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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Der Rubel ist abhängig von bin Salman – möge Allah ihn behüten!“

    „Der Rubel ist abhängig von bin Salman – möge Allah ihn behüten!“

    Anfang März haben sich die 13 Staaten des Ölkartells OPEC mit Russland und anderen Erdöl exportierenden Ländern in Wien an einen Tisch gesetzt. Um der weltweit sinkenden Nachfrage nach Öl- und Ölprodukten zu begegnen, wollten sie gemeinsam die Fördermenge drosseln und damit das Angebot verknappen. Das Vorhaben scheiterte: Vor allem der russische Unterhändler Alexander Nowak hatte sich gegen eine Verknappung gestemmt.

    Seitdem sprudeln weltweit die Ölquellen, und die Preise purzeln: Ein Barrel Brent ist derzeit für unter 30 US-Dollar zu haben, die für Russland wichtigste Rohölsorte Urals kostet ohne Rabatte weniger als 25 US-Dollar – bei Förderkosten, die manche ausländischen Experten auf rund 42 US-Dollar taxieren.

    Dumping würden aber vor allem „die anderen“ betreiben, sagte kürzlich Rosneft-Chef Igor Setschin, und verwies vor allem auf Saudi-Arabien. Dabei betragen die Förderkosten für saudisches Öl laut derselben Schätzung rund 17 US-Dollar. Aus diesem Grund kann sich das Land offenbar auch leisten, derzeit großzügige Rabatte auf den Marktpreis zu gewähren – auch für Abnehmer in Europa und China, die traditionell Russlands Kunden sind. Die Folge ist ein Preiskrieg, bei dem Russland zunehmend vom Markt verdrängt wird.

    War dieser Preiskrieg gewollt, als Russland in Wien ausscherte? Haben sich Setschin und Nowak dabei verkalkuliert? War ihnen nicht klar, dass der Rubelkurs eng am Ölpreis hängt? Die Novaya Gazeta hat den Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew in einem Interview dazu befragt.

    Irina Tumakowa: Inwieweit ist das Coronavirus schuld daran, dass der Rubelkurs derart gefallen ist? Und inwieweit hat es andere Gründe?

    Wladislaw Inosemzew: Das Coronavirus ist gewissermaßen ein Trigger. In letzter Zeit sind die Ölpreise weltweit zurückgegangen. Weil die Nachfrage sehr langsam stieg und zu spüren war, dass sie sich weiter verlangsamt. Die OPEC hat im November 2019 einen Bericht veröffentlicht, in dem sie prognostiziert, dass die Wachstumsraten bei der Ölnachfrage in den kommenden 20 Jahren bei einem Drittel dessen liegen werden, was wir aus den vergangenen 20 Jahren kennen. 
    Die Abmachung der OPEC von 2016 sollte die Ölpreise ansteigen lassen. Es hat aber keinen Anstieg gegeben. Im Gegenteil: Sie gingen mit jedem Jahr zurück. Als dann das Coronavirus kam, war die erste Welle des Preisverfalls eine absolut natürliche Reaktion auf die Epidemie und die Maßnahmen der Regierungen in den verschiedenen Ländern. Wenn die OPEC-Abmachung bis zum April gehalten hätte, wären Preise von 45 bis 50 Dollar, wie wir sie noch bis Anfang März hatten, weiterhin möglich gewesen.

    Genau das wollten die OPEC-Länder bei ihrem Treffen Anfang Dezember 2019  in Wien auch erreichen, so wie ich das verstehe.

    Saudi-Arabien und andere Länder wollten die Produktion noch weiter drosseln, aber Russland war nicht bereit dazu, und die Abmachung platzte. Die letzten Preisrückgänge waren unmittelbar darauf zurückzuführen, dass Saudi-Arabien seinen Kunden riesige Preisnachlässe versprochen und erklärt hatte, dass es bereit sei, um einzelne Märkte einen Krieg zu beginnen – insbesondere um den europäischen Markt, und dazu das Förder- und Absatzvolumen zu erhöhen.

    Das heißt, die staatlichen Fernsehsender haben Recht? Ist Saudi-Arabien tatsächlich an allem Schuld, nicht wir?

    Russland hat das Abkommen abgelehnt und seine primäre Verantwortung für den Rückgang der Ölpreise liegt auf der Hand. Doch schauen wir uns einmal die Preis-Charts von Freitag, dem 6. März an, und die Erklärung aus Wien, dass das Abkommen geplatzt ist: Von einem Scheitern des Abkommens war bereits am 4. März die Rede, als Nowak nach Moskau abgereist war. Der Ölpreis fiel um fünf bis sechs Prozent. Am Freitag, 6. März, nachdem er zurückgekehrt war und wieder keine Einigung zustande kam, fiel der Ölpreis um weitere vier Prozent und stabilisierte sich bei rund 44 Dollar pro Barrel. Weiter dann, am Wochenende, erklärten die Saudis, dass sie den Europäern und Amerikanern einen Rabatt von 7 bis 8 Dollar auf den aktuellen Preis geben. Sie haben also gesagt: Wir werden nicht für 45, sondern für 37 Dollar verkaufen.

    Die Saudis sind gegenüber dem berüchtigten Charisma von Putin immun

    Riad war wegen der Position Moskaus empört. Und Mohammed bin Salman ist eben nicht irgendein Schröder, der davon träumt, an die Tränke von Rosneft zu gelangen.

    Gegenüber dem berüchtigten Charisma von Putin herrscht hier Immunität. So war also letztendlich das Handeln Saudi-Arabiens der Grund, dass die Ölpreise derart stark nachließen. Übrigens nicht aus Versehen, sondern vollkommen bewusst.

    Eine solche Reaktion Saudi-Arabiens hätte man wohl voraussehen können. War der Nutzen durch den Ausstieg aus dem OPEC-Abkommen für Russland größer als der Schaden durch mögliche Folgen? Inwieweit ist dieser Abzug im Interesse Russlands?

    Er ist überhaupt nicht im Interesse Russlands. Man hätte ihn aber voraussehen können.

    Der Chef von Rosneft verkündet, die Förderung anzukurbeln und die Produzenten von Schieferöl in den Ruin zu treiben. Experten haben aber vielfach gesagt, dass Russland die Förderung bei niedrigen Preisen nicht wird steigern können; die meisten Vorkommen sind nur schwer zu fördern, verbunden mit hohen Kosten. Wo liegt da für Rosneft der Sinn?

    Das müssten Sie Setschin fragen; ich stimme Ihnen da vollkommen zu. Das Problem ist auch, dass man die US-amerikanischen Schieferölproduzenten nicht kaputtmachen kann.

    Das haben die Amerikaner schon mehrfach bewiesen.

    Ja, das haben sie, das ist das eine. Und es gibt noch einen zweiten Aspekt: Vor einigen Tagen hat die Bank of England den Schlüsselzinssatz gesenkt, vergangene Woche auch die Fed. Selbst wenn eine amerikanische Ölfirma auf Null arbeiten muss, würde es sie nichts kosten, Überbrückungskredite aufzunehmen – und mit dem Ausblick auf steigende Preise weiterzumachen. Selbst wenn irgendeine verrückte Bank versuchen würde, die Firma in den Ruin zu treiben, kann man Insolvenz beantragen und viele Jahre unter dem Schutz des berühmten Chapter 11 des US-amerikanischen Insolvenzrechts tätig sein, während die Umstrukturierung läuft. Dieser Zeitraum kann sich zwei bis drei Jahre hinziehen. In dieser Zeit würde Russland schlichtweg pleitegehen. Und die amerikanischen Firmen würden weiter Öl pumpen, weil sie zumindest für die Löhne und zur Kostendeckung Einnahmen brauchen.

    Und für Rosneft gibt es keine Möglichkeit für Überbrückungskredite zu niedrigen Zinssätzen, es fällt ja unter die Sanktionen, in Europa und den USA wird man keine Kredite geben.

    Russland hat viele Reserven, mit denen Ölfirmen unterstützt werden können. Anstelle von Krediten wären da Steuererleichterungen, der Fonds für nationalen Wohlstand [FNB], auf den Setschin seit langem schimpft, und so weiter. Ich meine einfach, dass die ganze Logik, mit der Rosneft die amerikanischen Unternehmen kaputt machen will, sehr lächerlich wirkt.

    War das denn wirklich die Logik dahinter? Vielleicht hat Herr Setschin ja auch ganz andere Motive?

    Na, ich weiß nicht. Vielleicht will er die Preise ruinieren, damit sich der Börsenwert von Lukoil halbiert, und er dann mit Hilfe eines Strafverfahrens gegen Alekperow das Unternehmen kaufen kann. Wie das mit Baschneft der Fall war. Warum auch nicht? Wir wissen nicht, was Setschin im Sinn hat. Wie dem auch sei, auf der Sitzung bei Putin war niemand außer Setschin dafür, den Deal platzen zu lassen. 

    Also steht der Staat vor der Alternative: Entweder er unterstützt Rosneft, das gegen die Amerikaner Krieg führt, oder der Staat erfüllt seine sozialen Verpflichtungen gegenüber der Bevölkerung?

    Das würde ich so nicht sagen. Der Staat verfügt wirklich über sehr große Reserven. Der Haushalt des vergangenen Jahres ist nicht vollkommen ausgeschöpft worden. Der FNB beläuft sich jetzt auf 124 Milliarden Dollar. Unter Berücksichtigung der Abwertung sind das rund zehn Prozent des BIP. Der Staatshaushalt macht etwa 18 Prozent des BIP aus. Selbst wenn dort eine Lücke von drei Prozent entsteht, dann können bei den heutigen Reserven alle festgeschriebenen sozialen Verpflichtungen zwei, drei, ja sogar vier Jahre lang ohne große Probleme erfüllt werden. Außerdem ist der Haushalt nicht die ganze Wirtschaft, es gibt noch den privaten Sektor. Der Dollar steigt, die Einkommen sinken. Die Bevölkerung überlegt, ob man nicht etwas für schlechte Zeiten zurücklegen sollte, schließlich ist es ja beunruhigend. Die Leute gehen nicht mehr in Cafés, fahren nicht mehr in Urlaub und kaufen keine teuren Sachen.

    Das haben wir 2015 gesehen, als der Rubel gegenüber dem Dollar einbrach. Übrigens ebenfalls durch das Vorgehen von Rosneft und dessen Chef.

    Ja. Außerdem fällt der Rubel – die Zentralbank ist gezwungen, mit einer Erhöhung der Zinssätze zu antworten. Kredite werden teurer, die Käufe von Wohnraum auf Hypothek und Autos auf Kredit gehen zurück. Das heißt, die Realwirtschaft wird sich abschwächen, selbst wenn der Haushalt wie ein Uhrwerk funktioniert. In Russland ist somit ein Wirtschaftsrückgang absolut unausweichlich.

    Und das alles nur deshalb, weil allein Igor Iwanowitsch Setschin aus dem Deal mit der OPEC aussteigen wollte?

    Wir haben hier die Effekte sowohl durch das Coronavirus als auch durch Setschin, und dadurch, dass unsere Wirtschaft zu stark reguliert ist, um angemessen auf Herausforderungen zu reagieren.

    In Russland ist ein Wirtschaftsrückgang absolut unausweichlich

    Doch der Setschin-Effekt ist nicht zu vernachlässigen. Offenbar ist Setschin einer der größten Newsmaker in der russischen Wirtschaft, wir konnten das auch schon früher sehen, auch beim Deal mit Baschneft und in anderen Situationen. Sein Einfluss sollte nicht unterschätzt werden.

    Wie geht es weiter mit dem Rubel?

    Ich glaube nicht, dass morgen schon etwas Katastrophales passiert. Ich hatte in diesen Tagen einen sehr viel stärkeren Rückgang erwartet. Ich denke, die Regierung wird den Rubel erst einmal stützen. Für die Menschen in Russland ist der Devisenkurs ein wichtiges symbolisches Moment. Wir erinnern uns an die Situation im Januar 2016, als der Ölpreis innerhalb weniger Tage auf 29 Dollar pro Barrel zurückging und der Dollar auf 85 Rubel hochschnellte. Jetzt gibt es diese Panik nicht. Und das ist gut: Die Zentralbank und das Finanzministerium verfolgen eine sehr viel angemessenere Politik, und die Wirtschaft reagiert nicht so empfindlich auf die Ereignisse. Deswegen schließe ich mich nicht der „100 Rubel für 1 Dollar“-Prognose an. Der neue Korridor wird bei 72 bis 75 Rubeln liegen in den nächsten paar Monaten. Der Kreml wird nicht erklären, wie schön das ist – wie Putin das mal gesagt hat –, wenn man für einen Dollar mehr Rubel kaufen kann. Das Regime spürt jetzt: Seine Popularität ist längst nicht so groß, dass man die Geduld der Bevölkerung auf die Probe stellen könnte.

    Ein allzu drastischer Kursrückgang wird nicht begrüßt, doch im Weiteren wird dann alles davon abhängen, was die Saudis machen: Wie stark sie tatsächlich die Ölförderung ankurbeln und in welchem Maße sie den Markt mit ihren Preisnachlässen erobern. Der Rubel ist jetzt von Mohammad bin Salmans Willen abhängig – möge Allah ihn behüten!

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  • „Es geht darum, den Gegner möglichst schmerzhaft zu treffen“

    „Es geht darum, den Gegner möglichst schmerzhaft zu treffen“

    Treffen sich neun Staats- und Regierungschefs, und nur einer spricht – rund eine Schulstunde lang. Über diese Episode, die sich Ende Dezember in Moskau ereignet hat, sind in Russland viele Anekdoten entstanden: Über die verdutzten Vertreter von GUS-Staaten, die der russische Präsident als Schuljungen dastehen lasse. Und über Putin selbst, der in seiner sogenannten „Geschichtsstunde“ neueste Erkenntnisse über die vermeintlich eigentlichen Verursacher des Zweiten Weltkriegs präsentiere. 

    Die Episode wiederholte sich kurze Zeit später im russischen Verteidigungsministerium, außerdem kündigte Putin an, einen Artikel zu der Schuldfrage zu veröffentlichen. Die Angelegenheit scheint dem Präsidenten offenbar so wichtig, dass einige Beobachter seine Ausführungen nun auch als „neue Münchner Rede“ bezeichnen. Diese Rede von 2007 gilt vielerorts als die antiwestliche Wende in der russischen Außenpolitik.

    Vor allem aus Polen hagelt es nun Kritik an Putins Worten: Politiker, Historiker und jüdische Gemeinden stemmen sich vehement gegen die Deutung des russischen Präsidenten, der sagte, die Schuld am Holocaust trügen mehr oder weniger alle. Polens Präsident Andrzej Duda hat nun sogar angekündigt, nicht nach Israel zum World Holocaust Forum zu fliegen – weil Putin daran teilnehmen werde. Zum Auftakt der Gedenkfeiern zur Befreiung des NS-Vernichtungslagers Auschwitz vor 75 Jahren werden dort am 23. Januar 47 Staats- und Regierungschefs erwartet, Putin soll eine Rede halten.

    Worin besteht die neue geschichtspolitische Offensive des russischen Präsidenten? Und warum sind die Menschen in Polen so verärgert darüber? Diese Fragen hat die Novaya Gazeta Alexej Miller gestellt, Geschichtsprofessor an der Europäischen Universität Sankt Petersburg.

    Bereits im Jahr 2005 besuchte Putin die Gedenkstätte in Yad Vashem / Foto © kremlin.ru
    Bereits im Jahr 2005 besuchte Putin die Gedenkstätte in Yad Vashem / Foto © kremlin.ru

    Andrej Lipski: Putin hat wiederholt auf das Münchner Abkommen von 1938 verwiesen. Damit wird der Auffassung, die „beiden Totalitarismen“ seien für den Kriegsausbruch verantwortlich, eine andere gegenübergestellt: Demnach sind alle politischen Akteure der Vorkriegszeit auf ihre Weise mitschuldig – alle haben Dreck am Stecken.

    Im gegenwärtigen Stadium trifft das vor allem die ratlosen und verärgerten Polen – die ersten Opfer des Zweiten Weltkriegs und des Molotow-Ribbentrop-Pakts, die ihrerseits das Narrativ von den „zwei Verantwortlichen“, das der Kreml kategorisch ablehnt, besonders aktiv vorantreiben.

    Alexej Miller: Putins Vorschlag war: Sprechen wir doch über den Molotow-Ribbentrop-Pakt, das Münchner Abkommen und andere Umstände der Vorkriegsgeschichte mit Blick darauf, dass alle mehr oder weniger schuldig sind. In gewissem Sinn entspricht das der alten, vormaligen Nachkriegstradition der europäischen Erinnerungskultur. Auch hier ging man davon aus, dass alle auf die eine oder andere Weise Mitschuld am Holocaust tragen.

    Die osteuropäischen Länder, vor allem Polen und die baltischen Staaten, lehnen jedoch jede Mitverantwortung ab. Das alles hat schon vor recht langer Zeit begonnen. 2009 hat das EU-Parlament beschlossen, den 23. August zum Europäischen Gedenktag für die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus zu erklären. Im ursprünglichen Entwurf war die Rede vom Gedenken an die Opfer „totalitärer und autoritärer Regime“. Im Abschlussdokument wurde das Wort „autoritär“ jedoch gestrichen – auf Druck der Vertreter osteuropäischer Länder, in denen es in der Vorkriegszeit autoritäre Regime gab, mit allem was dazugehört, einschließlich antisemitischer Ausschreitungen.

    Statt sich auch mit den eigenen Verfehlungen auseinanderzusetzen, schlug man lieber das bequeme Konzept der ‚beiden totalitären Systeme‘ vor

    Statt sich auch mit den eigenen Verfehlungen auseinanderzusetzen, schlug man lieber das bequeme Konzept der „beiden totalitären Systeme“ vor: Sie sind für alles verantwortlich und sonst niemand.
    Den Vorschlag, alle sollten miteinander über ihre gemeinsame Schuld sprechen, hat Putin in seiner Rede bei den Gedenkfeiern zum 70. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs am 1. September 2009 auf der Westerplatte in Polen gemacht.

    Aber dort hat er sich zum Molotow-Ribbentrop-Pakt ganz anders geäußert, als es die Vertreter der russischen Regierung heute tun. 

    Es ist ein schwerer Fehler, dass wir nicht daran festgehalten haben und jetzt stattdessen von einem großen Sieg der Sowjetdiplomatie geredet wird. Man muss schon sehr weltfremd sein, um den Molotow-Ribbentrop-Pakt so zu beschreiben.

    Man muss schon sehr weltfremd sein, um den Molotow-Ribbentrop-Pakt als großen Sieg der Sowjetdiplomatie zu beschreiben

    Putin und [der damalige polnische Ministerpräsident] Tusk traten 2009 übrigens quasi als Duett auf: Es gehe darum, das schwere Erbe der Vergangenheit zu überwinden und sich um Versöhnung und gegenseitiges Verständnis zu bemühen. So stellte Tusk damals fest, die Sowjetarmee habe zwar keine Freiheit bringen können, da sie selbst nicht frei gewesen sei; sie habe jedoch die Befreiung vom Nationalsozialismus gebracht. Putin stand daneben und nickte. Und dann kam [der damalige polnische Staatspräsident Lech – dek] Kaczynski, der gleich am nächsten Tag demonstrativ eine Resolution in den Sejm einbrachte, die forderte, das Massaker von Katyn als Völkermord anzuerkennen.

    Wir sprechen oft von einer „politischen Instrumentalisierung der Vergangenheit“. Aber die kann auf sehr unterschiedliche Art stattfinden. Putin und Tusk haben die Vergangenheit „instrumentalisiert“, um zur Entspannung und zum Streben nach Versöhnung beizutragen. Kaczynski hat sie benutzt, um diese Bemühungen offen zu torpedieren. 

    Leider hat Letzteres, die Logik der Konfrontation, heute gesiegt. Wozu sich verständigen, „einen Schlussstrich ziehen“, „weiße Flecken“ ausfüllen und die „schwarzen Flecken“ auswaschen, wozu sich versöhnen, die Vergangenheit überwinden und Freundschaft schließen? … Heute hat der Rückgriff auf die Vergangenheit einen anderen Sinn: Es ist ein Vernichtungskrieg; keine Seite hat vor, Frieden zu schließen.

    Was hat Putin denn jetzt zu seiner „Geschichtsstunde“ bewogen?

    Ich kann da nur Vermutungen anstellen. Zunächst wohl die Resolution des EU-Parlaments, die am 19. September 2019 angenommen wurde. Sie hat nicht nur Wut ausgelöst, sondern wegen ihrer schwerwiegenden politischen Implikationen auch für ernsthafte Besorgnis gesorgt. 

    Als sich Putin die Resolution genau ansah, wurde ihm bewusst, dass das eine Initiative von polnischen Abgeordneten im Europäischen Parlament war. So kann man erklären, wie es in Putins Geschichtsstunde zu der Kritik an Polens Politik vor dem Zweiten Weltkrieg kam, und weshalb er den damaligen polnischen Botschafter in Deutschland als Antisemit beschimpfte.

    Ein weiterer naheliegender Grund ist Putins bevorstehende Israel-Reise zum Welt-Holocaust-Forum im Januar [am 23.1.2020 – dek]. Angenommen, das war reine Taktik, so ist sein Plan aufgegangen: Der polnische Präsident Andrzej Duda wird nicht dorthin fahren. Das hat auch eine Vorgeschichte: Als sich letztes Jahr der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zum 80. Mal jährte, haben die Polen Putin nicht zur Gedenkveranstaltung eingeladen.

    Schon früher gab es Resolutionen oder Ähnliches, in denen „die beiden totalitären Regime“ für die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs verantwortlich gemacht wurden. Warum jetzt auf einmal eine solche Reaktion auf die Resolution des EU-Parlaments vom September? 

    Diese Resolution ist nicht einfach eine von mehreren; sie ist speziell. Wenn das Thema früher vor allem für Osteuropa (vor allem für Polen und die baltischen Länder) wichtig war, haben diesmal bis auf die paar Dutzend linke Abgeordnete alle Parlamentarier dafür gestimmt. Das ist das eine.

    Pelewin: „Demnächst wird man uns auch noch die Verantwortung für den Holocaust zuschieben“

    Außerdem sieht der Kreml die Sache womöglich so: Im September wurde die Resolution vom Europäischen Parlament angenommen. Bis Dezember hat sich kein einziger europäischer Staats- oder Regierungschef dazu geäußert – also finden das offenbar alle in Ordnung. Wenn wir nun nicht darauf reagieren, wird diese Position zur neuen Norm.

    Viktor Pelewin hat schon 2015 geschrieben: „Man hat uns schon zusammen mit Hitler für den Zweiten Weltkrieg verantwortlich gemacht, demnächst wird man uns auch noch die Verantwortung für den Holocaust zuschieben.“
    Wenn das damals vielleicht ein bisschen komisch erschien, so gibt es heute darüber nichts mehr zu lachen – die Tendenz ist ja wirklich spürbar. Und in dieser Situation kann man Putins Entscheidung, die Diskussion auf die höchste Ebene zu bringen, als Kampfansage an andere Staatslenker und führende Politiker verstehen: „Wenn ihr glaubt, dass ihr damit einfach so durchkommt, ohne harte Diskussion, dann habt ihr euch getäuscht.“

    Du beschäftigst dich schon seit Langem mit dem Phänomen der Geschichtspolitik und auch mit den „Erinnerungskriegen“, die daraus hervorgehen. Wozu ist das gut?

    Als ich mich diesem Thema in den frühen 2000er Jahren zuwandte, geschah das aus dem Interesse des Historikers heraus, der feststellte, dass die Berufung auf die Geschichte zunehmend der Konfrontation dient statt der Verständigung und Versöhnung. Als Wendepunkt sehe ich das Jahr 2004. Damals haben die Polen begonnen, die Geschichtspolitik offen als wesentlichen Teil des politischen Instrumentariums zu bezeichnen.

    Jahrelang war mein wichtigstes Motiv, meine wichtigste Botschaft: „Leute, was soll das? Begeben wir uns doch nicht in diesen Sumpf!“ Aber irgendwann war klar, dass wir schon mittendrin stecken.

    ‚Begeben wir uns doch nicht in diesen Sumpf!‘ Aber irgendwann war klar, dass wir schon mittendrin stecken

    Dann fängst du an, die Mechanismen dieser Erinnerungskriege zu erforschen – wer sie betreibt und wie sie geführt werden. Und du begreifst, dass dein Land so oder so in all das verstrickt ist. Du kannst nicht sagen: „Streitet ihr euch nur, wir halten uns da raus“, weil der Streit zu dir nach Hause kommt. Du äußerst dich dazu, wie sich dein Land unter diesen Umständen hätte verhalten sollen. Du wirst nicht zum offiziellen Geschichtskrieger, aber du sagst öffentlich, was deiner Meinung nach zu tun wäre. Und schon bist du in gewissem Sinn selbst in die ganze Sache verwickelt. Das ist ein sehr schwerwiegendes berufliches und moralisches Problem.

    Mit welchen Mechanismen und Instrumenten wird Geschichtspolitik umgesetzt? Wer befasst sich damit und wer ist dafür verantwortlich?

    Erstens gibt es in einigen Ländern staatliche Einrichtungen, die als Institute für Nationales Gedenken bezeichnet werden (zum Beispiel in Polen und in der Ukraine), oder beispielsweise Kommissionen zur Untersuchung der Schäden durch die sowjetische Besatzung. Es gibt Museumseinrichtungen, etwa die Museen zur Besatzungsgeschichte in Riga, Vilnius, Tallinn, Tbilissi und Kiew. Manche waren ursprünglich privat und sind dann zu staatlichen Institutionen geworden. 
    Dann gibt es auch Aktivitäten von außenpolitischen Behörden, sowohl öffentliche als auch nichtöffentliche.

    Die offiziellen Erklärungen der Außenministerien kennen wir. Aber wie agieren sie nichtöffentlich?

    Wenn etwa in Deutschland jemand etwas sagt, das dem litauischen Außenministerium missfällt, bombardiert die litauische Botschaft in Deutschland verschiedene Institutionen mit Briefen, unter anderem auch Universitäten. Ich spreche hier von realen Geschehnissen. Das ist kein konstruiertes Beispiel.

    Haben sich neben Putin auch andere führende Politiker an Erinnerungskriegen beteiligt?

    Bis vor kurzem kam das öffentlich praktisch nicht vor. Allerdings hat der israelische Staatspräsident Reuven Rivlin im September 2016 eine Rede in der Werchowna Rada der Ukraine gehalten, in der er an die aktive Beteiligung ukrainischer Nationalisten an der Ausrottung der Juden während des Krieges erinnerte.

    Und was sehen wir in Russland?

    Russland war sehr spät dran. In den 1990er Jahren war der Hauptakteur des historischen Gedächtnisses die NGO Memorial. Und ein wenig auch die Russisch-Orthodoxe Kirche. Dann hat die Regierung so idiotische Institutionen geschaffen wie die Kommission beim Präsidenten zur Bekämpfung von Versuchen der Geschichtsfälschung, die von 2009 bis 2014 bestand und dann sang- und klanglos wieder verschwand. 
    2012 erschienen Organisationen auf der Bildfläche, die offiziell als NGOs auftreten, aber eng mit der Regierung verbunden sind und von ihr kontrolliert werden: Die Historische Gesellschaft Russlands und die Russische Militärhistorische Gesellschaft. Die 2008 gegründete Stiftung Historisches Gedächtnis erweiterte ihr Tätigkeitsfeld und wurde gezielt auf die Erinnerungskriege ausgerichtet.

    Ebenfalls 2012 wurde das Gesetz über „ausländische Agenten“ verabschiedet, das vor „schädlichen“ Einflüssen und Fördergeldern aus dem Ausland schützen sollte, auch auf dem Gebiet des historischen Gedenkens. Zugleich fing der Staat an, erhebliche Mittel in diesen Bereich zu pumpen, und zwar nicht nur in die größten Non-Profit-Organisationen.

    Seither erhalten viele Leute staatliche Fördermittel für historische Forschung, und das wirkt sich irgendwann darauf aus, wie sie ihre Fragen formulieren.

    Zur gleichen Zeit setzte übrigens auch die Arbeit an einem historischen und kulturellen Bildungsstandard ein. Und 2013 markiert auch den Beginn der Großausstellungsreihe Russland – Meine Geschichte. Diese Ausstellungen werden dann unter derselben Bezeichnung in ständige Geschichtsparks umgewandelt.

    Das offizielle Russland hat spät mit der Institutionalisierung der Erinnerungspolitik begonnen. Sie ist hierzulande in vielerlei Hinsicht reaktiv.

    Erinnerungspolitik ist hierzulande in vielerlei Hinsicht reaktiv 

    Ist der einzige Verbündete Russlands bei der Interpretation des Gedenkens an den Krieg heute der Staat Israel, für den der Holocaust nach wie vor das zentrale Thema darstellt?

    Für Russland ist das Thema Holocaust im Zusammenhang der Erinnerungskriege eher von Vorteil, weil die sowjetische Armee den Holocaust im Endstadium gestoppt und die Nazis besiegt hat. Und obwohl es durchaus auch Russen gab, die am Holocaust beteiligt waren, ist das nicht zu vergleichen mit dem, was in der Ukraine und in den baltischen Staaten geschah. Vor allem werden solche Leute in unserem Land nicht heroisiert, und das unterscheidet unsere Geschichtspolitik grundlegend von derjenigen dieser Länder. Natürlich hat nicht jedes Mitglied der ukrainischen OUN Juden ermordet.
    Aber wir wissen, dass in der Ukraine heute Hunderte von Denkmälern und Gedenktafeln für Menschen stehen, die sich am Holocaust beteiligt haben. Das ist der entscheidende Punkt. Von daher können wir gerade bei diesem Thema Seite an Seite mit Israel stehen.
    Und wenn Sie sich den Ablauf der Feierlichkeiten anschauen, die am 23. Januar in Israel stattfinden, dann sehen Sie, dass dort das frühere Kriegsnarrativ festgeschrieben wird. Es werden die Führer der Großmächte der Anti-Hitler-Koalition sprechen, natürlich die Israelis selbst und offenbar auch die Deutschen. Warum fährt der polnische Präsident Duda nicht dorthin? Nicht nur, weil Putin Polen „beleidigt“ hat. Sondern weil die Israelis ihm klargemacht haben, dass er nicht reden wird – schon gar nicht nach Putin als Erwiderung auf dessen Rede.

    Ich möchte noch einmal auf Putins Geschichtsstunde zurückkommen. War es nötig, dass der russische Staatschef selbst in die Erinnerungskriege eingegriffen hat?

    Ich halte das für einen Fehler. Wenn man sich im Kriegszustand befindet, überlegt man natürlich, wie man den Gegner möglichst schmerzhaft treffen kann – auch bei Erinnerungskriegen. Aber das sind taktische Erwägungen. 

    Wenn man sich im Kriegszustand befindet, überlegt man natürlich, wie man den Gegner möglichst schmerzhaft treffen kann – auch bei Erinnerungskriegen

    Die andere Frage ist, wie man aus dem Krieg wieder herauskommt. Man kann ja nicht davon ausgehen, dass er endlos weitergeht – kein Krieg dauert ewig. Außerdem hat ein solcher Krieg es an sich, dass man zu seiner Geisel werden kann. Bis vor kurzem – als Russland zusah, wie die osteuropäischen Länder die Erinnerungskriege vom Zaun brachen – appellierte es noch an die Führer der größeren westlichen Mächte …

    … an die Mächte des sogenannten Alten Europa …

    … sie sollten ihren „Juniorpartnern“ klarmachen, dass das falsch ist. Und jetzt müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die Juniorpartner praktisch allen ihre Agenda aufgezwängt haben, weil die Seniorpartner sich da heraushalten wollten und glaubten, sie könnten hier nachgeben, um die westliche Solidarität nicht zu verletzen. Wenn man in einer solchen Situation auf höchster Ebene interveniert, trägt das nur dazu bei, die allgemeine Konfrontation zwischen Russland und dem Westen noch zu verschärfen. Es wird sehr schwer, da wieder herauszukommen. 

    Wozu sind denn all diese NGOs gegründet worden? Es gibt doch mit Wladimir Medinski, dem Kulturminister und Vorsitzenden der Russischen Militärhistorischen Gesellschaft eine sehr effektive Waffe. Lasst ihn alles sagen, was er innerhalb der Logik der Erinnerungskriege für nötig hält, und haltet das Staatsoberhaupt aus diesem Streit heraus, der verheerend ist, vor allem für die Reputation. 
    Aus strategischer Sicht ist es wichtig, dass der Staatschef Manövrierraum hat, dass er über den Querelen steht und die Möglichkeit wahrt, einen Ausweg aus dem Krieg zu finden. Das zählt mehr als taktische Erfolge – wobei noch gar nicht erwiesen ist, dass die überhaupt erzielt wurden.

    Es ist noch zu früh, um die Folgen abzuschätzen, aber es ist immer eine schwache Entscheidung, wenn in der Politik die Taktik über die Strategie siegt.

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  • Operation Entmenschlichung

    Operation Entmenschlichung

    Noch nie gab es in russischen Gefängnissen so wenige Insassen: Etwas mehr als eine halbe Million Menschen verbüßen derzeit ihre Haftstrafe. Vor 20 Jahren waren es etwa doppelt so viele, nach den USA war Russland das Land mit den meisten Gefangenen pro 100.000 Einwohner.

    Was sich in den letzten 20 Jahren allerdings nur wenig verändert hat, sind die Haftbedingungen. Heute gibt der russische Staat täglich nur etwas mehr als umgerechnet zwei Euro pro Gefangenen aus. Ein Haftplatz in Deutschland kostet rund das 60-fache. Abgesehen von oft katastrophalen Haftbedingungen müssen sich die Gefangenen in Russland auch besonderen Knast-Gesetzmäßigkeiten unterwerfen: Erniedrigungen und Folter seitens der Justizmitarbeiter oder Mitinsassen gehören dort faktisch zur Tagesordnung. Zwar gibt es bestimmte Ausnahmen, wie sie die Leiterin der Gefangenen-Hilfsorganisation Rus Sidjaschtschaja Olga Romanowa beschreibt, insgesamt sei das russische Gefängniswesen aber systematisch darauf ausgerichtet, Menschen zu brechen.

    Eine Innenansicht solcher Praktiken liefert Oleg Senzow. Der ukrainische Regisseur wurde 2014 verhaftet und nach einem als politisch-motiviert eingestuften Prozess wegen Terrorismus verurteilt. Erst im Zuge eines Gefangenenaustauschs kam Senzow im September 2019 frei. In der Novaya Gazeta gibt er einen Einblick hinter Gitter und reiht sich damit ein in das traditionsreiche Genre russischer Gefängnisliteratur.

    Der ukrainische Regisseur Oleg Senzow liefert eine Innenansicht russischer Gefängnisse / Foto © Anna Artemjewa/Novaya Gazeta
    Der ukrainische Regisseur Oleg Senzow liefert eine Innenansicht russischer Gefängnisse / Foto © Anna Artemjewa/Novaya Gazeta

    Alle Gefängnisse ähneln sich wie traurige Verwandte. Jedoch nur äußerlich – in ihrer inneren Struktur unterscheiden sie sich: Es gibt welche, wo es schlecht ist, und solche, in denen vollständige Finsternis herrscht. Für einen Außenstehenden, der nicht im System steckt, sind diese Unterschiede schwer zu erkennen und zu verstehen. Kommt eine Überprüfungskommission ins Gefängnis oder in die Strafkolonie, dann ist dort alles in bester Ordnung, die Häftlinge haben keinerlei Beschwerden, die Anstaltsleitung ist zuvorkommend, die Prüfer sind zufrieden. Das wirkliche Gefängnisleben wird für die Zeit des Kommissionsbesuchs weggepfercht und übertüncht. Ist die Kommission wieder weg, geht alles wieder seinen gewohnten Gang, manchmal den Gang der Höllenkreise.

    Lager, in denen die Häftlinge gebrochen werden sollen

    Der schwer auszusprechende Name des kleinen Städtchens am Polarkreis wird dem Durchschnittsbürger nichts sagen. Den Häftlingen sagt er hingegen sehr viel. Labytnangi oder umgangssprachlich Labytki, kennen fast alle, die einsitzen, wie auch den nicht weniger traurigen Nachbarort, die Siedlung Charp, die „Polareule“. Sie wurden in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts als Lager errichtet, in denen die Häftlinge unter den schweren Bedingungen des hohen Nordens gebrochen werden sollten – und das ist noch heute so. Ihr Ziel ist nicht, die Häftlinge zu bessern oder sie arbeiten zu lassen (außer acht Monaten im Jahr Schneeschippen gibt es hier nichts zu tun), sondern sie in eine gehorsame Herde Vieh zu verwandeln. Dese Aufgabe wird seit vielen Jahren mit großem Erfolg erfüllt. Im Prinzip wird in Russland jede Strafanstalt mit dem Ziel errichtet, jemanden zu brechen und zu vernichten, menschliche Körper und Schicksale zu zermalmen. Nur geschieht dies mancherorts auf alltägliche Art, routinemäßig, während es woanders wie am Fließband läuft und ein unvorstellbar perverses Niveau erreicht.

    Außer acht Monaten im Jahr Schneeschippen gibt es nichts zu tun

    Dort gibt man dir gleich auf der Schwelle zu verstehen, dass du in ein Fegefeuer geraten bist, in dem du keinerlei Rechte hast, Beschwerden zwecklos sind und es niemanden gibt, bei dem man sich beschweren könnte. Die Ankömmlinge werden allein deshalb gnadenlos geschlagen, weil sie existieren; das ist die sogenannte „Aufnahme“. Es ist eine obligatorische Prozedur, praktisch ein Ritual. Hier wird dir auch beigebracht, dass du die Mitarbeiter der Anstaltsverwaltung nie anders als mit „Bürger Vorgesetzter“ anzureden und für jede Handlung um Erlaubnis zu fragen hast, etwa, um an einem Uniformierten vorbeizugehen: „Erlauben Sie, dass ich vorbeigehe, Bürger Vorgesetzter?“ Die Häftlinge haben laut und im Chor zu grüßen, ganz gleich, wie oft man den betreffenden Mitarbeiter an diesem Tag schon gegrüßt hatte, mit einem klaren und freundschaftlichen „Guten Tag, Bürger Vorgesetzter!“

    Nach der „Aufnahme“ wird dir eine Zusammenarbeit mit der Verwaltung nahegelegt, wobei klargemacht wird, dass es hier im Lager keine einfachen mushiki gibt, sondern nur kollaborierende krasnyje und erniedrigte petuchi. Dabei musst du wählen, zu wem du gehören willst.

    Wenn du dich für deine eigene Variante entscheidest, ein anständiger Häftling zu bleiben, wird dir mit Hilfe entsprechender Werkzeuge zu verstehen gegeben, dass du falsch liegst. Gut die Hälfte der Neuankömmlinge schlägt sich schon in der Quarantäne auf die Seite der Roten, der Rest versucht standhaft zu bleiben. Diejenigen, die nicht umgehend gebrochen werden können, werden langfristig bearbeitet; sie werden praktisch über die gesamte Haftzeit hinweg psychischem und physischem Druck ausgesetzt.

    Drohungen mit Vergewaltigung sind ständige Begleiter

    Während der zweiwöchigen Quarantäne wirst du regelmäßig schikaniert. Die Anstaltsordnung pauken, patriotische Lieder und die Hymne der Russischen Föderation singen, in Reih und Glied marschieren, im Gleichschritt – das sind die Pflichtteile der Anfangslektion im Umerziehungsprogramm. Diesen Schwachsinn abzulehnen, nicht in eine Kooperation einzuwilligen und die entsprechenden Papiere nicht zu unterschreiben, das trauen sich nur wenige. Für die gibt es allerdings spezielle Behandlungen, die in der sogenannten petrowka stattfinden. Das ist ein kleines einzeln stehendes Gebäude mit zwei Zellen und drei Büroräumen für die operativen Mitarbeiter. Hier behandelt man die Ungehorsamen besonders grausam, denn, wie es so schön heißt: „Operative drehen nicht Däumchen“. Schläge, Erniedrigungen, Elektroschocks, nackt in einer kalten Zelle oder in einem nassen Knastkittel zu stecken – das ist nicht das Schlimmste, was dir passieren kann.

    Vielleicht wirst du für einen Tag in eine Matratze eingerollt und herumgeworfen wie eine Puppe. Oder noch schlimmer: Man steckt dich in Embryohaltung in eine Metallkiste und verschließt sie wie einen Safe, in dem man keine Luft bekommt und unter sich macht, weil eine Toiletten- oder Mittagspause bei diesem Abenteuer nicht vorgesehen ist.

    Drohungen mit Vergewaltigung sind ständige Begleiter der erniedrigenden Behandlung.

    Für den Häftling gibt es nur ein Mittel, sich gegen diese Folter zu wehren, nämlich, sich aufzuschlitzen. Mit einer Klinge, einem Stück Glas oder Metall, mit den Zähnen. Sich die Adern aufschneiden, aufreißen, damit man ins Gefängnislazarett gelangt, wo man sich von diesem Albtraum ein wenig erholen kann. Kommst du so weichgekocht wieder hoch ins Lager, hat das Leiden des Häftlings jedoch kein Ende. Du gerätst in ein eigenartiges Zombieland, in dem sämtliche offizielle Regeln mit idiotischer und perverser Genauigkeit befolgt werden; darüber hinaus gibt es noch einen Haufen eigener Regeln, lokale Raffinessen, die sich die werte Verwaltung hat einfallen lassen. Wagemutige, die gegen dieses System kämpfen, gibt es wenige, und wenn die sich nicht fügen, wird ihnen übel mitgespielt, dann werden sie gebrochen, durch den Dreck gezogen, aber die Hände sollen sich dabei andere schmutzig machen. Die besonders Standhaften werden in die jeschka gesteckt, ins JePKT, das sich im benachbarten Charp befindet, wo sich der nächste Kreis der Hölle angesiedelt hat.

    Nur ein Mittel, sich gegen diese Folter zu wehren

    Der die gesamte Haftzeit hindurch leidende mushik sieht, wie vor seinen Augen die Barackenmeister „ausfliegen“ und herumschnüffeln mit ihren Schergen, den sogenannten kosly (dt. Ziegenböcke), die nicht angerührt, geschlagen oder erniedrigt werden. Er sieht jene, die ihr Gewissen für ein kleines bisschen süßeres Leben verkauft haben, die für die Verwaltung der Strafkolonie arbeiten, die mithelfen, den übrigen Häftlingen das Regime reinzudrücken. Viele halten es nicht aus, geben auf und gehen zu den Roten, wo es leichter ist, wärmer, und wo es eine Chance gibt, dass man früher auf Bewährung freigelassen wird.

    Das aus zehn Mitarbeitern pro Schicht bestehende Team ist nicht in der Lage, 500 Lagerhäftlinge in dieser sklavischen Hörigkeit zu halten. Also wurde ein System geschaffen, bei dem die Hälfte der Insassen offen oder insgeheim mit der Verwaltung zusammenarbeitet und dabei hilft, die Ordnung und die Atmosphäre der Angst und des Misstrauens aufrechtzuerhalten. Du kannst nichts machen oder etwas sagen, was den Mitarbeitern nicht zugetragen würde.

    Jeder der kosly führt im Laufe des Tages seine kleine Liste in die er alle Verfehlungen einträgt, alles, was er gesehen oder gehört hat, jede Information über andere Häftlinge, die für die operativen Mitarbeiter nützlich ist – auch über Denunzianten wie er selbst einer ist. Am Ende des Tages sammelt der Barackenmeister all diese Zettel auf einem Haufen und stellt den Gesamtbericht über die Baracke zusammen. Der wird am Morgen den Operativen übergeben, die das alles bearbeiten und entsprechende Maßnahmen treffen. Und schon wird jemand zur Bestrafung in die petrowka abgeführt.

    Bei den Roten herrscht untereinander heftige Konkurrenz. Sie versuchen alle, sich diensteifrig nicht nur bei der Verwaltung hervorzutun, sondern auch bei dem eigenen Barackenmeister, um auf der lokalen Hierarchieleiter aufzusteigen. Dabei werden gegeneinander Intrigen gesponnen und sowohl Mitarbeiter als auch andere Häftlinge in diese Machenschaften hineingezogen. Nicht alle können so wendig oder zynisch sein, daher justiert das System die benötigten Leute ständig neu und stößt die ungeeigneten ab. Dieses verbrauchte Menschenmaterial wird als Wolle oder Krätze bezeichnet, mit dem weder die Roten selbst und umso weniger die mushiki etwas zu tun haben wollen.

    Die Barackenmeister mit ihren engsten Untergebenen schröpfen nicht nur andere Häftlinge, wenn diese Pakete bekommen oder sich etwas im Gefängnisladen gekauft haben, sie gehen auch in größerem Stil vor. Unter Mithilfe des operativen Personals und der aus der Masse aller Insassen angeworbenen Unterhändler werden unerträgliche Bedingungen geschaffen oder verschleierte Fallen für Erpressungsopfer aufgebaut, die angesichts der Gefahr, in den „Gockelstall“ zu geraten (die Sonderbaracke für gefallene petuchi), bereit sind zu zahlen. Manchmal ist das eine einmalige Aktion, manchmal eine regelmäßige. Und es ist längst nicht gesagt, dass ein solch gejagter kabantschik tatsächlich draußen Geld hat. Dann ruft er flehend zu Hause an, und es wird ein Auto verkauft oder ein Kredit aufgenommen.

    Die umfassende Atmosphäre der Rechtlosigkeit, des Misstrauens, der Gewalt und der Angst innerhalb eines Lagers, das durch einen Verbotskanon eingefriedet ist, gleicht dem Modell eines kleinen totalitären Staates. Kafka und Orwell in einem. Dort zu existieren und dabei Mensch zu bleiben, ist sehr schwer. Diese Atmosphäre sorgt in jeder Weise dafür, dass du dich in einen gehorsamen Sklaven verwandelst, in einen Zombie, ein Tier, das bereit ist, seinen Artgenossen an die Kehle zu gehen, um das eigene Leben leichter zu machen, und das auf alle Fragen der Prüfer antwortet: „Keine Beschwerden, Bürger Vorgesetzter!“ Weil die Kommission wieder abfährt, die petrowka aber bleibt.

    Jedes Gefängnis ist ein Abbild der Gesellschaft

    Bis ins Unendliche lassen sich die Schrecken des Gefängnisses, die Folter und die Erniedrigungen beschreiben. Man kann all die gottverdammten Orte des Strafvollzugsystems in Russland aufzählen, die all jene auswendig kennen, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Man kann hunderte Überprüfungsmissionen engagierter Menschenrechtsbeauftragter schicken, die in Wirklichkeit Beauftragte der Gefängnisverwaltung sind. Oder sogenannte Gesellschaftskommissionen, die vor allem aus ehemaligen Mitarbeitern bestehen, die keinerlei Verfehlungen feststellen werden. Ändern wird sich dadurch nichts. Jedes Gefängnis ist lediglich ein Abbild der Gesellschaft, die es erschafft. Ein Land, das zwei Schritte von einem totalitären Staat entfernt ist, kann keine anderen Gefängnisse haben. Man könnte Labytnangi dem Erdboden gleich machen, doch würde dieser Furunkel an anderem Ort erneut aufbrechen – weil dieser Staat von innen heraus krank ist.
     

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  • Star Wars und die Frauenfrage

    Star Wars und die Frauenfrage

    Immer wieder kritisieren Opferverbände und Menschenrechtsaktivisten, dass Frauen in Russland nicht genug vor häuslicher Gewalt geschützt werden. Erst 2017 trat ein Gesetz in Kraft, wonach häusliche Gewalt als Ordnungswidrigkeit mit entsprechend geringem Strafmaß geahndet wird. Nur, wenn jemand binnen eines Jahres wiederholt tätlich wird, droht ihm eine Haftstrafe – von bis zu drei Monaten.

    Derzeit sorgt eine geplante Gesetzesänderung wieder für Proteste. Der Entwurf sieht einen besseren Opferschutz vor, etwa ein Kontaktverbot für Täter. Aktivistinnen und Menschenrechtlerinnen wie der Rechtsanwältin Olga Gnesdilowa gehen die Änderungen jedoch nicht weit genug. Im Gespräch mit RBC kritisierte sie etwa, dass der Abstand, den ein Täter zum Opfer einhalte müsse, von den vorgesehenen 50 Metern wieder auf Null zurückgenommen worden sei.

    In der Debatte gibt es zum einen die konservative Position, die vor allem seitens der Kirche vorgetragen wird, wonach die hierarchische Familienstruktur schützenswert und Privatangelegenheit sei, und zum anderen die liberale, die einen größeren Schutz für die Opfer und härtere Strafen für die Täter verlangt. 

    Generell polarisieren Fragen wie Feminismus und Frauenrechte sehr stark, dabei verlaufen die Meinungs-Grenzen quer durch unterschiedliche Lager. „Es ist möglich ein Liberaler zu sein, der die Gleichstellung der Geschlechter leugnet“, kommentiert Wladislaw Inosemzew im Blog auf Echo Moskwy. „Wer sie aber verteidigt, der kann nur Liberaler und Demokrat sein.“ 

    Anna Narinskaja geht in der Novaya Gazeta noch einen Schritt weiter und meint, in der Frauenfrage habe sie sich endgültig vom „Paketdenken“ verabschiedet. 

    Noch vor ein paar Jahren schien mir, den meisten denkenden Menschen in Russland sei das sogenannte Paketdenken eigen.

    Hinter diesem Begriff steht der Gedanke, dass unsere Werte weltanschaulich miteinander verknüpft sind. Um also zu wissen, welche Gesinnungs- und somit auch Wahl-Präferenzen ein bestimmter Mensch hat, muss man sich keineswegs tiefgehend mit ihm beschäftigen. Man muss über ihn nur irgendetwas, jedoch etwas möglichst Symptomatisches, wissen. Beispielsweise kann man aus dem, wie jemand auf die Frage antwortet, ob sowohl Väter als auch Mütter Elternzeit nehmen können, auch auf vieles andere schließen: was er über das Verbot von Gay-Paraden denkt, was er von radikaler moderner Kunst hält. Und wen er bei den nächsten Wahlen wählen wird.

    In Russland waren noch vor rund sieben Jahren diese Pakete enger geschnürt als in den USA, wo dieses Phänomen erstmals benannt wurde. Im Grunde gab es genau zwei: Das archaische Denken und das progressive Denken.

    Sag mir, was du von Pawlenskis Performances hältst und ich sage dir, was du über den russischen „Sonderweg“ denkst

    Sag mir, was du von Pawlenskis Performances hältst und ich sage dir, was du über den russischen „Sonderweg“ denkst und vom verfaulten beziehungsweise nicht verfaulten Westen. Ja, und wen du wählst, das sage ich dir auch.

    Heute muss ich zugeben, dass diese Theorie nicht mehr funktioniert. Und nicht nur, weil die heutige Regierung ganz offensichtlich untauglich ist für die sogenannte Rolle des Bewahrers, sodass die Kette „Ihre Installationen sind keine Kunst; die Redefreiheit kann nur bis zu einem bestimmten Punkt gelten; man muss doch seine sexuelle Orientierung nicht offen vor sich hertragen“ bei weitem nicht immer endet bei „Putin ist unser Steuermann“.  

    Die Krise der werteorientierten Regierungspolitik fällt zusammen mit einem Wertewandel auf der ganzen Welt in einer Zeit, in der neue ethische Regeln aufgestellt werden (versuchen Sie nur mal auf die Frage zu antworten, wofür jemand einsteht, der den Putinismus unterstützt – außer dem russischen Anrecht auf die berühmte Halbinsel). Das Ergebnis ist, dass das Bündel progressiver Werte, wie es vor zehn Jahren geschnürt war, dem von heute in keiner Weise mehr gleicht.

    Es geht doch nicht, dass die Heldin des neuen Star Wars-Films eine junge Frau ist! 

    Die Pakete lösen sich auf, logische Ketten fallen auseinander. Wie viele derer, die die Redefreiheit verfechten, verzweifeln daran, dass die Hauptheldin des neuen Star Wars-Films eine junge Frau ist! Das geht doch nicht, das kann man doch nicht gutheißen! Das schwache Geschlecht kann doch bitte nicht unseren Luke Skywalker ersetzen. Auf gar keinen Fall.
    Und wie viele übereifrige Gegner der aggressiven russischen Außenpolitik teilen in den sozialen Medien Tag für Tag Ansichten wie „Nun, wenn sie mit in sein Hotelzimmer gegangen ist, dann heißt das, dass sie verantwortlich ist für das, was dann kam“.

    Wichtig ist: Der wesentliche Schnittpunkt zwischen konservativem und progressivem Paket – der Punkt, an dem sich alle treffen, an dem es keinen Unterschied gibt –  ist mittlerweile die Frauenfrage. Bei den unterschiedlichsten damit verbundenen Themen (ob man jungen Müttern verbieten soll, im Schutze eines Museumssaals zu stillen, bis hin zu all den Variationen von „selbst Schuld”) vereinen sich die Vertreter diametral entgegengesetzter Ansichten. (Das Geschlecht hat hierbei keine Bedeutung – bei weitem nicht alle Frauen sind Verfechterinnen der Gleichberechtigung.)

    Der Schnittpunkt zwischen konservativem und progressivem Denken ist die Frauenfrage

    Ich möchte die beiden für mich offensichtlichsten Gründe dafür anführen.

    Erstens: Für die ältere Generation klingt „Gleichberechtigung der Frau“ wie ein Echo sowjetischer Heuchelei, als sich eben jene Gleichberechtigung ausdrückte in der bis zur Erschöpfung getriebenen, die Kräfte übersteigenden Arbeit einer Eisenbahnarbeiterin und Vollzeit-Parteisekretärin mit fester Hochsteckfrisur.

    Zweitens: Das Internet und andere Technologien machen uns alle zu Bewohnern der großen weiten Welt. US-amerikanische Themen, von eben jener Heldin aus Star Wars bis zum Ende vieler Karrieren aufgrund von Belästigung, werden gleichsam auch zu unseren Themen.

    Und so entsteht die irreführende, aber überzeugende Vorstellung, wir würden in einer Welt leben, in der Metoo gesiegt hat und in der es in den unterschiedlichsten Organisationen Frauenquoten gibt. Und nicht in einem ganz konkreten Land, in dem der Abgeordnete Leonid Sluzki junge Interviewerinnen begrapscht und nicht nur seinen Posten behält, sondern auch noch ausgezeichnet wird. In einem Land, in dem in einer der besten Schulen der Hauptstadt im Unterricht den Jungen Hammer und den Mädchen Lappen in die Hand gedrückt werden mit den Worten „Ihr werdet doch Hausfrauchen“, gleichsam zur Programmierung ihrer Rolle. In einem Land, in dem häusliche Gewalt entkriminalisiert wird.

    Genau deswegen ist die Frage, welches Verhältnis wir zur Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Sicherheit für Frauen in Russland haben, eine ausschlaggebende Frage. Ausschlaggebend für das Land und für uns, die wir hier leben.
    In vielem ist das eine Frage der Bewusstmachung und des Begreifens der Wirklichkeit, also dessen, was Veränderungen überhaupt erst möglich macht.
    Nein, wir leben nicht in der sowjetischen Simulation von Gleichberechtigung und nicht in der US-amerikanischen unbedingt zu erfüllenden Politcorrectness. Wir leben in diesem Hier und in diesem Jetzt.
       

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  • Warum die USA den Zerfall der UdSSR nicht wollten

    Warum die USA den Zerfall der UdSSR nicht wollten

    Um den Zerfall der Sowjetunion ranken sich in Russland heute viele Mythen. Die Schuldfrage für das, was Wladimir Putin 2005 als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet hat, erhitzt in Russland immer noch viele Gemüter. 

    Für die einen war Gorbatschow der „Totengräber der Sowjetunion“. Für die anderen haben die USA den Sargnagel eingeschlagen: Während des Kalten Krieges hätten sie alles daran gesetzt, die Sowjetunion zu vernichten. 

    Steile These, meint Wirtschaftswissenschaftler Dimitri Trawin, die keiner Prüfung standhalte. In der Serie Mythen in Russland unter Putin in der Novaya Gazeta argumentiert er auch gegen diesen Mythos.

    Kurz vor Silvester 1991 ist Michail Gorbatschow zurückgetreten, und damit war der Schlusspunkt unter die Geschichte der UdSSR gesetzt. Viele sind der Ansicht, dass es Amerika war, das unser Land damals zugrunde richtete. Es sind zwar bis heute keine Belege aufgetaucht, dass die CIA oder das US-Außenministerium Gorbatschow und Jelzin bezahlt hätten, doch das stört die Anhänger dieser Verschwörungstheorie nicht. Der Untergang der Sowjetunion aufgrund der Konfrontation der Großmächte erscheint ihnen vollauf logisch. Schließlich weiß ja jeder, dass wir uns mit Washington im Kalten Krieg befanden. Dass der wichtigste und gefährlichste Gegner die USA waren. Dass die Amerikaner daran interessiert waren, den Gegner zu schwächen. Und wenn es darum geht, ihn zu schwächen, dann heißt das nach Möglichkeit auch: ihn zu zerstören. Wenn nun die UdSSR zerfallen ist, bedeutet das also: Die in Übersee gesponnenen Intrigen haben schließlich gefruchtet.

    Es sind bis heute keine Belege aufgetaucht, dass die CIA Gorbatschow und Jelzin bezahlt hätte, doch das stört die Anhänger dieser Verschwörungstheorie nicht

    Einen überzeugten Verschwörungstheoretiker kann man nicht umstimmen. Aber mit vernünftig denkenden Menschen kann man über die Logik solcher Gedankengänge sprechen, weil ja das Bestreben, den Gegner zu schwächen, in der Tat kein Mythos ist. Das Vorhaben jedoch, die UdSSR vollständig zu Grunde zu richten, ist Mythos par excellence. Ein Zusammenbruch der UdSSR war nicht das Bestreben der USA. Gorbatschow war der amerikanischen Führung sympathisch. Sie hätte es lieber gesehen, dass er unser Land weiter regiert anstatt dass da, wo einst die Sowjetunion war, eine große Anzahl selbständiger Staaten mit unberechenbaren Herrschern entsteht. Natürlich gab es in den USA unverbesserliche Hardliner, die unser Land derart hassten, dass sie bereit waren, selbst dann dagegen vorzugehen, wenn es zum Schaden ihres eigenen Landes ist. Diese Leute haben aber keine Entscheidungen auf staatlicher Ebene getroffen und keinen Einfluss auf die praktische Politik gehabt.

    Es hat womöglich einen Moment gegeben, an dem die USA tatsächlich einen Zerfall der UdSSR gewollt haben könnten, nämlich 1962, während der Kubakrise. Damals hatte Washington etliche Gründe anzunehmen, dass die Regierung in Moskau unberechenbar und die Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges sehr groß ist. 

    Danach allerdings gestaltete sich die Lage besser und besser. Für sie wie auch für uns. Zuerst gelang es, die Kubakrise zu bewältigen. Die UdSSR stationierte keine Raketen auf Kuba. Danach beseitigte die Parteiführung der UdSSR Nikita Chruschtschow, der unglaublich impulsiv war und imstande, mit dem Schuh auf das Rednerpult der UNO zu schlagen und zu verkünden, dass wir Amerika erledigen. An der Spitze des Sowjetregimes stand nun Leonid Breshnew, der den Zweiten Weltkrieg durchlebt hatte und daher dem Frieden zugeneigt war. 1972 setzten ernsthafte Kontakte zwischen Washington und Moskau ein. 1975 haben wir die Schlussakte von Helsinki unterzeichnet, in der die Unverletzlichkeit der Nachkriegsgrenzen in Europa anerkannt wurde. Es gab intensive Gespräche über Rüstungsbeschränkung für bestimmte Waffentypen. 

    Wir können also sagen: Wenn die Amerikaner Anfang der 1960er Jahre noch wirklich an die Möglichkeit eines Atomkrieges geglaubt und Luftschutzräume eingerichtet hatten, so war in den 1980er Jahren beiden Seiten  bewusst, dass es keinen globalen Krieg geben wird.

    In den 1980er Jahren war beiden Seiten  bewusst, dass es keinen globalen Krieg geben wird

    Die Führer der beiden Staaten beschimpften einander, und die Propagandisten verbreiteten ideologische Klischees, die einen Teil der Normalbürger beunruhigen sollten, die meisten ließen sich aber keine Angst mehr machen. 

    Und als Gorbatschow mit seinem Konzept des neuen Denkens kam und dann in ein Ende der sowjetischen Kontrolle über die Länder Mittel- und Osteuropas einwilligte, sank die Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges nahezu gegen null. Es sei denn, jemand hätte versehentlich den Roten Knopf gedrückt.

    Eben jener Knopf führt uns vor Augen, dass die USA 1991 keineswegs einen Untergang der UdSSR wollten. Jeder noch so antiamerikanisch eingestellte Mensch wird nach einigem Nachdenken zugeben, dass die Wahrscheinlichkeit, dass jemand versehentlich den Knopf drückt, größer wurde, nachdem der zugängliche und berechenbare Gorbatschow abgetreten war. Außerdem stieg die Wahrscheinlichkeit eines ungewollten Krieges gar nicht so sehr wegen der Führungswechsel, sondern aufgrund des Zerfalls des Staatsapparates, der mit dem Untergang der Sowjetunion einher ging. Es kamen in den unterschiedlichen Republiken unterschiedliche neue Leute an die Macht. Mitunter ganz zufällig. Und die Atomwaffen hätten schlicht außer Kontrolle geraten,  für Geld in die Hände von Terroristen oder Banditen gelangen können. Es gibt übrigens eine ganze Reihe amerikanischer Filme, die so anfangen, dass Privatleute in den Besitz von Massenvernichtungswaffen kommen wollen, um die ganze Welt zu erpressen. Hier werden in der Kunst recht genau tatsächlich bestehende Ängste abgebildet.

    Die USA wollten allein wegen ihrer eigenen Sicherheit keinen Zerfall der UdSSR

    Die USA wollten also allein wegen ihrer eigenen Sicherheit keinen Zerfall der UdSSR. Und nachdem dieser dennoch eingetreten war, wollten sie ein starkes, verlässliches Russland, das die Atomwaffen aus den anderen postsowjetischen Staaten übernimmt. Die verbreitete Vorstellung, dass der Kalte Krieg unbedingt auf einen Zweikampf der Kontrahenten hinauslaufen müsse, und zwar bis zur Vernichtung des Gegners, hält keiner Prüfung stand, weder der Fakten noch der Logik.

    Es ist wichtig, dass uns das klar wird. Nicht, um Amerika zu rechtfertigen. Amerika kratzt das sowieso kein bisschen. Wichtig ist es, damit wir die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. Wenn nämlich die Massen meinen, Amerika habe die UdSSR zugrunde gerichtet, dann wird die Gesellschaft nicht in der Lage sein, die wirklichen Gründe dafür zu verstehen, wie diese Großmacht tatsächlich in den völligen Niedergang glitt. Und diese Massen sind leicht zu manipulieren. Wenn wir uns die Köpfe nicht mit lauter Quatsch vollstopfen, werden wir bald verstehen, wie viele Probleme es in der sowjetischen Politik und Wirtschaft gegeben hat. Und genau sie waren es, die die UdSSR in den Untergang getrieben haben.

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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    Zitat #1: „Wir haben eine neue Kubakrise“

  • Moskowskoje Delo – Prozesse nach Protesten

    Moskowskoje Delo – Prozesse nach Protesten

    Neun Teilnehmer der Massenproteste Ende Juli sind inzwischen in Haft. Anfang August entschieden die Gerichte, dass sie bis 27. September im Gefängnis bleiben müssen, vorgeworfen werden ihnen „Teilnahme an Massenunruhen“ (nach Artikel 212) und „Gewaltanwendung gegen Staatsvertreter“ (nach Artikel 318). Gegen einen zehnten Protestteilnehmer, Sergej Fomin, wurde ebenfalls Anklage erhoben. Vier Menschen, die ihre Solidarität für den verhafteten Studenten Jegor Shukow in Einzel-Pikets bekundet hatten, wurden festgenommen.


    Kommt nun der Moskowskoje delo (Moskauer-Prozess) – analog zum Bolotnoje delo (Bolotnaja-Prozess) nach 2011–13? Die Novaya Gazeta rekonstruiert das Vorgehen der Behörden und stellt fünf der inhaftierten Protestteilnehmer vor.

    Erstmals seit dem 6. Mai 2012 hat das Ermittlungskomitee angesichts der politischen Protest in Moskau eine Strafsache wegen Massenunruhen eingeleitet. Die Demonstranten hatten gefordert, unabhängige Kandidaten zu den Wahlen zum Stadtparlament zuzulassen.

    Einleitung des Verfahrens

    Am 30. Juli wurde nun das Verfahren eingeleitet. Also just an dem Tag, an dem Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin die Proteste vom 27. Juli im TV-Sender TWZ verurteilt hatte, indem er sie als „von vornherein geplante und gründlich vorbereitete Massenunruhen“ bezeichnete. Im Falle der Bolotnaja-Proteste wurde das Strafverfahren unmittelbar am 6. Mai eröffnet, der Ermittler war damals am Ort des Geschehens live dabei. Die jetzige dreitägige Verzögerung könnte auf eine lange politische Entscheidungsfindung hinweisen.

    Just eine Stunde nach Sobjanins TV-Auftritt gaben die Behörden dann auch die Einleitung des Strafverfahrens bekannt. Dabei wiederholte die amtliche Verlautbarung eins zu eins die Worte des Bürgermeisters: Den Ermittlungen zufolge haben die Protestteilnehmer „Gewalt gegen die staatlichen Sicherheitskräfte angewandt, Absperrungen durchbrochen und den Verkehr auf dem Gartenring (Sadowoje Kolzo) im Stadtzentrum von Moskau lahmgelegt“. Eine gewisse  „Gruppierung“ habe kurz vor den Protesten die Bürger im Internet dazu aufgerufen, auf die Straße zu gehen.

    In der Nacht zum 31. Juli gab es erste Hausdurchsuchungen bei den Protestteilnehmern. Durchgeführt wurden sie von Mitarbeitern des Dienstes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung beim FSB sowie dem Zentrum für Extremismusbekämpfung beim Innenministerium.

    Der Fall wurde der Hauptstelle des Ermittlungskomitees in Moskau übergeben. Das Untersuchungsteam besteht aus sage und schreibe 84 (!) Ermittlern und wird angeführt von Dimitri Jeremin, einem Sonderermittler für besonders wichtige Angelegenheiten. Er war es auch, der die beiden Tatbestände – Massenunruhen (Art. 212) und Gewaltanwendung gegen Staatsvertreter (Art. 318) – in einem großen Prozess zusammenführte.

    Kritik an Wahl-Prozedere nur „ein Vorwand“

    Trotz der fast 100 Ermittler ist die Beweislage, den Akten zufolge, ziemlich dünn. Noch dünner als bei den Bolotnaja-Prozessen vor sieben Jahren. 
    So geht aus den Unterlagen hervor, dass „nicht identifizierte Personen“ die Nicht-Zulassung von unabhängigen Kandidaten zur Wahl  „als Vorwand“ benutzt hätten, um „Massenunruhen zu organisieren“. Dabei sollen einige der Demonstrierenden vom 27. Juli „mit ihrem Beispiel“ andere Protestteilnehmer zu „Massenunruhen“ angestiftet haben.

    Am 27. Juli hätten „nicht identifizierte Personen“ die Zusammenkunft von „mindestens 3500 Protestteilnehmern“ vor dem Moskauer Rathaus „organisiert“, diese seien dann ihren „gesetzeswidrigen Aufrufen gefolgt“ und hätten unter Anwendung körperlicher Gewalt „die Absperrungen durchbrochen, sich gesetzeswidrig verhalten und den Straßenverkehr auf dem Gartenring lahmgelegt, indem sie auf die Fahrbahn gegangen“ seien.
    Aktuell hat das Ermittlungskomitee gegen zehn Verdächtige Anklage erhoben [9 sind bereits in Untersuchungshaft, gegen einen weiteren Protestteilnehmer liegt ein Haftbefehl vor – dek]. Genau wie bei den Bolotnaja-Protesten wurden sie willkürlich herausgepickt. Keiner von ihnen legte ein Geständnis ab.

    Fünf der Inhaftierten, gegen die am 2. August Haftbefehl erlassen wurde, stellt die Novaya Gazeta vor:  

    Samariddin Radshabow

    Samariddin Radshabow hatte vor Gericht stets ein Lächeln im Gesicht / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    Samariddin Radshabow hatte vor Gericht stets ein Lächeln im Gesicht / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    Der 21-jährige usbekisch-stämmige russische Staatsbürger Samariddin Radshabow kam für zwei Monate in Untersuchungshaft. Der junge Mann mit abgebrochenem Realschulabschluss hatte in seinem Gerichtskäfig stets ein Lächeln im Gesicht.

    Die Richterin Katerina Kiritschenko hatte sich dadurch so vor den Kopf gestoßen gefühlt, dass  sie  ihn in strengem Ton zu etwas mehr Ernsthaftigkeit ermahnte: „Hier gibt es nichts zu lachen!“

    Eine Vertreterin des Ermittlungskomitees erklärte, Radshabow habe am 27. Juli eine Plastikflasche in Richtung der Polizeibeamten geworfen (die – das nur mal kurz am Rande – in voller Montur unterwegs waren), einen von ihnen am Hals getroffen und ihm damit „körperliche Schmerzen“ zugefügt. Um die Untersuchungshaft zu rechtfertigen, sagte sie unter anderem, der Verdächtige habe sich „vom Tatort entfernt“. Radshabow war überrascht: „Entfernt“ habe er sich doch höchstens aufs Polizeirevier, wohin man ihn direkt vom Trubnaja Platz (Trubnaja Ploschtschad) aus gebracht habe. Ein Schuldgeständnis legte der junge Mann, der nach eigener Aussage als Vorarbeiter arbeitet, nicht ab, obwohl er von einem Pflichtverteidiger vertreten wurde.

    Das Gericht hat nun beschlossen, dass der freundlich lächelnde usbekische junge Mann die nächsten zwei Monate seines Lebens in Untersuchungshaft verbringen wird.

    Iwan Podkopajew

    Iwan Podkopajew bleibt bis zum 27. September in Untersuchungshaft / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    Iwan Podkopajew bleibt bis zum 27. September in Untersuchungshaft / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    Der 25-jährige Iwan Podkopajew wurde ebenfalls am Trubnaja Platz festgenommen. In seinem Rucksack fanden die Ordnungshüter unter anderem einen Hammer und ein Teppichmesser. Vor Gericht wies Podkopajew die Anschuldigungen zurück und erklärte unmissverständlich, dass er die außerdem gefundene Gasmaske für seine tägliche Arbeit brauche,  er sei von Beruf Techniker, das Pfefferspray diene zum Schutz vor gefährlichen Hunden.

    Der Sitzungsleiter Sergej Artjomow hielt sich an unnötige Formalitäten und bat den Ermittler die Beweise für die Schuld des jungen Mannes aufzuzählen. Dazu war der Vertreter des Ermittlungskomitees nicht in der Lage, er zögerte und entschied sich dann einfach, die üblichen allgemeinen Formulierungen aus den Prozessakten vorzulesen. Den Richter stellte diese Antwort zufrieden – Podkopajew muss bis zum 27. September in Untersuchungshaft.

    Kirill Shukow

    Kirill Shukow war in der Vergangenheit selbst Angehöriger der russischen Nationalgarde, er wies alle Anschuldigungen zurück / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    Kirill Shukow war in der Vergangenheit selbst Angehöriger der russischen Nationalgarde, er wies alle Anschuldigungen zurück / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    Der 28-jährige Kirill Shukow wird sitzen, weil er in der Nähe des Twerskaja Platzes den Helm eines Angehörigen der Nationalgarde aufgehoben und mitgenommen hat. Shukows Schuld wird nach Angaben des Ermittlers durch die zusammengetragenen Materialien und die Protokolle der Wohnungsdurchsuchung bei ihm bekräftigt. „Der junge Mann hat keine regelmäßigen Einkünfte und ist vom Tatort geflüchtet“, erklärte der Ermittler vor Gericht. Richterin Alexandra Awdotjina war der gleichen Ansicht.

    Shukow war in der Vergangenheit selbst Angehöriger der Nationalgarde. Er wies die Anschuldigung zurück und trat nach der Verhaftung als Zeichen des Protests in den Hungerstreik.

    Alexej Minjailo

    Alexej Minjailo wurde auf dem Weg zum Trubnaja Platz festgenommen / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    Alexej Minjailo wurde auf dem Weg zum Trubnaja Platz festgenommen / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    Die Verhaftung von Alexej Minjailo, eines freiwilligen Mitarbeiters im Stab von Ljubow Sobol, verlief anders als die der anderen. Minjailo hatte bereits Unterschriftensammler für Sobols Kandidatur geschult und war gemeinsam mit ihr 20 Tage im Hungerstreik. Seinen Worten zufolge war er am Tag der Protestaktion im Moskauer Chamowniki Gericht. Als er am Abend versuchte zum Trubnaja Platz zu gelangen, wurde er unterwegs festgenommen. Somit hat er an der Protestaktion gar nicht teilgenommen, dennoch wird er der „Teilnahme an Massenunruhen“ beschuldigt. In dieser Verhandlung traten Freunde und der Vater des Beschuldigten als Zeugen der Verteidigung auf.

    Nach ihren Aussagen ist Minjailo ein ehrlicher und gläubiger Mensch und ein Patriot, der nicht vorhat unterzutauchen. Die Verteidigung erklärte sich bereit, eine Kaution von einer Million Rubel [circa 13.700 Euro] zu zahlen. Minjailo selbst gab an, dass keine Beweise für seine Schuld vorlägen, weder Fotos noch Aussagen, wonach er irgendetwas Ungesetzliches während der Protestaktion getan hätte – zumal er es noch nicht einmal geschafft habe, daran teilzunehmen. Für Minjailo bürgten Ekaterina Schulmann, Mitglied im Menschenrechtsrat des Präsidenten, und die Fernsehmoderatorin Tatjana Lasarewa. Ohne Erfolg – Minjailo wurde ebenfalls hinter Gitter geschickt.

    Jegor Shukow

    Für Jegor Shukow bürgte vergeblich die Vizedirektorin der renommierten Higher School of Economics / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    Für Jegor Shukow bürgte vergeblich die Vizedirektorin der renommierten Higher School of Economics / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    Jegor Shukow, Student an der Higher School of Economics in Moskau und Videoblogger, wurde einen Tag nach seiner Festnahme bei der Protestaktion 21 Jahre alt. Zu seiner Unterstützung erschienen im Gericht Freunde und Studienkollegen. Shukows Anwalt Daniil Berman bat darum, seinem Mandanten eine Flasche Wasser zu geben, da dieser „seit zwei Stunden nichts getrunken und seit dem gestrigen Tag nicht geschlafen hat“.

    Richterin Alexandra Awdotjina lehnte die Bitte jedoch ab und erklärte, die Übergabe einer Flasche mit Wasser sei nicht gestattet.

    „Ist das hier die Gestapo?!“, empörte sich die Mutter Shukows.

    Shukows Schuld wird nach Angaben der Ermittler durch die zusammengetragenen Materialien und die Untersuchungssergebnisse bekräftigt. „Shukow könnte Beweise vernichten und Informationen aus den Ermittlungen an andere Beteiligte weitergeben“, so der Vertreter des Komitees.

    Der Beschuldigte selbst wies die Anschuldigung zurück und bat darum, ihn nicht in Haft zu nehmen. Zu einer Bürgschaft für Shukow erklärte sich die Vizerektorin der Higher School of Economics, Valeria Kassamara, bereit, deren Registrierung für die Wahl zur Moskauer Stadtduma erfolgreich war. Doch auch diese Bürgschaft half nichts – der Student Shukow wurde von der Gesellschaft und der Universität isoliert.

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    Protest in Moskau: Ausblick auf 2024?

    Seit über zwei Wochen gehen Menschen in Moskau wegen der Nichtzulassung von Oppositionskandidaten zur Regionalwahl auf die Straße. Nachdem die letzte große Kundgebung am 20. Juli weitgehend friedlich verlief, ist der Protest am vergangenen Samstag eskaliert: Die Polizei und die Nationalgarde griffen hart durch, zumal die Demonstration nicht von den örtlichen Behörden genehmigt worden war. Laut Menschenrechtlern gab es viele Verletzte, mehr als 1300 Menschen wurden verhaftet.

    Schon im Vorfeld haben Sicherheitskräfte einige der Oppositionskandidaten festgenommen, Mitarbeiter des unabhängigen Fernsehsenders Doshd sprachen genauso von Einschüchterungsversuchen wie einige Mitstreiter von Alexej Nawalny. Nawalny selbst sitzt seit Mittwoch eine 30-tägige Haftstrafe ab; am Sonntag wurde nun bekannt, dass er mit dicken Schwellungen im Gesicht ins Krankenhaus eingeliefert wurde, mit Verdacht auf eine allergische Reaktion. Nawalnys Umfeld behauptet demgegenüber, dass der 43-jährige Politiker noch nie Allergien hatte.

    Warum setzen die Behörden nun auf Gewalt, und welche Folgen wird die Eskalation haben? Diese Fragen stellt Kirill Martynow in der Novaya Gazeta

     

    Die unabhängigen Kandidaten, von denen viele bis vergangene Woche vergleichsweise unbekannt waren, punkten derzeit kräftig und zeigen, dass sie im Unterschied zu den Jedinorossy bereit sind, die Rechte ihrer Wähler zu verteidigen. Folgendes Signal ging an die Regionen: In Moskau sind die Bürger schon auf der Straße, um für ihre Rechte zu kämpfen. Schließt euch an. 

    Für die Regionalregierungen wird es nun wahrlich kein Leichtes sein, sich der Taktik der Moskauer Stadtregierung anzuschließen, die für einen Teil der Bürger von einem politischen Opponenten zu einer Struktur wurde, die sich mit Hilfe einer Phalanx aus Polizisten von den Bürgern abschirmt. Das Vorgehen der Silowiki hat die Opposition einerseits geeint, andererseits den Wahlen im September jeglichen Sinn geraubt: Mit gleichem Erfolg hätte man als regierungsnahe Kandidaten auch eine Kompanie der russischen Nationalgarde aufstellen können.

    Das Auseinanderklaffen von politischen Zielen und Ergebnissen ist beeindruckend: Aus ganz normalen Wahlen zum Stadtparlament hat die Regierung ein Problem von landesweitem Ausmaß gemacht. 

    „Wir sind unbewaffnet!“, rufen die Demonstranten der Polizei zu / Foto © Anna Artemjewa/Novaya Gazeta
    „Wir sind unbewaffnet!“, rufen die Demonstranten der Polizei zu / Foto © Anna Artemjewa/Novaya Gazeta

    Allen Anzeichen zufolge steht hinter der Logik der aktuellen Entscheidungen ein spezifisches Weltbild, in dem die Politik nach einem Kasernenmodell funktioniert. Die Moskauer Bürger jedoch wechseln bislang nicht überstürzt in den Kriegsmodus. 

    Die Regierung handelt also nur folgerichtig, wenn sie entscheidet, politische Probleme mit Schlagstöcken zu lösen. Und so haben sie im Vorfeld der Demonstration vor dem Rathaus statt sie zu genehmigen (und damit die Unzufriedenheit der Menschen zu zerschlagen) eine fiktive Strafsache zur „Behinderung der Arbeit der Wahlkommissionen“ eingeleitet. Wie diese Sache ausgeht, wissen die Silowiki bislang selbst nicht. Aber erst einmal wird diese Nachricht breit in den Medien diskutiert und dann gibt es massenweise nächtliche Hausdurchsuchungen bei den Kandidaten. Bei diesen Durchsuchungen wird nichts Konkretes beschlagnahmt, ihr Ziel ist es, allen Angst zu machen. 

    Mit eben diesem Ziel wurde die Mehrheit der Kandidaten im Vorfeld der Demonstration verhaftet: Der Protest hat auf diese Weise seine Köpfe verloren, und so wird nun ganz bestimmt nichts passieren. Das bedeutet, dass diejenigen Figuren, die an der Macht sind und Entscheidungen auf derartigem Niveau getroffen haben, berauscht sind von der eigenen Propaganda und tatsächlich glauben, dass die Bürger auf die Straße gehen, weil sie von Provokateuren aufgehetzt werden. 

    Obwohl kein einziger bekannter Oppositionsführer auf der Straße ist, befindet sich das Moskauer Rathaus am 27. Juli im Belagerungszustand / Foto © Anna Artemjewa/Novaya Gazeta
    Obwohl kein einziger bekannter Oppositionsführer auf der Straße ist, befindet sich das Moskauer Rathaus am 27. Juli im Belagerungszustand / Foto © Anna Artemjewa/Novaya Gazeta

    So befindet sich das Moskauer Rathaus den gesamten 27. Juli im Belagerungszustand, obwohl kein einziger bekannter Oppositionsführer auf der Straße ist.

    Das Büro von Nawalny streamt auf Youtube live von der Demo, im Laufe des Tages versuchen Polizisten die Tür zu öffnen und in das Studio einzudringen. Gegen 16 Uhr ist die Tür aufgebrochen, und die Polizisten verlesen gegenüber den FBK-Mitarbeitern in entschuldigendem Ton den strafrechtlichen Beschluss. Über 40.000 Menschen verfolgen diese Farce im Livestream, noch weitaus mehr schauen sich die Aufzeichnung an. Später dringt die Polizei während der Liveübertragung ins Studio des Fernsehsenders Doshd ein, wahrscheinlich in der Annahme, dass hierher die „Steuerzentrale des Protests“ verlegt worden sei. Die Chefredakteurin des Senders, Alexandra Perepelowa, erhält eine Vorladung in derselben  Strafsache – wegen Behinderung der Wahlen.

    Die Silowiki knobeln den ganzen Tag: Wer muss festgenommen werden, damit alles aufhört? Es geht ihnen nicht in den Kopf, dass die Leute einen freien Willen haben.

    Das Vorgehen von Polizei und Nationalgarde gegen die Protestierenden ist kein bisschen abgestimmt, die an der Auflösung der friedlichen Demo Beteiligten verstehen nicht, warum sie hier sind, und behindern einander gegenseitig. Die Silowiki auf den Straßen agieren ebenso professionell wie ihre Kollegen, die dem Journalisten Golunow Drogen untergeschoben haben: Sie können der Masse nicht folgen, haben keine klaren Anweisungen, schnappen und verprügeln zufällige Passanten.

    Die Kommunalabgeordnete Alexandra Paruschina wurde bei einer Auseinandersetzung mit der Polizei verletzt / Foto © Anna Artemjewa/Novaya Gazeta
    Die Kommunalabgeordnete Alexandra Paruschina wurde bei einer Auseinandersetzung mit der Polizei verletzt / Foto © Anna Artemjewa/Novaya Gazeta

    Hinter all diesen hauptstädtischen Sommerlandschaften öffnet sich der Horizont des russischen politischen Dramas mit dem Titel Organisation der Machtübergabe bis 2024. Die Zustimmungswerte fallen, das Geld wird immer knapper, Leute werden wegen Beamtenbeleidigung verfolgt, die Teilnahme an Wahlen wird zur Straftat erklärt, als Silowiki dienen die Taugenichtse von gestern mit entsprechender Weitsicht, neue Gesichter gibt es in der regierungstreuen Politik keine, und die aktuellen sind samt all ihrer Projekte diskreditiert. Bitte, übergebt die Macht. Aber wie bitte wollt ihr das anstellen, wenn sogar gewöhnliche Regionalwahlen in Moskau zur untragbaren politischen Last werden? 

    Prognosen anstellen ist eine undankbare Beschäftigung. Aber eines lässt sich sicher nach den Ereignissen vom 27. Juli in der Hauptstadt sagen: Den Moskauer Wahlkampf haben die Amtsträger schon verloren. Was auch immer für Ergebnisse sie da in ihre Wahlprotokolle kritzeln mögen.

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    An jedem Tag der vergangenen Woche haben hunderte Moskauer gegen die Nichtzulassung von Oppositionskandidaten zur Regionalwahl protestiert. Am Samstag versammelten sich laut Nichtregierungsorganisation Bely Stschottschik 22.500 Demonstranten auf dem Sacharow-Prospekt. Bei der größten Protestaktion der vergangenen Monate forderten sie eine freie und faire Regionalwahl, zu einem wiederkehrenden Motiv der Demonstration gehörte der Slogan Ljubow (dt. Liebe).

    Ljubow Sobol ist eine von rund 20 OppositionskandidatInnen, die die Moskauer Wahlkommission von der Wahl zum Stadtparlament ausgeschlossen hatte. Wie auch die anderen unabhängigen Kandidaten musste die junge Juristin und Mitstreiterin von Alexej Nawalny Unterstützer-Unterschriften von mindestens drei Prozent aller Wähler aus ihrem Wahlkreis sammeln, um antreten zu dürfen. Laut Moskauer Wahlkommission sei ein Teil dieser Unterschriften jedoch gefälscht, deshalb dürfe Sobol per Gesetz nun nicht zugelassen werden.

    Sobol sowie andere Oppositionskandidaten sehen darin eine politisch-motivierte Entscheidung. Die Regierungspartei Einiges Russland sei in der russischen Gesellschaft derzeit so unbeliebt, dass sie ihre Kandidaten als unbefleckte Unabhängige ins Rennen schicke. Um eine Schlappe bei der Wahl am Einheitlichen Wahltag am 8. September abzuwenden, würden die Behörden nun auch unfaire Zulassungshürden konstruieren – und damit die Teilnahme der Opposition verhindern. 

    Viele Beobachter vergleichen diese Entscheidung mit der letzten Wahl zum Moskauer Stadtparlament vor fünf Jahren. Auch damals sei sie weder frei gewesen noch fair, auch damals habe es ähnliche Zulassungshürden gegeben. Diesmal, so der Tenor, sei aber Eines anders: Die Opposition, die damals gespalten war, ziehe jetzt an einem Strang. Tatsächlich kam es bisher noch nie vor, dass Ljubow Sobol, Ilja Jaschin, Dimitri Gudkow und andere Oppositionelle gemeinsame Forderungen erheben und gemeinsam auf die Straße gehen. Wlad Dokschin hat sie begleitet und die Proteste in einer Fotoreportage für die Novaya Gazeta festgehalten.

    Unabhängige Kandidaten unterschiedlicher politischer Bewegungen für die Wahl der Moskauer Stadtduma. Eine Sache verbindet sie: der Ausschluss von der Wahl aus formalen Gründen / Foto © Wlad Dokschin

    Der Politiker Alexej Nawalny vor dem Beginn der Kundgebung bei seinen Anhängern / Foto © Wlad Dokschin

    Auf dem Sacharow-Prospekt vor Beginn der Kundgebung / Foto © Wlad Dokschin

    Rede des Politikers Dimitri Gudkow. Er wurde von der Wahl ausgeschlossen, weil er nach Angaben der Wahlkommission die gestatteten zehn Prozent „Ausschuss“ an  Unterstützer-Unterschriften überschritten hat / Foto © Wlad Dokschin

    Teilnehmer der Kundgebung mit einem Plakat: „Ein Fehler historischen Ausmaßes“ / Foto © Wlad Dokschin

    Ljubow Sobol, der die Registrierung zur Wahl der Moskauer Stadtduma verweigert wurde, kommt von der Bühne. Ihr hilft Iwan Shdanow, dem ebenfalls die Registrierung verweigert wurde / Foto © Wlad Dokschin

    Politiker Alexej Nawalny beschwört die Teilnehmer der Kundgebung, keine Angst vor Festnahmen zu haben im Kampf für ein besseres zukünftiges Russland / Foto © Wlad Dokschin

    Eine Teilnehmerin der Kundgebung. Aufschrift auf den Plakaten: „Ich habe ein Recht auf Wahl“ sowie die Namen der Kandidaten Iwan Shdanow und Ljubow Sobol / Foto © Wlad Dokschin

    Michail Swetow, Vertreter der Libertären Partei. Mitglieder der Partei hatten die Kundgebung organisiert / Foto © Wlad Dokschin

    Am Eingang bekamen die Teilnehmer Trillerpfeifen. Laut Plan der Organisatoren sollten sie damit die Machthaber auspfeifen / Foto © Wlad Dokschin

    Ilja Jaschin während seines Auftritts. Auch ihm wurde die Registrierung verweigert. Im Hintergrund zu lesen: „Wir haben das Recht auf eigene Kandidaten“ / Foto © Wlad Dokschin

    Teilnehmerin der Kundgebung auf dem Sacharow-Prospekt. Auf ihrem Plakat steht: „Sie nahmen die Liebe – es blieb nur Hass“, Anspielung auf den Vornamen der Kandidatin Ljubow Sobol, der übersetzt „Liebe“ bedeutet / Foto © Wlad Dokschin

    Laut Zählung der NGO Bely Stschottschik nahmen an der Kundgebung rund 22.000 Menschen teil / Foto © Wlad Dokschin

    Nach dem Ende der Kundgebung / Foto © Wlad Dokschin

    Angehörige der Russischen Nationalgarde drängen die nach der Demo Gebliebenen auf dem Sacharow-Prospekt zurück. Insgesamt wurden bei der Protestaktion sechs Menschen verhaftet / Foto © Wlad Dokschin

    Fotos: Wlad Dokschin
    Übersetzung und Anlauf: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 22.07.2019

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    Demonstrativ beleidigt

    Nach dem Besuch des Duma-Abgeordneten Sergej Gawrilow im georgischen Parlament vergangenen Donnerstag war es in der Hauptstadt Tbilissi zu heftigen Protesten gekommen. Die Demonstranten hielten unter anderem Schilder hoch mit englischsprachigen Aufschriften wie „Stop Russia!“ oder „Russia is occupant“. Die Polizei ging mit alle Härte gegen die Demonstranten vor. 
    Nun kriselt es auch in den georgisch-russischen Beziehungen: Wegen der angeblich „russlandfeindlichen Provokation“ während der Proteste verhängte Russlands Präsident Putin am Tag darauf ein Flugverbot, russische Airlines dürfen ab dem 8. Juli keine Flüge nach Georgien mehr anbieten. Dies sei nötig, um die „nationale Sicherheit zu gewährleisten“. 
    Dabei sehen Beobachter in der Einladung Gawrilows und im brutalen Vorgehen gegen die Demonstranten vor allem eine Führungsschwäche der georgischen Regierung. Die Einladung stößt auf Unverständnis, zumal der Georgienkrieg von 2008 sowie die starke russische Militärpräsenz in Abchasien und Südossetien im medialen wie öffentlichen Bewusstsein Georgiens sehr präsent sind. 

    Doch weshalb reagiert Russland nun so scharf? Was bedeutet das Flugverbot zur Hochsaison tatsächlich für den Tourismus und für die Beziehungen der beiden Länder untereinander? Wjatscheslaw Polowinko und Arnold Chatschaturow haben für die Novaya Gazeta russisches Staatsfernsehen geschaut und unterschiedliche Politologen befragt.

    Die Proteste in Tbilissi, die am 20. Juni begonnen haben, wurden zum gefundenen Fressen für die Propagandamacher des russischen Fernsehens. Bis dato hatten sie noch rund zehn Mal täglich jedwede Neuigkeit aus der Ukraine wiedergekäut. „Neuer Majdan in Tbilissi“ titelte die Sendung 60 Minuten im Fernsehsender Rossija. Artjom Schejnin brachte das georgische Thema in seiner Sendung Wremja pokashet sehr ausführlich und genau, aber mit Standard-Einsprecher: „Die Menschen sind bestimmt nicht von allein auf die Straße gegangen, jemand hat sie instruiert.“

    In beiden Sendungen trat der russisch-orthodoxe Kommunist Sergej Gawrilow auf. Während der Interparlamentarischen Versammlung für Orthodoxie hatte er [im Plenarsaal des georgischen Parlaments – dek] auf dem Stuhl des Parlamentspräsidenten Georgiens Platz genommen, was der formale Auslöser für die Proteste war. 
    Wie ein Mantra wiederholte Gawrilow, dass die Schuld „auf Seiten der Gastgeber“ liege – alle anderen, angefangen bei  Alexander Chinschtein bis zu Maria Sacharowa, stimmten mit ein: Es sei eine „große zurechtgebastelte Provokation“.
    Zu einem gewissen Zeitpunkt schien es, der Kreml selbst glaube die Geschichten, dass die Proteste auf Befehl „englischsprachiger Instrukteure“ begonnen hätten und habe daraufhin entschieden, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Traditionell griff man zu Bomben auf Woronesh: Präsident Wladimir Putin erließ ein Verbot, das russischen Flugzeugen ab dem 8. Juli nicht mehr erlaubt nach Georgien zu fliegen. Bürgern, die schon dort sind, soll die Möglichkeit offen stehen, nach Hause zurückzukehren. 

    „Vom Sicherheits-Standpunkt her ist diese Maßnahme womöglich plausibel, aber sie schießt über das Ziel hinaus“, so der Polittechnologe Witali Schkljarow, der auch ein Jahr in Georgien gelebt hat. „Eine andere Frage ist, inwieweit es auch für einen Präsidenten juristisch überhaupt zulässig ist, privaten Airlines zu verbieten, in ein anderes Land zu fliegen.“
    Bei den Fluglinien allerdings wurden diesbezüglich keine Fragen laut: Sie murrten zwar ein wenig, stellten aber allesamt am 22. Juni den Verkauf von Flugtickets nach Georgien ein. Doch für die in Tbilissi lebenden Russen war die Entscheidung über die „Evakuierung“ ein echter Schock.  
    Aus Sicht des Kreml gibt es hier jedoch keinerlei Unstimmigkeiten, stellt der Polittechnologe Gleb Pawlowski klar: „Die Staatsmacht glaubt aufrichtig, dass sie Gutes tut, wenn all diese Menschen beispielsweise auf die Krim fahren können.“

    Viele Wege führen nach Tbilissi

    Das Verbot von Flügen nach Georgien ist ein Schlag für die Tourismusbranche des Landes. Nach Angaben russischer Reiseanbieter kommen jährlich im Durchschnitt  5 Millionen Touristen nach Georgien (im vergangenen Jahr waren es insgesamt 8,7 Millionen). Davon sind 1,4 Millionen russische Staatsbürger, mehr Menschen kommen nur aus Aserbaidschan. Im Jahr 2018 stieg die Zahl der russischen Besucher um 24 Prozent.
    Allerdings wird durch das Einstellen von Flügen russischer Airlines der Reisebetrieb nach Georgien nicht insgesamt lahmgelegt. Man muss nun Umwege nehmen, aber eine vollständige Blockade gibt es nicht.

    „Der Druck auf Georgien ist die Folge einer Kränkung der russischen Machthaber“, meint der Polittechnologe Alexej Makarkin. „Dabei geht es nicht einmal darum, dass der Abgeordnete Gawrilow beleidigt wurde, sondern dass sich die georgischen Machthaber nicht entschuldigt haben.
    Regierung und Opposition in Tbilissi sind zerstritten, ihr Problem ist nicht gelöst, aber einen offensichtlichen Konsens gibt es: Gawrilow ist selber schuld. In Russland schmerzt eine solche Position, darum hat man sich überlegt, wie man [zurück]schlägt.“

    Georgischen Wein zu verbieten ist sinnlos, das hat schon vor gut zehn Jahren nicht sonderlich gut funktioniert. Also hat man sich jetzt auf die Touristen fokussiert, die sich, vorwiegend wegen der russischen Staatspolitik gegenüber Ägypten und der Türkei in den vergangenen Jahren, nach Tbilissi umorientiert haben: Dort ist es günstig und lecker. 

    Die Georgier unterscheiden stets zwischen der russischen Regierung und den russischen Bürgern

    In Tbilissi selbst nimmt man die Taktik des Kreml mit Ironie auf: „Es gibt einen ökonomischen Aspekt dabei, ja, der mag unangenehm sein, aber auch nicht wirklich gravierend“, erklärt Jegor Kuroptew, ein russischer Medienmanager, der in Tbilissi arbeitet. „Russische Touristen sind hier sehr beliebt. Die kommen sogar und beobachten die Proteste, finden das interessant, alles ist in bester Ordnung. Daher wirkt es merkwürdig, den eigenen Leuten zu verbieten, irgendwohin zu fliegen. Schade, dass der Kreml mit einer solchen Entscheidung versucht, die Beziehung zwischen den Völkern zu verschlechtern.“  

    „Die Georgier unterscheiden stets zwischen der russischen Regierung und den russischen Bürgern. Gegenüber dem Kreml hat das Land sehr klare Vorbehalte: Gespräche mit Politikern darf es nur über eine ,Deokkupation der Gebiete’ [von Abchasien und Südossetien – Novaya] geben“, meint Kuroptew. „Dass sich Gawrilow auf den Stuhl des Parlamentspräsidenten gesetzt hat, das war bloß der Auslöser. Dass überhaupt eine offizielle russische Delegation mit Duma-Abgeordneten kommt, konnte nur so aufgenommen werden“, schließt Kuroptew.

    Der Kreml bietet den Menschen wieder das Thema Kampf mit dem äußeren Feind an

    Die Idee des Kreml bestehe darin, den Abgeordneten Gawrilow pars pro toto mit den Bürgern Russlands gleichzusetzen, sagt Alexej Makarkin. Georgien sei für den Kreml in vielerlei Hinsicht nebensächlich. Diese Proteste könnten [dem Kreml] aber dazu dienen, neues Leben in die Beziehungen mit einem ganz anderen, einem loyalen, aber mittlerweile unzufriedenen Gegenüber einzuhauchen: „Dieses Verbot und die Informationskampagne zielt auf solche Menschen ab, die sowieso nicht nach Georgien reisen. Die Logik dahinter: Sie schikanieren uns, und wir sollen auch noch dorthin fahren? Wir helfen sowieso allen, uns sind sowieso alle zu Dank verpflichtet. Das Verbot soll gerade die Menschen zusammenschweißen, die so denken“, betont Makarkin. „Früher haben sie traditionsgemäß den Staat unterstützt, dann aber kam die Rentenreform, und die Menschen wollten Gerechtigkeit. Nun bietet man ihnen wieder das Thema Kampf mit dem äußeren Feind an.“

    Für den Kreml sei der ganze Vorfall ein unerwartetes Geschenk, meint auch Gleb Pawlowski: „Ein Flugverbot ist in diesem Fall zwar übertrieben, Moskau aber will diese Geschichte aufbauschen. Rein praktisch sind diese Proteste für den Kreml ungünstig, aber gleichzeitig eine passende Gelegenheit, um sich demonstrativ beleidigt zu zeigen und nach Bedarf die Eskalation fortzusetzen“, so Pawlowski. 

    Die Beziehungen des Kreml mit den georgischen Machthabern waren in den letzten Jahren durchaus sachlich (soweit das überhaupt möglich ist, wenn die diplomatischen Beziehungen abgebrochen sind). Angesichts der Ergebnisse des ersten Protesttages schrieb aber die georgische Präsidentin Salome Surabischwili auf Facebook, dass die Massenproteste ausschließlich Russland zupass kämen, das „Feind und Besatzer“ sei. Interessant, dass Surabischwili, die die Protestierenden de-facto des Spiels auf der Seite der „Besatzer“ beschuldigt, dabei die Rhetorik der Demonstranten aufgreift.
    Solche Slogans wurden übrigens zu einem zusätzlichen Reizfaktor für die russischen Machthaber. Eine Version legt nahe, dass das Verbot gerade dann durchgesetzt wurde, als die Banner-Sprüche gegen Russland und Putin durch die Welt gegangen waren.

    Laut Experten wäre es logisch gewesen, bei einer neuerlichen Eskalation im Konflikt zwischen Russland und Georgien gleich am Anfang auf die Bremse zu treten. Nun aber sei das schon sehr schwierig: Jetzt sei der Moment, alle Vorteile aus der aufgeheizten Stimmung bis zum Ende „auszuschöpfen“, meint Gleb Pawlowski.
    Außerdem „muss einer den ersten Schritt machen“ zur Versöhnung, ergänzt Witali Schkljarow. Den aber will keiner machen. Und vielleicht kann es auch keiner.  

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    Viele Legenden ranken in Russland um die Diebe im Gesetz. Armin Mueller-Stahl verkörperte 2007 einen Bandenboss in dem Oscar-nominierten Film Tödliche Versprechen und steuerte damit eine weitere Verklärungsnote bei zu dem auch im Westen verbreiteten Mythos um die Welt der Diebe (worowskoi mir). 

    Das 2018 erschienene Buch The Vory. Russia's Super Mafia kommt ohne Romantisierungen aus und analysiert, wie die Organisierte Kriminalität Russland geprägt hat und prägt – und umgekehrt. Der Autor Mark Galeotti gehört zu den weltweit besten Kennern der von Russland ausgehenden transnationalen Kriminalität. Der britische Historiker forscht außerdem auch zu russischen Geheimdiensten und Sicherheitspolitik. Nach seinem viel gelobten Werk über die Diebe im Gesetz hat er 2019 bereits drei weitere Bücher veröffentlicht: über Putin, hybride Kriege und den Krieg im Osten der Ukraine. 

    Im Interview mit Ilja Asar von der Novaya Gazeta spricht Galeotti über die Verstrickungen der Mafia mit Politik, über den Fall Skripal und darüber, warum der Westen den russischen Präsidenten falsch wahrnimmt.

    Novaya Gazeta/Ilja Asar: Sie sagen, Russland sei kein Mafia-Staat, behaupten aber gleichzeitig, zwischen dem Staat und Kriminellen würden enge Verbindungen bestehen. Was sind das denn für Verbindungen?

    Mark Galeotti: Zum einen ist offensichtlich, dass der Staat bestimmt, wie ein annehmbares Verhalten des organisierten Verbrechens auszusehen hat. Der Staat gibt deutlich zu verstehen, dass es bestimmte Aktivitäten gibt, die nicht gestattet sind, und alle Gangster wissen, wo ihre Grenzen liegen. 

    Zweitens bestehen viele Verbindungen, die noch aus den 1990er Jahren stammen, als die Welten des Verbrechens, der Wirtschaft und der Politik sehr viel enger miteinander verknüpft waren. Jetzt haben sie sich wieder voneinander entfernt, aber die alten Verbindungen gibt es immer noch.

    Drittens sind wir in Westeuropa Zeuge geworden, dass der Staat das organisierte Verbrechen als Instrument eingesetzt hat. Allerdings nur einige Male – ich möchte da nichts übertreiben – aber es bleibt gleichwohl ein alarmierendes Symptom. Wir müssen natürlich schauen, wie sich das im Weiteren entwickelt.

    Während aber die Ermordung von Litwinenko oder der Anschlag auf Skripal, für die russische Geheimdienste verantwortlich gemacht werden, in aller Munde sind, ist von ähnlichen Operationen westlicher Geheimdienste nichts zu hören. Machen die sowas nicht?

    Ich denke, hier geht es um unterschiedliche Denkweisen.

    Die russischen Geheimdienste denken, dass sie in einen Krieg um Russlands Platz in der Welt verwickelt sind, dass der Westen Russland ungerechterweise in die Enge zu treiben und einzuschränken versucht.

    Die russischen Geheimdienste denken, dass sie in einen Krieg um Russlands Platz in der Welt verwickelt sind

    Die westlichen Geheimdienste denken anders; sie bemühen sich, vorsichtiger zu sein. Man kann allerdings nicht sagen, dass westliche Geheimdienste diese Taktik nie verfolgt hätten. Wir erinnern uns, wie die Franzosen das Greenpeace-Schiff Rainbow Warrior in die Luft gejagt haben. Das sind aber extreme Methoden, die nur in Notsituationen eingesetzt werden. Russland meint aber, dass es sich jetzt in einer solchen Notsituation befindet.

    Russland ist derzeit, seinen Möglichkeiten nach, objektiv keine Supermacht, wie einst die UdSSR eine war und die USA jetzt eine sind. Es versucht jedoch, die bestehende Weltordnung herauszufordern und die übrige Welt zu zwingen, Russland wie eine reale Großmacht zu behandeln. Um das zu erreichen, muss man Risiken eingehen, und Russland ist dazu bereit.

    Ich glaube, dass Russland sich nach der Skripal-Affäre gedacht hat: „Ok, die Antwort war heftiger als erwartet“, und daher nun sein taktisches Vorgehen ändert. Ich glaube aber nicht, dass sich an Russlands Strategie etwas ändern wird.

    Meinen Sie, dass die Verbindungen zwischen Staat und Mafia Auswirkungen auf die Gesellschaft in Russland haben, oder werden kriminelle Elemente nur für internationale Angelegenheiten eingesetzt?

    Ich glaube nicht, dass sich das auf den Straßen abspielt. Deshalb gefällt mir auch der Begriff „Mafiastaat“ nicht, der impliziert ja vieles.

    Die Zeiten, als es eine reale Nähe zwischen dem Regime und der Welt des Verbrechens gab, sind im Großen und Ganzen vorbei, die 1990er Jahre sind Vergangenheit. Doch ist der Status quo zu lange aufrechterhalten worden, und nachdem er verletzt wurde, ist etwas in Gang gekommen, insbesondere mit der Ermordung von Ded Hassan. Das könnte einen größeren Konflikt provozieren. Allerdings sind alle bemüht, ihn einzudämmen. Ich denke, die Gefahr einer Explosion in der Unterwelt besteht deshalb, weil der Staat den so lang schon bestehenden Status Quo verletzt hat.

    Und die Ermordung Nemzows?

    Wenn der Staat etwas machen will, dann tut er das auch. Ich glaube aber nicht, dass die Ermordung Nemzows eine Operation auf Staatsebene war. Sie kam für den Kreml überraschend.

    Ich glaube nicht, dass die Ermordung Nemzows eine Operation auf Staatsebene war. Sie kam für den Kreml überraschend

    Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Putin auf den Straßen Leningrads großgeworden ist, die Sprache der Straße mag, und oft nach den ungeschriebenen Regeln der Ponjatija handelt.

    Er verwendet diese Wörter, um zu betonen, was er für ein cooler Typ ist; oder was will er sonst noch? Und wenn er nach den Ponjatija handelt, dann macht das vor allem deutlich, wie stark die Gewohnheiten und die Sprache des Gulag und der Verbrecher an die gesamte russische Gesellschaft weitergegeben wurden.

    Die Art und Weise, wie der Kreml vorgeht – das hat Sygar gut beschrieben – bedeutet nicht, dass die Nation per Handsteuerung regiert wird.

    Putin und der Kreml walten mit Hilfe von Andeutungen, damit die Leute selbst erraten, was von ihnen erwartet wird. So ist auch die Welt des Verbrechens gestrickt. 

    Putin und der Kreml walten mit Hilfe von Andeutungen, damit die Leute selbst erraten, was von ihnen erwartet wird

    Das kommt aber nicht daher, weil diese Leute Gangster wären, sondern weil in der Gesellschaft der Sowjetunion und Russlands alles so funktioniert hat; so hat sich das nun mal entwickelt.

    Meinen Sie auch, dass Russland Einfluss auf die Wahlen in den USA und anderen Ländern genommen hat?

    Es gibt viele Belege, dass russische Geheimdienste mit Hacker-Operationen in Verbindung standen. Das bedeutet nicht, dass sie hinter allen Hacker-Angriffen stehen. Mittlerweile aber ist es so, dass nach jedem derartigen Fall jemand die Russen beschuldigt. Manchmal zurecht, manchmal nicht. Was die Geschichte mit den US-Wahlen betrifft, denke ich jedoch, dass die russischen Geheimdienste beteiligt waren.

    Im Kreml war man überzeugt, dass Clinton siegen würde, und man wollte ihr einfach zusätzliche Probleme bereiten

    Ich denke nicht, dass die russische Regierung geglaubt hat, dass Trump gewählt werden könnte, oder dass sie unbedingt wollten, dass er gewählt wird. Im Kreml war man überzeugt, dass Clinton siegen würde, und man wollte ihr einfach zusätzliche Probleme bereiten, weil davon ausgegangen wurde, dass sie einen Kreuzzug gegen Russland anführen wird. Leute vom Fach, mit denen ich sprach, haben eingeräumt, dass es sie völlig kalt erwischt hat.

    Das bringt uns zu einem anderen Ihrer neuesten Bücher. Es geht darum, wie Putin vom Westen falsch wahrgenommen wird und dass der Westen Putin nutzt, um die eigenen Fehlschläge zu erklären. Funktioniert diese Strategie und wird sie von allen geglaubt?

    Ich denke nicht, dass es sich um eine Strategie handelt. Aber es gibt dieses Phänomen, weil man in Russland bestrebt war, ein Image von Putin als Mann der Tat und weisem Führer zu schaffen, der über alles im Bilde ist, was vor sich geht. Im Westen wurde er so zu einem modernen Widersacher von James Bond, der hinter allem steckt, was faul ist …

    Im Westen wurde Putin zu einem modernen Widersacher von James Bond

    Das ist sehr menschlich: Wir suchen immer jemanden, dem wir für alles die Schuld geben können. Der Westen erlebt gerade eine Legitimitätskrise – es gibt Trump, den Aufschwung der Populisten, den Brexit. Viele haben Fragen zum derzeitigen Status Quo, und in einer solchen Situation wird ein Buhmann gebraucht, auf der anderen Seite des Abgrunds.

    Das Gefährliche an der derzeitigen Krise zwischen Russland und dem Westen liegt darin, dass es zu vielen verpassten Möglichkeiten kommt. Es gibt nahezu keine Bereiche, in denen Russland und Europa offen zusammenarbeiten. Dabei ist Russland doch ein europäisches Land und kein eurasisches Imperium, wie Dugin meint.

    Die Probleme werden sich nur sehr schwer überwinden lassen, wenn Sie glauben, dass Putin ein böses Genie ist, das ständig neue Pläne zur Vernichtung des Westens und der gesamten Weltordnung ersinnt. Jedwede Initiative Russlands wird als Teil eines gerissenen Planes aufgefasst. Für den Westen wird es dann schwierig, konstruktiv mit Russland umzugehen.

    Sie ziehen sich ihren eigenen Putin heran …

    Ja, aber wenn wir von der Paranoia des Westens sprechen, dürfen wir auch nicht die Paranoia in der russischen Regierung vergessen. Dort gibt es Leute, die der Ansicht sind, dass der Westen Russland vernichten will. Das ist ein Teufelskreis beidseitiger Paranoia.

    Russland will als Weltmacht wahrgenommen werden. Zwar ist nicht die gesamte übrige Welt damit einverstanden, doch Russland versucht, dies zu erzwingen. In diesem Kontext ist es nicht gut, wenn du als finstere Macht aufgefasst wirst, die hinter allem Schlechten steckt, das geschieht.

    Und die Krim einzunehmen ist für eine solche Strategie förderlich?

    Nein. Ich verstehe zwar, warum die Krim erobert wurde, ich verstehe aber nicht die Art, wie das gemacht wurde, unter Verletzung des Völkerrechts, illegitim.

    Hätte es denn einen legitimen Weg gegeben?

    Wenn Russland wirklich geglaubt hat, es müsse die Krim schützen, so hätte es Möglichkeiten gegeben. Man hätte zum Beispiel Kiew zwingen können, ein legitimes Referendum unter internationaler Beobachtung abzuhalten. Und ich bezweifle nicht, dass die Bevölkerung der Krim Russland sowieso unterstützt hätte. 

    Wenn Russland wirklich geglaubt hat, es müsse die Krim schützen, so hätte es Möglichkeiten gegeben

    Das Referendum aber, das abgehalten wurde, sowie auch die Beteiligung am Konflikt im Donbass haben Moskau die Möglichkeit genommen, dass die Krim auf legitime Weise nach Russland zurückkehrt. Und das ist eine Tragödie, weil Moskau dadurch selbst die internationale Gemeinschaft von sich stößt und dafür sorgt, dass kaum jemand auf Russland hört.

    Der Effekt der Krim nach außen ist klar. Es gab jedoch eine Wirkung nach innen, die die Umfragewerte Putins himmelhoch ansteigen ließ. Vielleicht war das wichtiger?

    Es gibt hier einen Unterschied zwischen Politiker und Staatsmann. Für einen Politiker war die Aneignung der Krim ein absolut richtiger Schritt. Ich war damals in Moskau und erinnere mich an die riesige Begeisterung der Bevölkerung. Für einen Staatsmann aber, der an sein Land und an dessen langfristige Zukunft zu denken hat, [war dieser Schritt falsch].

    Sie haben in Ihren Interviews gesagt, dass Putin sich selbst eher als Staatsmann wahrnimmt, denn als Politiker, dass er an seine historische Rolle denkt, an die historische Rolle Russlands. Also ist er ein schlechter Staatsmann?

    Ich denke, er versteht nicht bis ins Letzte, was Russland in der Zukunft erwartet. Russland kann seine Zukunft nicht einfach als ein Land aufbauen, das in Opposition zum Westen steht.

    Russland kann seine Zukunft nicht einfach als ein Land aufbauen, das in Opposition zum Westen steht

    Das würde Russland jenen Ländern entgegenstellen, die seine natürlichen kulturellen Verbündeten sind, die über jene Technologien und Investitionsmittel verfügen, die Russland für seine Entwicklung benötigt.

    Ein kürzlich geführtes Interview mit Ihnen trug die Überschrift: „Wir müssen mehr über Russland lachen“. Denken Sie wirklich, dass sich bei uns etwas Lustiges abspielt?

    Die Überschriften für unsere Interviews denken wir uns ja nicht selbst aus. Ich hatte damit gemeint, dass es insbesondere in politischen Kreisen derzeit eine Hysterie um Russland gibt; und alles, was das Land unternimmt, wird als Teil eines albtraumartigen Plans wahrgenommen.

    Insbesondere in politischen Kreisen gibt es derzeit eine Hysterie um Russland 

    Was ich sagen möchte, ist, dass man damit aufhören sollte, in Hysterie zu verfallen und mit Russland umzugehen, als ob es das Reich des Bösen oder Mordor wäre.

    Manchmal muss man, anstatt enttäuscht zu sein, lachen und weitergehen.

    In der russischen Opposition gibt es einen populären Schlachtruf zu Putin, den wir hier wegen des Gesetzes über Missachtung oder Beleidigung der Staatsmacht nicht wiedergeben dürfen …

    Das ist ein blödsinniges Gesetz, aus dem die Ängste des Regimes sprechen: Wenn Sie Kritik verbieten, dann heißt das, dass sie viel Kritik erwarten, und dass Sie keinen besseren Ausweg wissen. Selbstsicherheit ist besser als die Kriminalisierung von Kritik. 

    Zwei Zitate von Ihnen: „Russland befindet sich in einem Transformationsprozess. Es bewegt sich, wenn auch langsam, auf ein westlicheres Modell zu“, und: „In 20 Jahren wird Russland dort stehen, wo sich Ungarn oder Bulgarien jetzt befinden“. 
    Woher nehmen Sie diesen Optimismus?

    Ich nehme bei der Bevölkerung den Wunsch nach einem normalen Leben wahr. Selbst Menschen, die sagen, dass sie Putin unterstützen, nennen bei der Frage, was für ein Land sie sich wünschen, Rechtsstaatlichkeit, freies Reisen ins Ausland, die Möglichkeit, ein Unternehmen zu gründen, ohne dass man Gefahr läuft, dass es einem von Bürokraten wieder genommen wird. Sie beschreiben also Freiheiten, die wir im Westen als unabdingbar sehen. Kulturell liegt Russland in Europa.

    Selbst wenn man nicht wegen der jungen Generation sentimental wäre, glaube ich zumindest an den Pragmatismus der Kleptokraten. Es gibt eine Generation, die in den 1990er Jahren mit beiden Händen geraubt hat, die meisten konnten ihr Vermögen bewahren. Jetzt aber bereiten sie sich darauf vor, diese Gelder an die nächste Generation weiterzugeben. 

    Das wird der größte generationenübergreifende Geldtransfer, den es je gab

    Das wird der größte generationenübergreifende Geldtransfer, den es je gab. Genau wie Mafiosi, die wollen, dass ihre Kinder Ärzte und Juristen werden, wollen die, die Geld gestohlen und alle möglichen Fiesheiten begangen haben, dass ihre Kinder in Einklang mit dem Gesetz und sicher leben und dass ihr Vermögen nicht in Frage gestellt wird. Es sind nicht die heldenhaften Proteste auf der Straße, die dem Land neue Gesetze bringen. So etwas geschieht, weil unangenehme Leute innerhalb des Systems sich klar werden, dass dies in ihrem Interesse ist. Und das wird auch geschehen.

    Wird Putin abtreten, und wenn ja, wie?

    Putin scheint selbst einen Nachfolger zu suchen, oder einen potentiellen Mechanismus zur Machtübergabe. 
    Es wird viel darüber geredet, ob ein Szenario a la Nasarbajew in Russland funktionieren würde. Ich denke, für Putin wäre es super, die Frage der Diversifizierung der Wirtschaft und der Renten jemand anderem zu überlassen. Er hat aber Leute um sich, die er schützen will, und zwar nicht nur seine Familie. Daher wird er wohl eine Position anstreben, die ihm Sicherheit verschafft, und die Möglichkeit, sich einzumischen. 

    Ganz subjektiv sieht es für mich nicht so aus, als ob Putin ewig regieren wolle.

    Wie unterscheiden Sie jemanden, der 30 Jahre regieren möchte, von einem der ewig herrschen will?

    Das ist vollkommen subjektiv. Ich schaue mir den Direkten Draht an, und da sieht er nicht so aus, als ob er es genießen würde. Er fährt jetzt weniger in die Regionen, um dort Probleme anzugehen; er ist weniger sichtbar.

    Putin versucht, dem Text der Verfassung zu folgen, wenn auch nicht ihrem Geist, was wir ja bei der Rochade mit Medwedew beobachten konnten. Er könnte 2024 mit einem verfassungsrechtlichen Schachzug aufwarten und das Spiel neu eröffnen, doch sieht es derzeit eher danach aus, als werde an einer neuen Funktion für ihn gearbeitet …

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