieb: obrigkeitshörig, kollektivistisch und konformistisch. Und diese Eigenschaften, so die Behauptung der Wissenschaftler, würden sowohl die politische Kultur der Weimarer Republik als auch die des gegenwärtigen Russland prägen. 

    Die Beweisdecke für solche Thesen ist sehr dünn, meint dagegen Grigori Judin. In einem Interview mit der Novaya Gazeta räumt der Soziologe mit gängigen Klischees auf. 

    „Atomisierung – das ist der Begriff der Stunde.“ – Soziologe Grigori Judin / Foto © Wlad Dokschin
    „Atomisierung – das ist der Begriff der Stunde.“ – Soziologe Grigori Judin / Foto © Wlad Dokschin

    Novaya Gazeta: In einem Vortrag sprachen Sie kürzlich über das Modell des Homo Sovieticus, das von vielen russischen Soziologen aufgegriffen und von prominenten Persönlichkeiten unterstützt wird: Wladimir Putin etwa spricht von einem „Element des Kollektivismus“ in den Herzen der Russen. Ist da etwas dran?

    Grigori Judin: Es gibt die Sichtweise, die UdSSR habe eine neue anthropologische Art hervorgebracht, die zudem noch schrecklich resistent ist: Nichts kann ihr etwas anhaben. Dieser Typus vernichtet sämtliche Institutionen, die auf seine Transformation abzielen. Zu seinen typischen Eigenschaften gehören Konformität, Paternalismus; er liebt jede Form von Gleichmacherei. Insgesamt also ein höchst unangenehmer Typ, der bei jedem normalen Menschen Abscheu hervorrufen muss. All dem liegen zwei Dinge zugrunde, die man mit dem sowjetischen Menschen assoziiert: der Kollektivismus und der Hass auf den Individualismus.

    Das bringt uns in eine recht merkwürdige Situation. Denn sämtliche Studien zeigen, dass es überhaupt keinen Grund gibt, weder über den sowjetischen noch den heutigen russischen Menschen so zu denken. Überhaupt ist die Gegenüberstellung von Individualismus und Kollektivismus aus Sicht der Sozialwissenschaften ein fragwürdiges Unterfangen: Ihre Gründerväter waren eher um eine Synthese bemüht. 

    Russland ist eines der individualistischsten Länder überhaupt

    Und selbst wenn wir diese Dichotomie bemühen, stellen wir fest, dass im heutigen Russland die individualistische Denkweise viel stärker ausgeprägt ist. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls die internationale Werte-Forschung, die es uns erlaubt, Russland mit anderen Ländern zu vergleichen. Wie sich herausstellt, ist Russland eines der individualistischsten Länder überhaupt.

    Womit hängt das zusammen?

    Das ist nicht weiter überraschend, denn die Institutionen des Kollektiv- oder gemeinschaftlichen Lebens, die den Individualismus ausgleichen würden, sind bei uns nicht entwickelt. Sie wurden in einem hohen Maß bereits in der späten Sowjetunion unterdrückt, und danach hat sich überhaupt niemand mehr darum gekümmert. Seit den 1990er Jahren versuchen wir, eine liberal-demokratische Gesellschaft aufzubauen, aber von den zwei Komponenten haben wir nur an eine gedacht. Wir haben eine gestutzte Version des liberal-demokratischen Systems importiert: einen Liberalismus ohne Demokratie.

    Wir haben eine gestutzte Version importiert: einen Liberalismus ohne Demokratie

    Damals bestand die Hauptaufgabe darin, eine Marktwirtschaft aufzubauen, wirtschaftliches Wachstum zu sichern, Konkurrenz zu schaffen. Unter Existenzangst verlangte man den Menschen Unternehmersinn ab und lehrte sie, dass niemand für sie sorgen wird, wenn sie es nicht selbst tun. Heute ist die Gewissheit, dass du keine Hilfe zu erwarten hast und jeder sich selbst retten muss, zum Grundprinzip des russischen Lebens geworden. 

    Das Ergebnis ist eine zunehmend radikale Entfremdung der Menschen voneinander und der fehlende Glaube an das gemeinschaftliche Handeln.
    Für den demokratischen Aspekt interessierte sich so gut wie keiner. Doch genau das, was wir also links liegen ließen, weil es uns unwichtig erschien, ist das Allerwichtigste: Institutionen der regionalen Selbstverwaltung, regionale Vereinigungen, Berufsverbände. Um den Ausbau der regionalen Selbstverwaltung hat sich in den 1990er Jahren niemand  gekümmert, und später wurde sie ganz bewusst unterdrückt. Niemand hat für Initiativen von unten und Berufsverbände gesorgt, ganz im Gegenteil, in allen Bereichen, die traditionell in den Händen von Fachleuten lagen, sehen wir heute die uneingeschränkte Macht von Managern.

    Aber dieser Individualismus ist keiner, den man als positiv bezeichnen kann. 

    Kürzlich wurde ich bei einem Vortrag gefragt: Welcher Schlüsselbegriff beschreibt die russische Gesellschaft, wenn es weder der Kollektivismus noch der Individualismus tun? Atomisierung – das ist der Begriff der Stunde.

    Aus soziologischer Sicht geht es nicht um einen Gegensatz von Individualismus und Kollektivismus. Moderne Gesellschaften können nur bestehen, wenn ein gesundes Gleichgewicht zwischen den beiden existiert. Unser Problem ist, dass in Russland ein aggressiver Individualismus vorherrscht, der von Angst genährt wird und deshalb in brutale Konkurrenz, totales gegenseitiges Misstrauen und Feindschaft umschlägt.

    Verstehe ich richtig, dass ein gesunder Kollektivismus nicht das Primat der Gruppe über das Individuum meint, sondern die Idee eines Gemeinwohls? In Russland steht man dieser Sicht ja eher zynisch gegenüber.

    Genau das ist das Schlüsselwort, das die Alltagsmoral in Russland beschreibt: Zynismus. Wenn du dich lächerlich machen willst, musst du nur das Wort „Gemeinwohl“ in den Mund nehmen: Wo hast du denn so was je gesehen? Weißt du denn nicht, wie es auf der Welt zugeht? Genau diese ethische Grundeinstellung resultiert aus einem mangelnden Gleichgewicht, einem unterentwickelten Gemeinschaftsleben.

    Das Interessanteste ist, dass wir die Propaganda der Sowjetzeit gemeinhin belächeln, aber sobald es um den sowjetischen Kollektivismus geht, schenken wir ihr aus irgendeinem Grund weiterhin Glauben. Die UdSSR existiert seit 30 Jahren nicht mehr, aber wir glauben immer noch, dass die Sowjetmenschen echte Kollektivisten waren. Was an der spätsowjetischen Zeit so kollektiv gewesen sein soll, ist dabei völlig unklar. Es ist jedoch bequem, an die Mär vom schrecklichen sowjetischen Kollektivisten zu glauben – so können wir skeptisch herabschauen, anstatt zu handeln, und dabei auch noch das eigene Ego streicheln (ich bin ja ganz anders, weil ich Wert auf Persönlichkeit und Individualität lege).

    Richtet sich die heutige TV-Propaganda nicht in genau diesen Begriffen an das kollektive Unterbewusstsein der Russen? „Wir sitzen alle in einem Boot“, „wir müssen uns verbünden“ und so weiter.

    Natürlich, diejenigen, die diese Botschaften aussenden, wollen, dass wir uns mit ihnen verbünden. Gleichzeitig sagt man uns: Verbündet euch ja nicht untereinander. Das ist furchtbar gefährlich und kann nur in einer Revolution enden, diese Botschaft „Verlasst euch auf die Führung, unterstützt sie, und sie wird euch voreinander und vor heimtückischen Feinden beschützen“.

    Die Propaganda verbreitet also eine verzerrte Botschaft über die Notwendigkeit des Zusammenhalts, der Geschlossenheit. Aber funktioniert sie auch, oder macht das alles keinen Sinn?

    Sie funktioniert, man muss nur richtig verstehen, worauf sie abzielt. Das Ziel ist, die Atomisierung als eine unvermeidbare Tatsache hinzustellen. Die Botschaft der offiziellen Propaganda ist nicht, dass wir in einem perfekten Land mit tadelloser Regierung leben. Ganz und gar nicht – vielmehr sagt uns die Obrigkeit: „Ja, ich bin schlecht, aber wenn ich nicht da bin, wird es euch noch schlechter gehen, so ist das Leben. Jeder Mensch und jeder Politiker kümmert sich nur um sich selbst, das ist die menschliche Natur. Kollektives Handeln ist unmöglich. Und ganz egal, wer nach mir kommt, er wird kein bisschen besser sein, aber er wird euch nicht vor der Außenwelt beschützen können oder wollen. Es wird Chaos und Anarchie geben.“
    Die Hauptemotion, mit der die Propaganda arbeitet, ist die Angst, und das Hauptmotiv, dessen sie sich bedient, ist die Suche nach Schutz.

    Ein Thema, das aus den Nachrichten nicht mehr wegzudenken ist, sind die Beziehungen zur Ukraine. Das ist eine ziemlich schmerzhafte Geschichte: Ganze Familien sind wegen der Krim, dem Maidan und so weiter zerbrochen. Wie passt das zusammen mit dem ungesunden Individualismus der russischen Gesellschaft? Hat dieser Konflikt Konsequenzen, die nicht einkalkuliert waren?

    Wenn man sagt, dass es in Russland an kollektivem Leben mangelt, heißt das auch, dass das Bedürfnis danach immer da ist. Es gibt eine ganze Reihe von Anzeichen, dass die Menschen insgesamt nur schwer mit diesem Mangel umgehen können. Dieses Problem haben nicht nur wir: Immer häufiger hört man von der Rückkehr der Identität als einer der Haupttendenzen der liberalen und postliberalen Welt.

    Eine ganze Weile schien es, als würde unsere Welt flexibler werden, zu einem Ort, an dem sich jeder nach Belieben seine eigene Identität wählen und gestalten kann. Jetzt aber sehen wir, dass die Menschen überall auf der Welt versuchen, zu ihren Wurzeln zurückzukehren. Daher auch der Rechtsruck und das Erstarken der konservativen Kräfte, die keine klaren Programme anbieten, sondern an die erwachenden Emotionen appellieren.

    Überall auf der Welt versuchen die Menschen, zu ihren Wurzeln zurückzukehren. Daher auch das Erstarken der konservativen Kräfte

    Die Menschen streben stets nach einem kollektiven Leben, und in Russland sehen wir dafür viele Beweise. Die Geschichte mit der Krim kam 2014 – ein oder zwei Jahre, nachdem unterschiedliche  Teile der russischen Gesellschaft begonnen hatten, ihr Bedürfnis nach kollektivem Handeln zum Ausdruck zu bringen und sich Bewegungen und Demonstrationen anzuschließen.

    Sie meinen die Bolotnaja?

    Nicht nur, das ist ein Beispiel von vielen. Parallel dazu konnte man einen Boom beim ehrenamtlichen Engagement beobachten, der sich nur teilweise mit den Protestbewegungen überschnitt. Es gab ein allgemeines Bedürfnis, das auch heute noch spürbar ist. Der Mensch ist so geschaffen, dass er kollektive Ziele braucht, eine Identität.

    Die Mobilisierung von 2014 war ein Mittel der Machthaber, auf dieses Bedürfnis zu reagieren – teils unbewusst, teils aber auch mit Kalkül.

    Wir haben gesehen, wie dieselben Leute, die zwei Jahre zuvor bei diversen Bewegungen mitgelaufen waren, nun zum Gewehr griffen und in den Donbass fuhren. Und alles nur, weil sie, grob gesprochen, einen Sinn im Leben brauchten. Das ist das Problem im heutigen Russland: Die Menschen sehen keinen Sinn, sie sehen keine Ziele, die gesellschaftlich akzeptiert wären. Initiativen von unten werden im Keim erstickt; das einzige Lebensmodell, das angeboten wird, ist die Erhöhung des Konsumstandards. Aber Konsum kann keinen Sinn liefern, für den man lebt. 

    Das ist das Problem im heutigen Russland: Die Menschen sehen keinen Sinn

    Die Mobilisierung von 2014 hat gezeigt, dass die „konservativen Werte“, die dieses Vakuum vielleicht hätten ausfüllen können, gar nicht existieren. Viele Familien wurden entlang der Linie Russland/Ukraine gespalten. Jetzt beobachten wir die Spaltung der orthodoxen Kirche. Genau das meine ich mit Atomisierung – wenn die Institutionen des kollektiven Lebens schwach sind, ist es sehr einfach, die Menschen gegeneinander aufzuhetzen.

    Bis vor Kurzem schien es, als würde die Ukraine in den Hintergrund rücken. Jetzt ist sie wieder in den Nachrichten. Werden die Aufrufe der Propaganda wieder Gehör finden?

    Diesen Bonbon kann man nicht ewig lutschen. Ein paar Mobilisierungs-Reserven stecken vielleicht noch in diesem Thema, vor allem, wenn etwas Unerwartetes geschieht: Eine Verschärfung der Situation mit der Ukraine oder einem beliebigen anderen angrenzenden Gebiet – das könnte noch einmal denselben Effekt haben. Aber es ist klar – dies ist eine hohle Identität: Ja, es gibt Menschen, die zum Kämpfen in den Donbass gegangen sind, aber alle anderen sitzen weiterhin vor dem Fernseher. TV-Solidarität ist ein Surrogat, und Mal um Mal schwindet dessen Wirkung dahin.

    Die Fake-Mobilisierung übers Fernsehen findet ihr Ende. Auch wenn man die Dosis der Verstrahlung durch Propaganda noch erhöhen kann – eine solche Geschlossenheit wie früher wird es nicht mehr geben, denn die Propaganda ist zur Gewohnheit geworden. Die Nachfrage nach einer kollektiven Identität ist jetzt außer Kontrolle des Präsidenten und seiner Administration geraten. Deren Repertoire ist ausgeschöpft. Deswegen fangen die Menschen an, selbst etwas zu suchen, von unten.

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  • Stalins Henker

    Stalins Henker

    Vor 101 Jahren, am 20. Dezember 1917, wurde die Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage (kurz: Tscheka) unter Felix Dsershinski gegründet – die Vorläuferorganisation des KGB. Der Kampf gegen vermeintliche innere Feinde führte knapp zwei Jahrzehnte später unter Stalin zu einer Maschinerie von Repression, Willkür und massenhaften Erschießungen, der hunderttausende Bürger der Sowjetuntion zum Opfer gefallen sind und die als Großer Terror zu einem der dunkelsten Kapitel der sowjetischen Geschichte wurde.

    Wie konnte sich dieses riesige Gewaltsystem etablieren, woher rekrutierte es seine Täter? Welche regionalen Besonderheiten gab es im Verbannungsort Sibirien? Welchen Einfluss hat die Öffnung von Archiven in der Ukraine auf den Diskurs um die Vergangenheit in Russland? Wie sollte die Gesellschaft umgehen mit denen, die zunächst Täter waren und später selber zu Opfern wurden? 

    Über diese Fragen spricht die Novaya Gazeta mit dem Nowosibirsker Historiker Alexej Tepljakow – ein hintergründiges Interview über die Aufarbeitung eines Themas, bei dem noch vieles im Verborgenen liegt.

    Novaya Gazeta: Alexej Tepljakow, in Ihren Büchern entfaltet sich eine nicht abreißende Kette von fürchterlichen Verbrechen, die Angehörige der Strafbehörden begangen haben, und zwar seit Beginn ihres Bestehens. Die Gräueltaten der Bürgerkriegszeit lassen sich noch teilweise durch die exorbitante Brutalität der verfeindeten Seiten erklären. Allerdings brach der Große Terror erst anderthalb Jahrzehnte später aus …

    Alexej Tepljakow: Aus den Unterlagen der Gerichtsverfahren, die ich einsehen konnte – aus der Zeit, in der Tschekisten zur Verantwortung gezogen wurden, die sich in den Jahren des Großen Terrors besonders „hervorgetan“ hatten – erfährt man monströse Dinge. 

    Die Handlungsanweisungen, nach denen die Hinrichtungen durchgeführt wurden, sind bis heute nicht veröffentlicht. Erst kürzlich wurden allerdings Dokumente aus dem Archiv des georgischen Innenministeriums publiziert, in denen als offizielle Methode die Hinrichtung mittels eines Schusses „in die rechte Schläfe“ angegeben wird. Andererseits wurden beispielsweise in Minussinsk Menschen mit dem Brecheisen erledigt … Einen gab es, den versuchten betrunkene Henker mit einem elektrischen Sprengzünder in die Luft zu jagen …

    Wobei der 1939 verurteilte Leiter des Operativen Bereichs [des NKWDdek] in Minussinsk namens Alexejew in seinen Beschwerden über die „Unbegründetheit des Urteils“ angegeben hat, dass er persönlich 2300 „Trotzkisten“ verhaftet habe, von denen 1500 erschossen worden seien. Die Behörden berücksichtigten diese gewichtigen Argumente: Im Januar 1941 wurde Alexejew freigelassen und arbeitete dann im System des Gulag …

    Der ehemalige Leiter des Operativen Bereichs Kuibyschew (bis 1935: Kainsk) der NKWD-Verwaltung für das Gebiet Nowosibirsk, Lichatschewski, gab im August 1940 an: „Bei uns wurden die Urteile auf zwei Arten vollstreckt: Tod durch Erschießung und durch Erdrosseln […] Die Einsätze wurden folgendermaßen durchgeführt: In einem Raum fesselte eine Gruppe von fünf Personen den Verurteilten, dann wurde dieser in einen anderen Raum geführt, wo er mit einem Strick erdrosselt wurde. Insgesamt dauerte es bei jedem eine Minute, nicht mehr […]. Insgesamt wurden rund 500 bis 600 Menschen erdrosselt […]“

    Insgesamt dauerte es eine Minute, bis jemand erdrosselt war

    Einige der Henker hielten einen Wettbewerb ab, wer es schafft, den Verurteilten mit einem einzigen Tritt in die Leiste zu töten. Den Hinzurichtenden wurde der Mund mit einem Knebel verschlossen, wobei der Sekretär der Kreisverwaltung Iwanow ein Werkzeug hatte, mit dem er die Münder solcher, die sich wehrten, zwangsweise öffnete …

    Die gleichen Mitarbeiter des Operativen Bereichs Kuibyschew zwangen 1938 eine verurteilte Lehrerin und einen verurteilten Mann dazu, in ihrer Gegenwart den Geschlechtsakt zu vollziehen, unter dem Versprechen, sie dann zu begnadigen. Nach dem Ende der „Vorstellung“ wurden die Unglücklichen erdrosselt.

    In der NKWD-Verwaltung Shitomir zwangen die Tschekisten einen alten Mann zum Sex mit der Leiche einer gerade erst Erschossenen. Und das ist nur ein Teil des Horrors, den man den Archiven entnehmen kann.

    Und wer waren diese Leute, die das alles angerichtet haben? Können Sie ein allgemeines Portrait eines sibirischen Tschekisten Ende der 1930er Jahre zeichnen?

    Die Anzahl der operativen Mitarbeiter der NKWD-Verwaltung für die Region Westsibirien lässt sich für das Jahr 1937 mit etwas über 1000 beziffern. Das waren vorwiegend junge Männer aus bäuerlichen Familien, die in der Armee gedient hatten, oft beim Grenzschutz oder bei den Truppen des Innenministeriums, aus denen man sie vorzugsweise zu rekrutieren versuchte … Oft waren das ehemalige geheime Informanten, die dann offizielle Mitarbeiter wurden. 

    Auf diese Leute ist dann auch die bis Anfang der 1930er Jahre explosionsartig gestiegene Mitarbeiterstärke der entsprechenden Behörden zurückzuführen. Während der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) hatte diese noch bei rund 18.000 gelegen – in ganz Russland. Ich rede von jenen Mitarbeitern, die wir heute als Offiziere bezeichnen würden: Ermittler, Führungsoffiziere … Anfang 1937 gab es 25.000 von ihnen, zu Kriegsbeginn waren es 50.000.

    Wie konnte der Terror in dieser Massivität bewerkstelligt werden? Schließlich war das System im Grunde nicht darauf vorbereitet, Hunderttausende zu erschießen. In den 1920er Jahren wurden jährlich 2000 bis 3000 Menschen hingerichtet. Anfang der 1930er Jahre waren es dann bis zu 20.000, danach folgte wieder ein starker Rückgang. 1936 etwa wurden 1118 Personen hingerichtet. Da es keine außergerichtlichen Stellen gab, die berechtigt waren, Erschießungen anzuordnen, verhängten nur Gerichte Todesurteile. 1937 wurden dann 353.000 Menschen hingerichtet und 1938 ungefähr genauso viele.

    In den Jahren des Großen Terrors wurde nahezu die Hälfte der Verurteilten erschossen. Innerhalb von anderthalb Jahren (so besagen es sogar die offiziellen, um einige Zehntausend nach unten korrigierten Daten) waren das 681.692 Menschen.

    Innerhalb von anderthalb Jahren wurden 681.692 Menschen hingerichtet

    Damit die Behörden in diesen Extremsituationen nicht kollabierten, wurden die sogenannten Operativen Bereiche geschaffen: In Städten, in denen es ein Gefängnis gab, entstanden diese Operativen Bereiche, die auch für 10 bis 15 angrenzende Kreise zuständig waren. Dort gab es natürlich die städtische Dienststelle mit 10 bis 15 Mitarbeitern. Und es wurden jeweils sechs erfahrene Ermittler aus der Gebietsverwaltung und ein weiteres Dutzend oder zwei aus den Bezirksstellen des NKWD dorthin abgestellt. Komplettiert wurden sie durch Offiziersschüler, beispielsweise aus Lehranstalten der Grenztruppen. So trafen zum Beispiel in Nowosibirsk 50 Schüler der Moskauer Lehranstalt für Grenztruppen ein. Das waren die „Hauer“, die „Sitzhelfer“ (die den Verhafteten das Schlafen unmöglich machten), die dann zu Ermittlern heranwuchsen.

    Die eigentlichen Tschekisten waren entweder auf Dienstreise oder besoffen sich

    Somit arbeiteten in den Operativen Bereichen um die zwanzig, dreißig Tschekisten. Denen wurden ebenso viele (oder mehr) Polizisten der fortgeschrittenen Sorte sowie Feldkuriere beigeordnet. Schließlich gab es in jedem Abschnitt mehr Feldkuriere als Ermittler – der gesamte Postverkehr war ja geheim. Sollte jemand verhaftet werden, wurde dann nicht selten ein Feldkurier losgeschickt, der das übernehmen sollte; sollte jemand erschossen werden, passierte das Gleiche. Die eigentlichen Tschekisten waren entweder auf Dienstreise, besoffen sich oder drückten sich vor dieser Arbeit; die Kuriere jedoch waren verfügbar, die konnte man auch ins Erschießungskommando stecken, nach dem Motto: Sollen sie doch ruhig Erfahrung sammeln! Und so konnte ein energischer Kurier aus einem anscheinend harmlosen System zur Miliz abgestellt werden, oder zum Wachdienst eines Gefängnisses. Dann wurde genauer hingeschaut: Da trinkt jemand nicht besonders viel, ist fähig und gebildet, ist diszipliniert und wird als operativer Mitarbeiter angefordert. Das war der Weg, wie jemand aus einer normalen Bauernfamilie bis zu dieser Ebene aufstieg.

    Das waren die einfachen Tschekisten. Und wer hatte die Leitung?

    In den zwanzig Vorkriegsjahren sind die Organe in Sibirien nacheinander von neun Personen geleitet worden, alles große Figuren, Leute von „Moskauer Rang“. Sechs von ihnen sind Ende der 1930er Jahre erschossen worden, einer wurde zu Lagerhaft verurteilt und ist dort gestorben, einer wurde rehabilitiert; zwei weitere haben sich erschossen.

    Habe ich Sie richtig verstanden, dass sich nach 1938, nach dem Ende des Großen Terrors die Zahl der Tschekisten erhöht hat?

    Und zwar drastisch! Wobei es eine massive Säuberung gegeben hatte – allein 1939 war ein Viertel der Tschekisten entlassen worden. Allerdings war das eine Säuberung der milden Art, von den 20.000 „Gesäuberten“ wurden keine fünf Prozent erschossen.

    Viele hatten fürchterliche Dinge angestellt. Und nicht nur als Gesetzesbrecher, sondern auch als korrupte Figuren, als Räuber und Marodeure. Die große Masse wurde einfach so entlassen, „aufgrund kompromittierender Umstände“.

    Unmittelbar vor Kriegsbeginn gab es plötzlich erheblich mehr Tschekisten als noch 1937

    Es gab allerdings auch viele, die aufstiegen, die weit aufstiegen. Besonders Leute der unteren und mittleren Ebene. Die auf der oberen Ebene galten (zunächst) als Anhänger Jagodas, und später als Jeschows Leute. Von denen wurden am meisten erschossen. Und von den Dienststellenleitern, die besonders exzessiv gewütet und tausende Tote auf dem Gewissen hatten. Die Leutnants oder Oberleutnants aber, die machten eine steile Karriere. Den Gesäuberten folgten massenhaft Nachrücker, und so gab es plötzlich unmittelbar vor Kriegsbeginn erheblich mehr Tschekisten als noch 1937.

    Und das mit all der Erfahrung des Großen Terrors.

    Es gibt eine Version, nach der „all das“ von Letten begangen wurde, von Ungarn … und vor allem von Juden. Wenn man Bücher über den Großen Terror in der Ukraine liest, da schüttelt es einen: durchweg jüdische Namen.

    Das ist eine Besonderheit der Ukraine, wo es einen besonders großen jüdischen Bevölkerungsanteil gab, speziell in den Städten. Die Ukrainer selbst waren Bauern und kaum gebildet. Gebildet waren die Nationalisten, die Petljura-Anhänger … Die Juden nahmen das Regime, nachdem sie die Gleichberechtigung erhalten hatten, als das ihre wahr und machten sich dementsprechend daran, es zu verteidigen; in der Ukraine bestand Mitte der 1930er Jahre der Operative Bereich zu rund vierzig Prozent aus Juden, bei den Leitungskräften waren es zwei Drittel. In Belarus gab es unter den Tschekisten ebenfalls viele Juden. In den anderen Regionen waren erheblich weniger Juden vertreten.

    Es waren einfach aktive Leute, die aufgrund einer Maxime, die ihnen von Kindheit an eingeimpft worden war, Karriere machten: Wenn du ein Jude bist, dann musst du dich doppelt und dreifach ins Zeug legen, sonst ist dir schnell der Weg versperrt. Und das ist kein Phänomen, das es nur in Russland gibt.

    Natürlich würde ich den „jüdischen Faktor“ nicht überbewerten, da die russischen, kaukasischen und ukrainischen Tschekisten keinen Deut milder waren.

    Kann man denn auch von „sibirischen Besonderheiten“ des Großen Terrors sprechen?

    Zweifellos. Obwohl das Regime den Terror ansatzweise rational anging, mit einer für alle Regionen gültigen Logik. Und natürlich gab es auch einen subjektiven Faktor: Sehr viel hing vom Verwaltungsleiter ab, ob dieser mehr oder weniger blutrünstig war.

    Es gab Tschekisten, die waren fürchterliche Karrieristen, oder einfach nur Karrieristen

    Es gab Tschekisten, die waren fürchterliche Karrieristen, oder einfach nur Karrieristen. Und es gab extreme Karrieristen.

    So wurden von den verurteilten Deutschen im Gebiet Nowosibirsk 96 Prozent erschossen. Bei jungen Frauen und bei jungen Männern unter zwanzig ließ man Gnade walten, wenn auch nicht bei allen. Und wer als Spitzel angeworben wurde, wer im Lager „berichten“ sollte, der konnte davonkommen. Von den Polen wurden 94 Prozent [der Verurteilten – dek] erschossen. Im benachbarten Gebiet Omsk und in der Region Krasnojarsk war der Anteil der Erschossenen nichtrussischer Nationalitäten nur halb so groß.

    Was nun das wirklich Besondere der Lage in Sibirien betrifft … Das bestand in den riesigen Dimensionen der Verbannung, der politischen und der von Bauern. Die „Entkulakisierten“ wurden aus den südlichen, fruchtbaren Gegenden der Region Altai und den Gebieten Nowosibirsk, Omsk und Kemerowo nach Norden verfrachtet, etwa nach Narym, weit abseits der Eisenbahn. Es gab also hier die Verbannung, bei der Bauern [aus anderen Landesteilen – dek] „importiert“ wurden, und dann noch eine innersibirische.

    Auch die jüngere Vergangenheit einer Region spielte eine Rolle, nämlich, wie aktiv die antisowjetischen Aufständischen dort während des Bürgerkrieges waren. Immerhin war Sibirien ein Ort riesiger antibolschewistischer Aufstände gewesen, deren Teilnehmer seinerzeit mehrheitlich amnestiert worden waren, die man dann aber aufzuspüren und zu erledigen versuchte – 15 Jahre später.

    Es hatte eine zahlenmäßig starke, wohlhabende Bevölkerung gegeben und schon seit den 1920er Jahren ein riesiges Protestpotential, unter anderem eine ganz beträchtliche Erfahrung mit bewaffnetem Widerstand gegen die Kollektivierung … Für das alles folgte 1937 die Abrechnung.

    In Belarus waren die Repressionen sehr brutal, in der Ukraine waren sie äußerst brutal, [die Zahlen – dek] doppelt so hoch wie sonst im Land. In Sibirien waren sie viermal so hoch.

    Wie markant waren die Veränderungen, die der Antritt Berijas mit sich brachte? Er hat ja unter anderem angeordnet, dass die Todesurteile, die von den Troikas verhängt, aber noch nicht vollstreckt worden waren, nicht mehr vollstreckt werden sollten.

    Ja. Allerdings wurde dieser Befehl in vielen Regionen ignoriert, die Hinrichtungen gingen weiter; dabei wurden sie formal zurückdatiert. Mal waren es 300, mal 200, und auf der Krim sogar 800 … Doch wurden die Tschekisten, die ertappt wurden, verhaftet – und mitunter erschossen.

    Daher verwende ich mit meinem Kollegen Andrej Sawin und dem deutschen Historiker Mark Junge den Begriff „Disziplinierung der Tschekisten“, wenn wir die Ziele von Berijas Politik beschreiben. Den Tschekisten sollte klargemacht werden, dass sie zwar die bewaffnete Avantgarde der Partei sind, aber nicht über der Partei stehen, sondern lediglich deren Anweisungen auszuführen haben; und das wurde eben auch mit Hilfe von Säuberungen bewerkstelligt.

    Die Verhaftungen gingen unter Berija zwar stark zurück, doch wer verhaftet wurde, wurde weiterhin geschlagen; es wurde weiterhin gefoltert. 

    Also sollte man aus Lawrenti Pawlowitsch Berija keinen großen Demokraten und Bürgerrechtler machen?

    Natürlich nicht! Er war ein Pragmatiker und hat die Aufgabe, die er erhielt, präzise umgesetzt, nämlich die Tschekisten zur Räson zu bringen. Schließlich – und das ist wichtig – war das nicht der erste Versuch dieser Art: 1921 hatte eine große Säuberung in der Partei begonnen, von der innerhalb weniger Monate ein Drittel der KP-Mitglieder betroffen war, und am schärfsten traf es wiederum die Silowiki, insbesondere die Tschekisten.

    Bis 1924 waren die Tschekisten heftig zusammengestrichen worden; etliche wurden aus der Partei ausgeschlossen, viele wurden verhaftet, den übrigen wurden die Vollmachten drastisch beschnitten.

    1939/40 wurden dann erneut massenweise Tschekisten entlassen, aus der Partei ausgeschlossen, wurden ins zweite Glied versetzt, zu den Lagerwachen, auf Streife oder in Personalabteilungen großer Unternehmen geschickt.

    Und wie ernsthaft geriet diese Erneuerung der Organe? Uns wird ständig eine Zahl genannt: 20.000 Tschekisten seien während des Großen Terrors repressiert worden. Es wird sogar versucht, diese Opfer der Repressionen zu heroisieren.

    Nun, zunächst mal ist die Zahl von 20.000 „betroffenen“ Tschekisten eine Desinformation der einstigen KGB-Führer Viktor Tschebrikow und Filipp Bobkow, die diese Zahl als erste in den öffentlichen Raum gestellt haben. In Wirklichkeit ist sie um Etliches übertrieben. Wie auch viele andere Fakten, die das Bild der Tschekisten der Stalinzeit veredeln sollen …

    Vieles wird übertrieben, um das Bild der Tschekisten in der Stalinzeit zu veredeln

    Insgesamt waren die Säuberungen des NKWD unter Berija nicht genereller, sondern selektiver Natur. In Omsk gingen 1939 gegen 102 Tschekisten Beschwerden wegen Misshandlung ein, eingereicht von freigelassenen Parteimitgliedern. Von diesen Tschekisten wurden bis zum Januar 1940 relativ wenige bestraft: 12 wurden verhaftet und 16 aus dem NKWD entlassen. Die Übrigen erhielten entweder einen Verweis für eine Ordnungswidrigkeit oder blieben unbehelligt, wegen „Geringfügigkeit des Vergehens“.

    Nachdem ich Ihre Bücher gelesen habe, hat mich die Frage umgetrieben, wie es Ihnen wohl gelungen sein mag, Einsicht in all diese Unterlagen zu erhalten?

    Ich habe mit vielen Ermittlungsunterlagen der Tschekisten gearbeitet, die unter Verschluss waren, dann freigegeben wurden und Personen aus Nowosibirsk und Barnaul betrafen, die heute rehabilitiert sind. Alles andere waren Parteiunterlagen und Dokumente aus Archiven der Sowjetzeit, in denen Berichte der Tschekisten ja unweigerlich ihre Spuren hinterlassen haben. Die Personalakten der Tschekisten liegen seelenruhig in den Parteiarchiven. Mitunter kann man ihnen fast so viel Informationen entnehmen wie den Geheimdienstakten … Damit habe ich Mitte der 1990er Jahre begonnen, als sie geöffnet wurden.

    Die Personalakten der Tschekisten liegen seelenruhig in den Parteiarchiven

    In Sibirien habe ich lange auf eine Gelegenheit gewartet, mit den Beständen der Staatssicherheit arbeiten zu können. Und die ergab sich dann per Zufall: 2002 begann die Arbeit an einem Gedenkbuch, und ich wurde Mitglied der Arbeitsgruppe. Aus der wurde ich erst nach anderthalb Jahren rausgeworfen. Weil die Direktorin des Gebietsarchivs, eine durchaus reaktionäre Dame, dem FSB gesteckt hatte: „Der da“ sammele wohl eine Kartei über „eure Mitarbeiter“! Und ich wurde ohne jede Erklärung … Aber einiges hatte ich bereits geschafft. Üblicherweise sind Fotokopien nicht gestattet, ich hatte mir aber ‘nen Stift mitgenommen …

    Und dann ist da natürlich noch die Ukraine, wo ich 2013 und 2015 jeweils zwei Wochen lang arbeiten konnte, und zwar mit Fotoapparat und in einer Gruppe, so dass wir uns über die Funde austauschen konnten. Das ist etwas ganz anderes. Die Staatssicherheit, das ist eine vertikal organisierte Behörde, da waren alle Vorschriften zu finden, alle Befehle, alle Rundschreiben; ob nun in Nowosibirsk oder in Kiew – überall das Gleiche.

    Außerdem wurden mir in Kiew Unterlagen von Ermittlungsverfahren gezeigt, die nicht gegen einfache Handlanger liefen, sondern gegen die an der Spitze. So veröffentlichen wir einige Dutzend Befehle von Berija an den NKWD zur Bestrafung von Tschekisten. Bei uns sind die Befehle noch immer geheim, die Ukrainer haben sie aber freigegeben, und wir legen sie vor. Übrigens sind dort etliche Dokumente nicht nur aus Moskau enthalten, sondern sogar welche aus Sibirien, die seinerzeit im ganzen Land verschickt wurden. Somit ist also gewissermaßen auch aus den Moskauer Archiven etwas herausgesickert.

    Mein Lieblingsbild hierzu ist ein Wasserhahn: So gut er auch sein mag, er wird trotzdem zu tropfen beginnen, wenn die Dichtung hinüber ist.

    Gerade erst ist in Moskau die Mauer des Gedenkens in Kommunarka mit den Namen der über 6000 Opfer des Terrors eingeweiht worden, die dort begraben liegen. Es sind unter diesen Namen auch die von repressierten Tschekisten zu finden, auch von solchen, die eindeutig Henker waren und die nicht rehabilitiert wurden. Es entstand eine leise, aber erbitterte Diskussion: Wie lassen sich die unschuldigen Opfer von jenen unterscheiden, die unmöglich als unschuldig zu bezeichnen sind? Macht der Tod sie alle gleich? Jeschow und Eiche, Jakir und Wawilow, Bucharin und Jagoda? Was soll man mit denen allen machen?

    Der Tod ist ein großer Gleichmacher. Und da sie nun alle dort liegen … Es muss da ein rein rechtlicher Ansatz verfolgt werden, der erklärbar, klar verständlich und allgemeingültig ist. Zu allem Übrigen müssen sich dann die Historiker und die Öffentlichkeit äußern.

    Ob uns das gefällt oder nicht – ohne sie alle wäre unser Volk unvollständig. Soll man sie posthum mit Vergessen bestrafen? Ich weiß nicht … Die Gesellschaft muss entscheiden, vor allem jedoch muss sie möglichst vollständige Informationen erhalten.

    Und dafür müssen vor allem die Archive tatsächlich geöffnet werden.

    Bei uns ist man zu sehr mit dem Problem beschäftigt, wie man es schafft, die Enkel und Urenkel der Henker und Spitzel nicht zu sehr zu beschämen. Jene, die angeblich leiden würden, wenn über ihre Verwandten die Wahrheit gesagt wird. Mit Recht und gesundem Menschenverstand hat diese Haltung nichts zu tun. Als Memorial Ende 2016 seine Datenbank mit über 40.000 Offizieren des NKWD vorlegte, blieb der Versuch der Angehörigen, sie zu blockieren, gleichwohl erfolglos. Dabei ist diese Datenbank ja von ungeheurer Bedeutung, was ich unbedingt betonen möchte. Selbst wenn dort nur Vorname, Vatersname, Nachname, Geburtsdatum, Jahr der Beförderung und der Entlassung aus dem Dienst aufgeführt werden. Allein das ist schon ein riesiger Durchbruch.

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • „Das mit den Trollen war Prigoshins Idee“

    „Das mit den Trollen war Prigoshins Idee“

    Jewgeni Prigoshin ist Unternehmer. Weil ihm das einzige private Restaurant im Weißen Haus gehört, wird er auch „Putins Koch” genannt. Prigoshin soll außerdem Besitzer der Medienholding Föderale Nachrichtenagentur (FAN) sein und hinter der berühmt-berüchtigten Trollfabrik in Sankt Petersburg stecken. 2013 hatte es einige DDoS-Attacken auf unabhängige russische Medien gegeben. Auch die Novaya Gazeta war betroffen. 

    Nun hat sie einen ehemaligen „Mitarbeiter“ Prigoshins getroffen: Andrej Michailow hatte bis 2013, als er und andere wegen Geldstreitigkeiten keine Aufträge mehr bekamen, tatkräftigen Einblick in Prigoshins Medienimperium bekommen.

    Der Novaya Gazeta erzählt er ausführlich über von ihm inszenierte Fake-News (um Konkurrenten stolpern zu lassen), über eine Trollfabrik – und über Prigoshins „Bewilligt“-Stempel. 

    Denis Korotkow: Wie haben Sie Jewgeni Viktorowitsch Prigoshin persönlich kennengelernt?

    Andrej Michailow: Ich wurde in eins der Büros auf der Wassiljewski-Insel eingeladen. Guljajew und ein paar seiner Leute waren da. Sie meinten, es gäbe da ein Projekt: Für ehrliche Medien oder so ähnlich. Damals hatten sie auch schon ihr eigenes Medienunternehmen angemeldet: Die Zeitung über Zeitungen. Es musste eine Website der Zeitung und andere Seiten erstellt und gleich mit Informationen gefüllt werden. Man bot mir an, mich um die organisatorischen Fragen zu kümmern. Als ich ein Angebot für das Projekt geschrieben hatte, brachte man mich zum Chef. Wir trafen uns in seinem Büro. Ein solides Büro mit Eichenmöbeln, geschmackvoll und pragmatisch eingerichtet, mit einem großen Bildschirm für Videokonferenzen. Ein Massagezimmer nebenan. 

    Prigoshin war begeistert, holte gleich anderthalb Millionen aus dem Safe 

    Ich wurde Prigoshin als jemand vorgestellt, der sich direkt um das Projekt Zeitung über Zeitungen kümmern würde. Ich habe ihm mein Konzept vorgestellt. 

    Prigoshin war begeistert, holte gleich Geld aus dem Safe und gab mir anderthalb Millionen in bar für die ersten vier Ausgaben. Nach den ersten drei brüllte er aber rum, wir hätten alles verschissen, das Projekt müsste eingestampft und ich müsste … nun, sagen wir, ordentlich bestraft werden. Ich muss dazu sagen, dass er nie handgreiflich gegen mich geworden ist, gegen andere auch nicht, zumindest nicht in meiner Anwesenheit. Obwohl es derartige Gerüchte gab.

    Was war das Konzept der Zeitung über Zeitungen

    Was der Zweck davon war? Medien sollten gegen Bargeld fiktive Informationen veröffentlichen. Das haben sie auch getan.
    Geplant wurde die Sache Ende Dezember 2012, eingetragen wurde die Firma Anfang 2013, glaube ich. 

    Anfang 2013, da war doch die Geschichte mit Dimitri Bykow? Warum ausgerechnet Bykow?

    Wir brauchten einen käuflichen Journalisten. Da kam uns die Idee mit Bykow, der kam bei uns von seiner Bedeutung her an zweiter Stelle, gleich nach Nawalny. 

    Wir brauchten einen käuflichen Journalisten

    Wir haben ihn vorgeschlagen und es hieß: Den nehmen wir! Bei Jewgeni Viktorowitsch [Prigoshin] musste es immer schnell gehen, für große Vorbereitungen war keine Zeit, alles musste rausgehauen werden. 

    Bykow sollte etwas zur Unterstützung eines Lokalpolitikers sagen, der von unserem Mann, Sergej Solowjow, gespielt wurde. Von der Unterstützung eines Politikers wusste Bykow natürlich nichts, wir haben ihn reingelegt

    Er hat sich mit Solowjow getroffen, einem respektablen Mann. Solowjow erzählte, dass er für irgendein Amt kandidieren wolle – der ganze Auftritt Bykows wurde gefilmt, und das, was er sagen sollte, hat er gesagt. Der Plan ging auf. (Das ist Michailows Interpretation. De facto hat sich Bykow nicht für den Politiker ausgesprochen, sondern sich nur für die Einladung bedankt. – Anm. d. Novaya Gazeta)

    War das derselbe Solowjow, der den Geschäftsmann im russischen Forbes gespielt hat?

    Das war schon die nächste Stufe. Es war keine gewöhnliche, sondern die Jubiläumsausgabe des Forbes. Darin gab es einen Artikel von unserem Solowjow mit nicht verifizierter Information und ohne Kennzeichnung als Werbung. Wir hatten zeigen sollen, dass man selbst beim Forbes alles kaufen kann. 

    Wir sollten zeigen, dass man selbst beim Forbes alles kaufen kann 

    Im Frühling 2013 wurden ausgerechnet am Tag des Sieges durch DDoS-Angriffe die Webseiten von Novaya Gazeta, Echo Moskwy, Moskowski Komsomolez, Doshd und Fontanka.ru lahmgelegt. Können Sie sagen, wer hinter dieser Aktion stand?

    Wer den Angriff organisiert hat, weiß ich nicht, ich habe die Leute nie persönlich kennengelernt. Beauftragt wurden sie von einem unserer Männer, Kirill Fulde. Keine Ahnung, wo er heute ist und für wen er jetzt arbeitet. Maxim Bolonkin, der die Videobotschaft im Namen der Netzhamster aufgenommen hat – der Bewegung, die angeblich für den Angriff verantwortlich war – haben wir über mehrere Ecken gefunden und für viel Geld damit beauftragt.

    Die Videobotschaft wurde direkt im Büro der Zeitung über Zeitungen aufgenommen. Wir hatten mehrere Pläne, die Netzhamster auszubauen, aber daraus wurde nichts. Jewgeni Viktorowitsch ist ein launischer Mensch. Heute will er so ein Projekt, morgen nicht mehr.

    Wie viel hat die Aktion gekostet?

    Zwischen fünf und sieben Millionen Rubel [damals etwa 120.000 bis 170.000 Euro – dek].

    Wie werden solche Aktionen finanziert?

    Wenn eine besondere Aktion durchgeführt werden muss, schreibt man ein Skript und macht einen Kostenvoranschlag. Wenn Prigoshin einverstanden ist, gibt er einem das Geld gleich bar oder setzt seinen „Beiwilligt“-Stempel drauf, und man holt es sich von der Buchhaltung.

    Etwa zur selben Zeit sind Sie doch von punktueller zu flächendeckender Arbeit übergegangen. Es entstanden die Olgino-Trolle, die längst zum Meme avanciert sind. Wessen Idee war das?

    Das war allein Prigoshins Idee. Manche behaupten ja, es sei ein Auftrag vom Kreml, eine Hausaufgabe, die Prigoshin im Tausch für milliardenschwere Kreml-Kontakte gemacht hätte. Aber nach allem, was ich gesehen und gehört habe, bin ich mir sicher, dass er keine Anweisungen erhalten, sich mit niemandem beraten und auch niemanden um Erlaubnis gefragt hat. 

    Es gab keine Kommandotürme, alles ging direkt von Prigoshin aus. 

    Das mit den Trollen war allein Prigoshins Idee, keine Hausaufgabe vom Kreml

    Er hat sogar die Räumlichkeiten für die Trollfabrik selbst ausgesucht, das Gebäude in Lachta liegt auf dem Weg zu seiner Datscha (das Anwesen von Jewgeni Prigoshin befindet sich in der Feriensiedlung Venedig des Nordens am Lachta-See – Anm. d. Novaya Gazeta). Übrigens haben wir es nie Trollfabrik genannt, das ist ein Label, das uns die Journalisten übergestülpt haben und das sich beharrlich hält.

    Welche Aufgaben hatten Sie bei den Trollen?

    Zunächst mussten wir ein Gebäude mieten, parallel wurden schon Leute angeworben. 2013 war sehr viel los, da mussten viele Dinge gleichzeitig erledigt werden. Die Angestellten mussten nicht nur Informationen in Blogs unterbringen, sondern auch anhand von Schlüsselbegriffen Informationen der gegnerischen Position im Netz suchen.

    Wie viele Leute haben am Anfang des Projekts für Sie gearbeitet? 

    Anfangs waren es etwa 200. Es gab verschiedene Abteilungen. Die einen waren für die Ukraine, die anderen für die USA zuständig. 
    Aber in Wirklichkeit waren die Trolle nicht besonders effektiv. Ich hatte parallel noch eine Mannschaft aus Profis, etwa zehn Mann, die sie locker übertrumpft hat.

    Die Trolle waren nicht besonders effektiv

    Können wir diese zehn Profis namentlich nennen?

    Wir können diese Menschen nicht nennen, weil … Weil wir sie nicht nennen können. 

    Ihre Tätigkeit beschränkte sich nicht allein auf Netzaktivität und betraf manchmal auch die Offline-Welt? Erzählen Sie doch, wie Sie Waleri Ameltschenko kennengelernt haben, der über die dreckigen Jobs von Prigoshins Leuten erzählt hat. Welche Aufgaben hat er für Sie oder die Organisation, für die Sie gearbeitet haben, erledigt?

    Ich weiß nicht mehr genau, wahrscheinlich war es 2012 oder 2013. Ich habe ihn zufällig über Freunde von Freunden kennengelernt  …

    Welche Aufgaben hat er erledigt?

    Sie wollen sicher auf den Blogger aus Sotschi im Sommer 2013 hinaus. Da gab es so eine Sache. Dieser Blogger, [Anton] Grischtschenko, Huipster, hat falsches Zeug verbreitet, jemand musste mal ein ernstes Wort mit ihm reden. 

    Aber warum gerade er? Wie kommt man auf ihn? Dass Dimitri Bykow ein potentielles Ziel ist, leuchtet ein. Aber wozu dieser Grischtschenko, von dem nie jemand etwas gehört hat?

    Damals lief bereits eine zielgerichtete Suche nach negativen Kommentaren. Man fand bei ihm etwas sehr Beleidigendes gegen unseren Präsidenten Wladimir Wladimirowitsch Putin. Da hat Jewgeni Viktorowitsch ihn gleich als Kunden vorgeschlagen. Ich weiß nicht mehr genau, wer seine Daten besorgt hat. Jedenfalls wurden mir Videoaufnahmen von ihm gebracht, das lief über Guljajew. Es hieß, mit dem müsste man mal ein ernstes Wort sprechen, damit er sowas nie wieder macht.

    Einmal mit einem Werkzeug gegen den Arm und fertig 

    Verstehe ich Sie richtig, dass Ameltschenko für dieses „Gespräch“ mit seinem Partner Wladimir Gladijenko nach Sotschi geflogen ist?

    Gladijenko ist ein Freund von Ameltschenko. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie sie dorthin gekommen sind und was sie dort gemacht haben. 
    Huipster hat aufgehört zu bloggen und seine Accounts gelöscht, also haben sie ihre Aufgabe erledigt. Da war irgendetwas mit seinem Arm, aber das habe ich erst später von Ameltschenko erfahren, als die beiden schon zurück waren. Er meinte: einmal mit dem Werkzeug gegen den Arm und fertig. 

    Mit was für einem Werkzeug?

    Einem Eisenstab.

    Haben Sie noch andere Aktionen außerhalb des Internets organisiert?

    Ich sage doch, es lief alles parallel. 2013 war überhaupt ein verrücktes Jahr, ein Projekt nach dem anderen, im Internet und außerhalb. Im Herbst haben wir alle landesweit gegen RIA Nowosti gearbeitet.

    Was gab es gegen die Nachrichtenagentur einzuwenden?

    Ich vermute, Prigoshin wollte Mironjuk (Swetlana Mironjuk, die Chefredakteurin von RIA Nowosti – Anm. d. Novaya Gazeta) loswerden. Das lief unter dem Deckmantel: Prüft die größte Nachrichtenagentur ihre Informationen? Was die Ursache war und was als solche herhalten musste, kann ich nicht sagen.

    Ich habe von Guljajew die Aufgabe bekommen, zu überprüfen, wie sauber die Infos sind. Mir Meldungen auszudenken, sie unterzubringen und Geld reinzupumpen. Dafür hatten wir uns Wladiwostok, Nowosibirsk und Petersburg ausgesucht. 

    Es wurde ein Skript geschrieben, und es wurden Fake-Nachrichten erfunden. In Petersburg wurde eine neue Hunderasse gezüchtet. In Wladiwostok trat eine Zirkusmannschaft umsonst auf. Und anderes albernes Zeug, alles frei erfunden. Dann kam ein Mann von der Straße und brachte das bei RIA unter. 

    Wie das ging? Man musste herausfinden, wer in der Redaktion für die Platzierung der Nachrichten verantwortlich war, dann redete man mit dieser Person. 

    Diesem Nachrichten-Menschen wurde einfach Unsinn erzählt, später ließ man ihm über Dritte Geld zustellen, angeblich für die Unterbringung der Fake News. Das war dann der Beleg für seine Käuflichkeit. Selbstverständlich wurde alles gefilmt.

    Gab es auch echte Abmachungen mit Journalisten von RIA?

    Nein, die Leute, die die Nachrichten platziert haben, haben kein Geld genommen. Das war alles ein Spiel. Aber, dass sie die Nachrichten nicht verifiziert haben, stimmt. Sie haben ohne Überprüfung Fakes veröffentlicht.

    Die Leute von RIA haben ohne Überprüfung Fakes veröffentlicht

    Wenn die Arbeit erledigt war, wurde ein Bericht geschrieben, die Videos über die Käuflichkeit von RIA Nowosti geschnitten und Guljajew gegeben. Guljajew reichte das Ganze an Prigoshin weiter. Was Prigoshin damit machte, weiß ich nicht. Im Netz sind diese Videos, soweit ich weiß, nie aufgetaucht. Aber im Dezember 2013 musste Mironjuk ihre Stelle aufgeben, also war die Aufgabe erledigt. 

    Wer hat diese Leute, die die Fakes zu RIA gebracht haben, angeheuert, vorbereitet und angewiesen?

    Das war ich. In Petersburg waren es die einen, auf Reisen gingen andere. Aber allesamt Leute, die ich kannte und die auch für Prigoshin arbeiteten. Sie bekamen ein festes Gehalt für die Ausführung verschiedener Veranstaltungen, die Kosten für die gesamte RIA-Operation beliefen sich also nur auf die Flugtickets und Hotels.

    Sie haben zugestimmt, uns nicht nur davon zu erzählen, wie Prigoshins Medienimperium entstanden ist, sondern auch von der Organisation der offenkundigen Provokationen in der realen Welt. Warum tun Sie das, und wie wird Prigoshin darauf reagieren?

    Nun ja, im Wald war ich schon, ich hoffe, das machen sie nicht noch einmal. Aber ich will meinen ersten Waldtrip nicht ungestraft lassen. Eine Reaktion vorherzusagen ist schwierig, aber die Erfahrung zeigt, dass still hinter einem Baumstamm zu hocken, die schlechteste Art der Verteidigung ist.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Droht ein Winterkrieg?

    Droht ein Winterkrieg?

    Schon lange schwelt der Konflikt im Asowschen Meer, am vergangenen Sonntag ist die Lage eskaliert: Russische Grenzboote haben ukrainische Marineschiffe gerammt und beschossen. 
    Beide Seiten beschuldigen sich gegenseitig, die Ukraine wirft Russland Aggression vor, Russland beschuldigt die Ukraine der Provokation. Kiew hat unterdessen ein 30-tägiges Kriegsrecht verhängt.

    Der renommierte russische Militärexperte Pawel Felgengauer jedenfalls hält in seinem Kommentar in der Novaya Gazeta die Begründung Moskaus, die ukrainischen Schiffe hätten nicht die benötigte Genehmigung gehabt, für vorgeschoben. Denn dann hätte man sie beispielsweise einfach nach Odessa zurückschicken können. 

    Felgengauer wirft deshalb eine Reihe weiterer Fragen auf – und vermutet andere Hintergründe.

    Warum wählt die ukrainische Militärflotte solche Routen? Die Ukrainer bauen in Berdjansk einen Marinestützpunkt, zu dessen Schutz sie in Mykolajiw gebaute Schiffe überführen.
    In Moskau fürchtet man ernsthaft, dass nach Berdjansk – sollte der dortige Ausbau zu einer Militärbasis gelingen – NATO-Schiffe auf Freundschaftsbesuch kommen könnten, die in der Flachwasserzone des Asowschen Küstenbereichs einsetzbar und mit Lenkwaffen großer Reichweite ausgestattet sind, geschützt durch moderne Raketen- und Luftabwehrsysteme.



    Militärische Strukturen im Kaukasus, auf der Krim, dem Schwarzen Meer und am Bosporus sind mit Stützpunkten in Syrien und einem Marineverband im Mittelmeer derzeit in einer höchst wichtigen strategischen Süd-West-Ausrichtung konzentriert. Dies soll vor allem den verlässlichen Schutz Sotschis großräumig gewährleisten – das zweite und häufig auch das erste politische Zentrum von Land und Militär. Und ausgerechnet da ist der vermeintliche Gegner nun auf die Idee gekommen, einen Keil in die Grundfesten dieser ganzen Strategie zu treiben und einen Stützpunkt in Berdjansk zu errichten.

    Die Ukraine hat als Reaktion auf die Ereignisse in mehreren Regionen für 30 Tage das Kriegsrecht eingeführt. Präsident Petro Poroschenko bezieht sich dabei nicht nur auf den Vorfall von Kertsch, sondern vor allem auf geheimdienstliche Erkenntnisse, wonach ein Angriff der russischen (prorussischen) Kräfte an der südlichen Flanke der Donezker Front möglich ist. Dessen Ziel sei es, Mariupol und Berdjansk einzunehmen.

    Seit Sommer 2015 gab es im NATO-Hauptquartier und im Pentagon recht viele Diskussionen über einen solchen Vorstoß, um einen sogenannten „Landkorridor zur Krim“ durchzubrechen. Nach Eröffnung der Krim-Brücke schien dieser Korridor nicht mehr aktuell zu sein, aber nun ist plötzlich unklar, ob entweder der Marinestützpunkt in Berdjansk Moskau so sehr in Schrecken versetzt hat, oder ob an der Krim-Brücke ernsthafte Probleme aufgetaucht sind, die man vorerst geheim hält, oder ob vielleicht das eine wie das andere zutrifft.

    Es ist nicht auszuschließen, dass in naher Zukunft ein Winterfeldzug beginnen könnte, um die Ukraine endgültig von der Asowschen Küste zu verdrängen.

    Das Ziel einer solchen Operation könnte sich auf den Küstenabschnitt bis Berdjansk beschränken. Oder bis Melitopol, Henitschesk und Tschonhar ausdehnen, falls der „Landkorridor zur Krim“ tatsächlich benötigt wird. In jedem Fall müssten, wenn denn – Gott bewahre! – eine solche Entscheidung überhaupt getroffen würde, massenhaft reguläre russische Truppen herangezogen werden. Insbesondere, wenn man wie 2014/2015 vorgibt, dass da Donezker Aufständische selbst angreifen und es daher keine aktive Luftunterstützung gibt.

    Natürlich würde der Westen protestieren und weitere Sanktionen verhängen, aber das würde [in Russland – dek] vor allem den wirtschaftsliberalen Block des gegenwärtigen Regimes erzürnen, die sogenannte „Friedenspartei“. Ein weiterer Misserfolg für diese wäre ein zusätzlicher Bonus für ihre Gegner aus der sogenannten „Kriegspartei“. Auch würden die westlichen Staatsoberhäupter kein vernichtendes Totalembargo auf russisches Gas und Öl verhängen. Erst recht nicht im Winter, wo man auch zu Sowjetzeiten aus den gleichen Gründen kein solches Embargo verhängt hat – den Preisschock und einen wirtschaftlichen Abschwung vor den Wahlen kann niemand im Westen gebrauchen.

    Die Ukrainer müssten sich da alleine verteidigen oder darauf hoffen, dass sich der Generalstab des ukrainischen Militärs geirrt hat, oder dass Moskau es sich anders überlegt und es keinen Winterkrieg geben wird. Oder im Extremfall darauf hoffen, dass nachdem [russische – dek] Truppen die wichtigsten Aufgaben erledigt haben werden (wie nach Debalzewe 2015) westliche Mittelsmänner dabei helfen, eine weitere Waffenruhe zu vereinbaren, eine Art drittes Minsker Abkommen

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  • „Wir haben einen hybriden Krieg“

    „Wir haben einen hybriden Krieg“

    Dimitri Trenin leitet das Moskauer Zentrum des US-amerikanischen Carnegie Endowment for International Peace, das als einer der einflussreichsten Thinktanks der Welt gilt. Dabei teilt Trenin nicht alle klassischen Positionen des liberalen Diskurses in Russland. 

    Im Interview mit der Novaya Gazeta spricht der renommierte Politologe sehr kritisch über die russischen Beziehungen zum Westen im Allgemeinen und zu den USA im Besonderen. Und darüber, was das alles noch mit dem Kalten Krieg zu tun hat.

    Andrej Lipski: Die Beziehungen zu den USA sind immer die reinste Achterbahnfahrt: Mal geht es hoch in die Luft, mal steil bergab. Wenn wir die derzeitige Krise vergleichen wollen, stellt sich die Frage, wodurch sie sich von anderen Einbrüchen in den Beziehungen unterscheidet, insbesondere von dem während der Blockkonfrontation, im Kalten Krieg.

    Dimitri Trenin: Erstens denke ich nicht, dass das eine Krise ist. Meiner Ansicht nach war die Krise ungefähr Anfang 2015 vorbei. Eine Krise ist ja ein zeitlich recht begrenzter Zustand, ein Bruch, ein Übergang von einem Zustand in einen anderen.

    Bis 2014 gab es einen Zustand, bei dem die Zusammenarbeit mit dem Westen überwog. Sie verschlechterte sich, war nicht besonders eng, aber es gab sie immerhin.

    Seit 2014 – und bis 2015 hatte sich das endgültig verfestigt – gibt es überwiegend Rivalität und Feindschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika, bei einer gleichzeitigen Entfremdung von Europa.

    Ich bezeichne den jetzigen Zustand als „hybriden Krieg“. Ende Februar 2014, als ich die Folgen der russischen Operation auf der Krim im Gefolge der Ereignisse in Kiew, nach dem Maidan und dem Machtwechsel einzuordnen versuchte, da hatte ich den Begriff „neuer Kalter Krieg“ verwendet. Den habe ich aber bald fallengelassen und stattdessen von einem hybriden Krieg gesprochen, einfach, um diesen weit verbreiteten Terminus zu verwenden. Gleichzeitig macht er deutlich, dass es sich um eine Konfrontation handelt, die zwar auf dem gleichen Niveau und für Russland mit der gleichen Relevanz wie der Kalte Krieg besteht (das Wort „Krieg“ ist präsent, auch wenn mich viele deswegen kritisiert haben), aber dennoch eine andere ist.

    Erst hatte ich den Begriff neuer Kalter Krieg verwendet. Jetzt spreche ich von einem hybriden Krieg

    Wenn wir jetzt von einem „neuen Kalten Krieg“ sprächen, würden wir gewissermaßen eine Wiederholung dessen erwarten, was sich in den 1940er bis in die 1980er Jahre abspielte. Die Welt hat sich jedoch geändert, und es wird keine Wiederholung geben; wir würden dadurch unsere Orientierung verlieren. Und würden jene neuen Dinge außer Acht lassen, die geschehen und geschehen werden und die es in den Zeiten des Kalten Krieges nicht gegeben hat. Das würde uns auf der intellektuellen Ebene entwaffnen.

    Und worin unterscheidet sich die derzeitige Konfrontation vom Kalten Krieg?

    In vielem. Erstens ist es kein systembildendes Phänomen. Ein solches ist der Kalte Krieg aber für das gesamte System der internationalen Beziehungen gewesen. Der derzeitige amerikanisch-russische hybride Krieg ist von großer Bedeutung, ist aber nicht zentral für die internationalen Beziehungen als Ganzes. Und zweitens handelt es sich um einen höchst asymmetrischen Krieg. Die UdSSR war den USA militärisch, politisch und ideologisch und sogar zum Teil ökonomisch gewissermaßen ebenbürtig. Heute aber hinkt Russland den Vereinigten Staaten bei den meisten Parametern nationaler Stärke hinterher.

    Der Kalte Krieg war etwas Statisches. Die Welt war geteilt. Es existierte ein Eiserner Vorhang, es gab die Berliner Mauer … Der derzeitige hybride Krieg wird unter den Bedingungen der Globalisierung geführt, und er läuft am aktivsten in Sphären, die allen zugänglich sind. 

    Der Krieg damals war zweidimensional – jetzt befinden wir uns in 3D

    Angefangen bei der Wirtschaft, wo die Sanktionen wirken, über die Medien, wo ein harter Informationskrieg geführt wird, bis hin zum Cyberbereich … Und so weiter und so fort. 
    Wenn der Krieg damals zweidimensional war, so befinden wir uns jetzt in 3D. Es gibt keine Frontlinie, keine klare Abgrenzung zwischen dem eigenen Territorium und dem des Gegners. Es gibt noch eine Reihe weiterer Besonderheiten. Das Militärische ist präsent, aber nicht dominierend. Es gibt einen Rüstungswettlauf, der steht aber nicht im Zentrum. Und ich sage es noch einmal:

    Russland hat in diesem Krieg keinen einzigen Verbündeten, nicht einmal unter seinen engsten Partnern. Niemand hat sich Russland angeschlossen. Und es wird sich auch niemand anschließen, solange Russland auf der Gegenseite nicht nur mit den Vereinigten Staaten Probleme hat, mit denen es sich in einer direkten Konfrontation befindet, sondern auch mit den Ländern Europas, die meiner Ansicht nach im Großen und Ganzen nicht in Konfrontation zu Russland stehen.

    Während des klassischen Kalten Krieges und insbesondere während der Kubakrise hat die Angst vor einer Atomkatastrophe von einem Krieg abgehalten. Danach verflüchtigte sich diese Angst allmählich. Perestroika, Reykjavík, das „neue Denken“, der Zusammenbruch des Kommunismus, der Zerfall der UdSSR, des Warschauer Paktes, das Ende der Konfrontation, des Kalten Krieges. Man konnte sich entspannen und die Rüstungsausgaben senken. 


    Die Gesellschaft zitterte nicht mehr vor Angst und glaubte nicht mehr an die Bedrohung durch einen langjährigen potenziellen Feind. Besteht nicht genau darin paradoxerweise die neue Gefahr, wenn sich die Konfrontation wiederum verschärft?

    Natürlich war der Kalte Krieg sehr viel gefährlicher für die menschliche Existenz als die Zeit jetzt. Seinerzeit gab es nicht nur ein Gefühl von Gefahr, sondern echte Gefahr. Ein massiver Atomschlag galt als durchaus real. Und wie wir wissen, gab es im Laufe des Kalten Krieges einige Fälle, bei denen der Finger über dem roten Knopf schwebte, weil die Geräte zeigten, dass es losgeht, oder weil sie irgendwas zeigten, was als massiver Raketenschlag gewertet werden konnte.

    Aber ich stimme in der Tat zu, dass die fehlende Angst vor einem realen Atomschlag die Illusion entstehen lässt, man könne militärische Gewalt einsetzen und gleichzeitig eine Eskalation im Sinne einer atomaren Auseinandersetzung ausschließen. 

    "Für die Amerikaner spielt die Außenpolitik im Prinzip eine zweitrangige Rolle." – Putin und Trump beim G20-Gipfel in Hamburg © kremlin.ru
    „Für die Amerikaner spielt die Außenpolitik im Prinzip eine zweitrangige Rolle.“ – Putin und Trump beim G20-Gipfel in Hamburg © kremlin.ru

    Meiner Ansicht nach standen wir 2016 in Syrien ziemlich dicht vor der Aussicht auf einen russisch-amerikanischen Krieg, als Hillary Clinton und ihre Berater im Wahlkampf verkündeten, sie werde, falls sie Präsidentin werde, über Syrien eine Flugverbotszone ausrufen. Was eine Flugverbotszone bedeutet, haben wir nach Libyen sehr wohl verstanden. Dann hätte die russische Führung – die zu diesem Zeitpunkt in Syrien schon über Streitkräfte verfügte, einschließlich einer Luftwaffenkomponente – vor der Wahl gestanden, sich entweder aus Syrien zurückzuziehen und die Amerikaner dort nicht zu stören oder die Flugverbotszone zu verletzen und mit den Amerikanern in bewaffneten Kontakt zu geraten. Wenn ich das richtig verstehe, waren Hillary Clinton und die Leute an ihrer Seite durchaus entschlossen. Und wenn die Vorschläge von Frau Clinton umgesetzt worden wären, hätten sie den Weg zum ersten russisch-amerikanischen Krieg geebnet.

    Es ist eine Illusion, dass eine atomare Eskalation ausgeschlossen ist

    Es gibt noch andere Bereiche, in denen wir mit den Amerikanern aneinandergeraten könnten: Ich meine heftige Cyberattacken. Nicht das, was wir bisher gesehen haben, sondern beispielsweise, eine ganze Stadt, die lahmgelegt wird, oder ein großes Kraftwerk wird abgeschaltet, oder sonst was, was als feindseliger Akt eines anderen Staates gewertet werden könnte. Es kann zu Zwischenfällen mit Flugzeugen oder Kriegsschiffen kommen, vielleicht über dem Baltikum, vielleicht über dem Schwarzen Meer, wo es ja schon vorkam, dass man dicht aufeinander zuflog oder -navigierte. Die Möglichkeit von Zusammenstößen besteht also, und sie muss ernstgenommen werden.

    Es gibt recht viele unterschiedliche Erklärungen für die Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und den Staaten. Viele von ihnen sind oberflächlich, nicht überzeugend, einige sogar lächerlich. Wahrscheinlich gibt es wohl fundamentale Gründe für die Widersprüche zwischen unseren Ländern. Versuchen wir also, auf den Grund vorzustoßen, wie die Archäologen sagen.

    Beschreiben würde ich das so: Nach jedem großen Konflikt, in jedem Krieg – und der Kalte Krieg war ein großer Konflikt und einem Krieg gleichzusetzen – gibt es Sieger und Besiegte. Wenn wir den Kalten Krieg aus geopolitischer Perspektive betrachten, so haben die Vereinigten Staaten und deren Verbündete gesiegt, und die Sowjetunion oder Russland, das seinerzeit Sowjetunion hieß, hat ihn verloren. Außerdem hat Russland eine sehr schmerzhafte Transformation durchgemacht, nachdem es den Kommunismus abgeschüttelt hatte. 

    Nach jedem Krieg gibt es zwei grundlegende Optionen. Entweder organisiert die siegreiche Seite auf den Ruinen des Krieges den Frieden auf eine Weise, dass die unterlegene Seite zu akzeptablen Bedingungen in ein neues System eingebunden wird. Das ist die eine Option.

    Der Westen hat die Interessen Russlands nicht berücksichtigt

    Die andere besteht darin, das besiegte Land außerhalb des [neuen] Systems zu belassen und es zu zwingen, den bitteren Kelch des Unterlegenen zu leeren, wie es beispielsweise Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg erging.

    Ich will nicht sagen, dass der Westen Russland nach dem Ende des Kalten Krieges gezwungen hätte, diesen bitteren Kelch zu leeren. Aber Russland musste die Folgen seiner geopolitischen Niederlage anerkennen. Und den Umstand, dass die Welt im Großen und Ganzen nicht unbedingt unter Berücksichtigung von Russlands Meinung eingerichtet wird, dass Russland nicht zu den Bedingungen in das neue Sicherheitssystem in Europa einbezogen wird, die es für sich als akzeptabel erachtet. Der Westen hat die Interessen Russlands nicht berücksichtigt.

    Nehmen wir einmal an, die Vereinigten Staaten hätten Russland in die NATO aufgenommen, wie das Jelzin wollte und wie Putin es anfänglich versuchte. Was wäre geschehen? Herausgekommen wäre eine ziemlich fragmentierte euroatlantische Welt, in der den USA vorgeschlagen worden wäre, auf einem Spielbrett mit den führenden EU-Staaten zu agieren – und diese drei führenden Staaten wiederum hätten ein Triumvirat Berlin – Paris – Moskau bilden können gegen oder sagen wir neben dem Bund Washington – London.

    Dimitri Trenin / © Svetlana TB/CC BY-SA 4.0
    Dimitri Trenin / © Svetlana TB/CC BY-SA 4.0

    Russland hätte, so denke ich, seine Lage ein paar Jahre lang genossen, es hätte angenommen, dass es das zweitmächtigste und zweiteinflussreichste Land der NATO ist, so eine Art „Vizepräsident der euroatlantischen Allianz“. Doch recht bald schon hätte Russland größere Ansprüche erhoben – auf einen gemeinsamen Vorsitz. Und Russland hätte dann Koalitionen gesucht, um seine Positionen zu stärken, vor allem mit Ländern wie Deutschland oder Frankreich. 
    Die Frage ist nun: Was wäre von der NATO unter solchen Bedingungen geblieben? Und wo wäre die amerikanische Führung geblieben, die amerikanische Vorherrschaft, und was hätten die Vereinigten Staaten durch eine Aufnahme Russlands in die NATO gewonnen?

    Ausgehend vom Primat der Eigeninteressen der USA, vom Primat ihres nationalen Egoismus, können wir zu dem Schluss gelangen, dass die amerikanische Weigerung, Russland in die NATO aufzunehmen, kein Ergebnis strategischer Kurzsichtigkeit war, sondern das einer recht nüchternen Kalkulation der Folgen.

    Und Putin hat das ernsthaft vorgeschlagen?

    Ich denke, ja. Der Putin der frühen 2000er Jahre wollte ein Bündnis mit dem Westen, da habe ich keine Zweifel. Nur hat Putin in den fast zwei Jahrzehnten, die er an der Macht ist, eine ganz beträchtliche Evolution vollzogen, unter anderem im Bereich der Außenpolitik.

    Um es also zusammenzufassen: Der jetzige Konflikt zwischen Russland und Amerika ist eine Folge dessen, dass nach dem vorangegangenen Konflikt keine Regelung gefunden wurde, die sowohl die unterlegene als auch die Siegerseite zufriedengestellt hätte. Wenn die Verliererseite, wie die Geschichte zeigt, stark genug ist, über genug Ressourcen verfügt und – das ist die Hauptsache – den nötigen Willen und die Bereitschaft hat, sich dem Gegner zu widersetzen, dann muss man nur eine Weile warten, bis der Konflikt erneut ausbricht.

    In Russland akzeptieren die herrschende Schicht und die Gesellschaft keine Dominanz durch jemand anderen

    Was haben die Amerikaner nicht bedacht? Sie haben nicht bedacht, dass Russland eines der wenigen Länder ist, in denen die herrschende Schicht und die Gesellschaft (aus einer Reihe von Gründen, über die wir lange reden können) ganz prinzipiell keine Dominanz durch jemand anderen akzeptieren. Und die bereit sind, einen hohen Preis zu zahlen, um nicht zum Objekt dieser Dominanz zu werden.

    Russland wiederum hat im Grunde den Platz, der ihm in der Welt nach dem Kalten Krieg angeboten wurde, aus einem ganz bestimmten Grund ausgeschlagen.

    Die Eintrittskarte in das System schien recht günstig – es musste lediglich die Führung der Vereinigten Staaten von Amerika ernsthaft anerkannt werden: Wenn ihr die anerkennt, dann werdet ihr ins Zimmer gelassen und dann, nun ja, da ist dann vieles möglich, aber ihr seid ein Teil unserer Welt.

    Und in dieser Welt befanden und befinden sich jetzt die unterschiedlichsten Länder, die längst nicht alle Demokratien sind, die längst nicht alle in sämtlicher Hinsicht sauber sind. Doch sie alle aber befinden sich dort, weil sie das Primat der amerikanischen Führung anerkennen.

    Russland hat versucht, auf irgendeine Art durch diese Tür zu kommen; einige russische Führungskräfte haben das erklärt und sind wohl persönlich bereit gewesen, etwas zu unternehmen, doch wurden sie von der Gesellschaft und der Elite zurückgezogen. 

    Und Russland weigerte sich, eine amerikanische Führung anzuerkennen. Als das klar wurde, war es nur noch eine Frage der Zeit, wann und unter welchen Bedingungen Russland mit den Vereinigten Staaten zusammenstoßen würde. Weil die USA prinzipiell und niemals eine Gleichstellung mit einem anderen Land akzeptieren, nicht einmal mit China, wenn Amerika im nach Dollar bemessenem Bruttoinlandsprodukt von ihm überholt werden sollte.

    Unsere Propaganda wie auch Politiker sagen gern, dass die zunehmende Verschlechterung der Beziehungen zu den USA unter Trump eine Folge der internen Widersprüche in der amerikanischen Elite sei. Und Trump – obwohl er bereit ist, sich mit uns zu arrangieren – sei genötigt, Härte zu zeigen, um die demokratischen Opponenten in Schach zu halten und den Verdacht eines Komplotts mit den Russen loszuwerden.
    Wie stark wirkt dieser Faktor auf die Krise in unseren Beziehungen zu den USA?

    In den USA ist die Innenpolitik das Allerwichtigste. Für die Amerikaner spielt die Außenpolitik im Prinzip eine zweitrangige Rolle, da sie ausschließlich den internen Interessen Amerikas untergeordnet ist. Russland als solches gibt es für Amerikaner im Großen und Ganzen nicht. 

    Die Sanktionen zeigen, dass Russland für die Vereinigten Staaten keinen Wert darstellt

    Die Sanktionen belegen, dass Russland für die Vereinigten Staaten keinen Wert darstellt, deshalb werden alle Sanktionen so leicht akzeptiert. Wenn Russland einen Wert darstellen würde, wäre die Situation eine andere.

    Und weil es für Trumps Gegner nichts Wichtigeres gibt, als ihn zu Fall zu bringen, wird Russland als Knüppel eingesetzt, solange Trump an der Macht ist. Wenn Trump geht, dann können wir uns ausmalen, sollte es einen demokratischen Präsidenten geben, dass dieser zumindest anfänglich eine sehr harte Position gegenüber Russland einnehmen wird. 

    Bislang heißt es, dass Trump den Russen gegenüber zu milde sei, dass er, selbst wenn er all die Sanktionsgesetze und -erlasse unterzeichnet hat, in Wirklichkeit eine gewisse Warmherzigkeit gegenüber Russland empfinde. Und dass er sogar von Putin abhängig sei. Meiner Ansicht nach ist das völliger Schwachsinn, doch der findet bei jenen, die daran glauben, ein sehr großes Publikum. Deshalb denke ich, dass der Beginn der nächsten Präsidentschaft ebenfalls sehr schwer würde für die Beziehungen.

    Und es gibt noch einen Faktor. Keiner der in der amerikanischen Innenpolitik profilierten führenden Politiker wird sich in der Kommunikation mit Putin sonderlich frei fühlen. Solange Putin an der Macht ist, wird es ganz erhebliche Vorbehalte auf amerikanischer Seite geben.

    Ist Putin für die Amerikaner toxisch?

    Genau. Sie fürchten ihn, und gleichzeitig hassen ihn viele. Die Dämonisierung Putins in den Augen der amerikanischen Öffentlichkeit macht jeden, der sich ihm zu sehr nähert, bereits zu einem potenziellen Verdächtigen.

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  • Die sprechenden Grabsteine

    Die sprechenden Grabsteine

    Im August 2014 hat die Beerdigung mehrerer Soldaten in Pskow für mediales Aufsehen gesorgt: Die Lokalzeitung Pskowskaja Gubernija, die damals von dem dortigen oppositionellen Politiker Lew Schlossberg herausgegeben wurde, berichtete über das Begräbnis zweier Soldaten der Luftlandetruppen. Sie seien in der Ostukraine ums Leben gekommen. Die 76. Gardedivision der russischen Luftlandetruppen ist in Pskow stationiert, sie gilt als Eliteeinheit.

    Ein Major der Einheit, Vater eines Getöteten, behauptete damals, sein Sohn sei im Kampf bei Luhansk ums Leben gekommen. Auf Anfrage von Lew Schlossberg antwortete die Obermilitärstaatsanwaltschaft schlicht, die Soldaten seien außerhalb des Dienstortes, also außerhalb der Oblast Pskow, ums Leben gekommen. Im Weiteren sollen Verwandte der Getöteten laut unterschiedlichen Medienberichten eingeschüchtert worden sein, einzelne hätten bereits gemachte Aussagen wieder zurückgezogen. Lew Schlossberg wurde nur vier Tage nach der Veröffentlichung in Psowskaja Gubernija brutal zusammengeschlagen, erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma. 

    Vier Jahre später hat Irina Tumakowa von der Novaya Gazeta die Gräber nun noch einmal besucht. Und nicht schlecht gestaunt.

    Als würde niemand mehr irgendwas verbergen / Foto © Irina Tumakowa/Novaya Gazeta
    Als würde niemand mehr irgendwas verbergen / Foto © Irina Tumakowa/Novaya Gazeta

    Der Friedhof im Dorf Wybuty bei Pskow hat sich verändert. Im August 2014 war ich öfter dort. Damals fielen einem die frischen namenlosen Gräber ins Auge, als lägen sie jenseits der Friedhofsmauern (so werden Selbstmörder bestattet). Wortkarge Menschen in Camouflage und blauen Baretts nahmen auf Befehl des Kommandeurs die Schilder mit Namen und Daten von den Kreuzen und rissen die Schleifen von den Kränzen [die zum Teil mit Kondolenzbekundungen der Luftlandetruppen beschriftet waren – dek]. Damit niemand darauf kommt, dass sie unter diesen Sandhügeln heimlich ihre Regimentskameraden begraben. „Wir sind da nicht.“ Und Punkt.

    „In unserer Fallschirmjägerbrigade sind alle wohlauf und am Leben“, bestätigte der Kommandierende der Luftlandetruppen und heutige Duma-Abgeordnete General Wladimir Schamanow.

    Die Fallschirmjäger knirschten mit den Zähnen, tranken Wodka, aßen dazu Weißbrot und Tomaten, aber führten den Befehl aus – gruben, rissen die Schleifen ab und versteckten die „gesunden und munteren“ erschossenen Freunde.

    Soldaten, die im August/September 2014 gestorben sind, konnten posthume Militärehrungen erhalten und ihre Familien zumindest irgendwelche Entschädigungen / Foto © Irina Tumakowa/Novaya Gazeta
    Soldaten, die im August/September 2014 gestorben sind, konnten posthume Militärehrungen erhalten und ihre Familien zumindest irgendwelche Entschädigungen / Foto © Irina Tumakowa/Novaya Gazeta

    „Wir waren alle fest davon überzeugt gewesen, dass die Fallschirmjäger auf dem großen Friedhof in Orlezy feierlich bestattet würden“, erinnert sich der Korrespondent der Pskowskaja Gubernija Alexej Semjonow. „Dort gibt es eine Allee der Fallschirmjäger, in der die Angehörigen der berühmten 6. Kompanie [die im Tschetschenienkrieg gekämpft hatte – dek] begraben wurden. Aber wir bekamen heraus, dass die Bestattung nicht dort stattfinden würde.“

    Als würde niemand mehr irgendwas verstecken

    Nun sind fast vier Jahre vergangen, und ich komme wieder auf den Friedhof in Wybuty.

    An Stelle der einstigen Sandhügel und namenlosen Kreuze stehen monumentale Stelen aus schwarzem Granit mit schwülstiger Gravur: Namen, Daten, Portraits in Lebensgröße, Gedichte, Fallschirmjägersymbolik. Als würde niemand mehr irgendwas verstecken.

    Das größte Denkmal steht auf dem Grab von Leonid Kitschatkin.

    Die Familie Kitschatkin hätte ein Symbol für den Wahnsinn werden können, den die Regierung vor vier Jahren um den Tod der Fallschirmjäger gestartet hat. Und den Alptraum, den ihre Familien durchleben mussten.
    Von der Beerdigung ihres Mannes schrieb Oxana Kitschatkina damals auf ihrer Social-Media-Profilseite. Sie nannte das Datum, den Ort und ihre Telefonnummer. Den Post machte sie am 23. August 2014. Und schon am nächsten Tag antwortete mir unter Oxanas Nummer eine laut lachende Frauenstimme: „Leonid Juritsch lebt, neben mir sitzt er und trinkt Kaffee. Zum Mittag gibt’s Buletten mit Kartoffelpüree. Wir feiern die Taufe unserer Tochter. Meine Seite wurde gehackt.“
    Ohne aufzuhören fröhlich zu lachen, gab „Oxana“ den Hörer freudig weiter an „ihren Mann“. Eine nicht mehr ganz nüchterne Männerstimme bestätigte, ja er sei Ljonja Kitschatkin, gesund und munter und am Leben …

    Zwei Tage später stand ich auf dem Friedhof in Wybuty, wo sie noch nicht geschafft hatten, die Schilder zu entfernen, und schaute auf das Todesdatum von Kitschatkin: der 20. August.

    Oxana Kitschatkina hat in den letzten vier Jahren ihre Telefonnummer nicht geändert. Nur antwortete mir jetzt eine völlig andere Stimme. Tief, leicht brüchig.

    „Rufen Sie mich bitte nicht mehr an, ich möchte nicht mehr darüber sprechen“, sagte Oxana langsam und legte auf.

    Rufen Sie mich bitte nicht mehr an, ich möchte nicht mehr darüber sprechen

    Sie hat vor vier Jahren nicht gelogen oder sich verstellt. Da haben ihr einfach Leute das Telefon abgenommen, damit statt der Witwe eine kreuzfidele Frau mit ihrem betrunkenen Mann den Anruf entgegennehmen konnte.

    Laut der Pskower Abteilung für Kriegsopfer wurde der Grabstein, der inzwischen auf dem Grab ihres Mannes steht, vom Verteidigungsministerium bezahlt. Erstattet werden den Familien ehemaliger Soldaten gewöhnlich nicht mehr als 32.000 Rubel [etwa 450 Euro – dek] , doch eine solche Riesenwand mit Gravuren von beiden Seiten kostet laut den Mitarbeitern des Bestattungsinstituts ungefähr 100.000 Rubel [etwa 1360 Euro – dek].

    Aber eines bestätigt die Beteiligung des Verteidigungsministeriums indirekt auf jeden Fall: Leonid Kitschatkin, gefallen im August 2014, ist von der Behörde als „einer von ihnen“ anerkannt. Denn Versorgungsgelder stehen nur Veteranen mit 20-jähriger Berufszugehörigkeit und Teilnehmern an Kampfhandlungen zu. Kitschatkin ist 1984 geboren. An welchen Kampfhandlungen er auf Befehl des Vaterlandes teilnehmen konnte, das kann man nur raten.

    Ein Himmel mit Fallschirmen

    Auch auf den Gräbern von Alexander Ossipow und Sergej Wolkow, die in Wybuty neben Leonid Kitschatkin begraben liegen, stehen keine namenlosen Kreuze mehr, sondern Grabsteine aus Granit. Mit Portraits, auf denen akkurat ihre Dienstabzeichen eingraviert sind.

    Auf den Gräbern stehen keine namenlose Kreuze mehr, sondern Grabsteine aus Granit / Foto © Irina Tumakowa/Novaya Gazeta
    Auf den Gräbern stehen keine namenlose Kreuze mehr, sondern Grabsteine aus Granit / Foto © Irina Tumakowa/Novaya Gazeta

    Ossipows Todesdatum ist das gleiche wie Kitschatkins: der 20. August 2014. Er war 20 Jahre alt. Auf dem Porträt ist er ebenfalls in Fallschirmjäger-Uniform vor einem Himmel mit Fallschirmen. Auf einem Steinbrocken liegt das blaue Barett.

    An welchen Kampfhandlungen, wenn nicht im Donbass, hätte dieser Junge beteiligt sein können, sodass seine Familie eine Entschädigung vom Verteidigungsministerium erhielt?

    Sowohl in Wybuty als auch auf dem Krestowski-Friedhof sind inzwischen neue Soldatengräber aufgetaucht: Wsewolod Smirnow starb im Dezember 2016, er war 26 Jahre alt. Auf dem Foto ist er in Camouflage vor einem dunkelblauen Meer. Und was ist im Januar 2017 mit Wladimir Stezenko passiert? Es gibt vorerst nur ein Foto des Soldaten, in einer Klarsichthülle und mit blauen Reißzwecken an ein Holzkreuz gepinnt.

    Auf einem dritten Kreuz ist die Aufschrift zur Hälfte verblichen, auch wenn diese ganz frisch ist: „Grigorow Nikolaj Michailowitsch, 10.01.1985–06.03.2018“. Und wieder ein Foto des Fallschirmjägers, oben drauf wieder ein blaues Barett.

    Wo sind Pskower Fallschirmjäger im März diesen Jahres umgekommen?

    Wo sind Pskower Fallschirmjäger im März diesen Jahres umgekommen? Am Grab lehnen Kränze mit Wappen, Sternen und schwarzen Bändern. Auf einem steht: „Fähnrich Grigorow Nikolaj Michailowitsch, heldenhaft gestorben beim Flugzeugunglück vom 6. März 2018“. An diesem Tag stürzte der Frachter An-26 über der russischen Militärbasis in Hmeimim in Syrien ab. 39 Menschen kamen ums Leben.

    Doch im August 2015 gab es noch keine russischen Soldaten in Syrien. Jedenfalls offiziell nicht. Auf dem Grab von Roman Michailow [Todesdatum 15.08.2015 – dek] ist ein Gedicht eingraviert: „Du starbst für die Heimat, darum bist du ein Held. Wir lieben dich, gedenken deiner und sind stolz auf dich.“

    „Du starbst für die Heimat, darum bist du ein Held. Wir lieben dich, gedenken deiner und sind stolz auf dich.“ / Foto © Irina Tumakowa/Novaya Gazeta
    „Du starbst für die Heimat, darum bist du ein Held. Wir lieben dich, gedenken deiner und sind stolz auf dich.“ / Foto © Irina Tumakowa/Novaya Gazeta

    Im Forum für Einberufene findet sich Michailow als Befehlshaber des zweiten Sturmlandungsbataillons der Luftlandetruppen. Er war 38 Jahre alt.

    Tod unter falschem Namen

    Leonid Kitschatkin, Sergej Wolkow, Alexander Ossipow, Wassili Gerassimtschuk und andere Soldaten, die im August/September 2014 gestorben sind, konnten posthume Militärehrungen erhalten und ihre Familien zumindest irgendwelche Entschädigungen vom Verteidigungsministerium. Aber über die, die danach im Donbass umgekommen sind, können wir gar nichts in Erfahrung bringen. Ihre Angehörigen erhalten selbst die „Beerdigungs“-Summe von 32.000 Rubel [etwa 450 Euro – dek] nicht.

    Ab Herbst 2014 änderte die Regierung ihre Taktik: Aus offiziellen Militärangehörigen wurden sogenannte DNR– und LNR-Streitkräfte und Kosakeneinheiten gebildet, die Noworossija verteidigten. Russland ist diesen Menschen und ihren Familien nichts schuldig, formal sind sie Freiwillige und unterstehen nicht dem Verteidigungsministerium.

    Der Jabloko-Abgeordnete Lew Schlossberg ist fast der Einzige in dieser militärpatriotischen Stadt, der versucht, für die Rechte der Familien von Verstorbenen einzutreten. „Die Verträge mit militärischem Personal wurden auf unterschiedliche Weise, entweder bei Ablauf ihrer Laufzeit oder vorfristig ausgesetzt“, erzählt Lew Schlossberg. „Das war alles gesetzeskonform. Aber im Weiteren überschritten die Militärs gleichzeitig die Landes-  und die Gesetzesgrenzen und begannen, sich an Kampfhandlungen außerhalb der Russischen Föderation zu beteiligen. Das heißt, sie verübten Verbrechen, das nach dem Strafrechtsparagraphen zum Söldnerdienst geahndet wird.“

    Um mehr Sicherheit und Geheimhaltung zu erreichen, mussten die Identitäten dieser Soldaten geschreddert werden.

    Identitäten geschreddert

    „Verträge wurden unter Pseudonymen geschlossen, die Namen dieser Menschen waren fiktiv“, erklärt Schlossberg. „Der einzige materielle Beweis der Identität des Menschen war seine Erkennungsmarke. Der echte Name des Menschen, der mit der Erkennungsmarke verbunden ist – das ist Verschlusssache, die sich in den Händen der wirklichen Truppenführung befindet. Das heißt, dieser Mensch hat eine Erkennungsmarke und zwei Namen: einen echten und einen fiktiven.“

    Unter den fiktiven Namen ließen sich diese Menschen in Militärkrankenhäusern behandeln, sowohl in Sankt Petersburg als auch in Rostow am Don. Wenn sich jemand plötzlich für die Verzeichnisse von den Militärangehörigen interessierte, die in Behandlung waren in konkreten Militärkrankenhäusern, dann findet er dort keine Namen von echten Bürgern der Russischen Föderation. Er findet dort das Geburtsdatum und die Art der Verletzung, die man nicht verheimlichen kann. Der Mensch selbst ist in diesem Verzeichnis aber ein Phantom.



    Unbekannte greifen Journalisten von TV Doshd und anderen Medien an, als diese im August 2014 versucht hatten, über die Soldatengräber in Wybuty bei Pskow zu berichten

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    Kanonen auf Telegram

    Seit über einer Woche liefern sich Telegram und Roskomnadsor einen Wettlauf, der an die Geschichte von Hase und Igel erinnert: Jedes mal, wenn die Beamten IP-Adressen von Telegram blocken, weicht der Messenger auf andere aus und entgeht damit der Blockade. Während Telegram-Chef Pawel Durow tausende neue Nutzer verzeichnen kann, versucht Roskomnadsor weiter mit allen Mitteln, Telegram zu blockieren: Mittlerweile sind in Russland fast 20 Millionen IP-Adressen gesperrt, ein großer Teil davon dürfte gar nichts mit dem Messenger zu tun haben.

    In der Novaya Gazeta sieht Kirill Martynow einen „Bürgerkrieg“ heraufziehen und fragt, wie weit die „Flächenbombardierung des Internets“ noch gehen kann.

    Der Konflikt zwischen der russischen Regierung und dem Messenger-Dienst Telegram hat qualitativ einen neuen Höhepunkt erreicht. Die Spielregeln der ganzen Branche drohen verändert und die Zensur auf eine neue Ebene gehoben zu werden. Der Gesellschaftsvertrag, wie er über die letzten Jahre gewachsen ist, setzte stillschweigend voraus, dass die russischen Silowiki, Gesetzgeber und Funktionäre des Roskomnadsor so tun, als würden sie in Russland verbotene Informationen blockieren, und die Nutzer und Dienste tun ihrerseits so, als hätten sie keinen Zugriff darauf. Nach diesem Modus läuft es beispielsweise mit einem der weltweit größten sozialen Netzwerke LinkedIn, das zu Microsoft gehört und [in Russland] seit 2016 gesperrt ist.

    Sergej Golubizki bemerkte kürzlich in einem Artikel für die Novaya Gazeta, dieser ganze „Krieg gegen das Internet“ trage ausschließlich rituellen Charakter. Die Geschichte um die Telegram-Sperrung verwandelt das Ritual nun offenbar in einen Bürgerkrieg.

    Bürgerkrieg im Internet

    Am 16., beziehungsweise 17. April hat Roskomnadsor mehr als 2,4 Millionen IP-Adressen gesperrt [Stand 24. April: fast 20 Millionen – dek], die zu großen Subnetzen von Google- und Amazon-Diensten gehören. Zum Vergleich: Vor Beginn der Telegram-Blockierung hatten auf der schwarzen Liste von Roskomnadsor 38.000 IP-Adressen gestanden.

    Um an Telegram heranzukommen, musste die Behörde zum größten Angriff auf die Infrastruktur des Internets in der gesamten Geschichte der Zensur in Russland ausholen.

    Roskomnadsor hatte offenbar vermutet, dass Pawel Durow für seinen  Messenger eine Standardvorgehensweise entwickelt hatte, um Sperrungen zu umgehen, und zwar unter Einbeziehung der Cloud-Dienste großer Internetkonzerne, speziell von Amazon. Und darauf hatten sich die Beamten vorbereitet. Die Flächenbombardierung des Internets durch Roskomnadsor sorgte für beunruhigende Gerüchte in der IT-Branche. Am Abend des 16. April tauchten die ersten Meldungen auf: von Störungen in Kassensystemen des Einzelhandels, Problemen bei der Sprachübertragung des Messengers Viber, Unregelmäßigkeiten bei Microsoft-Diensten, darunter Office-Anwendungen und Onlinefunktionen von Spielekonsolen.

    So wurde, ohne Rücksicht auf Opfer und Verluste, die russische Gesetzgebung durchgesetzt.

    Ohne Rücksicht auf Opfer und Verluste

    Gegen Mittag des 17. April konnte der Großteil der russischen User die Telegram-App immer noch ohne VPN nutzen, wenn auch nicht störungsfrei. Der Versuch des Roskomnadsor, den Messenger auf Kosten der Abschaltung der Cloud-Dienste von Drittanbietern zu vernichten, war gescheitert. Wie Fachleute berichten, hatte Telegram eine Funktion namens DC_update aktiviert. Diese dient unter normalen Umständen dazu, die Server-Adresse, mit der sich der Nutzer verbindet, ständig zu aktualisieren und so die Geschwindigkeit und Stabilität der App zu erhöhen. Bei einer Sperrung erlaubt diese Funktion, in Echtzeit zig Millionen von IP-Adressen, die Google, Apple oder Microsoft gehören und auf welche Telegram zugreifen kann, nach verfügbaren Adressen zu durchsuchen und den Datenverkehr [der App – dek] darüber zu leiten. Die Telegram-Weboberfläche bleibt dabei aufgrund der technischen Besonderheiten der verwendeten Protokolle weiterhin blockiert.

    Anders gesagt: Um Telegram zu sperren, müsste Roskomnadsor im ganzen Land sämtliche internationalen Dienste abschalten – darunter Finanz-, Office- und Unterhaltungsdienste, von Apple Pay bis Xbox Live. Die Zahl der blockierten IP-Adressen würde auf Dutzende von Millionen ansteigen, die Provider hätten entsprechende Ausfälle, und Russland wäre de facto abgeschnitten vom World Wide Web.

    Roskomnadsor hat wohl den Kürzeren gezogen

    Kurz, um Durow zu besiegen, müsste man sich von dem Segen der Zivilisation verabschieden. Es sieht ganz danach aus, als hätte Roskomnadsor in diesem rasanten Schlagabtausch den Kürzeren gezogen. Doch dieser Schluss ist nur zu ziehen, wenn man annimmt, dass in der Behörde im Großen und Ganzen vernunftgeleitete Menschen sitzen, und ihrem Chef Alexander Shаrow kein direkter Befehl der Geheimdienste vorliegt, Telegram mit allen Mitteln zu zerschlagen.

    Klar ist im Moment nur, dass Roskomnadsor zum ersten Mal in seiner Geschichte auf solchen Gegendruck stößt; zum ersten Mal versucht er landesweit, einen so großen und technisch so anspruchsvollen Dienst zu deaktivieren, und damit ist er nun einen direkten Konflikt mit GAFA eingegangen (dieses Kürzel bezeichnet in Europa die vier weltweit führenden Internetriesen, mit einer Gesamtreichweite von mehreren Milliarden Menschen: Google, Apple, Facebook und Amazon).

    Als das Ausmaß des Problems klar wurde, haben die russischen Zensoren, wie es aussieht, vorerst eine Pause eingelegt und begnügen sich mit kleinen Rachefeldzügen gegen User, die sich mittels Proxy und VPN vorsorglich gegen ein Telegram-Blackout gewappnet hatten: Sie blockieren Seiten mit entsprechenden Einstellungen – offenbar ohne jede gesetzliche Grundlage.

    Geschenk für Telegram

    Zwei weitere Handlungsstränge sind für das Verständnis des Ganzen wichtig.

    Erstens: Die Ereignisse sind ein wahres Geschenk für Durow und sein Unternehmen. Die Zahl der Telegram-Nutzer stieg auf über 200 Millionen, 15 Millionen davon sind in Russland aktiv. Ein Wegfall des russischen Markts wird das Business-Modell des Messengers nicht in den Ruin treiben, welches sich, wie jetzt bekannt wurde, auf die Entwicklung eines globalen Bezahlsystems mit einer eigenen Kryptowährung konzentrieren wird.

    Darüber hinaus genießt Durow bereits jetzt eine unbezahlbare Reputation: als Kämpfer für die Freiheit und die Privatsphäre im Internet und als wichtigster Gegenspieler der russischen Regierung. Angesichts der aktuellen internationalen Atmosphäre bedeutet das, dass die Anhängerschaft von Durows Projekt schneller wachsen wird als je zuvor. Den Zuwachs der Abonnenten im Zuge der Sperrungen erwähnten selbst die großen russischsprachigen Kanäle, obwohl man diese Information nicht allzu optimistisch sehen sollte – einen beträchtlichen Teil der unpolitischen Nutzer in Russland könnte das instabile und „verbotene“ Telegram durchaus verlieren.

    „Patriotische“ Dienste und Bürger

    Zweitens: Es ist äußerst unterhaltsam, die Aktivitäten diverser „patriotischer“ Dienste und Bürger zu verfolgen. Längst nicht alle sind dem Ratschlag vom Internet-Berater und vom Pressesprecher des Präsidenten, German Klimenko und Dimitri Peskow, gefolgt, zu einem Messenger aus den 1990ern zu wechseln: ICQ. Der aktuelle Betreiber der Plattform, die Mail.ru Group, brachte umgehend einen Telegram-Klon unter dem Namen TamTam heraus. Kurz vor der Sperrung des Messengers schalteten russische Wirtschaftsblätter wie Kommersant und Vedomosti eine breit angelegte Werbeaktion für den Dienst.

    Jetzt werden auf TamTam aktiv Klone von populären Telegram-Kanälen erzeugt. So gibt es auf TamTam beispielsweise am 17. April schon ganze zwei Nesygars – mit 89, beziehungsweise 13 Followern.

    Eine Order, zu TamTam zu wechseln, bekamen auch die Mitarbeiter einiger Staatsmedien, aber wie man munkelt, kommunizierte jedenfalls noch vor wenigen Tagen das gesamte Management über die bisher verschont gebliebene WhatsApp. Einige russische Bürger lassen sich seit dem Mittag des 16. April ganz loyal nicht mehr auf Telegram blicken und demonstrieren so ihre Treue und in den meisten Fällen nicht unentgeltliche Liebe zum Kreml.

    Das Private ist politisch

    Andererseits war zum Beispiel auf dem Telegram-Account von Wadim Ampelonski, dem Ex-Pressesprecher des Roskomnadsor, der aktuell wegen Hinterziehung unter Hausarrest steht, in der Nacht zum 17. April Aktivität zu verzeichnen. Und so bewahrheitet sich einmal mehr, was die zeitgenössische Philosophie postuliert: Das Private ist politisch.

    Telegram steckt den Schlag ein und bereitet sich darauf vor, der Welt das libertäre Wunder vom Sieg über die russische Zensur zu offenbaren – um daran dann tüchtig zu verdienen. Die Frage ist, was der nächste Zug des Roskomnadsor sein wird. Schließlich vermeldeten die Beamten noch vor einigen Jahren ihre Bereitschaft, das Land vom weltweiten Internet abzutrennen. Zum Schutz der Souveränität, versteht sich.

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  • Es stinkt zum Himmel

    Es stinkt zum Himmel

    Russland hat ein Müllproblem: Rund 100 Milliarden Tonnen unverarbeitete Abfälle lagern derzeit auf einer Fläche von ungefähr vier Millionen Hektar, was etwa der Größe der Schweiz entspricht. Das sind zumindest die offiziellen Zahlen, die Dunkelziffer dürfte größer sein. Haushaltsmüll macht dabei rund zwei Drittel aus – da allerdings über 90 Prozent davon nicht recycelt wird, wachsen die Müllberge täglich weiter. 


    Nachdem im Sommer 2017 in der Oblast Moskau massenhaft Deponien stillgelegt wurden, wird der in Moskau anfallende Haushaltsmüll auf die verblieben knapp 20 Halden verteilt. Viele davon platzen aus allen Nähten, in den Städten ringsum klagen Anwohner über giftige Gase, die krank machen.


    Am 14. April fanden nun in neun betroffenen Orten der Oblast Moskau Protestveranstaltungen statt. Tausende Menschen gingen zum Geburtstag des Gouverneurs Andrej Worobjow auf die Straßen, um ihn auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Irina Gordijenko und Wlad Dokschin waren für die Novaya Gazeta in der Stadt Serpuchow dabei.

    „Wir werden für unsere Rechte kämpfen, und wir werden nicht weichen“ / Fotos © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    „Wir werden für unsere Rechte kämpfen, und wir werden nicht weichen“ / Fotos © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    „Vor einigen Tagen hat das Schiedsgericht die Schließung der Mülldeponie Lesnaja angeordnet, gegen die wir seit fast einem Jahr kämpfen. Wir haben vor Gericht Recht bekommen“, die Demonstration in [der Ortschaft Bolschewik bei – dek] Serpuchow eröffnet der Organisator Nikolaj Dishur, ein Abgeordneter im Stadtkreis Tschechow. „Die Deponie muss jetzt unverzüglich geschlossen werden, ich wiederhole: un-ver-züg-lich. Sie ist nun per Gesetz verboten – und wir alle zusammen verkörpern jetzt hier und heute dieses Gesetz. Wir sind eine Macht.“

    Durch die Menge geht ein zustimmendes Raunen.

    Um die fünftausend Menschen haben sich hier versammelt. Überall schimmern bunte Flaggen, Luftballons, Plakate:

    „Hört auf uns zu vergiften!“

    „Moskaus Umland ist kein Müllplatz!“

    „Worobjow, mach die Müllkippe dicht!“

    Auf die größte Zustimmung, die lebhafteste Reaktion bei den Menschen jedoch stößt die Forderung: „Worobjow, ab in den Ruhestand!“

    Viele sind mit ihren Kindern gekommen. Überall in der vier Kilometer von Serpuchow entfernten Ortschaft hingen bereits Tage vor der Demonstration riesige Plakate, die die Protestaktion ankündigten. Die Veranstalter hatten die Aktion ursprünglich in Serpuchow selbst durchführen wollen. Doch die dortige Stadtverwaltung hatte das untersagt und stattdessen eine eigene, alternative Demonstration abgehalten unter dem Motto „Mülltrennung“ – mit Musik, kostenlosem Essen und Volksbespaßung in Form von Tauziehen. Doch die Protestkundgebung in Bolschewik hat weitaus mehr Menschen mobilisiert.

    Der Gestank erreicht nun auch die Städter

    „Ich selbst wohne jetzt in Serpuchow – bei meiner Mutter“, erzählt die Teilnehmerin Tatjana der Novaya [Gazeta – dek]. „Aber unser Haus steht hier, praktisch direkt an der Lesnaja. Vor einem halben Jahr mussten wir es verlassen, weil sich das bei ihr gesundheitlich bemerkbar machte.“ Tatjana nickt in Richtung ihrer fünfjährigen Tochter. „Der Gestank war unerträglich. Früher haben die Städter unsere Proteste gegen die Müllhalde nicht verstanden. Aber vor einem halben Jahr hat der Gestank auch sie erreicht.“

    Die Mülldeponie Lesnaja liegt vier Kilometer von Serpuchow entfernt. Drumherum – eine Reihe kleinerer Dörfer. Die Deponie belegt eine Fläche von 33 Hektar. Sie ist damit eine der größten in der Oblast Moskau – und aktuell die einzige im Süden des Gebiets.

    „Die Deponie verstößt gegen drei Grundbedingungen: Der Müll wird nicht sortiert, es gibt kein Auffangsystem für das Sickerwasser, und das Wichtigste: Das Limit für die Mülleinfuhr ist längst ausgeschöpft“, erklärt Nikolaj Dishur. „Laut Projektkapazität kann die Halde 300.000 Tonnen Müll pro Jahr fassen. Unseren Berechnungen zufolge landen dort aber momentan übers Jahr rund 1,2 Millionen Tonnen. Innerhalb der letzten zwei Jahre ist der Müllberg auf die Höhe eines zehnstöckigen Hauses angewachsen, das ist mehr als in den ganzen 50 Jahren seiner Existenz. Wir haben ausgerechnet, dass unsere Deponie einen Gewinn von einer Milliarde Rubel [ca. 13 Millionen Euro – dek] abwirft. Und ich bin sicher, dass Gouverneur Worobjow und seine Leute – trotz des Gerichtsurteils – bis zum letzten Moment Widerstand leisten werden. Aber auch uns sollte man nicht unterschätzen.“

    Erfolgreicher Hungerstreik

    Dishur weiß, wovon er spricht. Im vergangenen Jahr konnten er und seine Mitstreiter die Schließung der Mülldeponie Kulakowo erreichen, in der Nähe der Stadt Tschechow, in deren Stadtduma er als Abgeordneter sitzt. Anfangs hatten die Abgeordneten sich um einen Dialog mit dem Gouverneur Worobjow bemüht und darauf verwiesen, dass die Müllkippe Kulakowo sich bis an die nahegelegene Schule ausgebreitet hat. Nur 480 Meter lagen dazwischen. Dabei schreiben die Gesundheitsauflagen eine Sperrzone von mindestens 500 Metern vor. Das Amt für Umweltnutzung und andere regionale Instanzen behaupteten allerdings stur, die Entfernung bis zum Schulgebäude betrage 501 Meter, es läge also kein Grund vor, die Deponie zu schließen. Daraufhin war eine dreizehnköpfige Initiativgruppe mit Dishur an der Spitze vor Gericht gezogen und am 1. Juni, dem Internationalen Tag des Kindes, in einen unbefristeten Hungerstreik getreten. Die Behörden des Gouvernements wurden sichtlich nervös. Und weil ihre Überredungsversuche nichts brachten, wurde die Mülldeponie Kulakowo zum 1. September im Eilverfahren stillgelegt.

    „Die Schließung haben wir zwar erreicht. Aber die Müllkippe wurde einfach brach liegengelassen. Fast ein Jahr ist vergangen, aber allen Versprechen zum Trotz kümmert sich niemand um ihre Rekultivierung. Mit der Lesnaja wird das nicht so laufen. Wir fordern nicht nur die Schließung, sondern auch die Wiederurbarmachung. Andernfalls wird sich das ganze Moskauer Umland zum Protest erheben“, sagt Dishur.

    „Wir wollen keinen Dreck einatmen!“
    „Wir wollen keinen Dreck einatmen!“

    Die Organisatoren der Protestaktionen in den verschiedenen Städten sind gut vernetzt. Außerdem haben Dishur und seine Mitstreiter im vergangenen Jahr die Organisation Bürgerforum registrieren lassen. Sie soll alle unabhängigen Abgeordneten, Stadt- und Bezirksvorsitzenden der Moskauer Oblast vereinen und so gemeinsam die „Interessen der Bevölkerung verteidigen“.

    Unter Jubelrufen und Applaus betritt Alexander Schestun die Bühne. Er ist der Vorsitzende der Bezirksverwaltung Serpuchow.

    „Noch ist es zu früh für eine Siegesfeier. Aber wir werden für unsere Rechte kämpfen, und wir werden nicht weichen“, sagt Schestun emotionsgeladen in die völlige Stille hinein. „Schauen Sie, Anhänger der unterschiedlichsten Parteien und Bewegungen haben sich hier versammelt. Wir halten zusammen. Ich werde Sie nicht enttäuschen. Jeder von Ihnen erfüllt mich mit Stolz. Danke. Zusammen mit Ihnen fühle ich mich sicher. Ich werde mich von Gouverneur Worobjow nicht unter Druck setzen lassen.“

    In der allgemeinen Stille ertönt deutlich eine Frauenstimme:

    „Vors Gericht mit ihm!“

    Die Menge bricht in tosenden Beifall aus.

    Alexander Schestun ist bereits in der dritten Legislaturperiode Vorsitzender des Deputiertenrats im Rajon Serpuchow. Er genießt in der Region tadellose Autorität. Und obwohl Schestun seit Langem in Konflikt mit den Behörden der Moskauer Oblast steht (er ist der einzige unter allen Vorsitzenden der Verwaltungskreise im Gebiet, der sich vehement gegen die Abschaffung der Direktwahl bei Kommunalwahlen wehrt – eine Reform, für die Worobjow lobbyiert), war der Druck auf ihn noch nie so enorm wie seit Beginn der Müll-Krise. Die Regionalverwaltungen werden laufend durchsucht; laut Schestun kommen Drohungen direkt von den Mitarbeitern des FSB und Beamten der Gouvernementsbehörden: Entweder du trittst von deiner Kandidatur bei den kommenden Wahlen zurück und stoppst die Proteste, oder es passiert was.

    Malheur für die Regierungspartei

    Vor dem Hintergrund der Müll-Proteste geriet [die Regierungspartei – dek] Einiges Russland – genauer, die hiesige Abteilung – in eine Bredouille. Die Jedinorossy im Rajon Serpuchow sind nämlich selbst aktive Teilnehmer der Müll-Proteste. Auf der Demonstration sind neben Flaggen der KPRF, der Anarchisten und von Jabloko auch zahlreiche blau-weiße Flaggen der Regierungspartei zu sehen. Und es ist längst nicht die erste Demo, an der hiesige Parteimitglieder teilnehmen.

    Einige Tage zuvor, nach Bekanntwerden der Aufruhr, bekamen die Regionalpolitiker Besuch vom stellvertretenden Regierungsvorsitzenden der Oblast Alexander Kostomarow und von der Gebietsvorsitzenden der Partei Lidija Antonowa. Sie wollten ihre Parteigenossen zur Räson bringen. Doch der Trip war nicht von Erfolg gekrönt. „Leben Sie mal selbst hier auf der Müllkippe“, schlug man den Funktionären vor. Seit Montag, dem 16. April, soll die Abteilung der Partei Einiges Russland im Rajon Serpuchow nun per Eilbeschluss des Parteirats aufgelöst werden.

    Um die 5000 Menschen haben sich versammelt, überall schimmern bunte Flaggen, Luftballons und Plakate
    Um die 5000 Menschen haben sich versammelt, überall schimmern bunte Flaggen, Luftballons und Plakate

    Die Kundgebung endete mit der Verabschiedung einer Resolution. Die drei Hauptforderungen lauten: Die Deponie ist sofort zu schließen. Die Verwaltung der Moskauer Oblast hat drei Monate Zeit, der Öffentlichkeit einen Rekultivierungs-Plan für die Mülldeponie vorzulegen. Ferner ist ein Plan für den Bau einer Recycling-Anlage zu erarbeiten.

    Die Resolution wurde einstimmig angenommen.

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